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Wo zwei Wege eine Kreuzung bilden und ein knorriger Baum steht, lauert das Unheil. So sprach man im Mittelalter und hängte oder begrub an diesen Orten Mörder, Verbrecher und Ehrlose.
Auch ein Fremder fand dort vor 400 Jahren sein Grab. Ein einsamer, schwarzer, unheimlicher Reiter. Generationen später kehrte er zurück. Die Kreuzweg-Legende wurde blutige Wirklichkeit ...
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Die Kreuzweg-Legende
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manfred Smietana/Rainer Kalwitz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4372-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Die Kreuzweg-Legende
von Jason Dark
Der steife Nordostwind schüttelte das Laub der Bäume. Am Himmel wurden die Wolken vorangepeitscht, prallten gegeneinander, zerfetzten, bildeten neue, gewaltige Berge, die, vom Wind erfasst, wie drohende Todesboten über das Land hinwegstrichen und den Gestirnen ihr kaltes Licht nahmen.
Man ahnte bereits den nahen Winter, denn der Wind war kalt geworden, und die Blätter an den Bäumen hatten sich schon stark verfärbt. Die Menschen duckten sich unter dem wilden Herbststurm. Sie verkrochen sich in ihren Hütten und schlossen die Fensterläden, denn draußen hatte die Natur ihre Geister entlassen.
Leer waren die Wege.
Kein Reiter, keine Kutsche und kein Fuhrwerk waren mehr unterwegs. Dunkelheit, Sturm und Wolken bildeten ein Trio, das für die Menschen feindlich war.
Die Bäume stöhnten unter der Gewalt des Windes. Die Zweige bogen sich dem Erdboden entgegen, und selbst starke Äste hatten Mühe, dem Toben der Natur zu widerstehen.
Es war ein Wetter für Geister und Dämonen, sagten manche und jagten anderen damit Angst ein.
Noch kam kein Regen. So konnte der Wind den Staub hochwirbeln und in langen, nie enden wollenden Fahnen vor sich hertreiben.
Viele wussten, dass es die Zeit des unheimlichen Reiters war. Bei diesem Wetter ritt er los, um die Schönen aus den Dörfern zu rauben und sie in die Tiefen der Hölle zu holen. Dort erwartete sie Angst, Grauen und Qualen.
Die Furcht ging um.
Sie war wie ein Gespenst, das seinen Weg in die einsamen Dörfer und Gehöfte gefunden hatte. Wie eine riesige Hand krallte sie sich in den Seelen der Menschen fest, ließ die Leute zittern, beben und beten. In diesen Nächten half nur mehr die Heilige Muttergottes. Als normaler Mensch war man verloren.
Mütter hielten ihre Töchter zurück, denn sie hörten den Ruf des unheimlichen Reiters. Er drang in ihre Köpfe, er war eine Verlockung, ein Blendwerk des Satans, und das Erwachen war grausamer, als man es sich in den schlimmsten Albträumen vorstellen konnte.
Alles Beten und Festhalten hatte keinen Sinn. Wen der Ruf erreichte, der erhörte ihn.
So auch die junge Wanda, die in ihrer Dachstube saß und aus dem Fenster schaute.
Sie hatte eine brennende Kerze auf die Fensterbank gestellt und schaute zu, wie sich das zuckende Licht der kleinen Flamme in der Scheibe spiegelte. Dort bildete es einen großen Fleck, der an seinen Rändern ausfaserte und dem Mädchen wie ein Gesicht erschien.
Ja, es war ein Gesicht!
Im ersten Augenblick erschrak Wanda. Sie starrte auf die Scheibe, sah das Gesicht des Fremden darin und presste beide Hände gegen die Brust.
Er rief sie.
Nur sie!
Ihr rundes Gesicht überzog sich mit einer hektischen Röte, die sich auf die Wangen konzentrierte und Flecken bildete. Fieberschauer jagten durch ihren Körper. Die vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Wandas Augen begannen zu leuchten, und sie fühlte ihr Herz heftig schlagen.
Der Reiter hatte sie erwählt!
Deutlich spürte sie diese Botschaft, und ebenso deutlich erinnerte sie sich an die Warnungen. Die Mutter hatte ihr an ihrem achtzehnten Geburtstag von dem unheimlichen Reiter erzählt, der junge Mädchen mit in sein Reich nahm und ihnen Schreckliches antat.
