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Eine alte Sage erzählt, dass der auf einem Friedhof zuerst Begrabene für alle Zeiten Wache hält. So war es auch auf dem alten Totenacker in Cornwall.
Als Nadine, die Wölfin mit den Menschenaugen, dort bestattet werden sollte, erinnerte sich niemand mehr, dass der zuerst Begrabene ein Werwolf gewesen war.
Aber dieser Werwolf machte bald von sich reden, denn er verfolgte einen teuflischen Plan ...
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Der Friedhofswächter
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5854-4
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Der Friedhofswächter
von Jason Dark
Sommersturm über Cornwall!
Er kam von Westen, wo das Meer lag, und fiel wie ein hungriges Raubtier über das Land.
Er tobte in den Klippen an der Küste, er jaulte weiter, wütete in den Wäldern, bog Bäume wie unter einer zentnerschweren Last und spielte mit den Wolken, als wären sie Watte.
Dörfer und kleine Städte verschonte er ebenfalls nicht. Dort heulte er hinein, riss um, was nicht genügend gesichert war, zerrte an den Dächern, ließ Ziegel fliegen und riss Antennen ab.
Er packte Fensterläden, schüttelte sie durch, sodass sie heftig gegen das Mauerwerk schlugen.
Er wütete über dem Meer und machte es zu einer kochenden Hölle. Das Wasser warf gewaltige Wellen, die gegen die Klippen rollten und dort in die Höhe schäumten.
Ein Sommersturm, wie ihn die Menschen kannten und ihn nicht weiter tragisch nahmen. Man sollte möglichst nur im Haus bleiben, sonst lief man Gefahr, von umherfliegenden Gegenständen getroffen zu werden.
Im Haus befanden sich auch die beiden Männer. Sie hatten es geschafft, vor dem Sturm in das abseits stehende Gebäude einzudringen. Es lag außerhalb des Dorfes, war vor fünf Jahren in einer Hanglage gebaut worden und gehörte einem Industriellen aus Manchester, der seine Ferien in Cornwall verbrachte, wenn er die Zeit dafür fand. Er stammte aus diesem Landstrich und konnte seine Heimat nicht vergessen.
Nun stand das Haus leer. Er war im Juni für eine Woche gekommen, danach hatten ihn seine Geschäfte nicht mehr weggelassen.
Damit rechneten die beiden Männer, die sich dem Haus im Schutz der Dunkelheit genähert hatten. Sie waren über den Hang gelaufen. Einer hatte sich durch ein Kellerfenster Einlass verschafft, der zweite stand im Schatten der Haustür und hielt Wache.
Er ärgerte sich, weil der Wind Staub mitbrachte, dem er nicht entgehen konnte. Mit seinem Kumpan stand er über Funk in Verbindung.
Und der Mann im Haus meldete sich. »Alles klar bei dir, Ed?«
»Bis jetzt ja.«
»Und hier in der Bude auch. Sieht so aus, als wäre der Knabe tatsächlich nicht da.«
»Das haben wir doch gecheckt.«
»Weiß ich. Aber du kennst mich. Ich bin eben immer mehr als vorsichtig.« Der Mann im Haus hieß Tidy. Jedenfalls nannte man ihn so, weil er stets einen so netten Eindruck machte. Davon hatten sich schon viele täuschen lassen und es im Nachhinein bereut.
Die beiden Einbrecher wussten, dass der Besitzer eine teure Bildersammlung besaß, auf die er stolz war. Und einige dieser Gemälde wollten die beiden im Kundenauftrag stehlen. Der Job war in letzter Zeit härter geworden, das hatten sie zu spüren bekommen. Es gab Alarmanlagen, und die Besitzer ließen ihre Häuser nicht mehr so leicht allein.
Tidy stand im Keller. Er benötigte einige Minuten, um die Atmosphäre eines Hauses auf sich einwirken zu lassen. So geschah es heute ebenso.
Im Finsteren stellte er sich hin und lauschte in die Stille. Nein, da war kein Geräusch, das ihn beunruhigt hätte. Das Haus wirkte tot, so, als hätte seit Langem niemand mehr darin gelebt.
Er ging vor und schaltete seine Stableuchte ein. Der weiße Lichtkegel traf eine Betonmauer, wanderte weiter und hob eine Kellertür aus der Dunkelheit.
Sollte sie verschlossen sein, hatte Tidy das nötige Werkzeug, um sie zu öffnen.
