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Die wenigen Menschen, die in der Nacht den alten Friedhof passierten, blieben stehen und lauschten. Der schluchzende und schwermütige Klang einer Geige wehte zu ihnen herüber.
Musik, die Menschen in ihren Bann ziehen konnte.
Doch auch andere Geschöpfe erreichte das Spiel der Geige. Wesen, die nicht von dieser Welt stammten und in einer anderen, längst vergessenen lebten.
Für sie waren die Melodien der Schlüssel zum Tor des alten Atlantis ...
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Julias kleine Sargmusik
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4302-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Julias kleine Sargmusik
von Jason Dark
Konstabler Herbie Reynolds löste Kreuzworträtsel, während sein Kollege Glenn Rotter die Beine auf die Schreibtischplatte gelegt hatte und schnarchte. Auf seinen Oberschenkeln lag ein Krimi. Auch der hatte ihn nicht mehr wachhalten können. Bis kurz vor Mitternacht hatte er die Augen offen gehabt, jetzt aber, ungefähr zwanzig Minuten später, schlief er den Schlaf des Gerechten.
Ihn störte es nicht und Reynolds nur, wenn er mit seiner Rätselei nicht weiterkam und niemanden fragen konnte. Seinen Kollegen Glenn deswegen aufzuwecken, das wollte er nicht.
Es war eine kleine, gemütliche Polizeistation, die von den beiden Polizisten besetzt war. Hier passierte so gut wie nichts. Die Menschen waren freundlich, man nannte die Polizisten nicht Bullen und grüßte sie auf der Straße.
Reynolds schielte auf sein Heft. Die Hälfte des Rätsels hatte er gelöst. Der zweite Teil würde ihm Schwierigkeiten bereiten, denn er hatte zuerst diejenigen Felder ausgefüllt, die ihm leichter erschienen. Um weiterzumachen, benötigte er eine Stärkung.
Die befand sich in der Thermoskanne.
Seine Frau füllte sie jeden Abend vor Dienstbeginn mit Tee. Dass sie ein wenig Rum mit hineingoss, war bisher Reynolds’ kleines Geheimnis geblieben. Zum Glück trank sein um zwei Jahre jüngerer Kollege nur Kaffee.
Lächelnd schenkte Reynolds den Becher voll. Seine Augen strahlten in Vorfreude, doch er sollte nicht mehr dazu kommen, den Tee zu trinken, denn urplötzlich wurde die Tür aufgestoßen. So heftig, dass Reynolds erschrak, der Tee überschwappte und in einer Lache auf dem Schreibtisch liegenblieb.
Sogar Glenn Rotter wurde wach. Verwirrt fuhr er hoch und stieß sich das Knie an der Schreibtischkante.
Im Raum stand sie.
Sie – das war Mrs Featherhead und gleichzeitig das größte Klatschmaul aus der Gegend. Wenn diese etwa sechzigjährige Dame mal jemanden aufs Korn genommen hatte, konnte derjenige einpacken. Dann war er bei seinen Nachbarn unten durch, denn Mrs Featherhead, eine Beamten-Witwe, die von der Pension ihres Mannes recht gut leben konnte, hatte den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als über die Nachbarn und deren Schwächen herzuziehen. Ausgerechnet sie hatte die beiden Polizisten überrascht.
Und das kurz nach Mitternacht.
Ihren Spazierstock trug sie stets bei sich. Mit dem gummibesetzten Ende hämmerte sie auf den Boden und schaute zu, wie sich die beiden Beamten rasch gerade hinsetzten und ihre Uniformen glatt strichen.
»Hier hat doch niemand geschlafen?«, fragte sie.
»Nein«, beeilte sich Reynolds zu versichern. »Wir haben nur über ein Problem nachgedacht.«
»Außerdem riecht es nach Rum«, stellte Mrs Featherhead fest.
