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Großalarm in London!
Plötzlich loderten an verschiedenen Stellen in der Stadt Brände. Panik und Chaos breiteten sich aus. Menschen flohen vor der Flammenhölle. Experten standen vor einem Rätsel. Niemand fand eine Erklärung.
Bis die gewaltige Gestalt aus der Feuersbrunst erschien, und ihr Ruf über das brennende London hallte.
"Ich will dich, John Sinclair!"
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Der Flammenengel
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Mikhail Bakunovich
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4468-4
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Der Flammenengel
von Jason Dark
Am Nachmittag war es plötzlich kalt geworden. Der Nordwind blies über das Häusermeer hinweg, brachte Schneeregenschleier mit sich und rüttelte an dem blattlosen Geäst der Friedhofsbäume.
Er jagte hungrig gegen die aufgespannten Regenschirme der letzten Trauergäste, die in den Schutz der marmornen Leichenhalle flüchteten, wo die Trauerfeier für David Sternheim fast beendet war.
Sternheim war drei Tage zuvor gestorben. In der internationalen Szene galt er als bekannter, wenn auch eigenwilliger Maler. Seine Bilder zeigten das, was die Menschen oftmals nicht sehen wollten. Motive vom Tod, vom Grauen, mit viel Feuer im Hintergrund und gefährlichen Fratzen, die über allem schwebten.
Träume malen, so hatte seine Devise geheißen. Feuerträume auf die Leinwand bringen, hatte es ein cleverer Werbefachmann genannt. Jetzt hatte es den guten Sternheim selbst erwischt. Wie er gestorben war, wusste niemand so recht, und schon einen Tag nach seinem Ableben waren die ersten Gerüchte aufgekommen.
Ein Rabbi sprach von der hohen Menschlichkeit des Toten und seiner tiefen Religiosität. Beides war gelogen. Sternheim war nicht menschlich gewesen, eher kalt und abweisend, und als religiös hatte man ihn nicht bezeichnen können, aber wenn ein Mensch nicht mehr lebt, versucht man, ihn im besten Licht darzustellen.
Die Trauergäste standen dicht gedrängt. Die meisten waren erschienen, um gesehen zu werden, schließlich war die Presse vor Ort, und man wollte sich am anderen Tag in den verschiedensten Gazetten wiederfinden.
In der Halle roch es muffig. Die Feuchtigkeit dampfte aus den Mänteln der Anwesenden, hinzu kam ein unnatürlicher Geruch, der von irgendwelchen Pflanzen herrührte. Alles in allem war es eine bedrückende Atmosphäre, in die der schwarze Sarg hineinpasste, der ein wenig erhöht auf einem Podest stand und von sechs brennenden Kerzen umrahmt wurde.
Der Sarg war ebenfalls etwas Besonderes.
David Sternheim hatte ihn schon zu Lebzeiten gekauft und ihn nach seinen Vorstellungen bemalt.
Lange gelbrote Feuerzungen leckten über den Sargdeckel. Sie wirkten wie Schlangen, waren am Fußende breiter und verengten sich zum Kopfende hin. Man konnte über Geschmack streiten. Sternheim war wohl der Einzige, der in einem bemalten Sarg bestattet werden wollte, aber so etwas entsprach seinem Leben.
Und der Rabbi redete weiter. Er hatte seine Stimme erhoben. So wie jeder Redner, der kurz vor dem Ende seines Vortrags steht.
Der lange Bart des jüdischen Geistlichen zitterte mit der Stimme um die Wette.
Worte wie »Paradies« und »neues Leben« schallten über die Köpfe der Trauergäste, bis zu dem Zeitpunkt, als sich der alte Rabbi reckte und die Arme hob.
Er wollte den Toten noch einmal segnen.
Und da passierte es. Der Sarg explodierte!
***
Niemand wusste, wie es überhaupt geschah. Die Menschen waren zu überrascht. Sie erlebten die Szene in Zeitlupe, denn es war schwer, all das Grauen zu erfassen, das sich auf einmal ausbreitete.
Zuerst der Deckel!
Die geballte Kraft drang aus dem Inneren der Totenkiste. Sie musste sich freie Bahn verschaffen, und sie schleuderte den Deckel hoch, wobei er gegen die Decke prallte und an den Rändern splitterte.
