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Auf dem Bildschirm lächelte die Ansagerin. Sie präsentierte das neue, das andere Programm. TTV nannte es sich. Die Zuschauer nahmen es als normal hin, sogar als Bereicherung der TV-Landschaft.
Auch ich dachte an nichts Böses. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Ansagerin von einem Skelett abgelöst wurde, und dieses Wesen damit begann, den Staat zu erpressen.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Totenkopf-TV
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4699-2
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Totenkopf-TV
von Jason Dark
Sie hieß Ellen Page, war blond, nett, und ihr Lächeln kannten Millionen von Zuschauern. Sie war Fernsehansagerin und sehr beliebt. Täglich flatterten ihr Dutzende von Heiratsanträgen ins Haus. Da sie eine Geheimnummer besaß, blieben ihr wenigstens unnötige Telefonanrufe erspart.
Die meisten Briefe warf Ellen weg. Einer jedoch interessierte sie an diesem Freitagmorgen besonders. Er steckte in einem pechschwarzen Kuvert. Ellens Finger zitterten, als sie den Umschlag aufschlitzte. Die Botschaft war kurz und mit roter Schrift geschrieben. Auf dem ebenfalls schwarzen Papier stand:
Heute Abend wirst du sterben!
***
Neben dem Schminkspiegel und zwischen den beiden vergilbten Werbeplakaten von TTV hing eine runde Wanduhr. Sie ging auf die Sekunde genau und wurde von denen, die die Garderobe benutzten, spöttisch »Antreiber« genannt. Fiel einmal der Strom aus, schaltete die Uhr auf Batterie um, und man musste sie schon zerstören, um sie aus dem Rhythmus zu bringen. Aber das wollte niemand.
Auch Ellen Page nicht, als sie um sechs Uhr abends die Garderobe betrat. Ihr Dienst begann zwar erst in einer Stunde, doch sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, stets früh anwesend zu sein, damit sie sich in Ruhe zurechtmachen konnte. Den letzten Schliff gab ihr Molly, die Maskenbildnerin. Eigentlich hatte sie längst das Rentenalter erreicht, aber sie machte weiter. Als Witwe hätte sie sonst die große Einsamkeit überkommen.
Molly war im Moment nicht da, und so betrat Ellen die Garderobe allein.
Sie liebte und hasste den Raum gleichzeitig. Das Licht war gnadenlos. Wer Jahre hier verbracht hatte, wurde durch die Leuchtkraft der Lampen regelrecht seziert. Da konnte man kein Fältchen verschleiern, wenn nicht Molly mit Cremes und Schminke eingriff.
Wie immer fiel die Tür von allein ins Schloss, und wie immer funktionierte die Heizung nicht so recht. Sie lief nur auf halber Kraft. Auch der Geruch war gleich. Wenn man tief einatmete, schmeckte man Parfüm, Spray und Puder auf der Zunge. Besucher bekamen oft ein Kratzen im Hals.
Ellen kannte das, sie hatte sich daran gewöhnt. Aber an diesem Abend kam es ihr fremd vor. Den Mantel hängte sie an den Haken, die kleine Tasche warf sie auf den Garderobentisch, und als sie Platz nahm, hatte sie das Gefühl, in einem fremden Zimmer zu sitzen.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.
War es überhaupt ihr Gesicht?
Sie schluckte, hob die rechte Hand und spreizte Daumen und Zeigefinger ab. Mit den Kuppen fuhr sie über zwei Falten, die sich an den Wangen gebildet hatten und keine Grübchen waren. Nein, die waren echt.
Mit neunundzwanzig war man zwar herrlich jung, aber man gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Die heutige Zeit war zu schnelllebig, wurde von der Werbung beeinflusst, und Ellen hatte die prüfenden Blicke der verantwortlichen Programmmacher nicht vergessen, als sie eine Party zu ihrem letzten Geburtstag gegeben hatte.
