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Ich hatte ihn längst vergessen, aber er existierte noch. Professor Orgow, ein Satan in Menschengestalt. Er hatte mir damals, am Beginn meiner Laufbahn, angedroht, zurückzukehren. Und er machte diese Drohung wahr.
In London tauchte er auf, und er wollte einen ganzen Landstrich vernichten. Seine tödliche Waffe war eine magische Bombe!
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Die magische Bombe
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-3659-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Die magische Bombe
von Jason Dark
Es begann völlig harmlos.
Hätte ich zu dem Zeitpunkt schon gewusst, was alles auf mich zukommen würde, ich hätte natürlich anders gehandelt. Da mir aber leider ein Blick in die Zukunft nicht vergönnt war, nahmen die Dinge ihren Lauf. Ich wurde vom Dienst suspendiert und kam in eine Zelle. Als Gefangener, wohlgemerkt.
Ich, der Mörder John Sinclair!
Aber lassen Sie mich der Reihe nach erzählen.
Ich merkte es, als ich über den Westway fuhr und den Stadtteil Paddington erreichte, wo es bekanntlich einen Bahnhof gibt, der durch eine Kriminalgeschichte von Agatha Christie weltberühmt geworden ist. Zu einem Bahnhof gehören in der Regel Brücken; Paddington macht da keine Ausnahme. Und an einer Brückenauffahrt erwischte es mich.
Der Bentley begann zu »eiern« und geriet gleichzeitig ins Schleudern. Bei mir schlug sofort eine Alarmglocke an, denn ich rechnete immer mit einer Attacke meiner dämonischen Gegner. Doch das war hier nicht der Fall. Mich hatte etwas anderes erwischt: ein ganz ordinärer Plattfuß. Hinten rechts.
Mein Gesicht verzog sich, als hätte mir jemand Essigwasser zu trinken gegeben. Das Rütteln, Bocken und Schaukeln wurde schlimmer. Mir war klar, dass ich die Brücke nicht mehr schaffen würde.
Was blieb zu tun? Links ran. Halb auf dem Gehweg und dicht am Geländer.
Bevor ich ausstieg, warf ich einen Blick auf die Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht. Dabei hatte ich mir vorgenommen, zur Tageswende im Bett zu liegen. Das war nun nicht mehr drin.
Ich verließ den Wagen, atmete tief aus. Die Luft stand wie eine Nebelwolke vor meinen Lippen. Der Oktober brachte die Kühle des Herbstes mit. In den nördlichen Landesteilen hatte es den ersten Frost gegeben. Es war endgültig vorbei mit dem Sommer und dem schönen Herbstwetter.
Über der Brücke lag keine klare Luft. Dunstschleier trieben wie Leichentücher an mir vorbei. Sie schienen sich mit zahlreichen Händen an der Fahrbahn festkrallen zu wollen, umwehten auch das Brückengeländer, legten sich darauf nieder und ließen den Stahl vor Nässe glänzen.
Ein paar vereinzelt stehende Laternen schufen ein seltsames Licht. Normalerweise schimmerte es weiß, da es aber von den Dunstschwaden umtanzt wurde, hatte es einen bläulichen Ton angenommen, der kalt und irreal wirkte.
Wann hatte ich zum letzten Mal einen Reifen gewechselt? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Dennoch blieb mir nichts anderes übrig, als mich an die Arbeit zu machen.
Bevor ich den Deckel des Kofferraums aufschloss, warf ich noch einen Blick über das Geländer. Unter mir schimmerten Gleise. In Richtung Paddington schillerten bunte Signalleuchten. Auf einem Abstellgleis sah ich einige Güterwaggons. Autos fuhren nur wenige an mir vorbei, denn um diese Zeit zog es kaum jemanden nach Paddington.
Ein Zug donnerte heran. Ihn wartete ich ab, bevor ich mich an die Arbeit machte. Die Brücke vibrierte, als die stählerne Schlange unter mir über das Gleis donnerte. Das Innere der Wagen war erleuchtet. Geisterhaft schmolzen die einzelnen Lichter zu einem langen Band zusammen. Dann war der Zug vorbei und auch die an glühende Kohle erinnernden Rückleuchten wurden von der Schwärze der Nacht aufgesaugt.
Ein Wagen hielt. Zwei junge Burschen hockten darin. Trotz der Kälte fuhren sie mit offenem Verdeck.
»Platten, Mister?«, fragte einer.
»Ja.«
»So ein Pech.« Der Sprecher lachte laut, während sein Partner startete, noch einmal hupte und davonfuhr.