»Haben Sie getrunken?«, fragte Glenn Rotter scheinheilig und lächelte die Frau entwaffnend an.
»Reden Sie keinen Unsinn, junger Mann, und kommen Sie mit!«
»Wohin, bitte sehr?«
»Zum Friedhof.«
Beide Polizisten waren sprachlos. Rotter fuhr sich durch sein braunes Haar und verzog das Gesicht. »Was soll ich da?«
»Zuhören.«
»Nachts singen keine Vögel.«
»Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen, junger Mann, müssen Sie früher aufstehen. Ich habe nicht von …« Sie verschluckte das nächste Wort, da ihr einfiel, dass man es auch falsch verstehen konnte. Stattdessen sagte sie: »Auf dem Friedhof spielt jemand Geige.«
»Warum nicht Trompete?«, fragte Reynolds und erntete einen tödlichen Blick.
»Haben Sie den Geigenspieler gesehen?«
»Nein«, erwiderte die Frau. »Ich empfinde es nur als eine Unverschämtheit, dass sich da einer erlaubt, nach Mitternacht Geige zu spielen. Das ist Ruhestörung.« Sie drohte mit dem Stock. »Denn auch die Toten brauchen Ruhe.«
»Amen«, murmelte Rotter.
»Sagten Sie etwas, junger Mann?«
»Nein, nein.«
»Das wollte ich Ihnen auch geraten haben.« Ein prüfender Blick traf Glenn Rotter. »Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«
»Geh schon, Glenn«, sagte Reynolds.
Der Angesprochene griff bereits zur Mütze und setzte sie auf. »Wollen Sie mich begleiten, Mrs Featherhead?«
»Selbstverständlich. Ich möchte sehen, ob die jungen Polizisten heutzutage noch in der Lage sind, mit einem Problem fertigzuwerden.«
»Mit Geigenspielern bestimmt«, erwiderte Glenn, hielt der Frau die Tür auf und zwinkert seinem Kollegen zu.
Reynolds hob die Schultern und grinste.
Das ungleiche Paar betrat die Straße. Es war eine wolkenverhangene Nacht. Hin und wieder lugte der Mond hinter einer dicken Nebelwand hervor. Der Wind wehte aus Nordwest. In den letzten Tagen war es wieder kühl geworden. Überhaupt kein Wetter für den Mai.
Mrs Featherhead war dementsprechend gekleidet. Sie trug ein graues Cape über ihrem Kostüm und hatte einen Hut aufgesetzt, der an einen alten Topf erinnerte. Der Hut besaß einen Schleier, den sie hochgestellt hatte.
Energisch schritt sie neben dem Polizisten her, sodass Glenn Rotter Mühe hatte, mitzuhalten. Das war der Gang, den man im Ort kannte. Immer wenn die Witwe wütend war, schritt sie auf diese Art und Weise aus. Auch jetzt kochte sie innerlich vor Wut.
Der Ort lag in einer ungewöhnlichen Ruhe. Es fuhr kein Auto mehr, und hinter den Fenstern der kleinen, gepflegten Häuser brannte kaum Licht.
Die beiden einsamen Spaziergänger ahnten nicht, wie trügerisch die Ruhe war, und dass dahinter eine Ausgeburt an Grauen, Angst und Schrecken lauerte.
Bisher verlief alles normal.
Noch …
Glenn Rotter war neugierig. »Was haben Sie eigentlich um diese Zeit auf der Straße gemacht, Mrs Featherhead?«, fragte er deshalb seine um das Doppelte ältere Begleiterin.
