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Tausende von Radiohörern horchten auf, als die kleine Gwendolyn interviewt wurde.
"Meine Großeltern sind Werwölfe", sagte sie und lachte. "Sie kommen mich ab und zu besuchen. Und ich kenne noch mehr Werwölfe ..."
Das ließ mich nicht mehr ruhen.
So begann mit dem Interview einer meiner unheimlichsten Fälle!
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Wenn Werwolfpranken streicheln
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6631-0
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Wenn Werwolfpranken streicheln
von Jason Dark
Bleich und dennoch leuchtend stand er wie ein alles überwachendes Auge am Himmel und schickte seine geisterhaften Strahlen der Erde entgegen.
Der Vollmond!
Was war nicht alles über ihn geschrieben und geredet worden. In fast allen Religionen hatte er eine tragende Rolle gespielt und spielte sie noch heute.
Bei den Germanen und Arabern, bei Kopten, Ägyptern und Persern, bei den Hindus und den Chinesen. Sie alle glaubten an seine Kraft, die, besonders bei Vollmond, auf Menschen übergehen sollte.
Doch nicht nur Menschen hatten sich mit ihm beschäftigt. Auch die andere, die dunkle Seite der Welt – die Dämonen.
Vampire und Werwölfe heulten oder starrten ihn an. Durch seine Strahlen bekamen sie die Kraft, um in der Nacht ihre schrecklichen Untaten zu begehen.
Seit alters her hatten sie sich nach dem Vollmond gerichtet. Wenn er schien und sein bleiches Licht spinnennetzgleich über düstere Wälder strich, erwachte in einsamen Tälern oft genug das Grauen. Dann waren die schrillen Schreie der Vampire ebenso zu vernehmen wie die heulenden Klagelaute der Werwölfe, wenn sie mit dumpf klingenden Schritten über den Boden stampften und nächtliche Raubzüge durchführten.
Der Vollmond lockte!
Er wurde gehasst und geliebt. Zu den letzteren Personen gehörte Gwendolyn Harper, kurz Gwen genannt. Ein blondes, neunjähriges Mädchen, das sich gern im Licht des Mondes badete. Wenn der Erdtrabant am Himmel stand, wurde Gwen innerlich aufgewühlt und von einer Unrast getrieben, die sie selbst nicht erklären konnte.
Nichts hielt sie mehr in ihrem Zimmer, das im ersten Stock einer alten Villa lag, die wiederum von einem an manchen Stellen verwilderten Park umgeben wurde.
Auch in dieser Nacht schien der Vollmond in ihr Zimmer. Sie hatte nach dem Schlafengehen das Fenster bewusst nicht geschlossen. Nichts sollte den Schein des Mondes aufhalten oder ablenken können. Sie wollte ihn ganz. Sie lag im Bett, aber ihr Blick fiel auf das doppelflügelige Fenster. Beide Seiten standen offen. Davor hing die dünne, helle Gardine, die bis zum Boden reichte.
Der Nachtwind wehte in den Raum. Er spielte mit dem Stoff, ließ ihn tanzen und wehte ihn in das Zimmer hinein wie eine Wolke aus Geistern. Im gelblichen Schein wirkte der Stoff noch bleicher, als er ohnehin schon war, doch darüber freute sich Gwen. Sie wusste jetzt, dass sie auf sie warteten.
Niemand ahnte davon. Sie hatte die Treffen stets für sich behalten, aber sie war fest entschlossen, etwas zu verraten. Die Chance würde bald kommen, vielleicht schon in den nächsten Tagen.
Gelassen schwang sie die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die bereitstehenden Pantoffeln. Sie sahen aus wie Ballettschuhe.
Gwen trug ein dünnes Nachthemd. Auf dem hellen Stoff zeichneten sich gedruckte Comicfiguren ab. Von Mickey Mouse über Robin Hood und bis zur Biene Maja waren alle lustigen Figuren versammelt.
Da es draußen kühl war, griff sie zu einem neben dem Bett hängenden Bademantel und streifte ihn über.