Wie lange konnte sie den Job noch ausüben? Ein Jahr, vielleicht zwei? Dann war es vorbei, denn sie wusste, dass hinter ihr die Jüngeren warteten. Die achtzehnjährigen Dinger, die mit Sex, großer Klappe und vielen Versprechungen versuchten, sich für die entsprechenden Jobs zu qualifizieren.
Fünf Jahre war sie bei TTV beschäftigt. Ein Privatsender war da rigoroser als ein staatlicher. Man gierte nach Zuschauern, denn Zuschauer bedeuteten Werbegelder.
Ellen atmete schwerer als sonst. Sie öffnete ihre Handtasche und holte aus dem Etui eine schwarze Filterlose. Es war eine starke französische Zigarette.
Als sie die Flamme des Feuerzeugs sah, bemerkte sie das Zittern. An der Flamme lag es nicht, sondern an ihren Händen. Auf sie hatte sich ihr nervöser Zustand übertragen. Vielleicht war es schon Panik, denn sie hatte die Botschaft nicht vergessen.
Heute Abend wirst du sterben!
Immer wieder hatte sie daran denken müssen. Auch jetzt spukte ihr dieser Satz im Kopf herum. Er hatte sie gezwungen, wieder einmal zu den Tabletten zu greifen, damit sich ihre Nerven beruhigten.
Die Wirkung der Medizin hatte nachgelassen. Sie wusste selbst, dass es nichts taugte, wenn man die kleinen, bunten Dinger schluckte, aber sie hatte einmal damit angefangen und sich daran gewöhnt.
Jetzt war es schwer, davon loszukommen.
Den Rauch blies sie gegen die Spiegelfläche, auf der ihr Gesicht als schwammige Maske erschien. Ellen fand sich plötzlich hässlich, abstoßend. Das Gefühl wollte selbst dann nicht weichen, wenn sie an ihr neues Kleid dachte, das sie heute zum ersten Mal trug.
Sonst hatte es ihr stets Befriedigung vermittelt, neue Sachen anzuziehen, sie wirkte wie aufgeputscht. In diesem Fall war nichts davon zu spüren. Sie kam sich leer vor, ausgebrannt und deplatziert. Sie hatte keine Lust mehr, in die Kamera zu lächeln und plötzlich einsam zu sein, während es sich die Zuschauer vor den Bildschirmen bequem gemacht hatten und sie um ihren Job als Ansagerin beneideten.
Wenn die Leute von den Machtkämpfen und Intrigen dieser verfluchten Haifisch-Branche gewusst hätten, ihre Meinung wäre bestimmt eine andere gewesen.
So aber lächelte sie, sagte mit charmanter Stimme den größten Programm-Mist an und wünschte immer wieder einen guten, unterhaltsamen und vergnüglichen Abend, während ihr zum Heulen zumute war.
Der Rauch vor der Spiegelscheibe wurde dünner. In durchsichtigen Fetzen zog er davon, sodass sich ihr Ebenbild allmählich klärte.
Wirklich klärte?
Ellen Page zwinkerte mit den Augen. Was der Spiegel zeigte, das durfte nicht wahr sein. So sah sie nie und nimmer aus. Nein, nicht so graugelb im Gesicht. Auch hatte sie nicht solch dunkle Ringe unter den Augen, die ihr wie eingegraben und nachgeschminkt vorkamen.
Das war verrückt! Ellen zitterte stärker. Sie legte die Zigarette in einen Ascher. Mit den Fingerkuppen wollte sie über die gelblich schimmernde Haut an ihrer Wange fahren, zuckte aber zurück, als sie erkannte, dass sich ihre Hand ebenfalls verändert hatte.
Das waren keine Nägel mehr, die da das Ende ihrer Finger bildeten, sondern Knochenteile.
Wie bei einem Skelett!
Vorsichtig berührte sie ihre eigene Haut. Kaum hatte sie Kontakt, als sie den nächsten Schock erlitt.