»Mistkrücken«, murmelte ich und suchte nach dem Werkzeug. Da ging es mir wie den meisten Autofahrern auf dieser Welt. Wer fand das Werkzeug schon auf Anhieb? Zuvor zog ich die Handbremse an, stellte ein Warndreieck auf und ließ auch den Blinker eingeschaltet.
Dann hatte ich alles zusammen: Wagenheber, Kreuzschlüssel; ich fand auch noch eine Zange und nahm sie sicherheitshalber mit. Prüfend wog ich den Kreuzschlüssel in der Hand und überlegte meinen nächsten Schritt. Die Pannenbeschreibung hatte ich natürlich nicht im Wagen liegen, so musste ich mir alles ins Gedächtnis rufen.
Neben dem Bentley blieb ich stehen und dachte angestrengt nach. Dann wusste ich es: Bevor der Wagenheber in Aktion trat, mussten die Muttern gelockert werden! Meine Gehirnwindungen waren also doch nicht eingerostet.
Die Muttern saßen ziemlich fest, das merkte ich schon beim ersten Ansatz. Ein paar Mal ruckte ich daran, dann war die erste Mutter locker. Nach drei weiteren Kraftakten hatte ich auch die übrigen gelockert, über Kreuz, versteht sich.
Jetzt den Wagenheber.
Ich schaute darauf wie ein Steinzeitmensch auf einen Taschenrechner. Im ersten Augenblick wusste ich wirklich nicht viel damit anzufangen.
Als ich den Blick senkte, schien mich der platte Reifen höhnisch anzugrinsen. Doch statt gegen ihn zu treten, schickte ich einen weiteren Blick nach rechts die Brücke entlang. Noch immer tanzten Schwaden über der Fahrbahn. Aus ihnen löste sich ein Wagen, der heranschoss und mit schmatzenden Reifen vorbeiwischte.
Ich schaute ihm nicht nach, wollte mich wieder bücken, als ich die Gestalt wahrnahm.
Im ersten Augenblick dachte ich an einen Geist, der von Dunstschwaden umtanzt den schmalen Gehsteig entlang lief.
Es war eine Frau! Sie hatte langes Haar. Die Farbe konnte ich nicht erkennen, aber es schwang von einer Seite auf die andere. Wer so lief, der hatte es eilig, befand sich vielleicht sogar auf der Flucht.
Sie lief auf der Seite, auf der auch ich mich befand. Noch unternahm ich nichts, stand neben dem Bentley und hielt weiterhin den Wagenheber in der Rechten.
Hinter der Frau glaubte ich eine zweite Gestalt zu sehen, die es ebenfalls ziemlich eilig hatte. Diesmal ein Mann.
Für mich gab es keinen Zweifel, dass er die Frau verfolgte. Die ersten Schreie gellten mir entgegen. Hilferufe. Es lag auf der Hand, dass ich eingreifen musste.
Ich lief los.
Mit beiden Armen ruderte die Frau. Sie hatte es schwer, sich auf den Beinen zu halten. Ihre Art zu laufen ließ darauf schließen, dass sie an Kraft verlor. Ein paar Mal warf sie den Kopf nach vorn. Das Haar blähte sich dann auf, bevor es wieder zurückwirbelte.
Ich hatte es kommen sehen, doch nicht damit gerechnet, dass alles so schnell gehen würde.
Sie stolperte, knickte nach rechts ein, schlug gegen das Gitter der Brücke und wäre fast darüber hinweggefallen und auf die Gleise gestürzt, aber sie konnte sich noch abstützen und zur anderen Seite stoßen.
Im nächsten Augenblick schlug sie hart raste auf das Pflaster.
Leider war die Distanz zwischen uns noch zu groß. Ich konnte sie nicht schnell genug erreichen, ihr Verfolger war wesentlich rascher bei ihr, und im Restlicht einer Laterne sah ich etwas blitzen.
Ein Messer!
Der Kerl musste wahnsinnig sein. Der konnte doch nicht vor den Augen eines Zeugen einen Mord begehen!
Ich holte noch mehr aus mir heraus. Die Schritte hämmerten auf den Boden, mein Gesicht war verzerrt und rot angelaufen. Innerhalb einer Sekunde konnte es dem anderen gelingen, den tödlichen Stich anzubringen.
»Lassen Sie die Frau!«, brüllte ich.
Er zögerte tatsächlich. Es war wie ein Szenenbild aus einem Film: Der Mann kniete mit einem Bein neben und mit dem anderen auf seinem Opfer. Die Finger der linken Hand umkrallten die Kehle der Frau, den rechten Arm hielt er erhoben, aus seiner Faust ragte die lange Klinge des Messers. Die Spitze zielte auf die Brust der Frau.