»Geht Sie das was an?«
»In diesem Fall ja.«
»Wenn Sie es so sehen, will ich Ihnen auch eine Antwort geben.« Die Frau blieb stehen, hob ihren Stock und machte damit eine kreisende Bewegung. »Mir gefallen da einige junge Leute nicht, die sich immer in der Nacht treffen und Unsinn machen.«
»Wer ist es denn?«
»Das wollte ich herausfinden. Ich habe einen Verdacht, aber ich äußere mich noch nicht dazu.«
»Vielleicht spielt einer von denen Geige?«
»Das glaube ich nicht. Die hören Radio oder diese widerlichen Walkmen.«
»Da stören sie wenigstens niemanden.«
»Von Ihnen konnte auch keine andere Antwort kommen.«
»Wieso das denn?«
»Wer im Dienst schläft …«
Da war Glenn Rotter lieber still.
Sie überquerten die Straße. Der Friedhof war nicht mehr weit entfernt. Am Ende der Straße befanden sich der Friedhof und eine Baustelle, denn man hatte vor, eine kleine Kapelle zu errichten und eine neue Trauerhalle. Die alte war vor Kurzem abgebrannt, und die neue sollte nicht mehr aus Holz gebaut werden.
»Hm«, machte Mrs Featherhead laut.
»Was haben Sie?«
»Eigentlich hätten wir das Geigenspiel längst hören müssen. Es war laut genug.«
»Der Geiger ist vielleicht schon verschwunden.«
»Das ist möglich.«
Rotter lachte. »Ich werde trotzdem nachschauen, Mrs Featherhead. Einverstanden?«
»Das ist ja wohl das Mindeste, was man von Ihnen verlangen kann, junger Mann.«
Sie war immer noch giftig. Spaß vertrug die Klatschbase nun mal nicht. Das Gebiet, durch das sie gingen, war menschenleer. In zwei Monaten sollte mit dem Bau angefangen werden. Reihenhäuser rechts und links der Straße. Jetzt lag das Gelände brach, mit Unkraut bewachsen, das der Wind in eine Richtung kämmte.
Glenn Rotter hatte die Ohren gespitzt. Mochte Mrs Featherhead sein, wie sie wollte, eine Spinnerin war sie nicht. Wenn sie behauptete, Geigenspiel gehört zu haben, war es auch so. Wahrscheinlich hatten sich irgendwelche Leute einen Scherz erlaubt, davon ging der Polizist aus.
Trotz der Dunkelheit konnte er bereits die Friedhofsmauer erkennen. Sie war nicht hoch und nicht mit Stacheldraht gesichert. Überhaupt besaß der Friedhof kein Tor. Man konnte ihn Tag und Nacht betreten.
Die Bewohner hatten Wert auf einen schönen Friedhof gelegt, denn sie wollten eine Art Parklandschaft haben. Zwei ehrenamtliche Gärtner harkten, schnitten und jäteten daher das ganze Jahr und machten das Areal zu einem Musterfriedhof.
»So«, sagte Mrs Featherhead und blieb neben der Mauer stehen. »Hier wären wir.«
»Soll ich nachschauen?«
»Was dachten Sie denn?«
Glenn Rotter drehte die Handflächen nach außen. »So einfach ist das nicht. Wenn ich über die Mauer schaue, dann sehe ich nichts, was ein Eingreifen rechtfertigen würde.«
Mrs Featherhead hob die Linke und zählte auf. »Ich stelle nicht nur fest, dass Sie im Dienst schlafen, junger Mann, nein, ich merke auch, dass Sie Angst vor einem Friedhof haben. Das hat es früher bei den Männern nicht gegeben. Die waren ritterlich, mutig …«
»Ich habe keine Angst, nachts einen Friedhof zu betreten«, unterbrach Rotter die Frau, obwohl er dabei log, denn ihm war mulmig.
»Dann gehen Sie doch hin.«
»Ich sehe keinen …« Das Wort »Grund« konnte er nicht mehr aussprechen, denn plötzlich hörte er das Geigenspiel. Mit offenem Mund blieb Rotter stehen und lauschte.
Es waren seltsame Klänge, die über die alten Grabsteine wehten. Schluchzend, sentimental, dann wieder schrill oder jubilierend. Der unbekannte Spieler brachte es fertig, auf seiner Geige eine ganze Skala von Gefühlen abzudecken.