Die Haut fühlte sich an wie weiche Pappe. Ellen konnte mit den Knochensplittern hindurchstoßen, behielt diese Haltung für einen Moment bei und drückte die Hand anschließend nach unten.
Die Haut machte diese Bewegung mit. Ellen sah mit Schrecken, wie es ihr gelang, sie vom Gesicht zu ziehen, dass die blanken Knochen zum Vorschein kamen.
Die Masse selbst rann an ihren Fingern entlang wie zäher Kuchenteig, zog sich in die Länge und fiel schließlich in dicken Tropfen zu Boden.
Ellen Page wusste nicht, wie lange sie so vor dem Spiegel saß. Die Zeit war nebensächlich geworden, sie starrte nur auf ihr hässliches Gesicht, das einen immer schrecklicheren Ausdruck annahm und zu einem blanken Skelettschädel wurde, in dem die leeren Augenhöhlen wie dunkle Teiche schimmerten, der Mund offenstand und sich zwei Löcher dort befanden, wo einmal die Nase gewesen war.
Die Ansagerin besaß einen Totenschädel.
Einen Totenschädel!
Gedanklich wiederholte sie dies, und sie schüttelte sich, als hätte jemand Wasser über sie gegossen. Längst hatte sie den Arm sinken lassen. Er hing neben ihr, als würde er nicht zu ihr gehören. Nur den Schädel konnte sie anstarren.
In den letzten Sekunden war sie sich wie unter Hypnose vorgekommen. Ihr Denkvermögen war reduziert, und erst allmählich wurde ihr bewusst, wen oder was sie da anschaute.
Das war sie!
»Neeeeiiiinnnn!« Plötzlich flammte der Schrei aus ihrem Mund. So grell, so gepeinigt und markerschütternd, dass er trotz der schallschluckenden Wände durchs Studio hallen musste.
Ellen warf sich gleichzeitig zurück und dachte nicht mehr daran, dass sie auf einem Stuhl saß, der nicht mehr mit allen vier Beinen auf dem Boden stand.
Der Stuhl kippte. Ellen gleich mit. Dass sie mit dem Rücken aufschlug, nahm sie nicht wahr, denn für sie war die Welt in einer gnädigen Ohnmacht versunken, die den Horror abgelöst hatte …
***
»Jaja, Whisky ist immer gut«, hörte Ellen eine Stimme, die nah war und doch so weit entfernt klang. »Ich kenne das. So viele Ohnmachten wie ich hat sonst niemand miterlebt. Lassen Sie mich mal! Das Kind ist ja völlig bleich.«
»Aber die Ansage …«
»Hat eine halbe Stunde Zeit. Bis dahin kriege ich Ellen wieder hin.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Ja, Molly weiß, wie man die Dinge löst. Vor allem will ich keine Gaffer um mich rum. Los, verschwindet jetzt! Einen Ersatz braucht ihr nicht zu holen. Ellen wird pünktlich vor der Kamera sitzen.«
»Wenn nicht, wird sie gefeuert. Und Sie gleich mit, Molly.«
»Das sieht euch verdammten Hyänen wieder ähnlich. Haut endlich ab, sonst muss ich würgen!«
Eine Tür schlug zu, Molly stöhnte erleichtert auf, und Ellen spürte, wie zarte Hände ihren Kopf anhoben. Dann verschwand eine Hand, dafür drückte ihr jemand etwas gegen die Lippen. Es war die Öffnung einer Flasche. Ellen Page begann, automatisch zu schlucken, trank den Scotch und musste husten, sodass das meiste Zeug wieder aus ihrem Mund sprühte.