Eine Waffe trug ich immer bei mir. Die mit Silberkugeln geladene Beretta hatte ich längst gezogen, schoss aber noch nicht, sondern schrie den Mann abermals an.
»Weg mit dem Messer!«
Jetzt erst schien er mich zu bemerken. Sein Kopf fuhr herum. Im Nebel der Dunstschwaden wirkte sein Gesicht seltsam wächsern. Ich sah das Funkeln in seinen Augen und interpretierte es als reine Mordlust.
»Waffe weg!«, brüllte ich noch einmal.
Er hörte nicht. Sein rechter Arm sauste nach unten – und damit das Messer!
Es war eine schreckliche Sekunde, die ich da miterlebte. Überdeutlich sah ich jede Einzelheit, wie in Zeitlupe. Ich sah, wie sich die Frau aufbäumte – und schoss.
Es ist eine schwierige Sache, im vollen Lauf zu treffen, ich aber hatte Glück. Der Einschlag der Kugel riss den Körper des Mannes herum. Dann kippte er zu Boden, streckte sich. Seine Hände ragten über den Rinnstein, wobei die Fingerknöchel den Belag der Straße berührten.
Der Mann rührte sich nicht mehr.
Ebenso wenig die Frau, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich sie nicht mehr hatte retten können.
Eine unheimliche Wut auf den Mörder packte mich. Ich lief die letzten beiden Schritte und blieb schwer atmend stehen.
Meine Silberkugel hatte ihn dicht unter dem Hals erwischt und eine große Wunde gerissen, aus der Blut rann.
Ich hatte den Mann noch nie zuvor gesehen; ein völlig Fremder lag vor mir. Sein Gesicht schimmerte bleich, die Augen standen offen, und an der Klinge des langen Messers klebte Blut.
Es war ein verdammt bedrückendes Gefühl, vor zwei Toten zu stehen. Ich atmete durch die Nase und wischte die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, bevor ich mich umdrehte und mir die Frau näher anschaute. Innerhalb der Dunstschleier kam ich mir vor wie auf einer Insel.
Der Messerstich hatte die Frau, die ich auf etwa dreißig Jahre schätzte, in die Brust getroffen. Ihr Gesicht zeigte noch den Schrecken, den sie in den letzten Sekunden ihres Lebens empfunden haben musste.
Hatte ich richtig gehandelt? Hätte ich schneller reagieren müssen? Eine Antwort auf diese Fragen zu geben, fiel mir nicht leicht. Auf jeden Fall musste ich die Mordkommission alarmieren, und das konnte ich nur vom Wagen aus erledigen.
Als ich mich umdrehte, streifte mein Blick wieder den Erschossenen – und wie angewurzelt blieb ich stehen.
Da stimmte etwas nicht.
Ich schaute genauer hin.
An der Haltung des Toten hatte sich nichts verändert, dennoch war etwas anders. Im ersten Augenblick fiel es mir nicht auf, doch dann kam ich darauf:
Das Messer war verschwunden!
Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. War dem Toten die Waffe aus den Fingern gerutscht? Ich rechnete damit, dass sie jetzt neben ihm lag, doch das war ein Irrtum, wie sich herausstellte. Weder an der rechten noch an der linken Seite des Toten fand ich das Messer, nicht unter seinen Beinen und auch nicht unter seinem Oberkörper, denn es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn anzuheben.
Ich fühlte nach seinem Herz- und Pulsschlag. Er war definitiv tot. Dennoch war das Messer verschwunden.
Ich richtete mich wieder auf. In meinem Job ist alles möglich. Während meiner Laufbahn hatte ich schon die verrücktesten Dinge erlebt. Vorgänge, die rational nicht zu begreifen waren, wo jede logische Erklärung fehlte, und auch hier wusste ich mir im ersten Augenblick keinen Rat.
Ich stand da und starrte auf den Toten.
Bis ich etwas hörte.
Es war eine Stimme in meinem Rücken, und sie trieb mir eine Gänsehaut über den Körper.
»Mörder!«, hörte ich das Zischen. »Du verfluchter Mörder …«
Ich wusste, wer gesprochen hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. Die Tote …
***
»Dreckiger Mörder!«
Das waren die nächsten Worte, die ich zu hören bekam, und in meinem Innern vereiste etwas.
Langsam drehte ich mich um.
Die Frau mit den langen braunen Haaren war noch nicht aufgestanden. Sie hatte nur ihren Oberkörper angehoben und saß auf dem feuchten Untergrund. Ihr Gesicht war bleich, blutleer, die Augen blickten starr, aber in ihrem Blick lag gleichzeitig eine unverhohlene Feindschaft mir gegenüber.