Konnte Liebe so schrecklich sein?
Wanda wollte es nicht glauben, denn das, was durch ihren Körper raste und das Blut zum Kochen brachte, war ein Gefühl, wie sie es schöner und herrlicher nie zuvor erlebt hatte.
Die süße Liebe …
Sie hatte den Reiter nie gesehen, aber aus der Ferne spürte sie sein Locken. Wanda glaubte, seine Stimme zu hören. So ruhig, so einfühlsam, und sie dachte daran, welche Wonnen er ihr in der folgenden Nacht bereiten würde, wenn er sie zur Frau machte.
Die Warnungen fielen ihr ein. Plötzlich lachte sie darüber. Nein, die Eltern hatten nur Angst, dass ihnen die Tochter nicht mehr völlig gehörte. Und das wollte sie auch nicht. Dieser fremde, unheimliche Reiter zog sie magisch an.
Sie musste weg!
Das kleine Haus duckte sich unter dem Sturm. Er heulte um die Ecken, ließ die Fensterläden klappern und schüttelte die Zweige der Obstbäume im Garten.
Wenn sie jetzt verschwand, würden ihre Eltern es nicht bemerken.
Über Wandas Gesicht glitt ein Lächeln, das sich vertiefte. Sie stellte die Kerze zur Seite und schaute an sich hinunter.
Ein altes Arbeitskleid und Holzpantinen trug sie. Dabei wollte sie sich für ihren Ritter schön machen. Aber das andere Kleid lag im Waschtrog, sie konnte es jetzt nicht mehr hervorholen, ohne dass ihre Mutter etwas bemerkt hätte.
Deshalb musste sie so gehen, wie sie war. Hoffentlich verzieh ihr der Bräutigam.
Rasch hatte sie den Fensterriegel zur Seite geschoben. Als sie den Flügel aufzog, merkte sie, wie stark der Sturm war. Fast hätte er ihr den Flügel aus der Hand gerissen, und er blies mit der Gewalt eines Orkans in das kleine Dachzimmer hinein. Die brennende Kerze kippte um. Zum Glück verlöschte die Flamme, sodass kein Brand entstehen konnte.
Wanda streckte den Kopf nach draußen. Der Wind heulte ihr entgegen und fuhr ihr durchs Haar. Rechts und links des Fensters wuchs neben wildem Wein Efeu bis zum Dach. Eine Leiter besaß Wanda nicht. Deshalb beschloss sie, sich an den Ranken in die Tiefe gleiten zu lassen. Sie würden ihr Gewicht bestimmt halten. Und wenn sie rissen, war es nicht schlimm, dann hatte sie sicherlich die Hälfte des Wegs hinter sich.
Als Kind war sie zum letzten Mal aus dem Fenster geklettert. Das lag Jahre zurück, und sie besaß längst nicht mehr die Übung wie früher. Hinzu kam der Sturm. Ein wenig Angst hatte sie schon, doch die Stimme in ihrem Inneren war wesentlich stärker.
Nichts konnte den Ruf des Herzens und der Liebe verdrängen!
Vorsichtig stieg sie auf die Fensterbank und griff nach den Ranken. Sie zog einen Moment daran.
Ja, die Ranken hielten …
Ein befreiender Atemzug drang über ihre Lippen.
Zum Glück war die Hauswand rau. Manchmal mit Vorsprüngen und Kanten versehen, an denen sie Halt finden konnte. Als sie das Zimmer verlassen hatte und sich angstvoll an den Pflanzen festklammerte, kam es ihr vor wie ein endgültiger Abschied.
Sie glaubte, die warnenden Worte der Mutter zu hören, als diese gesagt hatte: »Hüte dich vor dem unheimlichen Schattenreiter. Er ist ein Teufel in Menschengestalt!«
Aber konnte der Teufel mit Liebe locken? Das wollte Wanda nicht glauben. Nein, der verkörperte das Böse, das Hinterhältige, und er vertrat die Hölle.
Vorsichtig bewegte sie die Beine. Der Sturm war für einen Moment eingeschlafen. Er schien sich nach dem Mädchen richten zu wollen, um ihm die Chance zu geben, an der Hauswand nach unten zu klettern.
Mit jedem Schritt wurde sie sicherer. Die Sehnsucht beflügelte das Mädchen. Trittsicher fand Wanda die Stellen, die sie benötigte, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
Ohne größere Schwierigkeiten passierte sie das Schlafzimmerfenster ihrer Eltern.
Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Bis der nächste Windstoß kam. Urplötzlich heulte er heran. Wanda konnte sich nicht mehr festhalten. Die Ranken, um die sich ihre Hände geklammert hatten, begannen zu schwanken und rissen im nächsten Augenblick.
Das Mädchen fiel!
Aus ihrer Kehle drang ein Schrei. Der heranheulende Sturm verschluckte ihn, sodass er verwehte und von ihren Eltern nicht gehört werden konnte.
Sie schlug auf dem Boden auf und landete auf dem weichen Rasen. Deshalb verstauchte oder brach sie sich nichts. Es war der Schock, der sie liegenbleiben ließ.
Abermals fauchte eine Bö heran, wühlte sich unter ihre Kleidung und schleuderte den Rock hoch, sodass er wie ein Zelt über ihrem Kopf zusammenfiel.
Sie schlug den Stoff zur Seite, holte hektisch Atem und stellte erst jetzt fest, dass ihr beim Fall in die Tiefe nichts passiert war.
Dann wurde ihr klar, dass sie im Garten leicht zu entdecken war, und sie stemmte sich auf die Füße.
Der Sturm wehte gegen ihren Rücken und schob sie förmlich voran.
Wanda lief durch den Garten.
Die Zweige der Obstbäume peitschten gegen sie wie zum Leben erweckte Arme, die sie davor bewahren wollten, in ihr Verderben zu rennen. Wanda ließ sich nicht aufhalten. Sie folgte dem Wind und der Stimme, die sie immer deutlicher hörte.
Kein Zaun konnte sie hindern. Sie huschte an einem Verschlag vorbei, der zum Teil zusammengekracht war und wo der Wind dabei war, das Dach abzuheben.
Den Nachbargarten ließ sie schnell hinter sich. Dort erreichte sie das Ende der Dorfstraße. Staub hüllte sie ein, sodass Wanda wirkte wie ein unheimlicher Schatten, den der Wind vor sich her in die Nacht hineintrieb.
Es war wunderbar. Sie hatte stets die Vögel bewundert, wenn sie sich in die Luft erhoben, um zu fliegen. Wie ein Vogel fühlte sie sich ebenfalls. Sie hätte jubeln können und spürte den Staub nicht.
Frei sein.
Frei für ihn …
Sein Ruf war stärker geworden. Er lockte sie mit süßen Klängen. Seine Stimme klang so herrlich, so verführend, und sie würde sich ihm gern hingeben.
Längst hatte der Wind den Schweiß getrocknet. Auf ihrem lächelnden Gesicht lag eine Staubschicht, und sie wusste, dass sie nicht mehr weit zu laufen hatte.
Er würde auf sie warten.
Am Kreuzweg!
Wieder erinnerte sie sich an die warnenden Worte der Dorfbewohner. Der Kreuzweg war von alters her ein verfluchter Ort. Dort stand eine alte Eiche mit starken Ästen. Oft genug hatten früher die Gehängten im Wind geschaukelt, und der unheimliche Reiter erschien immer dort, wo zwei Wege aufeinanderstießen.
Sie lief durch die Dunkelheit. Manchmal schaute sie zum Himmel und sah dem beeindruckenden Spiel der Wolken zu, mit denen der Sturm machen konnte, was er wollte.
Genau wie der Reiter mit ihr.
Wanda fieberte dem Ziel entgegen. So weit wie möglich hatte sie ihre Augen geöffnet, damit sie den Kreuzweg und den knorrigen alten Eichenbaum früh genug entdeckte.
Noch musste sie laufen. Der Wind in ihrem Rücken trieb sie schneller voran. Hecktisch bewegte sie die Beine. Längst hatte sie die Holzpantinen fortgeschleudert und lief barfuß weiter.
Dann sah sie den Baum!
Er erschien aus der Dunkelheit wie ein Bild, vor dem jemand langsam einen Vorhang wegzieht. Groß und gewaltig stand er da. Hatte sein Astwerk ausgebreitet, das unten breiter auslief und in der Krone zusammenwuchs. In der unteren Hälfte war die Eiche kahl. Dort wuchs kein Blatt. Nur die dicken, knorrigen Arme ragten in alle vier Richtungen, sodass sie jeweils die Wege an ihrer Einmündung überdeckten.