»Na, das geht ja schon ganz gut, meine Kleine«, sagte Molly. »Wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht auf die Beine kriegen würden. So etwas wirft uns alte TV-Hasen nicht um, oder?«
»Nein, nein …«
»Okay, Baby. Willst du noch liegen bleiben, oder kannst du dich schon aufsetzen?«
»Sitzen.«
»Ich helfe dir.« Molly, die Mütterliche, zeigte sich besorgt und war hilfsbereit. Sie drückte ihre Hände unter Ellens Achseln und zog ihren Schützling hoch. Mit unsicheren Schritten ging Ellen auf den Stuhl zu. Molly musste sie stützen. Den Stuhl hatte irgendjemand wieder aufgestellt.
Ellen nahm vorsichtig Platz. Die Maskenbildnerin wunderte sich darüber, dass ihr Schützling die Hände vors Gesicht gepresst hielt, denn eine Wunde oder Verletzung entdeckte sie nicht.
»Was ist los?«, fragte Molly. Sie war neben Ellen stehen geblieben und hatte den Kopf gesenkt.
Ellen gab keine Antwort. Sie wartete eine Weile, bevor sie überhaupt die Kraft fand, die Hände von ihrem Gesicht wegzunehmen und in den Spiegel zu schauen.
Sie sah ein Gesicht.
Ihr Gesicht!
Keine Knochenfratze, kein Skelettschädel, alles war völlig normal und real.
»Aber das kann doch nicht sein«, hauchte sie. »Das … das ist unmöglich.«
»Was ist unmöglich, Kleine?«
Die Ansagerin hob die Schultern und krauste die Stirn, als wollte sie die Bilder der Erinnerung wieder ans Tageslicht holen.
Ellen holte tief Luft. »Da war … eine Gestalt.« Sie schüttelte den Kopf und korrigierte sich selbst. »Nein, keine Gestalt, das war ein Skelett. Ja, ein Totenschädel!«
»Wo?«
Ellen hob langsam den rechten Arm, schaute auf ihre völlig normalen Finger und deutete mit dem längsten auf den Spiegel. »Genau dort habe ich den Schädel gesehen.«
»Diesen Totenkopf?«
»Richtig.«
»Und dann?«
»Ich war der Schädel«, rief sie laut. »Ich war der verdammte Totenschädel, Molly. Kannst du dir das vorstellen?« Sie sprang plötzlich auf und starrte die Maskenbildnerin an. Dabei zeichnete sie die Umrisse ihres eigenen Kopfes mit den Händen nach. »Er wuchs auf meinen Schultern.«
Molly wollte lachen. Als sie in das ernste Gesicht der Ansagerin sah, verschluckte sie die Reaktion und bewegte beschwichtigend die Hände.
»Setz dich hin, Kind!«, sagte sie. »Schau noch einmal in den Spiegel und sag mir, wen oder was du da siehst!«
»Mich.«
»Eine hübsche, normale junge Frau.«
Das folgende »Ja« klang zögernd.
»Und keinen Schädel. Kindchen, du bist überspannt. Du brauchst Urlaub, das sage ich dir. Wenn ich ehrlich sein soll, hast du mir schon in den letzten Wochen nicht gefallen. Das war irgendwie immer etwas viel für dich. Du solltest wirklich mal wegfahren und diesen Laden für einen Monat vergessen.«
»Und mein Job ist weg!«
»Ach, das bildest du dir ein, Kindchen. Keine nimmt dir deine Arbeit weg. Du bist gut. Du gehörst zu den besten Ansagerinnen, das weißt du selbst.«
Ellen Page verengte die Augen, sodass sie einen lauernden Ausdruck bekamen.