Dann erst bewegte sie sich auf das geöffnete Fenster zu und schaufelte mit ihren kleinen Händen die Gardine zur Seite.
Endlich konnte sie an die Fensterbank gelangen. Mit beiden Händen stützte sie sich auf dem schmalen Innenbrett ab, beugte sich nach vorne und schaute in den Garten. Ihr Zimmer lag an einem der beiden Seiteneingänge, wo ebenfalls eine Lampe brannte, deren Licht sich mit der Leuchtkraft des Mondes vermischte.
Es schien auf die schmale Treppe, die zur Haustür führte. Aber durch diese Tür wollte Gwen nicht gehen. Ihre nächtlichen Ausflüge sollten geheim bleiben. Wenigstens dieser …
Trotz ihrer neun Jahre war sie gewitzt. Um das Haus verlassen zu können, brauchte sie keine Treppe und keine Tür. Ihr reichten das Fenster und der Bewuchs, der die alte Mauer an dieser Seite des großen Hauses fast zudeckte.
Efeu und andere Ranken waren so ineinander verschlungen, dass vom eigentlichen Mauerwerk nichts mehr zu sehen war. Sie bildeten ein Gitter, sie krallten sich in den alten Steinen und im Verputz fest und verdeckten damit so manchen Gegenstand, der an die Mauer gelehnt worden war, wie die Leiter, die Gwen für ihre nächtlichen Ausgänge benutzte.
Noch kletterte sie nicht aus dem Fenster. Sie ließ ihren Blick in den nächtlichen Garten wandern, der aussah, wie von einem Maler geschaffen.
Ein Bild unter freiem Himmel. Mit viel Schatten, knorrigen Bäumen und Sträuchern, zitternden Blättern im Nachtwind, Blumen, die sich gegen Sträucher und Büsche duckten. Schmale Wege wurden von Steinrändern flankiert. Im Takt des Windes bogen sich die Gräser.
Von Bäumen verdeckt, stand der Pavillon. Ihn liebte das Mädchen so sehr, er war Gwens Ziel.
»Hört ihr mich?«, rief sie leise in den Garten hinein. »Seid ihr schon da, meine Lieben?«
Sie bekam keine Antwort. Nur das leise Rascheln der Blätter, die im Licht des Vollmonds hin und wieder silberfarben glänzten, war zu hören. Es machte Gwen nichts aus, dass man ihr nicht geantwortet hatte. Das taten sie nur in den seltensten Fällen. Das Mädchen wusste aber, dass man auf es wartete.
Mit geübten Bewegungen erklomm Gwen die äußere Fensterbank und drückte ihren schmalen Körper nach links, wobei sie den Arm ausstreckte, ihre Hand unter den Kletterpflanzen verschwand und die suchenden Finger das Ziel schnell fanden.
Es war die Leiter!
Keine Holzleiter, sondern eine aus Leichtmetall. Sie war erstens weniger breit und zweitens wetterfest. Ein Einbrecher hätte sie nie entdecken können, doch Gwen wusste Bescheid, schwang ihren Körper herum, bekam die zweitoberste Sprosse zu fassen, tat einen großen Schritt, erst ins Leere und dann auf die Sprosse.
Sie stieg nach unten.
Mit geschickten Bewegungen glitt sie durch den dichten Bewuchs an der Hauswand. Ihr Körper bewegte sich schlangengleich. Sie riss kaum ein Blatt ab, und es gab keine hindernden Ranken, die sich um ihre Fußknöchel wickelten.
Glatt und sicher wie immer kam sie weg und tauchte erst wieder aus dem Pflanzenwirrwarr auf, als sie den rechten Fuß gegen den weichen Boden drückte.
An der Wand blieb sie stehen. Wäre sie nach rechts gegangen, hätte sie den breiten und repräsentativen Eingang des Hauses erreicht, der die Größe eines Portals besaß. Sie aber wandte sich nach links, wo ein schmaler Pfad tiefer in den Garten führte und wie von einem Tunnel verschluckt wurde.