Dick war auch der Stamm. Eine Kutsche hätte hindurchfahren können. Dieser Baum hatte Schlimmes gesehen, denn er war zu einer blutigen Richtstätte geworden für Mörder, Töter und Schänder.
Und er war Treffpunkt des unheimlichen Reiters.
Wanda verhielt ihren Schritt. Sie betrachtete den Baum, lauschte der inneren Stimme und erwartete den Lockruf des Reiters. Diesmal blieb er aus. An das süße Gefühl der Liebe dachte sie nicht mehr. Es war auch nicht nötig, sie hatte ihr Ziel erreicht.
Langsam ging sie auf den Baum zu. Der Wind wehte nicht mehr so heftig. Die langen Staubfahnen trieben zwar noch immer über die Wege und Felder, doch sie sanken mehr und mehr in sich zusammen.
Der Sturm hatte die Wolkendecke aufgerissen. Ein blanker Himmel spannte sich unendlich weit über dem Kopf des einsam durch die Nacht gehenden Mädchens.
Und ein Himmel voller Sterne.
Sie blinkten aus einer unfassbaren Ferne. Jemand hatte Wanda erzählt, dass überall dort, wo die Sterne leuchteten, der Himmel offen war, damit die Engel auf die Erde schauen konnten.
Der Mond stand voll und rund über dem Land. Ein großes »Loch« im Himmel. Vielleicht schaute daraus der Herrgott auf die Erde nieder.
Als sie daran dachte, wurde ihr noch wärmer. Sie hielt erneut inne und schaute zum Mond hoch.
Ein Gesicht sah sie nicht dahinter, nur dieses hellgelbe Rund und in seinem Inneren schwache Schatten.
Wanda setzte sich wieder in Bewegung. Schon bald hatte sie das schützende Dach aus Ästen und Zweigen erreicht.
Sie lehnte sich gegen den Stamm mit der dicken Rinde.
An dieser Stelle wartete sie.
Wenn sie jetzt den Kopf in den Nacken legte, sah sie keinen Himmel mehr. Weder Sterne noch Mond grüßten. Das dichte Laub der Krone nahm ihr die Sicht.
Nicht weit von dieser Stelle entfernt befanden sich die Wälder. Düster und geheimnisvoll. Über den Wald erzählte man sich ebenfalls gefährliche Geschichten. Die Eltern hatten es ihren Kindern verboten, die dunklen Wälder zu betreten. Im Sommer lauerten dort Geister, und im Winter waren es Wölfe, die der Hunger bis in die Nähe der Dörfer trieb, wo sie Vieh und manchmal Menschen rissen.
Allmählich hatte sich ihr Atem wieder beruhigt. Wanda fühlte, dass es ihr besserging. Ihre Haut war nach wie vor erhitzt. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht.
War sie überhaupt hübsch genug für den Reiter? Sie wollte es nicht so recht glauben und hätte sich gern am Bach gewaschen, bevor der Liebhaber sie in die Arme schloss.
Bis zum Bach war es zu weit. So musste sie ihn mit schmutzigem Gesicht erwarten.
Noch hörte sie nichts. Nur ihren eigenen Atem und hin und wieder das Rascheln des Laubs.
Urplötzlich war es so weit!
Wanda straffte sich, denn sie hatte ein Geräusch vernommen. Es schien aus dem Himmel zu kommen und hörte sich dumpf und trommelnd an.
Hufschlag …
Das Mädchen wusste Bescheid. Sie hatte nicht umsonst den Ruf des Reiters vernommen.
Jetzt war er auf dem Weg zu ihr und würde bald erscheinen, daran glaubte sie fest.
Wanda hatte sich vom Stamm gelöst, war einige Schritte auf den Weg gegangen und schaute nach rechts.
Der Reiter kam von dort.
Im fahlen Mondlicht war er aus großer Entfernung zu sehen. Wandas Herz begann zu trommeln, als sie ihn entdeckte. Er hockte wie angewachsen auf einem Pferd, hatte den Mond im Rücken und hob sich wie eine Figur vor Licht ab.
Ganz in Schwarz war er gekleidet, und schwarz wie der Reiter war das Pferd.
Die Hufe hämmerten auf den trockenen Boden. Sie wirbelten Staub auf, der wie eine Wolke hinter dem heranstürmenden Reiter hing.