»Klar, ich gehöre zu den besten«, sagte sie. »Das weiß ich. Aber ich bin zu alt. Verstehst du? Zu alt!«
Das wollte ihr Molly nicht abnehmen. »Schau mich doch an, Kindchen! Mein dünnes Haar ist grau geworden. Jede einzelne Falte ist eine Geschichte. Ich bin stolz darauf. Und mein Körper ist auch nicht mehr der einer Dreißigjährigen. Was soll ich dir sagen? Ich habe immer noch Spaß am Leben.«
»Den gönne ich dir, Molly. Nur stehst du nicht in der Öffentlichkeit wie ich. Du brauchst dich nicht zu präsentieren und jeden Abend wie geleckt auszusehen. Dann komme ich in die Garderobe, setze mich vor den Spiegel und sehe mein Gesicht. Aber es ist nicht das meine, sondern ein Knochenschädel. Ich arbeite bei TTV, einer privaten Gesellschaft. Hier verlangt man mehr als anderswo. Nein, ich bin nicht verrückt oder durchgedreht. Was ich gesehen habe, das habe ich gesehen.«
»Hast du heute schon Pillen genommen?«, fragte Molly.
»Wieso?«
»Du nimmst sie doch. Ich habe sie gesehen, als deine Handtasche offen war. Mir kannst du nichts vormachen.«
»Zwei oder drei. Mehr nicht«, gab Ellen zurück.
»Denk immer daran, dieses Zeug aus den Giftküchen der Chemie-Konzerne hilft dir nicht! Deine Probleme musst du ohne Pillen lösen. Hast du verstanden? Keine Pillen oder Aufputschmittel! Du bist selbst für deinen Zustand verantwortlich.«
»Aber das Gesicht war da!«, beharrte Ellen.
»Wir reden später darüber.« Molly schaute hoch zur Uhr. »Ich muss dich schminken, sonst verpasst du deinen Auftritt, Kindchen.«
»Dann fliegen wir beide.«
»So weit könnte es im schlimmsten Fall kommen.«
Ellen war noch nicht so weit. »Okay, Molly, du glaubst mir nicht«, sagte sie mit hektisch klingender Stimme. »Das kann ich auch nicht verlangen. Es ist verrückt, was ich da gesehen habe. Aber ich will dir etwas zeigen, so viel Zeit muss sein.« Ellen griff in die Handtasche und holte den Brief hervor. »Lies ihn, Molly, lies ihn!«
Die Maskenbildnerin nahm ihn entgegen. Es dauerte nur Sekunden, da bekam ihn Ellen von ihr zurück.
»Was sagst du denn, Molly? Los, rede!«
»Der ist echt?«
»Ja. Echter kann er nicht sein. Ich habe ihn heute Morgen mit der Post bekommen.«
Molly blieb gelassen. »Bekommst du häufiger solche Briefe?«
»Nein.«
»Darüber kann ich nur lachen.«
»Ich nicht, Molly. Ich nicht. Zuerst dieser Brief, dann der Totenschädel, da kommt eins zum anderen. Ich sage dir, Molly, jemand will mich fertigmachen …«
»Das werde ich jetzt«, erklärte die Maskenbildnerin zweideutig.
»Wieso?«
»Ich muss dich schminken, Kindchen. Jetzt ist es wirklich höchste Eisenbahn. In einer Viertelstunde musst du in die Kamera lächeln. Dann wirst du alles vergessen haben, und anschließend kommst du zu mir. Ich habe eine gute Tasse Kaffee gekocht, die wird dir schmecken …«
»Molly«, unterbrach Ellen die Frau.
»Was ist denn?«, fragte die Maskenbildnerin mit gütiger Stimme.
»Molly, ich habe Angst«, flüsterte Ellen Page. »Furchtbare Angst …«
***
Ich hatte Feierabend.
Es ist immer ein gutes Gefühl, nichts mehr tun zu müssen, und wenn dieser Feierabend auf einen Freitag fällt, so steigert sich das Gefühl zur Euphorie. Falls das Wetter dann stimmt, ist alles perfekt.