Sträucher säumten auf der rechten Seite den Weg. An ihnen wuchsen Stachel- und Johannisbeeren. Es waren Gwens Sträucher. Sie durfte sie pflegen und im Sommer die Früchte ernten.
Schon bald musste sie sich ducken, weil die Zweige eines Baums tief wuchsen. Sie waren wie lange, ausgebreitete Arme, die nach ihr greifen wollten.
Der Weg verschwand. Er lief einfach in eine Rasenfläche aus, die dicht bewachsen war, sodass es einem Gärtner unmöglich gelang, hier zu mähen. Das war der Teil des großen Gartens, den Gwen so mochte, und dort stand ihr Ziel.
Bei Tageslicht hätte sie die Mauern des Pavillons schon sehen können. So musste sie trotz des Vollmonds einige Schritte laufen, um die Mauern des Rundbaus erkennen zu können. Er wurde von vier Säulen gestützt, die in äußeren Steinplatten integriert waren. Eine Tür war nicht vorhanden. Der offene Eingang hob sich als finsteres Rechteck ab, als hätte es eine Riesenschere herausgeschnitten. Ebenso sahen die vier Fenster aus, die ebenfalls keine Scheiben besaßen.
Zögernd trat die neunjährige Gwen auf den Pavillon zu. Obwohl sie diesen Weg kannte, war es doch immer wieder ein kleines Abenteuer, ihn zu gehen. Es hatte Nächte gegeben, da warteten sie bereits. Vielleicht war das heute ebenfalls so.
Bis jetzt bemerkte sie nichts und blieb in der Öffnung stehen. Sie schaute in den dunklen, runden Raum, sah die Fenster wie hellere Augen, und durch die beiden rechten schickte der Mond seine blassen Strahlen. Sie trafen die schmale Bank in der Nähe der Fenster. Sie bestand aus Eisen, das ein Kunstschmied bearbeitet hatte. Deshalb zeigte sie eine gewisse Verspieltheit mit ihren gebogenen Formen, Lehnen und Beinen. Der weiße Anstrich gab ihr etwas Bleiches, Geisterhaftes, aber die Farbe passte zu dem alten Pavillon.
Gwen lief auf die Bank zu. Wenn sie nicht schon anwesend waren, ließ sie sich stets auf der Sitzfläche nieder und wartete so lange, bis sie kamen.
Auch jetzt hockte sie sich nieder, presste die Knie gegeneinander und legte die Hände auf die schmalen Oberschenkel. Dabei sah sie aus wie ein braves Schulmädchen.
Wegen der sich gegenüberliegenden, offenen Fenster herrschte Durchzug. Der Wind strich über den Körper des Mädchens. Gwen fror ein wenig. Der Bademantel war für diese Jahreszeit nicht warm genug. Aber sie holte sich lieber eine Erkältung, als dass sie einmal ihre beiden Freunde verpasste.
Die Minuten verrannen.
Nach wie vor stand der blasse Mond am Himmel und ließ mit seinem Licht den kleinen Pavillon nicht aus. Er gab ihm einen kalten Glanz, und manch blanke Stellen draußen wirkten wie ein matter Spiegel.
Noch kamen sie nicht …
Dann aber – Gwen wusste selbst nicht, wie viel Zeit vergangen war – hörte sie etwas.
Erst war es ein Rascheln, als würde sich draußen jemand bewegen, der sehr vorsichtig war, um nicht gehört zu werden. Das Rascheln blieb, nur die Richtung änderte sich, es erklang in Fensternähe, und es wurde abgelöst von dem Laut, auf den Gwen so lange gewartet hatte.
Ein leises, unheimlich klingendes und Gänsehaut erzeugendes Heulen …
Für Gwen aber genau das Richtige. Sie zuckte nur einmal kurz zusammen, so als hätte sie verstanden, was das Heulen zu bedeuten hatte. Dann drückte sie sich von der Bank hoch.
Das Heulen verstummte mit einem letzten klagenden Laut.