»Na«, sagte Mrs Featherhead, »was habe ich Ihnen gesagt? Glauben Sie mir nun?«
»Das muss ich ja wohl.«
Sie nickte heftig. »Und mich für eine Lügnerin halten. Das hätten Sie wohl gern gehabt.«
»Es war zumindest ungewöhnlich, was Sie mir da erzählt haben, Mrs Featherhead.«
Sie schlug mit dem Stock auf den Boden. »Stimmt. Aber wir werden dem nachgehen.«
»Das erledige ich.« Glenn Rotter hatte sich einen Ruck gegeben. »Ich schaue mir den Spieler an.«
»Ich werde Sie begleiten.«
»Haben Sie keine Angst, nachts auf den Friedhof zu gehen, Mrs Featherhead?«
»Warum sollte ich?«
»Vielen ist es zu gruselig.«
»Die Toten schweigen, mein Lieber. Sie stören niemanden mehr.«
»Wie Sie meinen.« Wohl fühlte sich Glenn nicht, aber er wollte auf keinen Fall als Feigling vor dieser Frau stehen, deshalb ging er zügig vor.
Begleitet wurde sein Weg vom Spiel der Geige. Glenn Rotter ließ sich davon faszinieren. Sie blickten über die Friedhofsmauer, doch sie sahen nur die langen Schatten der Grabsteine und Kreuze.
Der Spieler musste sich auf der anderen Seite des Friedhofs befinden, dort, wo die alten Gräber lagen und die Grabmale größer und breiter waren.
An der Baustelle ging er vorbei, schaute zurück und sah, dass Mrs Featherhead ihm folgte. Sie nickte ihm aufmunternd zu.
»Ja, ja, ich erledige die Sache schon«, murmelte er und betrat den Hauptweg des Friedhofs, der das Gelände in zwei Hälften teilte.
Zu beiden Seiten lagen Gräber. Sie passierten hohe Steine, schmale Stichwege, die zu den Grabstätten führten, und gepflegte Hecken. Über dem Gelände lag ein Duft von Frühlingsblumen, die im Gras blühten.
Glenn hielt sich nicht für überaus ängstlich, dennoch bekam er beim Anblick der Grabsteine eine Gänsehaut.
Am Tag wirkten sie anders als in der Nacht. Jetzt, bei Dunkelheit, hatte er das Gefühl, sich inmitten einer geisterhaft fremden Landschaft zu bewegen.
Dieser Friedhof lag im Zwielicht. Der Mond war hinter einer Wolkenwand hervorgekrochen und warf Licht auf die Erde.
Ein seltsames Licht.
Glenn Rotter hatte das Gefühl, dass der Friedhof in ein Blau getaucht war. Ja, es war eine blaue Dunkelheit, lange Schatten, die sich zwischen den Gräbern ausbreiteten und das Gelände liebkosten.
Ein wenig unheimlich war ihm zumute, und er musste sich ein paarmal räuspern.
Manchmal, wenn er glaubte, sich an das Spiel der Geige gewöhnt zu haben, wurden die Töne plötzlich schrill und jaulend. Dann zitterten sie in der Luft, um wie eine Wassersäule zusammenzufallen.
Das war keine Melodie. Wenigstens nicht nach dem Dafürhalten des Polizisten. Sie hörte sich an wie SF-Musik. So anders, so fremd, wie aus einer anderen Welt.
Rotter kannte niemanden im Dorf, der diese Melodien spielen konnte. Überhaupt kannte er keinen, der Geige beherrschte. Ob sich ein Fremder auf den Friedhof verirrt hatte?
Vielleicht ein Zigeuner, ein fahrender Musikant?