Er brauchte es nicht. Ohne Schwierigkeiten konnte er die Tür aufdrücken und gelangte in den Flur, von dem eine breite Treppe nach oben führte.
Die nahm er.
Alles war sauber. Selbst auf der Kellertreppe fand er kaum ein Staubkorn.
Die Treppe mündete in einen breiten Flur, schon mehr eine kleine Halle, von der einige Zimmertüren abzweigten. Dort blieb Tidy stehen und drehte sich auf der Stelle.
Er tat es langsam, denn schon hier hingen einige Bilder, aber es waren nicht die, die sein Kunde haben wollte. An moderner Kunst war der nicht interessiert.
Tidy musste in den Wohnraum. Zuvor aber gab er seinen Standort durch, so war es mit Ed abgesprochen. »Ich befinde mich jetzt in der Halle«, flüsterte er in das Gerät. »Verstanden?«
»Ja, alles klar.«
»Nächstes Ziel ist der Wohnraum.«
»Gut, ich warte.«
»Aber vorher öffne ich die Haustür.« Tidy hatte an der Tür einen Eisenriegel entdeckt, den er nur zur Seite zu schieben brauchte. Ed blieb draußen, wo der Sturm heulte.
Tidy drehte sich. Er dachte darüber nach, was ihm sein Auftraggeber gesagt hatte. Die Tür zum Wohnraum, wo die Bilder hingen, war die dritte von links.
Lautlos zählte er ab, nickte zufrieden und machte sich auf den Weg. Obwohl er allein im Haus war, ging er auf Zehenspitzen weiter.
Ein dicker Teppich verschluckte seine Schritte. Der Lichtkegel wies ihm den Weg, und er blieb auf der Mitte des Türblatts hängen, auf das es Tidy ankam.
Die Klinken besaßen eine besondere Form. Sie lagen gut in der Hand.
Er öffnete die Tür.
Sie schwang lautlos vor ihm auf. Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. So roch es immer, wenn Menschen lange nicht mehr in einem Raum gelebt hatten.
Auf der Schwelle blieb er stehen. Die Lampe hatte er ausgeschaltet, nur sein Schattenriss war zu sehen, aber es war niemand da, der ihn erwartet hätte.
Ein verlassener Wohnraum lag vor ihm.
Tidy leuchtete ihn aus und konzentrierte sich auf die Bilder. Es waren die richtigen.
Die Gemälde hatten unterschiedliche Größen. Dementsprechend gestalteten sich die Rahmen, auf die der Einbrecher aber verzichten sollte. Seinem Kunden ging es einzig und allein um die Bilder. Die sollte er bekommen.
Tidy verstand nicht viel von dem Zeug. Er konnte sich aber vorstellen, dass die oft jahrhundertealten Bilder sehr wertvoll waren. Er hatte mal darüber gelesen.
Der Einbrecher zählte die Gemälde und kam auf die Zahl zehn. Da hatten sie beide ganz schön zu tun, wenn sie die aus dem Rahmen lösen wollten. Das musste auch Ed wissen.
Tidy holte das Sprechgerät aus der Tasche und wollte es schon einschalten, als er hinter sich eine zischende, böse klingende Stimme hörte.
»Lass es!«
Gleichzeitig flammte Licht auf!
***
Der Einbrecher stand wie erstarrt da. Mit dieser bösen Überraschung hatte er nicht gerechnet. Alles war so gut vorbereitet gewesen. Die Stimme gehörte einem Fremden, möglicherweise dem Hauseigentümer.
Tidy wollte sich umdrehen, aber der Mann hinter ihm hatte etwas dagegen. »Ich habe nichts davon gesagt, dass du dich bewegen sollst«, flüsterte er. »Also bleib stehen!«
»Okay.«
Über Tidy brannte Licht. Es war eine große Lampe mit sechs Schalen, die das Zimmer bis in den letzten Winkel ausleuchtete.
Tidy überlegte, ob der Mann eine Waffe hatte oder nur bluffte.
Und während er nachdachte, schlich sich einer an ihn heran. Tidy spürte einen harten Druck im Rücken, wie er nur von einer Waffenmündung stammen konnte.
