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Mary Ann Baxter war eine Dame von Welt. Sie leitete eine der bekanntesten Londoner Tanzschulen, gehörte zu den oberen Fünfhundert, war berühmt für ihre Clubfeste und hatte bereits drei Männer überlebt.
An jedem hatte sie gehangen, um jeden hatte sie getrauert, und trotzdem liebte sie alle drei selbst nach deren Tod weiter. Wer ihrer zahlreichen Freunde ahnte schon, dass die drei Verstorbenen gar nicht begraben waren?
Auf einem ihrer Clubfeste platzte die Bombe! Als Höhepunkt präsentierte Mary Ann Baxter ihre verstorbenen Männer als Zombies ...
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Zombie-Ballade
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5434-8
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Zombie-Ballade
von Jason Dark
Der Wind war kalt. Am Himmel trieben graue Schneewolken wie lauernde Ungeheuer. Es sah so aus, als wollten sie sich jeden Moment auf die Erde stürzen, um die Häuser, Straßen, Autos und Menschen unter sich zu begraben.
Der Wind drang in jede Ritze. Zahlreiche Menschen schützten sich mit dicken Schals, die sie mehrmals um den Hals und um die Mundpartie gewickelt hatten. Die Verkäufer von Fellmützen hatten Hochkonjunktur.
Nicht einmal gegen Mittag, als sich die Sonne am Himmel zeigte, taute das Eis.
Die Autofahrer verhielten sich vorbildlich, denn an vielen Stellen schimmerten Eiskristalle auf dem Asphalt.
Auch der Rolls fuhr langsam. Der Chauffeur kannte den Weg, denn er brachte seine Chefin häufig zum Friedhof, wo sie sich an den Gräbern ihren Erinnerungen hingab. Friedhöfe waren für sie das Salz in der Suppe des Lebens.
Der Rolls glitt lautlos dahin. Wenn sein silberfarbener Metalliclack vom Licht der kalten Wintersonne getroffen wurde, strahlte er explosionsartig auf. Das störte aber hinter den getönten Scheiben niemanden.
Die Frau im Fond hatte sich schräg in die Polster gelegt. Das rote Leder war weich wie ein Katzenfell.
Der Wagen war mit allen Schikanen ausgerüstet: Telefon, Fernseher, Stereo-Anlage und der obligatorischen Bordbar. In diesem Kühlfach standen immer ein paar Flaschen Champagner, das Lieblingsgetränk der Frau.
Andere sagten Puffbrause dazu. Sie störte das nicht. Besonders auf langweiligen Fahrten wie dieser nippte sie gern an dem trockenen Edelgesöff.
Luxus, wohin man schaute.
Und als Luxus-Frau sah sich Mary Ann Baxter. Sie gehörte zu den Oberen Fünfhundert der Londoner Gesellschaft, ohne selbst von Adel zu sein. Aber sie hatte Geld, zudem hatte sie einen außergewöhnlichen Beruf und gab Feste, die bei der Schickeria beliebt waren. Wer von Mary Ann Baxter eingeladen wurde, der gehörte dazu, der hatte es geschafft, der war in.
Geld hatte sie, die dreifache Witwe, aber sie war dabei, es zu vermehren, denn ihr gehörte die bekannteste Londoner Tanzschule.
MAB Dancing!
Mehr brauchte man nicht zu sagen, jeder Londoner kannte diese große Schau. Wer Kinder und genügend Geld hatte, der schickte seine Sprösslinge zu Mary Ann Baxter in die Tanzschule. Die Älteren kamen ebenfalls gern, um ihre Tanzkenntnisse aufzufrischen, außerdem gehörte es in gewissen Kreisen dazu, Mary zu kennen. Manchmal las sich ihre Schülerliste wie das berühmte Buch »Who’s who?«.
So sehr sie den Luxus liebte, so sehr hielt sie auf ihr Äußeres. Sie war eine attraktive Frau. Sie war vierzig Jahre alt, hatte schwarzbraunes Haar und sah bedeutend jünger aus. Irgendjemand hatte sie einmal mit der berühmten Filmschauspielerin Greta Garbo verglichen, denn Mary versteckte sich oft hinter einer dunklen Brille.
Sie liebte Schmuck, teure Kleider und Pelze. Der Mantel, den sie mitgenommen hatte, lag wie ein ausgebreiteter Leopard hinter ihr. Dass diese seltenen Tiere ihretwegen hatten ihr Leben lassen müssen, darüber dachte sie nicht nach.