Nicht ein Schrei gellte durch die Halle. Die Menschen verfolgten den Sargdeckel mit den Blicken, und nur der Rabbi schaute, aus welchen Gründen auch immer, in die offene Totenkiste.
Er sah das Feuer!
Es war urplötzlich da, lief rasch wie schnell fließendes Wasser über die Gestalt des Malers, ballte sich zusammen und puffte in die Höhe.
Der Rabbi konnte erstaunt den Mund aufreißen, zu mehr kam er nicht, denn die Flammen breiteten sich blitzschnell aus. Sie sprangen aus dem Sarg, jagten ihm entgegen und erfassten im Nu die Gestalt des Mannes.
Der Rabbi schrie nicht einmal.
Dafür die Besucher. Erst jetzt erkannten sie das Ausmaß des Grauens, und sie sahen den Rabbi in Flammen stehen.
Die nächste Explosion.
Gewaltiger als die erste. Die Flammen wurden zu einem kochenden, vernichtenden Meer.
Sie jagten über die Köpfe der Menschen hinweg, als hätte jemand eine Brandbombe gezündet. So radikal breitete sich das Feuer aus und wollte alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellte.
Sofort entstand Panik.
Die Menschen spürten den mörderischen Atem, der heiß über sie hinweg fauchte, die Haut verbrannte, sodass sie sich zusammenzog. Es gab für sie nur eine Chance.
Flucht!
Zum Glück besaß die Leichenhalle eine große Tür, die einem Tor glich. Die Menschen, die am Ende standen, kamen durch, ohne behindert zu werden.
Bei den anderen wurde es schwieriger. Plötzlich dachte jeder nur an sich. Sein Leben war das wichtigste. Rücksicht wurde nicht genommen.
In der Leichenhalle tobte die Feuerhölle.
Knisternd hatten sich die Flammen ausgebreitet. Sie waren bereit, Tod und Vernichtung zu bringen, und sie schleuderten ihre gierigen Arme über die Köpfe der Menschen oder zuckend gegen ihre Körper.
Einige Leute brannten.
Es war ihr Glück, dass sie dicke Kleidung übergestreift hatten, so gelangten sie brennend, aber nicht tödlich verletzt nach draußen, um sich dort in der schneenassen Kälte auf den Boden zu werfen und durch die Pfützen zu wälzen.
Dem Rabbi half keiner mehr.
Wie eine hoch aufgerichtete Figur stand er inmitten der Flammensäule. Er war nicht einmal zusammengebrochen und schien den Schreien zu lauschen, die die zuckende Wand durchbrachen. Noch immer hielt er die Arme nach oben gereckt, während der Kopf dazwischen ein wenig nach vorn gesunken war.
Der Rabbi blickte in den Sarg.
Dort schien das Feuer flüssig geworden zu sein. Eine weiße, gnadenlose Glut strahlte eine unnatürliche Hitze ab, die alles andere vernichten wollte.
Auch den Rabbi.
Innerhalb eines Augenblicks erwischte es ihn vollkommen. Plötzlich sackte er ins sich zusammen.
Es war ein schauriges und makabres Bild, denn der Körper sank ineinander, als wäre jedes Molekül aus seinem Verbund gerissen und in Brand gesteckt worden.
Das Verbrennen glich dem Anzünden einer Wunderkerze, die die Umrisse eines Menschen besaß.
Zurück blieb Asche.
Sie wurde nicht von der heißen Luft weggetragen, sondern rieselte in den flammenden Sarg, der nach wie vor das Zentrum der Feuerhölle bildete.
Aus ihm stieg die Gestalt hervor.
Keiner der Flüchtenden warf mehr einen Blick zurück. Hätte er das getan, wäre ihm sicherlich die Gestalt aufgefallen, die im Zentrum der Flammen geboren wurde.
Groß, übergroß sogar. Ein engelhaftes, feuriges Wesen, das in seiner rechten Hand eine Art Schwert hielt. Eine lange Waffe mit einer Klinge, die nie ruhig war und ebenfalls zuckte.
Ein Flammenschwert!
Und der Engel stand dort, wo sich der Tote im Sarg befinden musste.
Hier war der Mittelpunkt.
Ein Kopf erschien, dazu zwei kalte Augen, und eine Stimme schallte durch die Halle.
Selbst das Fauchen des Feuers wurde übertönt, als das Versprechen aus dem Mund des Flammenengels drang.