»Das ist ein geladenes Jagdgewehr, du miese Ratte. Damit puste ich dich ins Jenseits.«
»Okay, Mann, okay, ich bin schon ruhig.«
»Das wollte ich dir auch geraten haben. Aber wir werden uns trotzdem unterhalten. Du wolltest stehlen, nicht?«
»Ja.«
»Und was?«
»Die Bilder.«
»Wie schön.« Der Typ hinter Tidy lachte. »Dann hat man dich also geschickt.«
»So ist es.«
»Und wer war es?«, fragte die Stimme.
»Das kann ich nicht sagen, ich …«
Der Besitzer unterbrach ihn. »Ich kann dir die erste Kugel in den Oberschenkel schießen, die zweite in die Schulter, mit der dritten rasiere ich dir ein Ohr ab …«
»Verdammt, ich weiß es nicht! Der hat seinen Namen nicht gesagt. Wir kennen uns nur vom Telefon.«
»Und er hat dich hergeschickt?«
»Ja.« Nach dieser Antwort überlegte Tidy. Der Mann hatte nur von ihm gesprochen. Ob er von Ed nichts wusste? Das wäre unter Umständen eine Chance gewesen. Tidy beschloss, auf keinen Fall seinen Freund zu erwähnen. Wenn Ed nicht gerade schlief, musste er merken, dass im Haus nicht alles mit rechten Dingen zuging.
»Was sollst du mit den Bildern machen?«
»Sie wegschaffen.«
»Dass du sie nicht frisst, ist mir klar. Ich will wissen, wo du sie abliefern sollst.«
»Erst mal in ein kleines Hotel.«
»Davon gibt es viele.«
»Zwischen Dartmoor und Exeter liegt es. Ein Bed and Breakfast House, mehr für Touristen.«
»Da hätte er also auf dich gewartet.«
»Ja.«
»Und wann?«, wollte die Stimme wissen.
»In den Morgenstunden. Ich hätte die Bilder mitgenommen und sie abgeliefert.«
»Und kassiert?«
»Klar.«
»Wie viel?«
»Tausend Pfund.« Tidy nannte nicht die tatsächliche Summe, die lag um hundert Prozent höher, aber er hätte sie noch teilen müssen.
Der Mann hinter ihm begann zu lachen. »Lächerlich«, sagte er danach. »Einfach lächerlich. Weißt du eigentlich, wie viel diese Gemälde wert sind?«
»Nein.«
»Ach, ich will es dir nicht sagen. Es spielt keine Rolle, ob du das Wissen mit in den Tod nimmst. Du hast nämlich einen Fehler gemacht, mein Freund. Ich gehöre zu den Menschen, die man nicht berechnen kann. Ich komme und gehe, wann ich will und wann ich Lust dazu habe. Und das hast du nicht gewusst. Nichtwissen kann manchmal tödlich sein. Das wirst auch du einsehen müssen.«
Der Mann hatte so hart gesprochen, dass es dem Einbrecher kalt über den Rücken lief.
»Wollen Sie mich erschießen?«, fragte er leise.
»Sicher.«
»Das wäre Mord.«
»Ach, Junge, du bist doch ein Nichts, ein Idiot. Ich werde deine Leiche für immer verschwinden lassen. Nicht umsonst haben wir die weiten Moore in der Nähe. Darin versinkt dein Körper für alle Zeiten.«
»Wie wäre es denn, wenn ich abhaue und Sie die ganze Sache vergessen?«
»Das würde mir überhaupt nicht gefallen. Ich lasse mich nämlich nicht über den Löffel barbieren. Ich ergreife stets Maßnahmen, auch bei dir. Und dass du ein kleiner Einbrecher bist, lasse ich nicht gelten. Ich habe zu lange für die Dinge schuften müssen, als dass ich sie mir von irgendeinem Idioten wegnehmen lasse. Alles klar?«
»Sicher.«
»Dann werde ich abdrücken!«
Der Schuss fiel. Hell und peitschend. Tidy zuckte zusammen, aber nicht durch den Einschlag der Kugel, sondern vor Schreck. Er war nicht erwischt worden.
Halb gebückt blieb er stehen, wartete auf den brennenden Schmerz, aber der kam nicht. Stattdessen hörte er das leise Lachen seines Freundes Ed, der sich amüsierte, weil sich Tidy nicht rührte.
»Was ist denn los? Hast du dir in die Hose gemacht?«
Jetzt erst drehte Tidy sich um. Er sah den Hausbesitzer, einen kräftigen Mann mit wucherndem grauen Vollbart. Er lag noch nicht am Boden, sondern ging zwei taumelnde Schritte und stützte sich an einer Sessellehne ab. Das Jagdgewehr hielt er tatsächlich in der rechten Hand. Nur wies die Mündung zu Boden, so konnte die Waffe, wenn er schoss, keinen Schaden mehr anrichten.