Luxus musste sein, egal auf wessen Kosten.
Sie hatte das Glas geleert und wollte sich gerade einschenken, als der Wagen in eine Kurve fuhr. Fliehkräfte wirkten, und der kostbare Champagner schwappte über den Rand.
Mary Ann Baxter verzog das Gesicht. Sie hatte volle Lippen, einen Mund, der zum Küssen einlud. Im Moment wirkte er allerdings wie eine offene Wunde.
»Kannst du nicht achtgeben?«, zischte sie.
Über ihre Hand rann der Champagner auf die Beine und das Sitzleder. Mit einem langen Schluck spülte sie den Ärger runter.
Mary Ann Baxter schaute aus dem Fenster. Bis sie den Friedhof erreichten, blieb Zeit, eine Zigarette zu rauchen.
Ein schneller Wagen überholte sie, als Mary Ann Baxter die goldene Zigarettenspitze aus der Handtasche kramte. Der Fahrer versuchte durch die getönten Scheiben in den Rolls zu schauen, schaffte es aber nicht.
Wenig später passierten sie graue Häuserfronten. Auf den Dächern schimmerte der Raureif. Deshalb sahen sie aus wie matte Spiegel, über die der feine Qualm aus den Schornsteinen wehte.
Die Frau schüttelte sich, als ihre Blicke über die Fronten glitten. Sie dachte an ihre eigene Jugend. Die ersten Jahre nach dem Krieg hatte sie in einem solchen Haus verbracht und die engen Wohnungen hassen gelernt. Hier lebten Menschen ohne Freiraum, die sich gegenseitig in die Töpfe guckten.
Die Zeiten lagen zum Glück hinter ihr. Sie hatte diese Jahre abschütteln können und einen Ehrgeiz entwickelt, der beängstigend war.
Die Gedankenkette der Frau riss, als sie die ersten hohen Bäume erblickte, die den Friedhof einrahmten.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Während andere Menschen eine instinktive Furcht vor einem Friedhof empfanden, freute sie sich darauf, das Gelände zu betreten. Sie, die Lady aus der Londoner Gesellschaft, fühlte sich auf diesem Gelände wohl. In den letzten Monaten hatte sie der Chauffeur des Öfteren hergefahren, und sie hatte etwas geschafft, das eigentlich unmöglich war.
Selbst Spiro, ihr Fahrer und treuer Vasall wusste nichts davon.
Er lenkte den schweren Wagen auf den Parkplatz. Die Markierungen der Parktaschen waren unter dem Eis verschwunden.
Sanft stoppte der Wagen.
Mary Ann Baxter blieb sitzen. Sie stellte das Glas weg, griff nach hinten und zog den Mantel hoch. Weich schmiegte sich der Pelz um ihre Schultern.
Ein Schatten fiel gegen das Fenster, als Spiro auf der rechten Seite die Fahrerseite öffnete. Er stieg aus. Seine Chefin bekam Zeit, ihn zu beobachten.
Spiro war zwar keine große Leuchte, aber er war ein Mann. Das hatte er ihr in langen Nächten mehr als einmal beweisen müssen. Seine Herkunft lag im Dunkeln. Er selbst sprach davon, russisches Blut in den Adern zu haben. Das konnte durchaus stimmen. Er trug die Pelzmütze leicht schief auf dem Kopf. Seine Haut wirkte wie raues Holz. Die Gesichtszüge waren kantig und das vorspringende Kinn dominierend.
Spiro wusste, was er zu tun hatte. Pflichtbewusst öffnete er seiner Chefin den Wagenschlag.
Sie stieg aus und nickte, als ihr Spiro galant in den Pelz half.
»Wann werden Sie wieder zurück sein?«, fragte der Mann. Er stellte stets die gleiche Frage und hatte stets die gleiche Antwort bekommen, aber heute war es anders.
»Du begleitest mich, Spiro.«
»Ich?«
Die Frau lächelte schmal, holte ihre dunkle Brille hervor und setzte sie auf. »Ja, ich will es so. Du musst mir helfen.« Sie blickte Spiro an.
Er konnte den harten und entschlossenen Ausdruck ihrer Augen nicht sehen, aber er nickte. »Sehr wohl.«
Bevor sie gingen, schaute sich Mary Ann Baxter noch einmal um. Dieser kalte Wintertag war nicht nach ihrem Geschmack. Die Luft schien aus Eis zu bestehen. Wenn sie atmete, hatte sie das Gefühl, ihre Lungen würden allmählich vereisen. Sie wickelte den Schal um ihren Mund. Mit der dunklen Sonnenbrille sah sie aus wie eine Bankräuberin.