Das Wetter stimmte bei mir nicht. Nach der großen Kälte war die Wärme gekommen und hatte Regen gebracht. Zum Glück ergossen sich nur Schauer über London, aber die Temperaturen lagen für Anfang Februar viel zu hoch, sodass kreislaufschwache Menschen mit den Tücken des Wetters zu kämpfen hatten. Auch ich fühlte mich nicht gerade fit. Etwas matt, wenn ich ehrlich war. Das lag sicherlich nicht am Wetter, sondern an der harten Woche. Zudem war ich an diesem Abend länger im Büro gewesen und hatte Berichte geschrieben.
Suko war zu einem offiziellen Termin verschwunden. Er und Shao hatten noch etwas vor. Sie wollten einen Theaterbesuch machen. Überhaupt waren die beiden in letzter Zeit an den freien Abenden oft unterwegs. Ich gönnte es ihnen, sie sollten das Leben ruhig genießen. Die freie Zeit war kostbar genug.
Ich hätte mein Leben auch gern verschönert, doch an diesem Freitag hatte ich einfach keine Lust, irgendetwas zu unternehmen. Außerdem hatte ich mich mit Glenda gestritten. Es ging da um ein dienstliches Problem, sie spielte beleidigt und ich ebenfalls.
Ich drückte mich aus dem Bentley, schloss den Wagen ab und betrat den Fahrstuhl von der Tiefgarage aus. Im Haus war es ruhig. Obwohl zahlreiche Mieter in dem hohen Kasten wohnten, hörte man nur wenig. Ich selbst kannte die wenigsten, nicht einmal alle Bewohner auf meiner Etage. Shao und Suko bildeten eine Ausnahme.
Die beiden standen vor dem Lift, als ich ihn verließ. Sie wollten nach unten.
»Hi, John«, sagte Shao und reichte mir die Hand.
»Jetzt kommst du erst?«, fragte Suko.
»Ich bin eben pflichtbewusster als du.« Ich deutete auf seine neue Jacke. »So etwas kann ich mir nicht leisten. Und teure Theaterkarten erst recht nicht.«
»Wir haben sie geschenkt bekommen«, berichtigte mich Shao.
»Glück habt ihr ebenfalls. Und was wird gespielt?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Suko.
Shao verdrehte die Augen. »Ein Schauspiel. Etwas Modernes. Ein Stück mit Aussagekraft, kein Bla …«
Ich achtete nicht auf Shao, sondern auf Suko, weil er so ein zerknirschtes Gesicht machte. Was er dachte, konnte ich mir nicht vorstellen, und er fing auch schon an.
»John, ich meine, wenn dich moderne Theaterkunst interessiert, du kannst gern meine Stelle einnehmen«, sagte er. »Ich wasche dann ab, putze und sauge. Ich werde …«
»Mitkommen«, erklärte Shao und führte meinen Freund und ihren Partner ab wie einen Gefangenen.
Sie huschte an mir vorbei. Shaos lange Haarflut wehte gegen mein Gesicht, die Spitzen kitzelten, und bevor sich die Lifttür schloss, sah ich als letztes Sukos leidende Miene.
Allmählich kam ich zu der Überzeugung, an diesem Abend doch das bessere Los gezogen zu haben, obwohl ich nichts Besonderes vorhatte und nur in die Glotze schauen oder in einigen Büchern und Magazinen blättern wollte.
Ich schloss die Tür auf. Meine Wohnung sah sauber aus, fast wie geleckt. Daran trug nicht ich die Schuld, sondern meine Putzfrau, die jeden Freitag kam und einmal gründlich säuberte.
Mein Weg führte mich in die Küche. Der Griff zum Kühlschrank war schon Routine und der Schluck Cola, ein wenig mit Whisky veredelt, löschte den ersten Durst.
Zu Abend hatte ich noch nicht gegessen. Ich wärmte mir ein Süppchen auf und machte danach im Wohnraum die Beine lang. Schon bald lagen die Zeitungen und Magazine um mich herum verstreut. Ich las etwas über Politik, über Klatsch und Tratsch und kam zu dem Entschluss, mal auf den Bildschirm zu schauen. In wenigen Minuten würde das Abendprogramm beginnen.