Erst als er sich schwerfällig drehte, entdeckte Tidy die Wunde in seinem Rücken. Dort hatte ihn Ed getroffen.
Schwer fiel der Mann auf den Teppich. Bäuchlings blieb er liegen und rührte sich nicht mehr.
»In der Jägersprache nennt man das einen Blattschuss«, erklärte Ed gefühllos und grinste über sein falkenäugiges Gesicht. »Er hätte dich sonst gekillt, Tidy.«
Der Einbrecher nickte. Sein langes dunkles Haar hing schweißnass in seine ebenfalls feuchte Stirn. Er hatte den Eindruck, unter Dampf zu stehen, so sehr schwitzte er.
»Ist was?«, fragte Ed.
»Nein, ich lebe noch.«
»Das hast du mir zu verdanken.«
»Ich weiß, Ed, ich weiß.« Tidy spürte den Schauer. »Aber was machen wir mit dem Kerl?«
»Hier liegen lassen.«
»Nein!« Tidy antwortete spontan. »Das können wir nicht, Ed. Das ist nicht drin.«
»Wieso nicht?«, fragte Ed.
»Ich will es nicht. Irgendwann erscheinen Leute, finden ihn, alarmieren die Cops, und die fangen an zu schnüffeln. Das ist alles nicht mein Fall, Ed!«
»Was dann?«
»Wir schaffen ihn weg.«
»Klar. Wohin denn?«
Tidy überlegte laut. »Mich hatte er ins Moor werfen wollen. Wir könnten das ebenfalls machen, aber ich habe eine bessere Idee. Wir schaffen ihn auf den in der Nähe liegenden Friedhof. Du weißt, welchen ich meine. Dieses alte Ding mit dem Gitter darum.«
Ed schob eine Haarsträhne zurück. »Das ist der Hammer«, sagte er. »Sogar ein verdammter.«
»Wieso? Was stört dich?«
Ed war jetzt ehrlich. »Ich mag keine Friedhöfe. Und nicht nur das. Ich hasse sie, denn sie sind mir unheimlich. Begreifst du das, Tidy?«
»Nein.« Der Einbrecher lachte schallend. »Du bist ein Killer und hast Angst vor einem Friedhof?«
»Jeder hat eine Schwachstelle.«
»Hör auf. Ich habe mir den Totenacker heute noch angesehen und ein frisch ausgehobenes Grab entdeckt. Da passt der Tote genau rein, glaube es mir, Ed.«
»Ich streite das nicht ab, habe aber Hemmungen, den Friedhof zu betreten.«
»Einmal nur.« Tidy schaute seinen Kumpan bittend an. »Danach verschwinden wir aus dieser Gegend und kehren nicht mehr hierher zurück, das verspreche ich dir.«
Ed überlegte. »Nun gut, ausnahmsweise stimme ich dir zu.«
»Danke.«
Ed winkte ab. Er hatte sich bereits gebückt und den Toten unter den Achselhöhlen gepackt. »Verdammt, ist der schwer. Den wegzuschaffen, ist ja richtige Arbeit.«
»Ja, und die schändet nicht.« Tidy ging zum Schalter und knipste das Licht aus. Zu zweit klappte es besser. Mit der Leiche gingen sie durch die große Diele, öffneten die Haustür und bekamen die Windböen mit, die sich vor dem Haus fingen und in ihre Gesichter schlugen. Der Sturm war kaum abgeflaut.
Da das Haus am Hang gebaut war, führte ein gewundener Pfad zur nächsten Straße. Es war nur eine schmale Piste und nicht asphaltiert. Der Hausbesitzer hatte eine Treppe in den Hang bauen lassen. Sie führte auf direktem Weg zum Ziel.
Sie schleppten sich mit der Leiche ab, stemmten sich gegen die Böen und hatten manchmal Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Über ihnen tobten die dunklen Wolken am Himmel. Buschwerk bog sich unter den Böen, als würde es gekämmt.
In der Ferne zeichnete sich der dunkle Kamm eines Waldstücks ab. Auch er war in Bewegung geraten, da der Wind durch die Kronen der hohen Bäume fuhr.