Vom Friedhofstor her löste sich eine einsame Gestalt. Ein älterer Mann, der langsam und gebeugt quer über den großen, leeren Platz lief und sich wahrscheinlich in der nahe gelegenen Gaststätte aufwärmen wollte.
»Wir gehen!«, entschied Mary Ann.
Spiro wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Es gab gewisse Dinge, auf die seine Chefin achtete. Da kannte sie kein Pardon. Er ließ sie rechts gehen, reichte ihr den Arm, aber Mary Ann Baxter lehnte ab. Mit einer ungeduldig wirkenden Geste rammte sie beide Hände in die Manteltaschen.
In dieser freien Lage biss die Kälte noch stärker. Vor allen Dingen dann, wenn Wind aufkam. Er schien unsichtbare Eisstücke vor sich herzutreiben.
Das Friedhofstor wirkte wie die Trennlinie zwischen zwei Welten. Einmal war es die Welt der Lebenden, zum anderen die der Toten. Bis jetzt standen die beiden Ankömmlinge auf der Seite des Lebens, aber die Frau freute sich darauf, den Friedhof betreten zu können. Dort lag die Welt, die sie liebte. Die Umgebung des Vergänglichen, auf der der Hauch des Vergessens lastete. Blumen, die auf frisch aufgeworfenen Grabhügeln verwelkten und verfaulten, unterstrichen mit ihrem strengen Geruch diesen Eindruck.
An den Gitterstäben des Tores klebte das Eis. Das Schloss war ebenfalls von einer weißgrauen Schicht überzogen.
Spiro hatte Mühe, das Tor zu öffnen. Er zog es zu sich heran und schaute seine Chefin an. Sie war anders als sonst. Zwar sprach sie nie viel, wenn sie zum Friedhof ging, doch heute hatte sich ihre Haltung verändert. Sie wirkte steifer und gleichzeitig, was ein Widerspruch zu sein schien, erwartungsvoller.
Spiro redete nur, wenn er gefragt wurde und wenn etwas seine unmittelbaren Interessen berührte. Die Frau blieb neben ihm stehen. Sie schaute starr auf den Friedhof.
»Du gehst mit, Spiro«, wiederholte sie.
Im Holzgesicht des Mannes zuckte kein Muskel. »Zu den Gräbern?«
»Wohin sonst?«
Er wollte eine Frage stellen, traute sich aber nicht. Die Baxter hatte es bemerkt und lachte leise.
»Heute ist ein wichtiger Tag für uns, Spiro. In den nächsten Stunden werde ich die Weichen für eine Zukunft stellen, die auch dich berührt. Deshalb musst du mitkommen. Ich will dich in ein Geheimnis einweihen. Du wirst mir zur Seite stehen und mir helfen.«
»Natürlich.«
Mary Ann Baxter ging vor. Steinhart war der Boden gefroren. Sie passierten die gewaltige Leichenhalle mit dem Zeltdach und den großen bis zum Boden reichenden Scheiben darunter. Im Sommer war die Halle lichterfüllt und sonnendurchflutet. Zu dieser Jahreszeit wirkte das Glas blaugrau.
Spiro ließ das Tor offen. Er blieb diesmal hinter seiner Chefin. Der Mann besaß einen schwerfälligen Gang, als hätte er früher einmal als Holzfäller gearbeitet. Es war ihm nicht anzusehen, welch eine Geschmeidigkeit und Sprungkraft in seinem muskelgestählten Körper steckte.
Der Friedhof war unterteilt in einen alten und einen neuen Bereich. Mary Ann Baxter wandte sich nach rechts, wo der alte Bereich lag. Dort befanden sich die großen Familiengruften, wo sie ihre drei Männer beerdigt hatte.
Grabsteine und Denkmäler waren die stummen Zeugen eines eiskalten Wintertages. Auf den Gräsern und dem Geäst der Bäume und Büsche schimmerte der Raureif.
Mary Ann Baxter hatte für die Umgebung keinen Blick. Sie wollte so rasch wie möglich zum Grab ihrer verstorbenen Männer gelangen. Die Gruft gehörte ihr. Sie hatte alle drei in einem Totenhaus begraben lassen.