»London, ich komme! Und ich komme auch zu dir, John Sinclair …«
***
Wintergärten waren in Mode gekommen. Gläserne An- oder Vorbauten, die, bestückt mit Pflanzen, bei den entsprechenden Temperaturen herrliche Gemütlichkeit verbreiteten.
In den Wintergärten hielten sich die Menschen gern auf. Dort hatten sie das Gefühl, eins zu sein mit der Natur. Wenn es regnete oder schneite, waren sie geschützt und glaubten dennoch, den Regen oder Schnee auf ihre Köpfe fallen zu sehen, ohne gleich nass zu werden.
Ein Vergnügen, das sich gut Begüterte leisten konnten. Und wer einen Wintergarten besaß, der wollte ihn natürlich auch seinen Freunden und Bekannten zeigen. Dementsprechend oft wurden in den gläsernen Anbauten Partys gefeiert.
Lewis Coleman war ebenfalls Besitzer eines solchen Wintergartens. Sein altes Haus lag in Mayfair, sehr ruhig, sehr vornehm und von hohen Bäumen umgeben.
Als besonderen Gag empfand er die Strahler, die er in den Räumen an der Rückseite und in der Nähe des Wintergartens hatte anbringen lassen. Die Strahler waren so eingerichtet, dass ihre hellen Lichtlanzen auf das schräge Glasdach fielen, dort zu kleinen Sonnen wurden, um sich anschließend zu teilen.
So gelang es dem Besitzer, selbst in der kalten Jahreszeit ein südliches Flair zu schaffen.
Eigentümer des Hauses war Lewis Coleman. Ein Mann, der sich Agent nannte. Er war kein Spion, sondern verdiente sein Geld im Zeitschriftengeschäft.
Coleman vermittelte Autoren an die großen Zeitschriftenverlage und sorgte dafür, dass Buchlizenzen ins Ausland verkauft wurden. In der Branche gehörte er zu den Top-Leuten, dementsprechend war der Andrang der Gäste, die er zu seinen Partys einlud.
Verheiratet war Coleman mit einer Afroeuropäerin. Sie hieß Ada und war der Mittelpunkt einer jeden Feier.
Auch an diesem kalten Winterabend stand sie inmitten einer Schar extravaganter und poppig gekleideter Gäste. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug ein mehrfach um den Körper gewickeltes knallrotes Seidenkleid, das in der oberen Hälfte eng anlag, unter den Knien jedoch glockenartig auseinanderfächerte.
Ihr Lachen war überall zu hören. Ada hatte schon einige Gläser getrunken, dann gab sie sich immer lässig, und ihr afrikanisches Blut, wie Lewis stets zu sagen pflegte, drang voll durch.
Die Lippen der Frau glänzten wie grüner Lack. Sie fand es lustig, einen grünen Lippenstift aufzulegen. Der neueste Gag und frisch aus Paris übernommen, waren die lackierten Fingernägel. Jeder glänzte in einer anderen Farbe.
Es fing mit Schwarz an, wurde immer heller, lief über Blutrot und endete schließlich in einem blassen Perlmuttton.
Wenn sich Ada bewegte, begannen ihre Ketten und Ringe zu klirren. Sie hatte ein Faible für Schmuck, doch auffallend musste er sein. Natürlich sahen die beiden Ohrringe verschieden aus. Der linke glich einem Wagenrad, wobei die »Speichen« mit künstlichen Juwelen besetzt waren, der andere erinnerte an eine Schlange, die von innen her leuchtete.
Das Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt. Ada hatte es nicht nötig, einen BH zu tragen. Ihre Brüste waren fest, die Spitzen drückten gegen den weichen Stoff.
Ihre Augen versprühten ein lockendes Feuer, und in den Brauen steckten winzige Diamantsplitter. Die allerdings waren echt, wie Ada versicherte.
Natürlich hatte der Gastgeber für Musik gesorgt. Aus vier großen Lautsprechern dröhnte heißer Sound, und im Augenblick war Ray Parker junior an der Reihe, der seinen Hit von den Ghostbusters kehlig in den großen Wintergarten schmetterte.
Es war schon was los. Wer nicht tanzte oder sich zumindest rhythmisch bewegte, schlürfte Champagner oder harte Getränke an einer der vier kleinen Bars.
Lewis Coleman war zufrieden. Er hatte zahlreiche Schriftsteller und Autoren zu Gast. Es waren Fachgespräche geführt worden, und man hatte versprochen, sich Tage später zu treffen, um über die Konditionen zu verhandeln.