»Es kommt von links«, erklärte ihm Mrs Featherhead, die hinter ihm geblieben war. »Sie müssen jetzt in den kleinen Weg einbiegen.«
»Sicher.«
Der Weg war schmal. Er führte geradewegs zum alten Teil des Friedhofs, wo die Menschen begraben lagen, die vor langer Zeit gelebt hatten.
Dichtes Buschwerk säumte den Pfad, nur unterbrochen, wenn eine Bank zur Ruhepause einlud. Zumeist stand daneben ein Becken mit Wasser.
Manche Zweige standen in voller Blüte. Ein betörender Duft umwehte den Mann und die ältere Frau. Das Geigenspiel war lauter geworden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatten die beiden Menschen den Spieler erreicht.
Glenn ging schneller. Der Polizist war sich seiner Aufgabe bewusst. Er wollte endlich sehen, wer sich diesen Scherz erlaubte, der in seinen Augen keiner war.
Bald hatte er das Ende des Wegs erreicht und blieb abrupt stehen. Starr war sein Blick nach vorn gerichtet, seine Augen wurden allmählich größer.
Das Gräberfeld lag wie ein offenes Karree vor ihm. Alte, knorrige Bäume breiteten ihre Äste und Zweige wie schützende Arme über die Grabsteine aus. Sie wuchsen auf einer blühenden Wiese. Der Wind wehte durch das blonde Haar der Person, die auf einer Grabplatte saß. Sie wandte dem Betrachter ihr Profil zu und spielte auf einer Geige. Es war ein Mädchen.
Kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen. Es saß da und ließ sich nicht stören. Sein langes weißes Kleid reichte bis zu den Knöcheln, Schuhe trug es nicht. Das Gesicht wirkte seltsam bleich, die Haut war dünn, als wäre sie gestrafft worden.
Das Mädchen war versunken in sein Spiel. Der Bogen strich über die Saiten des Instruments und schien sie nur mehr zu streicheln. Mondlicht fiel auf die Grabplatte und streifte das schmale Gesicht mit den halbgeschlossenen Augen und der kleinen Nase.
Nichts konnte die einsame Spielerin stören. Wahrscheinlich hatte sie die beiden Zuschauer überhaupt nicht wahrgenommen, und auch Glenn Rotter war gebannt.
Anders Mrs Featherhead. Sie hatte den Schock der Überraschung überwinden müssen. Vielleicht war es für sie schlimmer gewesen, denn ihr war etwas aufgefallen, von dem der junge Polizist wahrscheinlich nichts wusste.
Sie ging auf Rotter zu und legte die rechte Hand auf seine Schulter. »Mein Gott«, flüsterte sie, »mein Gott, das darf einfach nicht wahr sein.«
»Was denn?«, fragte der Polizist automatisch.
»Das Mädchen kenne ich.«
»Ich glaube, ich habe es auch schon einmal gesehen.«
»Das kann sein, Mister Rotter, als es noch lebte!«
»Wie bitte?«
»Die Kleine, die da spielt, das ist Julia. Und Julia ist seit einigen Jahren tot. Verstehen Sie jetzt?«
***
Eine Tote, die Geige spielte!
Glenn Rotter hatte die Worte der Frau verstanden, aber er wollte sie nicht akzeptieren. Für ihn war es unbegreiflich. Da spielte jemand Geige, und derjenige sollte …
»Wie hieß sie gleich?«, fragte er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd war.
»Julia«, flüsterte die Featherhead. »Julia Landers. Ich kenne sie. Sie hat hier gewohnt.«
»Und jetzt ist sie tot, nicht wahr?«
»Ja, das ist richtig.«
Glenn Rotter fuhr herum. Plötzlich rötete sich sein Gesicht. »Wie kann dann, verdammt noch mal, eine Tote auf ihrem Grab sitzen und Geige spielen? Erklären Sie mir das, Mrs Featherhead!«
»Das kann ich nicht.«
Der Polizist holte tief Luft. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen treten. Schüttelfrost rann durch seinen Körper.