Mary Ann Baxters Gang war federnd. Es war ihr anzusehen, dass sie tanzen konnte. Fast jeder Schritt wirkte wie eine tänzerische Bewegung.
Die Umgebung wurde düster, der Weg schmaler. Hier wuchsen die Bäume höher. Im Sommer, wenn sie dicht belaubt waren, spendeten sie kühlen Schatten. Sie hielten dann die Sonne ab, sodass die Erde immer eine gewisse Feuchtigkeit enthielt.
Die großen Grabsteine waren von Moos überwuchert. Kaltes Sonnenlicht schien durch das dunkle Geäst der Bäume.
Ohne sich nach Spiro umzusehen, bog die Frau in einen schmalen Weg ein. Er führte im rechten Winkel in ein altes Gräberfeld hinein. Nicht weit von der Einmündung entfernt stand eine mächtige Trauerweide. Auf ihren Zweigen hockten einige schwarze Krähen. Mary Ann Baxter beachtete sie nicht, Spiro umso mehr.
Er war ein Mann, der von sich behauptete, keine Angst zu haben. Irgendwann hatte er mal geprahlt, der Rambo von London zu sein. Das allerdings sagte er nicht öffentlich, nur wenn er mit Kumpanen aus alten Zeiten zechte.
Auf diesem Friedhof aber fühlte sich Spiro unwohl. Er mochte die in der Kälte stehenden Grabstätten nicht.
Sie strahlten eine gefährliche Düsternis aus, waren für ihn Vorboten des Todes, die mit ihren langen Schatten nach ihm griffen.
Manchmal behauptete er, am Hinterkopf Augen zu haben. Dann warnte ihn seine innere Stimme, wie jetzt, denn er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Dass sich eine zweite Haut auf seinen Körper legte, kam nicht durch die Kälte.
Innere Spannung trug dafür die Verantwortung.
Unter seiner Jacke steckte ein schwerer Magnum-Revolver. Vorsichtig zog Spiro den Reißverschluss der fellgefütterten Lederjacke nach unten, um im Ernstfall schnell an die Waffe zu gelangen.
Mary Ann Baxter war stehen geblieben und zeigte nach rechts. »Hier ist es!«
Spiro kam näher. Sein Lächeln war unsicher. »Wo ist …?«
Sie ließ ihn nicht aussprechen und zeigte erneut auf das Grab. »Dort.«
Spiro schaute es sich an.
Nein, das konnte man beim besten Willen nicht als normales Grab bezeichnen. Es war ein kleines Haus, aus grauen Steinen errichtet, das auf der Südseite nass glänzte. Dort hatte die Kraft der Sonne ausgereicht, die dünne Eisschicht abzutauen.
Eine Tür, die ein dachförmiges Oberteil besaß, bildete den Eingang. Als Betrachter schaute man auf die Schmalseite der Grabstätte. Das Haus selbst wuchs der Länge nach in das von Buschwerk bedeckte Grundstück hinein.
»Hier liegen Ihre Männer, Madam?«, fragte Spiro.
»Ja, ich habe sie nebeneinander bestatten lassen.«
Spiro wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Jeder Mensch hatte seinen Tick, Mary Ann Baxter machte da keine Ausnahme. Sie hatte es eben mit den Toten und tat manchmal so, als würden sie noch leben, wenn sie mit Spiro über sie sprach.
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Madam, ich will nicht neugierig sein, es steht mir auch nicht zu, aber ich frage mich, weshalb Sie mich mitgenommen haben.«
Die Lippen der Frau bewegten sich. Es sollte ein Lächeln sein, war aber nur ein Zucken. »Es gibt bestimmte Gründe, einer davon ist gravierend. Du sollst sie kennenlernen.«
Spiro begriff nicht recht. Er überlegte sich die Antwort, aber seine Chefin ließ ihm keine Zeit.
»Ich will, dass du sie siehst«, sagte sie.
»Die Toten?«
Mary Ann räusperte sich. »Du bist ein Realist, nicht wahr?«
»Ja, Madam.«
»Und du verlässt dich entweder auf deine Fäuste oder auf deinen Revolver. Du glaubst nur an Dinge, die du siehst, die man dir beweist. Was jenseits dieser beweiskräftigen Tatsachen liegt, ist dir egal. Oder?«
»So ist es.«
»Und das ist falsch. Ich habe lange überlegt, ob ich dich einweihen soll, doch ich konnte dich beobachten und glaube, du sollst es wissen, denn du wirst mit ihnen leben müssen, Spiro.«
Das Grinsen des Mannes wirkte ein wenig dümmlich. Aus Verlegenheit rückte er die Pelzmütze zurecht. Mrs. Baxter sprach oft in Rätseln, auch jetzt. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, aber in diesen Minuten vor dem Totenhaus wurde ihm mulmig.
