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Wir alle kannten Grandma Gardener vom Bildschirm als Englands Märchentante. Sie war nett, freundlich und lieb und ließ Kinderaugen leuchten. Man konnte sie auch privat engagieren.
Sie erzählte, lächelte, nur kam das dicke Ende. Plötzlich starben Grandma Gardeners Zuhörer. Unerklärliche Todesfälle, Ärzte standen vor einem Rätsel.
Wie sagte die Märchentante? "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann morden sie noch heute ..."
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Tödliche Märchen
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5940-4
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Tödliche Märchen
von Jason Dark
Jason Finley erschrak heftig, als sich die Tür neben ihm urplötzlich öffnete. In die dunkle Diele fiel der Lichtschein des Schlafzimmers, in dem sich der Umriss einer weiblichen Gestalt abzeichnete.
Ruth Finley, Jasons Mutter, stand dort.
Der Zwölfjährige atmete tief aus. Er schluckte und schaute an sich herab. Über den Schlafanzug hatte er rasch die Jeans gestreift und war in die Jacke geschlüpft. Die Schuhe standen neben der Matte, er hatte sie nicht mehr anziehen können, es war zu spät gewesen. Sein Herz raste, die Mutter würde Fragen stellen, und wie er sie kannte, ließ sie sich nicht mit Ausreden abspeisen. Schließlich arbeitete sie bei der Polizei.
Ruth Finley sah verschlafen und blass aus, die Sommersprossen waren deutlicher als sonst zu sehen. Ihr blondrotes Haar hatte sie kaum bändigen können.
Nicht einmal einen Morgenrock hatte sie über das Nachthemd geworfen.
Jason schien unter dem Blick seiner Mutter immer kleiner zu werden. Und sein Lächeln half ihm nichts. Diesmal bekam er seine Mutter nicht mehr weich damit.
Demonstrativ schaute Ruth auf die Uhr. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Ja.«
»Dann sag es.«
Jason hatte das gleiche Haar wie seine Mutter. »Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.«
»Richtig. Um diese Zeit haben nicht nur Kinder im Bett zu liegen, auch die meisten Erwachsenen schlafen schon. Aber mein Sohn will in aller Heimlichkeit das Haus verlassen.«
Der Junge hob die Schultern.
»Willst du mir nicht sagen, wohin du gehen wolltest?«
»Weg.«
»Einfach so?«
»Ja.«
»Ohne Ziel?«, erkundigte sich die fünfunddreißigjährige Frau.
»Nein, das hatte ich.«
»Sieh mal an. Und wo, bitte, wollte mein Sohn zu dieser nachtschlafenden Zeit hin?«
Jason klammerte die Finger ineinander, als wollte er irgendetwas auswringen. »Das … das kann ich dir nicht sagen. So etwas muss ein Geheimnis bleiben.«
»Haben wir uns nicht versprochen, dass es keine Geheimnisse zwischen uns gibt?«
»Ja, schon, Mutter.«
»Dann rede, bitte. Aber beeil dich. Ich habe morgen Dienst und möchte nicht die ganze Nacht hier herumstehen.«
»Ich … ich wollte zum Friedhof.«
Ruth Finley war im ersten Moment so perplex, dass sie nichts sagen konnte. Dann ging sie einen Schritt vor und fragte mit leiser Stimme: »Wohin wolltest du?«
»Zum Friedhof.«
»Aha. Und was will mein zwölfjähriger Sohn mitten in der Nacht auf dem Friedhof?«
»Ich will Daddy besuchen.«
Diese Antwort versetzte der Mutter einen Schock. Gleichzeitig kehrte die Erinnerung wieder. Morton Finley war vor einem halben Jahr gestorben, ein Autounfall hatte ihn aus dem blühenden Leben gerissen. Ruth hatte den Tod ihres Mannes noch nicht überwunden, der Junge ebenfalls nicht, er hatte sehr an seinem Vater gehangen und war schon öfters zum Friedhof gegangen, um an dessen Grab zu stehen und zu weinen. Aber mitten in der Nacht auf das Gelände zu gehen, war übertrieben, und Ruth fand es unmöglich.
»Nein«, sagte sie. »Nein und abermals nein. Das kommt nicht infrage. Du weißt nicht, was du tust.«
»Doch«, erwiderte der Junge trotzig.