Als beide Männer die Treppe hinter sich gelassen hatten, zitterten ihnen die Knie. Ihren Wagen hatten sie abseits der Straße hinter eine Buschgruppe gestellt. Da mussten sie hin, den Toten einladen und dann nichts wie weg.
»Packen wir’s«, sagte Tidy und bückte sich wieder. Diesmal hatte er die Schulterpartie der Leiche untergefasst.
Das Haus blieb hinter ihnen zurück. Sie schlugen sich schließlich in das Gelände, wo ihr Wagen stand. Es war ein Range Rover, gerade richtig für Cornwall, wo viele Straßen mehr Pisten glichen.
Noch einmal mussten sie sich anstrengen, um den Toten auf die Ladefläche zu hieven. Dann hatten sie es endlich geschafft.
Tidy ließ sich ins Gras fallen und schüttelte den Kopf. »Hätte nicht gedacht, dass Leichen so schwer sein können.«
»Willst du eine rauchen?«
»Nein, zu stürmisch.«
»Dann lass uns fahren.«
Tidy nickte. »Nichts dagegen.« Er stemmte sich wieder hoch und zitterte, weil er sich gerade überanstrengt hatte.
Ed setzte sich hinters Lenkrad.
Als Tidy einstieg, schmetterte der Wind die Tür zu. »Jetzt will ich eine rauchen.«
»Gib mir auch eine.«
Tidy machte zwei Glimmstängel locker. Ed schielte nach hinten, wo der Tote lag. »Viel Blut hat er nicht verloren. Wir sollten trotzdem den Wagen nach Spuren absuchen.«
»Klar.« Ed startete.
Ihr Fahrzeug war in Ordnung, der Motor kam sofort und lief rund. Auf den ersten Yards wurden sie durchgeschüttelt, dann hatten sie das freie Gelände verlassen und konnten auf der normalen Straße weiterrollen, über die der Wind lange Staubfahnen trieb, die wie dünne Tücher die beiden Lichtlanzen der Scheinwerfer durchwehten. Die Nacht hatte kaum Kühlung gebracht. Es war einer dieser warmen Orkane, die über das Land fegten, als wären sie aus der Wüste über das Meer gekommen, um die Menschen zu quälen.
Beide Männer schwitzten. Sie waren allein unterwegs. Der Weg, mit Schlaglöchern übersät, ließ den Range Rover tanzen. In diesem Rhythmus bewegten sich die Scheinwerferlanzen.
»Irgendwann werde ich duschen«, versprach Ed und riss das Lenkrad hart herum, weil der Weg plötzlich in eine scharfe Linkskurve überging. Sie hätten auch geradeaus weiterfahren können, dann aber wären sie in einen Ort gelangt, was keiner von ihnen wollte. Ihr Ziel war schließlich der einsame Friedhof.
Es war ein Flecken Erde, der vergessen worden war. Es führte kein Weg dorthin. Es gab nicht nur diesen einen einsam gelegenen Friedhof in Cornwall, jeder dieser Friedhöfe hatte seine eigene schaurige Geschichte. Da war von Gespenstern, lebenden Leichen oder anderen Dämonen die Rede, denn Cornwall gehörte zu den Gebieten Englands, die reich an Sagen und Legenden waren.
Wer ein Herrenhaus oder Schloss ohne den entsprechenden Geist besaß, wurde nicht anerkannt.
Cornwall war ein wildes Land. Sein raues Seeklima hatte die Menschen geprägt. Zumeist wirkten sie verschlossen, abweisend anderen gegenüber. Sie waren eine Sorte für sich und wollten es bleiben.
Wenn ihnen jemand von London erzählte, war die Stadt für sie so weit entfernt wie der Mond.
Das Gelände blieb zwar eben, von einigen Mulden oder flachen Hügeln mal abgesehen, aber es war dichter bewachsen. Sträucher, Gras, manchmal verkrüppelt wirkende Bäume, all das zeichnete die Landschaft aus, und zwischen dem Grün lagen oft gewaltige Steine aus ferner Zeit. Klobige Brocken, um die sich manche Geschichten und Sagen rankten, die von gewaltigen Kämpfen erzählten, die Urweltriesen gegeneinander geführt hatten, als noch keine Menschen hier lebten.
An das glaubten die beiden Großstädter nicht. Sie ärgerten sich eher über das Gelände, weil sie die glatten Straßen und Fahrbahnen vermissten, die sie gewohnt waren.
Sie hatten es nicht mehr weit bis zum Ziel. Der alte Friedhof lag dort, wo sich ein Waldsaum wie eine dunkle Grenze über das Land schlängelte.