»Mrs Featherhead, ich lasse mich von Ihnen nicht veralbern. Verstehen Sie? Das ist keine Tote. Tote spielen keine Geige!«
»Sie ist vor drei Jahren gestorben.«
»Und woran?«
»Julia Landers hatte eine seltsame Krankheit, die alle Ärzte vor ein Rätsel stellte.«
Scharf winkte der Mann ab. »Hören Sie mir mit dem Mist auf, Mrs Featherhead!« Er deutete auf die Spielende, die sie immer noch nicht bemerkt zu haben schien. »Ich werde jetzt zu ihr gehen und ihr einiges erklären. Unter anderem sage ich ihr, dass ich es nicht erlaube, wenn zu mitternächtlicher Stunde jemand auf dem Grabstein eines Friedhofs sitzt und Geige spielt.«
»Sie sprachen laut genug«, gab die Frau gepresst zurück. »Nur möchte ich Sie warnen.«
»Wovor?«
»Vor ihr. Man darf sie nicht stören. Man darf die Ruhe der Toten nicht stören. Haben Sie verstanden, Mister Rotter? Die Ruhe der Toten muss einem Menschen heilig sein.«
»Natürlich, das ist sie mir auch. Aber nicht, wenn eine angebliche Tote auf einem Grab sitzt und Geige spielt. Ist das überhaupt ihr Grab?«
»Nein.«
»Umso schlimmer.« Rotter hatte einen Entschluss gefasst. Die Person würde sich wundern. So sprang man nicht mit ihm um.
Vergeblich versuchte Mrs Featherhead, den Mann zurückzuhalten. Ihre ausgestreckte Hand griff ins Leere, und ihr blieb nur übrig, die Schultern zu zucken. Ein Zeichen der Resignation.
Glenn Rotter ließ sich nicht beirren. Die makabren Worte der Frau hatte er vergessen. Wo gab es denn so etwas! Eine Tote, die Geige spielte.
Vielleicht in einem Gruselfilm. Da wäre es ein guter Gag gewesen, aber nicht hier auf dem Friedhof, wo sich – und das musste sich Rotter eingestehen – die Atmosphäre von der in einem Gruselfilm nicht unterschied.
Die Nacht war angefüllt mit fremdartigen Gedanken, unnatürlichem Licht und dem unheimlichen Geigenspiel.
Die Melodie drang an seine Ohren. Sie wollte ihn locken oder abstoßen, je nachdem, wie das Mädchen den Bogen über die Saiten strich, um dem Instrument die entsprechenden Töne zu entlocken.
Auf dem Grabstein hatte es seinen Platz gefunden. Die nackten Füße verschwanden im Gras. Halme und Frühlingsblumen kitzelten über seine nackte Haut.
Und die Kleine spielte …
Die Augen hielt sie geschlossen, die Bewegungen geschahen automatisch. Selbstvergessen saß sie da und schien ihren eigenen Klängen zu lauschen.
Es war eine große Grabplatte. An ihrem Ende befand sich ein senkrechter Kreis, in dem sich ein Steinkreuz abzeichnete.
Einen Weg zum Grab gab es nicht. Dieser alte Teil des Friedhofs wurde längst nicht mehr instandgehalten. Hier konnte sich die Natur ausdehnen, ohne durch menschlichen Eingriff gehindert zu werden.
Julia spielte weiter.
Falls sie die beiden Ankömmlinge bemerkt hatte, so zeigte sie dies nicht und produzierte weiterhin ihre klagenden, manchmal schrillen, dann wieder melodiösen Töne.
Unter den Schritten des Polizisten knickten die Blumen. Er achtete nicht darauf. Für ihn war das Mädchen wichtiger. Dieses Geschöpf kam ihm wie ein Engel vor, weil es eine blasse Haut besaß und ein unnatürlich fein geschnittenes Gesicht.