Sie holte durch die Nase Luft. »Aber das ist der helle Wahnsinn, was du da vorhast, Kind! Es geht nicht, dass du eine halbe Stunde vor Mitternacht allein das Haus verlässt, um auf einen stockdunklen Friedhof zu gehen. Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
»Grandma Gardener.«
Ruth Finley lachte gekünstelt. »Wer ist denn das schon wieder? Die kenne ich nicht.«
»Doch, die musst du kennen.«
»Wohnt sie in der Nachbarschaft? Kaufst du mal für sie ein oder trägst ihr schwere Taschen hoch?«
Jason schüttelte den Kopf.
»Dann sag mir, wer diese Grandma Gardener ist.«
»Viele Kinder kennen sie. Einmal in der Woche liest sie im Fernsehen Märchen vor. In meiner Klasse kennen die Jungen und Mädchen sie auch. Sie ist eine tolle Frau.«
»Und die hat euch gesagt, dass du auf den Friedhof gehen sollst?«
»So ist es.«
Zwar hatte der Junge mit großem Ernst gesprochen, aber seine Mutter fühlte sich auf den Arm genommen. »Du bist wohl übergeschnappt. Es kommt überhaupt nicht …«
»Ich muss gehen. Grandma Gardener hat mir gesagt, dass ich dort Daddy wiedersehen werde.«
»Er ist tot, mein Junge. Hast du dir schon einmal überlegt, was diese Grandma ist?«
»Ja, eine Großmutter.«
Ruth nickte. »Richtig, mein Kleiner. Sie ist eine Großmutter und gleichzeitig eine Märchentante. So wird sie genannt.«
»Aber sie hat mir gesagt, dass ich zum Friedhof gehen soll.«
»Wie schön. Während der Märchensendung.«
»Nein.«
Ruth wurde fast wahnsinnig. »Wann hat sie dir es dann gesagt?« Sie räusperte sich. »Ist sie zu dir gekommen und hat dich angesprochen? Dich persönlich?«
»Nein, Ma.«
»Wie denn?«
»Ich habe eine Videokassette, weißt du. Die gibt es auch. Da hat sie mir gesagt, dass ich zum Friedhof kommen soll. Um Punkt Mitternacht. Sie würde mir einiges zeigen, wie meinen Daddy.«
Ruth merkte allmählich, dass die Nacht kürzer werden würde. Ihr Sohn hatte mit erschreckendem Ernst gesprochen. Das konnte er sich nicht aus den Fingern gesaugt haben. »Wenn es von Grandma Gardener Kassetten gibt, dann möchte ich sie mir ansehen. Komm.«
»Das geht nicht, Mum.«
Ruth lächelte breit. »Aha, der Herr Sohn macht einen Rückzieher. Und weshalb geht es nicht?«
»Weil ich die Kassette nicht mehr habe. Ich habe sie wieder zurückgegeben.«
»Wer hat sie jetzt?«
»Einer aus meiner Klasse, glaube ich.«
»Und den können wir heute Nacht ja wohl nicht anrufen, oder?«
»Nein.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Okay, wir haben lange genug diskutiert. Du wirst jetzt wieder ins Bett gehen. Aber nicht in deines, sondern in Dads. Das heißt …«
»Ich schlafe neben dir.«
»Richtig, mein Sohn.« Ruth hatte Nägel mit Köpfen gemacht und hielt ihm die Tür auf. »Komm schon, du darfst deine Sachen bei mir ausziehen.«
Jason hob die Schultern und beugte den Kopf vor. Wie ein ertappter Sünder setzte er sich in Bewegung und schlich an seiner Mutter vorbei. Das schlechte Gewissen war ihm anzusehen.
Ruth Finley schüttelte den Kopf. Was so plötzlich in ihren Jungen gefahren war, dafür hatte sie keine Erklärung. So hatte er nie zuvor reagiert.
Sie schloss die Tür und wusste nicht, ob sie wütend sein oder das Ganze auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ruth trat an das zweite Bett, schüttelte das Kissen auf und hob das Oberbett an. »Du kannst dich schon ausziehen, Jason.«
Durch das breite Bett war ihr die Sicht auf Jason und die Tür versperrt. Ruth Finley wurde erst aufmerksam, als sie einen Knall vernahm. Es hatte sich angehört, als wäre eine Tür hart ins Schloss gefallen.