Gwen aber wusste, dass diese Nachricht allein ihr gegolten hatte und keinem anderen. Es war ihr Geheimnis, nur nicht mehr allzu lange, sie würde es schon bald lüften und der Welt erzählen, wie ungewöhnlich und schön es sein konnte, diejenigen zum Freund zu haben, die von den übrigen Menschen abgelehnt wurden.
Sie wartete.
Ihr Herz klopfte im Rhythmus der ablaufenden Sekunden, und sie hörte nur ihren eigenen Atem.
Und dann die Schritte um das Haus!
Sie waren schleichend und schleifend. Gwen schaute nicht zur Tür, ihr Blick war allein auf das Fenster gerichtet. Einer dieser Ausschnitte verdunkelte sich. Dort erschien ein Gesicht, nein, eine Fratze.
Ein Maul, vorgestreckt, leicht geöffnet, sodass helle, gelblich weiße Zahnreihen schimmerten. Darüber sah sie, wie aus der Dunkelheit des Gesichts geschnitten, ein Augenpaar, das in einem kalten Gelb leuchtete.
Raubtieraugen …
Sie stand unbeweglich, aber über das Gesicht des neunjährigen Mädchens glitt ein Lächeln. Es war ein Lächeln der Geborgenheit. Man sah es Gwen an, dass sie sich wohlfühlte. Dazu trug auch das heimliche Leuchten in ihren blauen Augen bei.
Der Kopf im Fenster bewegte sich. Er nickte ihr zu, zum Zeichen, dass er ebenfalls einverstanden war.
Gwen drehte sich um. Sie wusste, dass der zweite ebenfalls erschienen war, und sie schaute zum offenen Eingang des Pavillons hin.
Da stand er.
Hochaufgerichtet, den Kopf witternd vorgeschoben und mit gesträubtem Fell. Er setzte sich langsam in Bewegung, betrat die Düsternis des Pavillons und geriet in den durch das Fenster fallenden Mondschein, der ihn streichelte, sodass sich die Bestie noch mehr reckte und beinahe mit dem Schädel gegen die Decke gestoßen wäre.
Gwen Harper stand direkt vor ihr. Im Gegensatz zu ihr wirkte sie zwergenhaft klein. Sie rührte sich nicht, als die Bestie die Arme ausstreckte. Wie eine Puppe, aber zart und vorsichtig hob sie das Kind an und trug es auf den Armen.
Niemand hätte einem gefährlichen Werwolf diese Zärtlichkeit zugetraut. Behutsam wie eine Mutter ging er mit Gwen um, die einen Arm um den Hals der Bestie geschlungen hatte.
Er trug das Kind zur Bank und legte es darauf nieder. Gwen passte gerade so auf die harte Unterlage. Sie streckte sich aus und schaute zu, wie der Werwolf vor ihr kniete.
Auch der zweite kam durch den Eingang. Er hatte nicht länger nur zuschauen wollen. Er strich an seinem Artgenossen vorbei und baute sich hinter der Bank auf, wo er stehen blieb, den Werwolfschädel senkte und die Pranken auf die Rückenlehne legte.
Dabei öffnete er sein großes Maul, zeigte die Reißzähne, wobei die Augen wie zwei kalte Sterne funkelten.
»Ja«, flüsterte Gwen. »Ja, Großvater und Großmutter. Ich bitte euch. Macht es. Ich fühlte mich so wohl, ich brauche es. Lange habe ich gewartet, aber jetzt wird der Mond wieder eine Woche voll scheinen. Da könnt ihr mich jeden Abend und jede Nacht besuchen, bis wir wieder für längere Zeit Abschied nehmen müssen.«
Auffordern musste sie die Werwölfe nicht, die beiden wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie beugten sich vor und begannen damit, das Mädchen, ihre Enkelin, zu streicheln.
Wie zärtlich sie sein konnten …
Mörderische Werwolfpranken wurden zu verwöhnenden Händen, die über das Gesicht der Kleinen glitten. Gwen hielt die Augen geschlossen. Sie genoss diese Zärtlichkeiten.