Je näher der Mann seinem Ziel kam, umso unruhiger wurde er. Es war nicht nur die Melodie, die diese Unruhe in ihm auslöste, nein, der Grund rührte woanders her.
Er ging von dem Mädchen aus.
Glenn Rotter glaubte, in eine Welt geraten zu sein, die er nicht sehen, sondern nur fühlen konnte.
Julia warnte ihn.
Keine akustische Warnung, nur mehr das Kribbeln auf der Haut, das Gefühl, nicht mehr weitergehen zu dürfen.
Etwa zwei Schritte vor ihr Ziel blieb er stehen. Glenn hob die Hand, streckte sie aus und spürte das Kribbeln in seinen Fingerspitzen.
Ein Schauer vielleicht …
Er schüttelte sich, verzog das Gesicht und drehte sich zu seiner Begleiterin um.
Mrs Featherhead wartete immer noch. Ihre Gestalt erhob sich wie eine Statue vom Boden. Den Kopf hatte sie in seine Richtung gedreht und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Los, machen Sie schon! Sagen Sie ihr, dass es verboten ist, in der Nacht auf dem Friedhof Geige zu spielen!«
»Verboten?«, murmelte Rotter. »Nein, eigentlich ist es nicht verboten. Überhaupt nicht. Sie stört doch niemanden.« Er hatte die Worte so leise gesprochen, dass nur er sie hörte, und es kostete ihn Überwindung, den nächsten Schritt zu machen.
Diesmal war die Aura noch stärker. Je mehr er sich der Geigerin näherte, umso stärker fühlte er die Warnung. Seltsamerweise dachte er dabei nicht mehr an Einbildung, nein, die Warnung existierte.
Glenn überhörte sie. Er konnte keinen Rückzieher mehr machen und ging vorwärts.
Im selben Augenblick hörte das Mädchen mit dem Spiel auf. Julia Landers senkte Bogen und Geige, wandte den Kopf und blickte Glenn Rotter direkt in die Augen.
Der blieb stehen.
Er traute sich nicht, Julia anzufassen. Wie eingefroren verharrte er und spürte den Blick des Mädchens wie eine körperliche Berührung. Über seinen Rücken rieselte eine Gänsehaut. Die Warnung hatte er genau verstanden, und Julia setzte eine akustische hinzu.
»Rühr mich nicht an!«, flüsterte sie scharf. »Berühre keine Tote, oder du bist selbst verloren, Mensch!«
Berühre keine Tote! So hatte sie gesprochen, und der Polizist zuckte innerlich zusammen. Er holte ein paarmal tief Luft. Zuerst hatte er Angst gehabt, jetzt aber überkam ihn so etwas wie Trotz.
»Was ist denn da los?«, hörte er die Stimme der wartenden Mrs Featherhead. »Können oder wollen Sie nicht, junger Mann?«
Rotter gab keine Antwort. Die Alte interessierte ihn nicht, das Mädchen war wichtiger. Es hatte ihn gewarnt. Angeblich sollte es tot sein. Ein Irrsinn, ein Hirngespinst. Es würde sich auf dem Revier herausstellen, wenn er Julia erst einmal dorthin gebracht hatte.
Kaum hatte seine Hand die Schulter des Mädchens berührt, als er die Kälte der Haut spürte. Julia wandte sich ab und setzte den Bogen wieder an die Geige.
Das Spiel begann erneut.
Diesmal schneller, aggressiver, und die Melodie riss Glenn Rotter mit. Plötzlich war er nicht mehr er selbst. Er fühlte sich von den Tönen eingekreist und umschmeichelt. Sie zerrten an seinen Nerven, sie brachten ihn zum Schwitzen, und gleichzeitig begann er zu frieren. Kältewellen rannen durch seinen Körper. Sie schossen von den Fußspitzen bis in sein Hirn und erfassten seine Haarspitzen.