Sie ließ das Oberbett fallen und vernahm ein bekanntes Geräusch. So drehte sich ein Schlüssel im Schloss.
Ruth hatte es plötzlich eilig. Sie lief übers Bett, sprang auf die Tür zu, rüttelte an der Klinke und musste feststellen, dass ihr eigener Sohn sie eingeschlossen hatte.
Das packte sie nicht. »Jason!«, rief sie. »Bist du wahnsinnig? Bist du verrückt? Schließ die Tür wieder auf, oder es passiert etwas!«
Jason gab Antwort. Die Stimme hörte sich weiter entfernt an, er stand nicht mehr an der Tür. »Nein, Mummy, nein. Ich schließe nicht auf. Ich gehe jetzt. Daddy und Grandma Gardener warten …«
Der Junge ließ sich zu nichts mehr hinreißen. Er musste die Wohnung leise verlassen haben, denn als Ruth das Fenster des dritten Stocks öffnete, sah sie Jason bereits unten auf der Straße. Er hatte seine Schuhe mitgenommen und band sich gerade die Schnürsenkel.
»Jason!« Ruths Ruf hallte über die nachtdunkle Straße. »Komm sofort zurück …«
Jason Finley wollte nicht hören. Er rannte los und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Zurück ließ er eine ratlose und ängstliche Mutter …
☆
Sie hatte nicht gesehen, dass der Junge weinte. Er wusste, dass er seiner Mutter sehr wehgetan hatte, aber es ging nicht anders. Er musste es tun.
Er hörte ihren Ruf und wäre fast gestoppt, aber er blieb trotzdem nicht stehen, obwohl er wusste, dass seine Mutter am Fenster stand und ihm nachschaute.
Jason hastete geduckt über den Gehsteig. Die weichen Sohlen der Turnschuhe machten seine Schritte leise. Außerdem war die Gegend menschenleer. Wer hier wohnte, der musste am Morgen früh raus. Da feierte man nicht bis in die Nacht hinein, das war eben keine Jetset-Gesellschaft.
Jason hatte insofern Glück, dass er bis zum Friedhof nicht weit laufen musste. Er kannte eine Abkürzung. An der linken Seite tauchte der Eisenzaun auf. Seine Stäbe glänzten ebenso nass wie das Pflaster. Die Höhe bereitete dem Jungen keine Schwierigkeiten. Er kletterte rasch über den Zaun und landete dahinter auf dem weichen Boden eines unbebauten Grundstücks, das er überquerte. Er erreichte eine Straße und sah bereits den dunklen Friedhof vor sich.
Früher hätte er sich nie getraut, allein auf den Friedhof zu gehen, selbst am Tag nicht. Durch Grandma Gardener war alles anders geworden. Sie hatte gerufen, und die Kinder und Jugendlichen folgten ihrem Ruf. Bevor Jason die Straße überquerte, ließ er zwei Wagen passieren. Dann huschte er schattenhaft über die Fahrbahn.
Es war die Ostseite des Friedhofs, die er erreichte. Der Zaun wuchs auf einem breiten Steinsockel in die Höhe. Er bestand aus rostigem Eisen. Die langen Stäbe liefen an ihrer Oberseite spitz zu. Man wollte irgendwelche Typen möglichst davon abhalten, das Gelände zu betreten.
Jason aber konnte klettern. Geschickt glitt er an den Stangen hoch, mied die Spitzen und schwang sich an der anderen Seite wieder nach unten. Er landete weich, fiel aber in einen knorrigen Busch. Unter dem Gewicht brachen einige Zweige mit knackenden Geräuschen.
Jason stand auf und schüttelte sich, als hätte man ihn mit Wasser bespritzt.
Er lief so lange weiter, bis er einen der schmalen Wege erreicht hatte, die den Friedhof durchzogen. Sie liefen kreuz und quer, bildeten untereinander Verbindungen oder umgingen große Gräberfelder.
Der Junge schaute nach vorn, wartete und hatte das Gefühl, von einer anderen Welt umgeben zu sein.
Sie war unheimlich, schaurig, so anders, beklemmend still. Der Wind hatte sich zur Ruhe gelegt. Nicht mehr als ein laues Lüftchen streichelte Jasons Gesicht.
Er nahm den typischen Geruch auf.