Coleman trug einen weißen Anzug. Der Schneider wohnte in Mailand und gehörte zu den Top-Leuten der internationalen Modeszene. Wer Coleman zum ersten Mal sah, hätte ihn für einen ausgeflippten Musiker halten können. Sein schwarzes Haar trug er im Stil der Siebzigerjahre. Die Strähnen hingen ihm bis auf die Schultern und fielen gegen den Rand der dunklen Hornbrille, die so gar nicht zu dem schmalen solariumbraunen Gesicht des äußerst schlanken Mannes passen wollte.
Der Gastgeber schlenderte auf die Whiskybar zu, warf einen kurzen Blick zu seiner Frau hinüber, die wieder einmal laut lachte und ihren Körper so weit nach hinten gebeugt hatte, dass sie von zwei Gästen gestützt werden musste.
Coleman grinste schief. Ada war eine Wucht. Wenn sie sich amüsierte, war die Party gerettet. Sie konnte eine halbe Armee unterhalten, sodass Lewis immer Muße fand, sich mit einigen Leuten übers Geschäft zu unterhalten.
Er war kaum an die Bar getreten, als er angesprochen wurde. Der Mann löste sich aus der Deckung der Topfpflanzen, die hinter der Bar standen. Er hielt ein Whiskyglas fest und machte einen unglücklichen Eindruck.
Lewis sah auf. »Hi Darryl.«
»Ja …«
»Mehr hast du nicht zu sagen?«
Der Angesprochene schüttelte den Kopf, stellte das Glas weg und stützte sich schwer auf die Theke. »Nein, mehr sage ich nicht.«
Coleman füllte sein Glas mit einem Doppelten. »Weshalb nicht? Gefällt es dir nicht?«
»Doch, das schon.«
»Na also.« Coleman lächelte belanglos. »Dann ist ja alles in Ordnung.«
Der etwa fünfzigjährige Darryl schüttelte den Kopf. »Nein, Lewis, nichts ist in Ordnung, gar nichts, und das weißt du genau.«
»Wieso?«
Darryl kniff die Augen ein wenig zusammen. Das Gesicht war vom Genuss des Alkohols gerötet.
»Das weißt du genau, verdammt«, wiederholte er. »Verdammt genau weißt du das.«
»Nein, wirklich nicht.«
Lewis Coleman nahm einen Schluck, wollte sich abwenden, doch Darryl hielt ihn an der Schulter fest. »Moment, Junge, so kommst du mir nicht davon.«
Der Agent verzog das Gesicht unwillig. »Was ist denn noch?«
Darryl kam näher. Er roch nach Whisky und Bier. »Du weißt, was ich von dir will.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Darryl nickte. »Okay, okay, Lewis, dann sage ich es dir: Ich brauche Geld!«
Coleman lachte laut und schallend. »Geld?«, fragte er und hustete. »Ja, das brauche ich auch. Wirklich, Darryl, das brauche ich auch.«
»Und du hast davon genug. Im Gegensatz zu mir.« Er tippte gegen die Brust seines Gegenübers.
»Das ist aber nicht mein Problem.«
»Doch, es ist dein Problem«, beharrte Darryl.
»Nein, die anderen wollen deine Arbeiten nicht.« Coleman drehte das Glas zwischen den Fingern. »Es gibt sogar Verlage, die haben mir geschrieben, dass man mit deinen Geschichten überhaupt nichts anfangen kann und ich mich hüten soll, jemals wieder etwas von dir einzuschicken. Du liegst eben nicht im Trend. Aber der kann sich immer ändern.«
»So? Meinst du? Bis dahin bin ich längst verhungert.«
Coleman schob die Unterlippe vor. »So leicht verhungert man nicht. Außerdem kannst du dich hier satt essen. Steht ja genug herum. Das meiste wird, wie ich die Lage einschätze, sowieso weggeworfen. Also, mein Lieber, schlag dir den Bauch voll!«
Diese zynischen Worte blieben bei Darryl nicht ohne Wirkung. »Verdammt, Lewis, du bist ein Schwein!«
»Hör zu, Junge«, sagte der Gastgeber. »Ich habe nicht eingeladen, um mich beleidigen zu lassen. Wenn du Stunk machen willst, zieh Leine! Ja, es ist besser, wenn du gehst. Ich schicke dir deinen Kram, der bei mir liegt, morgen zu. Dann …«
Die Faust kam so schnell, dass Coleman sie erst sah, als es zu spät war. Sie nahm plötzlich sein gesamtes Blickfeld ein und traf ihn mitten ins Gesicht.