»Was sagen Sie da?«, flüsterte ich.
»Dreckiger Mörder!«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich ihr einiges erklären wollte, doch ich sah ein, dass es keinen Sinn hatte. Hier war ein Spiel aufgezogen worden, dessen Regeln ich momentan nicht begriff.
Ich schaute mir die Frau an, suchte nach der Wunde in ihrer Brust. Deutlich hatte ich das Blut in Erinnerung, das von der Kleidung aufgesaugt worden war – doch jetzt war davon nichts mehr zu sehen.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Nancy Day.«
Ich verengte die Augen. Vielleicht war sie ein Zombie. Es gab eine Methode, das zu überprüfen. »Atmen Sie«, forderte ich sie auf. »Stoßen Sie die Luft kräftig aus.«
»Weshalb?«
»Machen Sie schon!«
Sie zuckte zurück. Ihr Gesicht war wie das einer Puppe: rund, stupsnasig und schmollmundig. Eine Frau, die man äußerlich als Glamourgirls hätte bezeichnen können. »Weshalb soll ich einem Mörder einen Gefallen tun?«, fragte sie.
»Atmen Sie!«, forderte ich noch einmal.
»Gut, wenn Ihre Seligkeit davon abhängt …« Sie atmete tief ein und aus. Vor ihren Lippen dampfte der Atem und bewies, dass sie kein Zombie war.
Das Ganze kam mir mehr als seltsam vor, und gefährlich. Damit meine ich keine körperliche Bedrohung, sondern eine unsichtbare Gefahr, die sich über meinem Kopf zusammenbraute. Jemand hatte sein Netz ausgeworfen, in dessen Maschen ich mich verfangen sollte.
Wer das war und wieso er das getan hatte, würde ich herausfinden.
Ich streckte meinen rechten Arm aus, um die Frau zu berühren, aber sie zuckte zurück. »Fass mich nicht an!«, schrie sie. »Du verdammter Mörder!« Plötzlich begann sie zu schreien. Es schallte über die Brücke. Ich wusste nicht, ob sich im näheren Umkreis Menschen aufhielten, aber die sirenenhafte Stimme war bestimmt noch Hunderte von Yards weit zu hören.
Es lag ein regelrechter Rhythmus in diesem Schreien. Wie einstudiert wirkte das alles. Hier wurde mit ganz miesen Karten gespielt, und die ältesten hatte man mir in die Hand gedrückt. Ich hatte in Notwehr gehandelt, aber wer würde mir das abnehmen? Der Killer war tot, die Leiche lebte.
Ich verlor die Nerven und brüllte die Frau an: »Hören Sie mit diesem verdammten Geschrei auf, zum Henker!«
Sie verstummte tatsächlich. Ihre Lippen zuckten, ihr Blick war lauernd, ein paar Mal zog sie die Nase hoch, und ihr plötzliches Lächeln gefiel mir überhaupt nicht. Dann fragte sie: »Warum haben Sie ihn erschossen?«
»Das frage Sie noch? Dieser Mann hat Sie verfolgt, bedroht und … ja, erstochen. Leider konnte ich es nicht verhindern.«
»Was soll mein Freund getan haben? Mich erstochen?« Sie lachte schrill. »Mister, Sie scheinen aus einer Klapsmühle ausgebrochen zu sein. Sie sind verrückt! Was Sie da sagen, kann doch gar nicht sein. Nicht mein Freund ist der Mörder, Sie sind es. Sie allein!«
»Ich habe in Notwehr gehandelt.« Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, wurde mir klar, wie banal er klang. Alles sprach ja auch für ihre Version. Sie lebte, ein Toter lag auf der Brücke, und ich hatte den Mann erschossen. Offenbar grundlos …
Eine miese Lage!
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister aber das haben Sie nicht umsonst getan«, fuhr sie fort. »Ich kann alles bezeugen. Wollen Sie nicht Ihre Waffe ziehen und mich auch ermorden? Na los, machen Sie schon!«
»Reden Sie keinen Unsinn«, fuhr ich sie an. Es wurde Zeit, Logik in dieses Chaos zu bringen. »Ich bin Polizeibeamter«, begann ich, doch sie unterbrach mich mit einem schrillen Lachen.
»Auch das noch! Man hört und liest ja viel von schießwütigen Bullen, allerdings hätte ich nie gedacht, dass mir einer mal selbst begegnen würde. Für mich sind Sie ein Killer. Jawohl, ein Killer!« Sie nickte heftig, schaute nach links, und ich folgte ihrem Blick.
In dem Dunst über der Brücke waren zwei helle, verwaschene Lichter zu erkennen.