»Es ist wunderschön«, flüsterte sie. »Niemand streichelt mich sonst. Meine Eltern haben keine Zeit. Aber ich möchte, dass jemand lieb zu mir ist. Nicht wahr, ihr werdet es immer sein, auch wenn ich groß bin, oder?«
Die beiden Werwölfe gaben Antwort. Sie stießen leise, wehklagende Laute aus, die ungewöhnlich klangen. Jammernd, nicht schrill. Gleichzeitig lieb und zärtlich.
Gwen genoss das Spiel. Manchmal flüsterte sie leise Worte. Sie sprach davon, wie lieb sie ihre Großeltern hatte und dass der Schutz nie aufhören möge.
Die beiden Wölfe waren dafür. Es schien so, als hätten sie die gesprochenen Worte verstanden, und wurden nicht müde, ihre »Enkelin« zu liebkosen.
Was war in dieser Situation schon Zeit? Gwen dachte nicht daran. Am liebsten hätte sie die ganze Nacht bis zum Aufgang der Sonne hier gelegen und die Liebkosungen genossen.
Aber das ging nicht …
Sie öffnete die Augen erst wieder, als sie die streichelnden Pranken nicht mehr in ihrem Gesicht und auf ihren Armen spürte. Die beiden Bestien standen vor der Bank. Sie schauten aus ihren kalten Augen auf Gwen nieder.
Für das Mädchen waren die Augen nicht grausam. Sie las darin etwas anderes.
Eine wunderbare Wärme, sogar Liebe, die sie in ihrem jungen Leben bisher vermisst hatte. Ihre Eltern gaben ihr viel. Neue Kleider, Spielsachen, alles sehr teuer.
Aber Liebe – oder Zeit?
Nein, die bekam sie höchstens von Brenda Rattigan, dem Kindermädchen, das tagsüber kam. Ansonsten war sie ein einsames Kind. Viel zu einsam.
Die Werwölfe zogen sich zurück. Gemeinsam gingen sie, obwohl sie den Pavillon getrennt betreten hatten.
Mit einer müde wirkenden Bewegung hob Gwen den rechten Arm und winkte ihnen zum Abschied zu. »Bis zur nächsten Nacht«, flüsterte sie.
Die beiden Werwölfe bewegten ihre Schädel, als hätten sie die Worte genau verstanden.
»Und morgen früh habe ich etwas Wichtiges vor, meine Lieben«, fuhr sie fort. »Ich werde euch davon berichten. Die Welt wird staunen, das kann ich euch jetzt schon sagen …«
Sie hörten es nicht mehr, denn sie hatten das versteckt liegende Gebäude verlassen.
Gwen blieb liegen. Das tat sie immer, wenn sie Besuch bekommen hatte. Sie dachte jedes Mal darüber nach. Diesmal mit nicht besonders traurigen Gedanken, denn es lagen einige Nächte vor ihr, in denen sie Besuch bekommen würde.
Sie waren immer da, um sie zu trösten, sie zu streicheln und ihr Schutz zu geben.
Erst jetzt richtete sich Gwen Harper auf. Auf ihrem Gesicht lag nach wie vor der entspannte Ausdruck, der in einem leichten Lächeln mündete. Sie schaute auf den offenen Eingang und lauschte, aber die Schritte ihrer Besucher waren längst verklungen. Die beiden hatten sich dorthin zurückgezogen, wo sie niemand finden konnte.
In ihre Welt …
Gwen hatte sie einmal danach gefragt, aber keine Antwort bekommen. Obwohl beide nicht reden konnten, hätten sie ihr einen Hinweis oder einen Tipp geben können, das aber wollten sie nicht.
Gwen ging wie in Trance zurück. Der Weg war ihr vertraut. Sie hatte den Pflanzen und Büschen Namen gegeben. Oft genug, wenn sie allein im Garten spielte, redete sie mit ihnen. Es kam ihr vor, als würden sie besser antworten als ihre Eltern.