Nach Erde roch es, gleichzeitig feucht. Altes Laub lag auf dem Boden, die Nässe glänzte auf den Zweigen und Ästen der blattlosen Bäume. Auf den Wegen war das Laub geräumt worden, im Gegensatz zu den Flächen unter den Bäumen. Da lag es noch verteilt.
Jason hatte den Friedhof mit seiner Mutter oft besucht. Allerdings nie in der Nacht oder während abendlicher Dunkelheit. Obwohl er sich auskannte, hatte er Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Um Mitternacht wollte er Grandma Gardener treffen. Schnell warf er einen Blick auf die Uhr.
Fünf Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt!
Das war zu wenig. Er würde sich verspäten und hoffte, dass Grandma Gardener ihm dieses verzieh.
Auf den Wegen hielt er sich nicht, Jason lief querbeet. Irgendwann musste er einen der Hauptwege erreichen, dort kannte er sich besser aus. Es gab überall gewisse Orientierungspunkte wie Wasserbecken oder kleine Denkmäler, die man sich merken konnte.
Der Junge erreichte ein freiliegendes Gräberfeld. Dort standen keine Bäume, die schützend ihre Zweige über die letzten Ruhestätten ausbreiteten. Stein neben Stein wuchs aus dem Boden. Ein schauriges Bild, makaber, von leichten Dunstschwaden umweht, den Menschen an die Vergänglichkeit erinnernd, in die er auch eintreten würde.
Das Grab seines Vaters lag nicht so frei. Er war in der Familiengruft der Finleys bestattet worden. Jasons Großvater hatte sie einmal gekauft. Aber der Junge kannte das Gräberfeld. Er wusste, dass er es rechts liegen lassen musste, um die letzte Ruhestätte des Vaters zu erreichen.
Wohl war ihm nicht, als er weiterging. Der leichte Wind kam ihm plötzlich viel kälter vor. Er durchdrang seinen Anorak, kitzelte im Gesicht, spielte mit dem Laub und trieb es vor seinen Füßen her.
Manche Grabsteine glänzten anders, als wären sie von innen beleuchtet. Die stummen Zeugen begleiteten ihn einige Sekunden auf seinem Weg, bis er abbog und den Pfad fand, der ihn dorthin brachte, wo die meisten Gruften standen.
Da kannte er sich besser aus.
Der Untergrund war gekiest. Jeden seiner Schritte vernahm er jetzt deutlich. Rechts und links standen denkmalähnliche Grabsteine, die einzelne Familien als Gruftschmuck ausgesucht hatten. Manche prunkvoll, andere kitschig oder schlicht.
Eine Welt der stummen Toten, mit Erinnerungen versehen, die ihnen die Lebenden mit auf den letzten Weg gegeben hatten. Hier und da brannte ein einfaches Öllicht. Es machte die Szenerie noch unheimlicher. Das Grab der Familie Finley gehörte zu den letzten in diesem Gebiet. Es lag auf der rechten Seite des Wegs. Jason brauchte nicht mehr lange zu gehen, er zählte die Gräber jetzt bereits ab.
Drei, dann hatte er es geschafft!
Von Grandma Gardener sah er nichts. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich um sechs Minuten verspätet hatte. Wahrscheinlich hatte die Märchentante schon das Weite gesucht. Sie liebte Pünktlichkeit, auch ihre Sendungen begannen stets auf die Minute genau.
Er trat an den Rand der Familiengruft heran. Man hatte sie viereckig angelegt. An der Kopfseite stand der Stein, eine viereckige Platte aus schwarzem Marmor. In die Vorderseite war der Name des Toten eingraviert.
Jason las ihn mit zitternden Lippen. Seine Großeltern lagen ebenfalls hier. Frische Blumen bedeckten die drei Grabstätten innerhalb einer. Seine Mutter brachte sie jeden zweiten Tag. Die Erde war aufgelockert und mit Tannenzweigen bedeckt.
Den Jungen umgab die Stille des Todes. Bisher hatte er sich nicht gefürchtet, doch dort, vor dem Grab des Vaters, überkam ihn die Angst. Er faltete die Hände zu einem Gebet und vergaß den eigentlichen Grund seines Besuchs.
Ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken und Erinnerungen. Der Junge stieß einen leisen Schrei des Erschreckens aus, drehte sich um, sah aber nur den menschenleeren Weg.
Schlagartig fiel ihm wieder ein, weshalb er überhaupt auf den Friedhof gekommen war. Grandma Gardener hatte ihn bestellt.