Coleman, nicht besonders standfest, rauschte in die Büsche neben der Bar. Da polterten Töpfe um, Zweige wurden geknickt, und einige der in der Nähe stehenden Gäste schauten überrascht zu, wie Darryl nickte und sich umdrehte.
»Das war mal nötig«, rief er.
Niemand hielt ihn auf, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte.
Coleman aber war nicht zu sehen. Nur seine Schuhe schauten aus dem Grünzeug hervor. Da sie aus weiß gefärbtem Leder gefertigt waren, fielen sie besonders auf.
»Einer hat deinen Mann niedergeschlagen, Ada«, rief jemand.
Ada, leicht angetrunken, begriff nicht sofort. Als sie den Ort des Geschehens endlich erreichte, hatten schon ein paar Gäste Lewis Coleman zwischen den Bäumen hervorgezogen.
Er sah schlimm aus.
Die Faust des anderen hatte ihn knallhart erwischt. Blut hatte sich über sein Gesicht verteilt. Die Nase war nur mehr ein Klumpen, ebenfalls die Lippen, und Coleman wimmerte vor Schmerzen.
Plötzlich war die Stimmung hin. Einer hatte die Idee, die Anlage leiser zu drehen.
Einige Gäste konnten kein Blut sehen. Schaudernd wandten sie sich ab.
Andere waren mutiger. Sie hakten den Mann unter, und jemand fragte nach dem Bad.
»Wartet, ich gehe vor!« Ada war plötzlich durcheinander.
Es hatte niemand daran gedacht, den Schläger aufzuhalten, und der Geschlagene war überhaupt nicht in der Lage zu reden.
Man schleifte Coleman quer durch den Wintergarten auf einen der Ausgänge zu. Er hinterließ eine rote Spur auf den hellen Fliesen.
Die Tür erreichte er nicht mehr, denn plötzlich regnete es Feuer!
Jedenfalls glaubten dies die Gäste, als sie von den Flammen geblendet wurden. Sie fielen von außen her auf das Dach, nichts hielt sie auf, und die Glaskonstruktion über den Köpfen der Menschen zerbarst.
Ein gewaltiger Scherbenregen, bestehend aus großen und kleinen Stücken, regnete auf die völlig überraschten und entsetzten Partygäste, die von einer Sekunde auf die andere in Panik verfielen.
Jeder dachte nur an sich. Um Coleman kümmerte sich niemand mehr. Selbst seine Frau Ada ließ ihn los und rannte schreiend davon.
Die Flammen waren schneller.
Wie gierige Hände fauchten sie herbei, jagten durch das zerstörte Dach auf die kreischenden Menschen nieder und glitten in wellenartigen Lohen durch den Wintergarten.
Nichts war vor ihnen sicher. Sie sprangen an den Wänden hoch und brachten das Glas in Sekundenschnelle zum Schmelzen.
Da sie von allen Seiten herbeigekommen waren, gelang es den Gästen nicht, ihnen zu entgehen. Auch dort, wo sich die Ausgänge befanden, glitt das Feuermeer hin und versperrte den Weg.
Es war furchtbar.
Die Schreie der Eingeschlossenen übertönten das Fauchen der Lohen. Wind blies durch das offene Dach in die Feuermasse und entfachte sie stärker.
Tanzende, zuckende Arme schleuderten die brennende Kleidung der Gäste hoch.
Auf Lewis Coleman huschte das Feuer ebenfalls zu. Er konnte ihm nicht entgehen. Still lag er auf dem Boden, spürte die Hitze und hatte das Gefühl, mitten in der Hölle zu sein.
Dann wusste er nichts mehr, denn alles um ihn herum zerlief zu roten, gierigen Kreisen.
Vorbei …
Und die Partygäste flohen. Sie rannten durch die zerstörten Scheiben hinein in den Garten, wälzten sich dort auf dem Boden und versuchten verzweifelt, ihre brennende Kleidung zu löschen.
Niemand war da, der auf seinen Nachbarn achtete, und niemand sah die gewaltige Gestalt, die im Feuer erschien, ein brennendes Schwert schwang und grell lachte.