»Es ist immer noch nicht in deinen Schädel hineingegangen, wie ich bemerke.«
»N … nein …«
»Wie ich schon sagte, Spiro. Du wirst mit ihnen leben müssen.«
»Aber doch nicht mit den Toten, Madam.«
»Manchmal sind Dinge, die wir als tot ansehen, nicht tot. Dann leben sie, nur eben anders.«
»Tote, die leben?«, flüsterte er. »Dafür gibt es einen anderen Begriff. Zombies …«
»Zum Beispiel.«
Spiro atmete durch die Nase ein und spürte die kalte Luft, die sich in seinem Hirn festzusetzen schien. Die Antwort lag ihm auf der Zunge, nur traute er sich nicht, sie zu geben, weil ihm das Ganze absurd vorkam. Zudem winkte seine Chefin ab.
»Du wirst schon sehen, Spiro.« Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung und lief auf das Totenhaus zu. In der rechten Hand hatte sie einen flachen, glänzenden Schlüssel.
Spiro kamen die Dinge nicht geheuer vor. Mary Ann hatte schon immer seltsame Anwandlungen gehabt – er brauchte da nur an die schwarzen Kerzen in ihrem Schlafzimmer zu denken –, aber was sie jetzt tat, setzte dem Ganzen die Krone auf. Sie redete von ihren verstorbenen Männern, als wären diese am Leben.
Vielleicht war sie nicht mehr normal. Welcher Mensch ging schon gern auf den Friedhof? Und dann so oft. Sie hatte die Tür geöffnet, drehte sich um und winkte ihrem Leibwächter und Vasallen zu. Einem anderen hätte der Mann etwas gepfiffen, aber Mary Anns Aufforderung folgte er.
Er ging geduckt, den Kopf eingezogen. Er schaute an der Baxter vorbei in das düstere Totenhaus, wo ihre Ehemänner lagen.
Sie hatte Spiro nie mitgenommen. Das war heute eine Premiere, auf die er liebend gern verzichtet hätte. Er mochte kein Totenhaus, die Umgebung war ihm suspekt. Seine Chefin hatte ein besonderes Verhältnis zu den Verstorbenen.
»Bitte, Spiro, geh hinein! Du sollst sie sehen und sie begrüßen. Sie werden bestimmt mit dir einverstanden sein.« Die Stimme der Baxter war wie ein Hauch in der kalten Winternacht. Ein böses Flüstern.
Spiro verhielt neben ihr seinen Schritt. »Was haben Sie da gesagt, Madam?«
Sie strich mit kalten Fingern über seine Wange. »Nichts, mein Lieber, gar nichts. Geh weiter!«
Er betrat das Totenhaus. Zwischen den düsteren Wänden kam er sich wie eingeklemmt vor, obwohl Platz genug war. Von außen hatte das Totenhaus so billig ausgesehen, das Interieur hatte sich die Frau etwas kosten lassen.
Schwarzer Marmor an den Wänden. Glatt und fugenlos. Jedenfalls fühlte er nichts, als er mit den Händen über die Wand strich und die Stimme der Frau hörte. Sie befahl ihm, stehen zu bleiben.
Sie selbst ging weiter. Er hörte ihre vorsichtig gesetzten Schritte, als hätte sie Furcht, einen ihrer drei toten Männer zu wecken. Von den Särgen hatte Spiro bisher nichts gesehen, Mary Ann verschwand im Schatten. Er hörte sie und ein bekanntes Geräusch, als der Zündkopf eines Streichholzes über die Reibfläche glitt und eine Flamme hochzuckte.
Sie fand Nahrung an einem Kerzendocht. Zwei weitere Flammen leuchteten auf und erhellten das Totenhaus. Die drei Särge, die dort standen, wirkten wie eine gespenstische Drohung aus einem Gruselfilm, und Spiro sah, dass seine Chefin auf die Särge zuschritt, neben ihnen stehen blieb und den Leuchter senkte.