Waren es Schritte gewesen?
Jason drehte sich nach links. Dort führte der Weg in eine Kurve und war nicht mehr einsehbar.
Aber da war sie.
Zuerst bekam Jason das Zittern in den Knien, denn die Großmutter wirkte nicht so nett und freundlich wie auf dem Bildschirm. Sie trug einen langen Mantel, ein Kopftuch, und von ihrem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Die Hände steckten in den Manteltaschen. In ihrer linken Armbeuge baumelte eine Handtasche an halbrunden Bügeln.
Sie wirkte wie ein Gespenst.
Hinter ihr stand die Dunkelheit, sie selbst rührte sich nicht. Der leichte Wind spielte mit den Falten des Mantels, dann aber nickte sie dem Jungen zu.
»Du hast dich verspätet, mein Kleiner«, sagte sie.
Jason lauschte der Stimme nach. Letzte Zweifel wurden beseitigt. Ja, das war Grandma Gardener. So sprach sie immer in der Märchenstunde. Es war ihre Stimme, die einen freundlichen Ton bekommen hatte.
»Ich konnte nicht anders.«
Sie nickte. »Jaja, das verstehe ich. Immer die Mütter, wie?«
»Genau, Grandma.«
Sie kam näher, erreichte ihn, und Jason wagte nicht, sie anzusehen. Neben ihm blieb sie stehen. »Das ist das Grab deines Vaters, mein Kleiner, nicht wahr?«
Der Junge nickte.
»Hast du ihn gemocht?«
Wieder ein Nicken.
Sie lachte kichernd, was Jason nicht gefiel. »Ja, ich weiß es, die Jungen lieben ihre Väter. Oft sind sie Vorbilder, und es ist nicht gut, wenn man einem Kind das Vorbild nimmt.« Sie lachte wieder und berührte Jason an der Schulter. »Habe ich recht?«
»Sicher, Grandma …«
»Ich habe dich nicht ohne Grund geholt. Ich kann dich nicht leiden sehen. Du weißt ja, ich lese dir und Millionen von Kindern Märchen vor. Ich mag Kinder, aber ich will nicht, dass sie leiden. Lachen sollen sie. Helle, lachende Kinderaugen sind etwas Wunderbares. Die können der Sonnenschein im Leben eines Menschen sein.«
Die Worte der Frau prallten an Jason ab. Er schaute auf das Grab. In seinen Augen glitzerten Tränen, sodass die Schrift auf dem Grabstein verschwamm.
Plötzlich bereute er es, auf den Friedhof gegangen zu sein. Grandma Gardener sah zwar so aus wie auf dem Bildschirm, aber sie wirkte längst nicht mehr so freundlich wie im Licht der Scheinwerfer. Später glitt sie zurück ins Halbdunkel und las mit flüsternder Stimme die Märchen vor.
Einen Arm legte sie um Jasons Schulter. »Und jetzt mein Junge, kommt das Wichtigste. Ich werde dich noch einmal etwas fragen. Hast du deinen Vater sehr geliebt?«
»Ja.«
»Würdest du ihn gern wiedersehen?«
Jason Finley war so überrascht, dass er keine Antwort geben konnte und tief Luft holte. Gleichzeitig schluckte er. »Wie … wieso …?«
»Möchtest du ihn wiedersehen, Jason?«
»Ja …«
Grandma Gardener ließ ihn los, ging einen Schritt vor und danach einen zur Seite. Sie stand jetzt auf dem Grab und verdeckte durch ihre Gestalt den Stein.
Scharf schaute sie ihn an. Ihre Augen leuchteten. »Gut, mein Junge, sehr gut. Du sollst ihn wiedersehen. Ich werde dafür sorgen …«
Jason Finley war so überrascht, dass er kein Wort hervorbrachte. Er stand unbeweglich, spürte den Wind im Gesicht und hatte das Gefühl, als würde dieser ihn mit zahlreichen Fingerkuppen streicheln. Sein Innerstes war aufgewühlt. Er sah plötzlich seinen Vater vor sich, wie er lachte, mit ihm Fußball spielte, seine Hausaufgaben nachsah, manchmal schimpfte, wie sie gemeinsam ins Kino gingen und später über die Filme sprachen. Wie sie auf dem Tretboot saßen oder gesegelt waren.
Dann wechselte das Bild.