Er bot ein unheimliches Bild. Seltsamerweise verspürte Wanda keine Angst. Nur fiebernde Erwartung. Sie dachte nicht mehr an ihr Zuhause, an die Eltern oder deren warnenden Worte. Die Macht des unheimlichen Reiters war über sie gekommen und hielt sie bannartig fest.
Näher und näher kam er. Wurde größer, und Wanda bekam plötzlich ein Gefühl der Angst.
Sollte dieser Mann sie in der Nacht zur Frau machen, wie es ihr süßes Verlangen befahl?
Dann war er da!
Wanda gab einen leisen Schrei von sich, taumelte zurück und presste ihre Hand auf den wogenden Busen, als der Reiter sein Pferd so hart zügelte, dass es auf die Hinterbeine stieg.
Wanda wurde nicht getroffen, der Reiter bekam sein Tier unter Kontrolle und stieg aus dem ebenfalls schwarzen Sattel. Geschmeidig rutschte er nach unten. Sein langer Mantel flatterte. Auch er war schwarz wie Wams, Hose und die engen Reitstiefel. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Es lag im Schatten der Hutkrempe. Das Mädchen erkannte nur das Kinn.
Der Reiter kam näher. »Du hast auf mich gewartet?«, fragte er.
»Ja, Herr.« Die Antwort klang leise. Wanda senkte beschämt den Kopf und hob die Schultern.
Sie hörte das leise Lachen des Mannes. Es vermischte sich mit dem Schnauben des Pferdes, und einen Augenblick später spürte sie die erste Berührung.
Er hatte die Finger unter ihr Kinn gelegt. Er hob ihren Kopf leicht an, damit er in ihre Augen schauen konnte. Wanda fühlte sich unter einem Bann stehend. Da berührte sie ein Fremder, und sie tat nichts dagegen, weil die Liebe sie lockte.
Nicht einmal das Gesicht des Mannes hatte sie gesehen. Es blieb im Schatten der Krempe, aber der andere schaute sich ihres gut an. Er ließ seine Finger unter dem Kinn und drehte den Kopf in beide Richtungen, damit er ihr Profil erforschen konnte.
»Ja, du bist schön, du gefällst mir«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Ich werde dich mitnehmen …«
Wanda war rot geworden. Die Worte hatten ihr gefallen, und sie zitterte vor Erwartung. Das Blut rauschte schneller durch ihre Adern. Gleichzeitig schämte sie sich, und sie wagte nicht, die Augen zu heben.
Der Reiter kannte da weniger Hemmungen. Seine freie Hand ging auf Wanderschaft. Er betastete das Mädchen, nickte ein paarmal und freute sich darüber, wie gut Wanda gewachsen war.
»Du bist fast eine Frau. Aber nur fast! Und zur richtigen Frau werde ich dich in dieser Nacht machen.«
»Darauf habe ich gewartet«, hauchte Wanda.
»Ich weiß. Komm, wir werden auf mein Pferd steigen und …«
»Gar nichts wirst du, du Kretin!« Plötzlich peitschte die Stimme durch die Nacht, und im nächsten Augenblick wurde die Dunkelheit durch mehrere Feuer erhellt …
***
Der Reiter rührte sich nicht von der Stelle. Er war zu überrascht. Wanda allerdings bewegte sich. Sie flüchtete nach und geriet aus der Reichweite des Mannes. Den lauernden Männern war es nicht sicher genug. Jemand warf eine Schlinge, die sich um Wandas Körper legte, gespannt wurde und das Mädchen in Sicherheit schaffte. Flach auf dem Boden liegend oder eingegraben, hatten die Männer so lange gewartet, bis der Reiter erschienen war, um die bereitgelegten Heuballen anzuzünden, die an den vier Wegen lagen.
Gierig griffen die Flammen nach dem trockenen Gras. Sie erhellten die Finsternis mit ihrem zuckenden Schein und machten aus den Männern makabre Gestalten.
Es waren mehr als zehn.
Und sie hatten sich bewaffnet.
Manche trugen Sensen. Andere wieder Äxte. Es gab jemanden, der eine Armbrust bei sich hatte. Der Pfeil war bereits aufgelegt. Der Mann zielte auf den unheimlichen Reiter. Er selbst wirkte wie ein von Flammen umspieltes Denkmal.
Einer der Versammelten hatte sich eine besondere Waffe ausgesucht.
Es war ein Strick!
Ein Henkersstrick, wohl geknüpft, und er hielt die Schlinge so, dass er hindurchschauen konnte. Der Wind bewegte sie, sodass sie hin und her schaukelte.