»Komm ruhig näher, Spiro!«, hauchte sie. »Komm her, ich will dir etwas zeigen …«
Er ging, obwohl ihm nicht wohl dabei war. Über seinen Rücken rann der Schauer in langen Bahnen. Zum Spaß hatte ihn die Baxter nicht in dieses verdammte Totenhaus geführt. Damit bezweckte sie etwas.
»Stopp!«, sagte sie.
Spiro hielt inne. Er beobachtete, wie seine Chefin den Leuchter in einem Halbkreis schwenkte. Jetzt konnte er die drei Särge deutlicher sehen. Sie standen offen, und die Leichen waren verschwunden …
Leere Totenkisten!
Es war nicht zu fassen, einfach verrückt. Da hatte ihn die Frau hergeführt, um ihm diese schaurigen Dinge zu zeigen. Drei leere Särge, wo sie doch immer von ihren Männern gesprochen hatte. Im flackernden Licht der Kerzen, das einen zuckenden Schleier über die Särge warf und diese als Schatten gegen die Wände schleuderte, sah das Gesicht der Frau aus wie von einem dünnen Feuer übergossen. Die Augen erinnerten an zwei Kohlestücke, die ebenfalls glühten, aber von einem inneren Feuer sprachen, das die Frau erfüllt hatte.
Spiro hatte endlich seine Sprache wiedergefunden. »Die Särge sind ja leer.«
Mary Ann lachte. »Das sollen sie auch.«
»Und Ihre drei Männer?«
Die Frau gab keine Antwort. Stattdessen kam sie auf ihren Leibwächter zu und begann leise zu lachen.
»Meine drei Männer?«, fragte sie und zog ihre Lippen in die Breite. »Sie haben die Särge verlassen.«
Spiro verengte die Augen, da ihn das flackernde Kerzenlicht blendete. »Ich begreife nicht. Weshalb haben Sie die Toten aus den Särgen geholt, Madam?«
»Ich?« Sie bog den Kopf zurück und begann zu lachen. Es war ein widerliches Kichern, ein hohes Gelächter, und Spiro, dieser sonst so abgebrühte Typ, fühlte sich noch unwohler. Abrupt brach das Lachen ab. »Nein, mein Freund, nicht ich habe sie geholt …« Sie wartete auf seine Antwort und schaute ihn lauernd an.
»Wer dann?«
»Ist nicht vorhin das Wort Zombie gefallen?«, fragte sie. »Hast du es nicht selbst erwähnt?«
Spiro nickte langsam. »Jaja, ich erinnere mich.«
»Genau, und ich habe ebenfalls nichts vergessen. Meine drei Männer haben ihre Särge ohne fremde Hilfe verlassen. Sie lagen darin als Untote, als Zombies!«
Spiro gab keine Antwort. Er ließ sich die Worte der Frau erneut durch den Kopf gehen, schaute auf die leeren Särge und dachte wieder über die Wortschöpfung Zombie nach.
»Dann leben sie?«, fragte er schließlich.
Mary Ann nickte. »Ja, sie sind nicht tot.«
»Aber …« Spiro hob die Schultern. »Sie haben Ihre Männer regelmäßig besucht. Standen Sie immer vor leeren Särgen?«
»Nein, sie lagen darin.« Plötzlich lachte sie wieder, und dieses Lachen erzeugte bei Spiro eine Gänsehaut. Es klang höhnisch, wie aus einer alten Gruft. »Aber jetzt ist die Zeit gekommen, Spiro. Ich hole sie wieder zurück, meine drei Lieben. Verstehst du?«
Der Mann nickte, obwohl er am liebsten die Stätte des Todes verlassen hätte und weit weggelaufen wäre, aber das brachte er nicht fertig. So stand er mit offenem Mund da und überlegte.
Etwas wehte ihm entgegen.
Ein widerlicher Geruch. Leichengestank …
Mary Ann Baxter hatte etwas bemerkt. Der Aufpasser fühlte sich unwohl, und sie stieß ein leises Lachen aus.
»Du hast sie noch nicht gesehen, Spiro, aber gerochen. Das ist gut. Dann weißt du Bescheid. Sie sind ganz in der Nähe. Gleich wirst du sie sehen können, gleich …« Sie drehte sich um und ging tiefer in das Totenhaus hinein.
Wieder wurden die Särge aus dem Dunkel gerissen. Die unförmigen Gegenstände schienen im Wechselspiel aus Licht und Schatten über dem Boden zu tanzen.