Nur ein Mann, der das Ende des Grundstücks schon erreicht hatte, drehte sich um.
Es war Darryl!
Er schaute in die Feuerwand, sah die hochfliegenden Funken, hörte den Explosionsknall und schüttelte den Kopf. Dann sah er die riesige, von Feuerzungen umtanzte Gestalt.
Für die Dauer weniger Sekunden blieb er stehen und rannte danach ebenfalls in wilder Panik davon …
***
Dieser Montagmorgen gefiel mir überhaupt nicht. Schon beim Aufstehen hatte ich das Gefühl, Blei in den Knochen zu haben. Ich bekam die Beine kaum hoch, blieb neben dem Bett stehen und fuhr mir durchs Gesicht.
Mir fiel ein, dass ich schlecht geschlafen hatte. Erst weit nach Mitternacht war ich in tiefen Schlummer gefallen und fühlte mich jetzt wie gerädert.
Dabei hatte ich am Abend zuvor nicht einmal einen Whisky getrunken, sondern den Sonntag allmählich ausklingen lassen. Einen Grund für meine Mattheit gab es also nicht, wenigstens keinen für mich erkennbaren. Vielleicht lag es auch am Wetter, denn als ich aus dem Schlafzimmerfenster in die Dunkelheit schaute, sah ich Tropfenschlieren außen an der Scheibe.
Sie sahen aus wie helle, dünne Finger, und im Licht der Laternen entdeckte ich ein helles Glitzern.
Das war nicht allein Regen, sondern Schnee.
Widerlich und nasskalt.
Das hatte mir an diesem Montag noch zu meinem Glück gefehlt. Ich schlich wie ein lustloser Penner in Richtung Dusche, streifte den Schlafanzug ab und legte das Kreuz zur Seite, bevor ich die Dusche anstellte. Sekunden später jagten die Strahlen hart und kalt auf meinen Körper, und es ging mir langsam wieder besser. Das Blei verschwand aus den Knochen, meine Müdigkeit wurde weggespült.
Während ich mich abtrocknete, dachte ich ans Büro. Wahrscheinlich wartete am Vormittag Aktenarbeit auf meinen Freund Suko und mich. Nachmittags mussten wir uns dann einen Vortrag anhören. Ein Dozent wollte über moderne Methoden der Verbrechensbekämpfung sprechen.
Möglicherweise konnte ich da den verlorenen Schlaf nachholen. Ich zog frische Unterwäsche an, nahm mein Kreuz und wollte es schon umhängen, als ich innehielt.
Im ersten Augenblick glaubte ich an eine Täuschung. Wie vom Donner gerührt stand ich auf den Fliesen und schüttelte den Kopf. Mit der freien Hand wischte ich mir Wassertropfen aus den Augen, da ich nach wie vor sicher war, mich zu irren.
Nein, es war kein Irrtum.
Das Kreuz hatte sich verändert.
Nicht in der Form, sondern was die Zeichen anbetraf. Seit einiger Zeit waren zudem die Symbole verschwunden, die ich bisher nicht enträtselt hatte, jetzt aber war das »U« verschwunden.
Es hatte sich genau dort befunden, wo das Kreuz in seiner senkrechten Achse auslief. An dem rechten Balken stand das »R« für Raffael, direkt gegenüber das »G« für Gabriel und an der oberen Spitze des Kreuzes das »M« für Michael.
So hatte es sein sollen. Jetzt fehlte das »U«, und ich starrte mein Kreuz an, als sähe ich es zum ersten Mal.
Tief holte ich Luft und schüttelte den Kopf. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, nicht einmal das gelang mir. Daher legte ich das Kreuz auf einen kleinen Hocker und stieg in meine Kleidung. Auf eine Krawatte verzichtete ich und zog stattdessen meinen neuen gelben Pullover an.
Danach nahm ich das Kreuz wieder an mich.
Noch immer fehlte das »U«.
Ich verzog die Lippen. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit dieser schrecklichen Tatsache.
Wie konnte das möglich sein?
Darüber zerbrach ich mir den Kopf, als ich in die kleine Küche ging und die Kaffeemaschine anstellte. Das Kreuz hatte ich danebengelegt und holte eine Lupe, um die Stelle eingehender zu betrachten.
Nichts war zurückgeblieben. Kein Abdruck, ich schaute auf eine völlig glatte Fläche und konnte nicht mehr tun, als ratlos die Schultern zu heben.