In welchen Kanal ich reinschauen wollte, wusste ich nicht. Ich hatte keine Lust, erst großartig im Programmheft zu blättern, und griff zur Fernbedienung. Die zahlreichen Knöpfe reizten auch einen Erwachsenen, damit ein wenig zu spielen. Ich schaltete den Fernseher ein. Und kurz darauf grinste mich das Bild eines bekannten Politikers an. Es war ausgerechnet der Innenminister, mein oberster Dienstherr. Ihn wollte ich nicht unbedingt sehen, schließlich lag der harte Job des Tages längst hinter mir. So knipste ich weiter.
Natürlich Werbung.
Seifig, seicht, bunt, umrahmt von lächelnden, fröhlichen Menschen, die sich unheimlich freuten, dass die Nachbarin eine bestimmte Margarine nach Hause brachte.
Dies war so verlogen, dass ich schnell weiterschaltete und einige Kanäle durchging.
Bis ich den letzten einschaltete.
Ein Programm lief nicht, dafür sah ich das Logo des Senders. Auf dem Bildschirm stand in einem strahlenden Blau das bekannte Signet TTV.
Technic Television. Ein privater Sender, der in den letzten Monaten Furore gemacht hatte, weil die Einschaltquoten bei ihm stimmten und immer mehr Menschen von den staatlichen Programmen umschalteten. Die Privaten wurden immer mächtiger. Einem war es sogar gelungen, die Serie Dallas dem größten staatlichen Sender wegzuschnappen. Vor wenigen Tagen war dies als kleine Sensation durch die Presse gegangen.
Es gab eine Programmvorschau für den Zuschauer. Die einzelne Sendefolge rollte ab.
Beginnen wollte der Sender sein Programm mit einem Spielfilm, der nichts für schwache Nerven war, wie zu lesen war. Ein Horrorfilm über das Mittelalter, als man auf Menschenleben noch wenig Rücksicht genommen hatte. Schon der Titel sagte alles. Der Henker im Blutrausch.
Sollte sich den Film ansehen, wer wollte, ich auf keinen Fall. Horror oder Grusel hatte ich im Dienst genug, sodass ich mir nicht meinen wohlverdienten Feierabend damit verderben wollte.
Die Beine lagen hoch. Die Fernbedienung war ein wenig zur Seite gerutscht, sodass ich sie nicht mit dem ausgestreckten Arm erreichen konnte und erst hätte aufstehen müssen.
Dazu war ich im Moment zu faul. So schaute ich zu, wie die Schrift verschwand und die Ansagerin auf dem Bildschirm erschien. Endlich ein erfreulicher Anblick.
Viele Menschen kannten die TV-Elfen. Während sie ihr Lächeln anknipsten, wurden ihre Namen eingeblendet. Diesmal Ellen Page.
Ich sah diese Ansagerin nicht zum ersten Mal. Ihren Namen aber hatte ich nicht behalten. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die jedes Gesicht, das sie auf dem Bildschirm sahen, mit Namen kannten.
Mir war die Frau sympathisch. Sie war nicht mehr so jung wie die meisten ihrer Kolleginnen, versprühte dafür aber einen herzlichen Charme. Und ihr TV-Lächeln war leicht und locker.
Das blonde Haar hatte bisher keine Färbung nötig gehabt. Sie trug es diesmal nicht schulterlang, sondern hochgesteckt, wobei ein paar vorwitzige Strähnen in die Stirn fielen und an den Seiten über die Ohren hingen.
Da ich genau hinschaute, fiel mir auf, dass Ellen Page an diesem Abend stärker geschminkt war als sonst. Auch zeigten die Augen irgendwie einen traurigen Ausdruck. Möglicherweise gefiel mir persönlich ihr Kleid nicht. Die violette Farbe mit den schwarzen, auseinanderlaufenden Tupfen war eben reine Geschmackssache.