Ein Auto, rauchend, nicht mehr als ein Haufen Blech, der vor einer Hauswand klebte. Morton Finley hatte einem anderen Wagen ausweichen wollen und war auf nasser Straße so gerutscht, dass er frontal gegen eine Wand gefahren war.
Zurück blieb dieser Haufen Blech und darin, so gut wie nicht zu erkennen, sein Vater. Die Männer vom Rettungsdienst hatten ihn herausschweißen müssen.
Er hatte nicht mehr gelebt. Vorbei war diese schöne Zeit, und Jason hatte tagelang nur geweint. Morton Finleys Tod war für den Jungen etwas Furchtbares gewesen.
»Hast du mich nicht gehört?«, vernahm er die flüsternde Stimme der Märchentante.
»Doch, Grandma, das habe ich.«
»Und du sagst nichts dazu? Freust du dich nicht darüber?«
Jason hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Aber kannst du das denn?«
»Oh, mein Junge, was meinst du, was eine alte Frau wie ich alles kann?« Sie breitete die Arme aus. »Ich habe viel, sehr viel in meinem Leben gesehen. Es ist mir gelungen, hinter die Dinge zu schauen, verstehst du?«
»Nein.«
»Das ist ganz einfach. Es gibt vieles im Leben. Du siehst, du hörst, du riechst, aber das ist nur vordergründig. Andere Sachen sieht man eben nicht, obwohl sie existieren, und es gibt nur wenige, denen es vergönnt ist, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Diese Personen nennt man die Menschen mit dem dritten Auge.«
»Aha.«
»Sie haben ein drittes Auge, das nicht sichtbar ist. Es hat sich versteckt, es ist ihr Gefühl, ihr Geist. Sie wissen Bescheid, denn sie treten mit feinstofflichen Personen in Kontakt. Sie können in das Reich der Toten hineinschauen, ihr Blick richtet sich ins Jenseits. Sie erfahren viel und sind auch in der Lage, es weiterzugeben. Aber sie reden nicht mit jedem darüber, verstehst du?«
»Nein …«
Grandma Gardener lachte leise. Und flüsternd sprach sie weiter. »Dann will ich es dir deutlicher sagen. Es gibt Menschen, die mit den Toten sprechen können. Und dazu gehöre ich!«
Jason bekam plötzlich Angst. Obwohl sich die Frau äußerlich nicht verändert hatte, war sie eine andere geworden. Von ihr ging etwas aus, das den Jungen frösteln ließ. Eine Kälte, die er nicht begriff. Vielleicht die Kälte des Todes.
»Komm ruhig näher, mein Kleiner. Deshalb haben wir uns hier getroffen. Wir haben nicht viel Zeit. Die sechzig Minuten sind gleich um. Ich sagte dir doch, dass ich mit den Toten sprechen kann, und ich werde es dir beweisen. Du kannst deinen Vater hören. Seine Stimme wird aus dem Grab erklingen …«
Jason schüttelte hastig den Kopf. »Das … das geht doch nicht. Wer tot ist, der ist tot. Man kann nicht mehr mit ihm sprechen.«
»Ich ja«, erwiderte die alte Frau bestimmt.
Jedes Kind hat einen gewissen Schutz- und Abwehrmechanismus, und der schaltete sich bei Jason ein. »Nein, das will ich nicht. Mein Vater ist tot, ich will nicht mehr mit ihm sprechen. Ich will nach Hause. Sofort!«
Er wollte wegrennen, und Grandma Gardener sah, dass ihr die Felle wegschwammen. Deshalb handelte sie.
Sie blieb nicht mehr auf dem weichen Untergrund des Grabs stehen, sondern ging blitzschnell vorwärts. Jason wollte sich umdrehen, er schaffte es nur zur Hälfte.
Da hatte die Frau zugegriffen, und sie bewies wieder einmal, welch eine Kraft in ihrem Körper steckte. Ohne dass sich Jason dagegen wehren konnte, wirbelte sie ihn um die eigene Achse und packte mit beiden Händen zu, sodass sich der Junge in ihrem Griff befand. Sie stand jetzt hinter ihm. Jason war zwar für sein Alter relativ groß, aber Grandma Gardener überragte ihn dennoch.
»Du bist zu mir gekommen, mein Junge, um von mir etwas zu lernen. Jetzt bleibst du auch.«