Ein Wagen kam.
Wieder überraschte mich die Frau. Sie stieß sich vom Geländer ab, huschte an mir vorbei und sprang auf die Fahrbahn. Drei Schritte lief sie, blieb stehen und winkte mit beiden Armen dem heranfahrenden Wagen. Grelle Scheinwerferlanzen strichen über uns hinweg.
Meine Gedanken stockten.
Ich hatte den Wagen erkannt. Es war ein Polizeifahrzeug auf Streifenfahrt. Das Auto fuhr ohne Sirene und Rotlicht, aber der Fahrer hatte die Frau natürlich gesehen und bremste ab.
Der Wagen kam dicht vor der winkenden Nancy Day zum Stehen. Die Türen schwangen auf.
Zwei Männer verließen den Streifenwagen. Sie hatten ihre Füße kaum auf den Asphalt gesetzt, als ihnen Nancy Day entgegenrief: »Der da ist ein Mörder! Er hat diesen Mann erschossen!«
Die Polizisten sahen den Toten auf dem Gehsteig liegen und reagierten. Einer kümmerte sich um die Frau, während der andere seine Waffe zog und auf mich richtete.
Ich tat nichts und ließ den Mann auf mich zukommen. Unsere Blicke bohrten sich ineinander. Ich erkannte, dass er mich für den Täter hielt. Kein Wunder, schließlich sprach alles gegen mich.
»Zurück bis ans Gitter!«
Da mir der Knabe einen sehr nervösen Eindruck machte, leistete ich seiner Aufforderung lieber Folge, während Nancy Day mit dem anderen Polizisten sprach. Sie war sehr hektisch und klagte mich hart an. Immer wieder hörte ich das Wort Killer.
»Nehmen Sie die Hände hoch!«, befahl der Mann vor mir. Unter der Uniformmütze sah ich ein noch junges Gesicht. Der Polizist war sicherlich in diesen Augenblicken überfordert.
Ich kam seinem Befehl nach.
»Wo ist Ihre Waffe?«
»Ich trage die Pistole im Schulterholster. Dienstlich.« Ich hob die Hand, verharrte aber kurz und sagte: »Nicht nervös werden. Ich hole jetzt meinen Ausweis heraus.« Meine Hand verschwand im Ausschnitt der Jacke, kehrte mit dem Dokument zurück und hielt es dem Beamten unter die Nase.
Der junge Polizist las meinen Namen und auch den der Institution, für die ich tätig war.
»Scotland Yard?«, hauchte er.
»Richtig.«
In seinen Augen blitzte es. »Und woher weiß ich, dass der Ausweis nicht gefälscht ist?«
Auch das noch. Ich verdrehte die Augen. »Das Dokument ist echt, mein Freund!«
»Percy, komm doch mal her!« Der junge Polizist rief seinen Kollegen herbei, der Nancy Day stehen ließ und sich zu uns gesellte. »Der Typ behauptet, beim Yard zu sein. Er hat sogar einen Ausweis dabei. Sieh ihn dir mal an.«
»Okay.« Der Beamte näherte sich mir von der Seite und nahm mir das Dokument ab. Er las.
»Na? Echt oder nicht?«, fragte ich.
»Sieht mir echt aus, aber wir haben schon schlechte Erfahrungen gemacht.«
Auch Nancy Day hatte die Worte gehört. Und sie begann wieder mit ihrer Anklage. »Er hat meinem Freund erschossen!«, schrie sie. »Er ist ein Mörder, das kann ich bezeugen. Sehen Sie eine Waffe bei dem Toten? Nein, denn er hatte keine. Ich ging mit meinem Freund spazieren, da drehte dieser Kerl durch. Er schoss einfach.«
Die Polizisten schauten sich an, und ich merkte, wie verunsichert sie waren. Dabei konnte ich ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen. Die Tatsachen sprachen einfach gegen mich. In ihrer Situation hätte ich vielleicht nicht anders gehandelt.
Der ältere Polizist hatte ebenfalls seine Dienstpistole gezogen. Er schickte seinen jüngeren Kollegen zum Wagen und bat ihn, die Mordkommission anzurufen.
»Kenne ich Sie nicht irgendwo her?«, fragte er mich dann.
»Durchaus möglich. Sinclair, mein Name. John Sinclair.«
»Und – haben Sie auf den Mann geschossen?«
»Sicher.«
Bei dieser Antwort zuckten die Augen des Beamten. Er war wohl von meinem »Geständnis« überrascht. »Es ist ja eigentlich Sache des Gerichts«, fuhr er fort, »aber weshalb haben Sie das getan?«