»Die ist für dich, verdammter Schänder und Höllensohn!«, erklärte der Mann mit dumpfer Stimme. »Und ich persönlich werde sie dir um den Hals legen, damit du am Ast dieser Eiche baumelst. Hier haben schon immer Mörder gehangen, du wärst nicht der erste.«
Aus seiner Stimme war Entschlossenheit zu hören, mit der auch die anderen Männer gesegnet waren. Sie wollten die Vernichtung, und sie würden sie bekommen, dessen waren sie sicher.
Der Reiter hatte bisher ruhig gestanden. Nun suchte er nach einem Ausweg. Sein Pferd mochte das Feuer nicht. Es wurde unruhig und bekam Angst, je höher die Flammen stiegen. Eine Mischung aus Schatten und Licht zuckte über seine Gestalt. Weit riss das Tier sein Maul auf, wieherte schrill und schaffte es, sich mit einem Ruck loszureißen.
Der unheimliche Reiter wollte nachfassen, aber er griff ins Leere. Sein Tier sprengte bereits davon.
Dumpf schlugen die Hufe auf den Boden und wirbelten abermals dichte Staubwolken auf.
Dann hatte es die Nacht verschluckt.
»Jetzt bist du ganz allein, Schänder«, sagte der Mann mit der Schlinge. »Nicht einmal der Teufel wird dir helfen!«
Als der Reiter das hörte, begann er zu lachen. »Der Teufel?«, höhnte er. »Der Teufel ist mein Freund. Er steht auf meiner Seite, denn ich habe ihm gedient.«
»Das wissen wir. Deshalb hast du dir die jungen Mädchen geholt. Wo sind sie, Schänder?«
Der Reiter breitete die Arme aus. »Wo sie sind? In der Hölle. Ich habe sie dem Satan versprochen, und er hat ihre Seelen gern genommen, denn sie allein geben ihm Kraft. Ich bin ein Günstling des Teufels, daran solltet ihr euch gewöhnen, ihr verdammten Kerle.«
»Nicht mehr lange!«
Der Mann mit dem Strick hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er einem der anderen einen Wink gab.
Jemand bückte sich und hob ein großes Holzkreuz auf, das bisher auf dem Boden gelegen hatte. Mit beiden Händen hielt er es fest. Er drehte sich so, dass der Reiter auf das Kreuz schauen musste.
»In seinem Zeichen wirst du sterben«, erklärte der Mann mit der Henkersschlinge. »Dieses Kreuz wird dir beweisen, dass der Teufel nicht allmächtig ist. Und auch du bist es nicht. Deine Zeit ist abgelaufen. Du hast genug gemordet. Wir wollen dich nicht mehr, hast du gehört? Wir wollen dich nicht, Schänder!«
»Ja, ich weiß!« Das nachfolgende Lachen des Reiters erschreckte die Männer. Wie konnte ein Mann so lachen, der zum Tode verurteilt war? Das ging nicht in ihre Köpfe, und sie schauten sich stumm und fragend an.
»Auf meiner Seite steht der Teufel«, knurrte der Reiter. »Ihr könnt alles versuchen, aber ich bin euch überlegen!«
»Dann beweise es uns!«
Der Reiter lachte wieder, sprang zurück und griff zur Seite. Mit einer sicheren Bewegung zog er seinen Degen aus der Scheide. Das Metall schuf einen flirrenden Reflex, als der Reiter die Waffe im Halbbogen herumschwang, sich breitbeinig aufbaute und die lange Degenklinge wippen ließ. »Los, ihr Kerle, kommt her! Macht schon, ihr Bauern, ihr!«
Vielleicht hätte er im Nahkampf gewonnen. Doch da gab es noch den Mann mit der Armbrust.
Er schoss!
Es gab ein singendes Geräusch, als der Pfeil vorschnellte und die Sehne wieder zurückschlug. Hinter dem Schuss steckte viel Wucht. Selbst für den unheimlichen Reiter war der Pfeil zu schnell. Er traf ihn in der Körpermitte.
Im Schein des Feuers sah ein jeder, wie der Reiter zusammenzuckte, sich mit dem Pfeil im Bauch nach vorn beugte, seine Hände darum klammerte und nach hinten torkelte. Seine Waffe lag neben ihm. Er bemühte sich, den Pfeil aus seinem Körper zu holen.