Menschen waren ihnen nicht begegnet. Selbst die Tiere hatten sich in dieser stürmischen Nacht verkrochen. Das Zentrum des Orkans war vorbeigerast. So konnte man nur noch von einem steifen Wind sprechen, der über das Land blies und die beiden Männer erfasste, als sie den Range Rover verließen.
Den Friedhof sahen sie in der Dunkelheit. Ed hatte die Scheinwerfer gelöscht. Sein Partner hob bereits die hintere Ladeklappe hoch. An den Füßen packte er den Toten und zog ihn näher zu sich.
»Warte, ich helfe dir.« Ed war zur Stelle, und gemeinsam schafften sie den Toten ins Freie. Abermals spürten sie sein Gewicht, das schwer auf ihren Armen lastete.
Keiner von ihnen beschwerte sich jetzt, auch nicht über das Gelände, das sich uneben zeigte.
Der Friedhof lag im Schatten mächtiger Bäume.
Vor einem Tor des Eisenzauns, der den Totenacker umgab, blieben die beiden stehen. Verschlossen war es nicht. Das brauchte nicht zu sein. Wer betrat schon in der Nacht freiwillig einen Ort wie diesen?
Die Leiche wurde gegen das Gitter gelehnt. Ed hielt sie fest, und Tidy öffnete das Tor.
Wind und Wetter hatten an dem Material ihre Spuren hinterlassen. Das Eisen war völlig verrostet, und die Angeln knarrten und quietschten, als Tidy mit einer gewissen Kraftanstrengung das Tor aufzog.
Wieder musste die Leiche gepackt werden, und als die beiden Männer das Gelände betreten hatten, kamen sie sich vor wie in einer anderen Welt.
Sie sprachen nicht darüber, aber sie blieben plötzlich gleichzeitig stehen, ohne sich zuvor abgesprochen zu haben.
»Mann, das ist komisch«, flüsterte Ed. Er konnte so leise reden, denn der Wind war abgeflaut.
»Ja, ich spüre es ebenfalls.«
»Und was ist es?«
Tidy hob die Schultern. »Keine Ahnung. Aber mir kommt es vor, als wären wir nicht mehr allein.«
»Richtig, so ist es.«
»Aber ich sehe niemanden, Ed.«
Ed hob die Schultern, als würde er frösteln. »Spielt das bei Geistern eine Rolle?«
Jetzt lachte Tidy. Wahrscheinlich wollte er sich selbst Mut machen. »Geister, Mensch, die gibt es nicht. Das weißt du genau. Das sind Spukgeschichten, die sich die Leute hier ausgedacht haben. Ich glaube nicht daran.«
»Ich auch nicht, aber wenn ich mich so umsehe …« Ed hob abermals unbehaglich die Schultern und ließ seinen Blick schweifen.
Er hatte recht. Dieser Friedhof war nicht geheuer. Die alten verwitterten Grabsteine standen kreuz und quer. Es gab keine Ordnung. Dazwischen wuchsen wilde Sträucher und hohes Gras, das sich im Wind bewegte, sodass es aussah, als würden Wellen über den alten Totenacker laufen.
»Ich sehe aber niemanden«, raunte Tidy.
»Gespenster sind unsichtbar.«
»Hör auf, Ed. Lass uns weitergehen! Es gibt keine Gespenster. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
»Vielleicht sind es die Geister der Toten, die sich breitgemacht haben.«
»Ist das denn ein Unterschied?«, fragte Tidy.
»Weiß ich nicht.«
Die beiden Einbrecher machten sich selbst verrückt. Je tiefer sie in den kleinen Totenacker hineingingen, umso schauriger empfanden sie die Umgebung.
Manchmal bewegten sich die Zweige der Büsche. Dann sah es so aus, als würden sie von geisterhaften Händen zur Seite geschoben, damit ein Gespenst freie Sicht bekam.
Die beiden Männer hatten das leere Grab auf einer ihrer Touren entdeckt. Es lag am Ende des Friedhofs, nah am Gitter. Wer es geschaufelt hatte, war ihnen unbekannt. Für sie zählte, dass sie dort die Leiche verschwinden lassen konnten. Auf diesem Friedhof wurde niemand mehr beerdigt, das stand fest. Selbst im sagenumwobenen Cornwall ließ man die alten Begräbnisstätten heute in Ruhe.