Sie streichelte die langen Arme der Pflanzen, berührte Äste und Zweige und ließ Blätter durch ihr Gesicht gleiten. Die Leiter hatte sie schnell erreicht und rasch überwunden.
Niemand hatte ihr Fehlen bemerkt. So ungesehen, wie sie ihr Zimmer verlassen hatte, betrat sie es wieder auf dem ungewöhnlichen Weg. Das Bett war kalt geworden. Sie legte sich hinein und zog die Decke hoch bis zum Kinn.
Das Fenster ließ sie offen.
Und der Wind wehte die Gardinen ins Zimmer, als wollte er Gwen damit von ihren Großeltern grüßen lassen.
Die würden in der nächsten Nacht wiedererscheinen. Mit diesem Gedanken schlief Gwen Harper ein. Auf ihren Lippen lag ein seliges Lächeln …
☆
An diesem Tag hatte ich mir die Zeit genommen und war am Morgen zum Friseur gegangen. Natürlich hatte ich mit einer schnellen Abfertigung gerechnet, aber der Figaro war überlastet, sein Gehilfe hatte sich krankgemeldet, und so tänzelte der Meister von einem Platz zum anderen, damit er den Wünschen der Kunden gerecht werden konnte.
Er entschuldigte sich bei mir mehrere Male. Ich winkte ab und nahm mir inzwischen die dritte Zeitschrift vor. Als ich sie ausgelesen hatte und zur vierten greifen wollte, stand der schwarz gelockte Figaro mit der schmalen, langen Nase und dem lustig nach oben gedrehten Bartenden plötzlich mit ausgebreiteten Armen vor mir.
»Wir können jetzt beginnen, Mister Sinclair«, sagte er.
»Ist es denn wahr?«
»Ja, Sir, bitte, nehmen Sie Platz.« Er bewegte sich so zackig wie beim Militär.
»Na ja, dann wollen wir mal.« Ich stand auf, ging die paar Schritte und drückte mich dann in den alten Ledersessel, dessen Fläche schon ziemlich durchgesessen war und eine Kuhle aufwies.
»Wie soll ich die Haare schneiden?«
»Nicht zu lang lassen, Meister. Bei Ihren Preisen muss da schon etwas runter.«
»Sagen Sie das nicht. Auch ich habe Unkosten.«
»Den Spruch kenne ich. Ein Geschäftsmann, der nicht stöhnt, dem geht es nicht gut.«
Er lachte und band mir das durchsichtige Plastiktuch vor die Brust. Dann begann er mit seiner Arbeit. Da ich ganz schön mundfaul an diesem Vormittag war, hatte er ebenfalls keine Lust zu reden, sodass der Meister nicht abgelenkt wurde.
Um seine Kunden zu unterhalten, hatte er das Radio eingeschaltet. Ein Lokalsender brachte Musik und Interviews.
Ich hatte kaum hingehört, weil mich die Gespräche nicht interessierten, wurde aber plötzlich aufmerksam, als die Sprecherin von einer Schule redete, der sie momentan einen Besuch abstattete, und die Kinder fragen wollte, was sie Aufregendes erlebt hatten.
»Es haben sich viele gemeldet, liebe Zuhörer, aber ein Mädchen muss ich allen anderen vorziehen. Komm bitte her. Du heißt?«
»Gwendolyn Harper. Aber man nennt mich nur Gwen.«
»Darf ich das auch zu dir sagen?«
»Klar.«
»So, und jetzt berichte mal unseren Zuhörern, was du alles erlebt hast und immer noch erlebst, wie du mir in einem Vorgespräch berichtet hast.«
»Das mache ich gern, Miss. Ich bekomme immer dann, wenn der Vollmond scheint, Besuch von meinen Großeltern.«
Im Hintergrund klangen enttäuschte Rufe auf. Die Moderatorin lachte etwas gequält, bevor sie fragte: »Hast du nicht etwas vergessen, Gwen?«
»Ach so, klar. Meine Großeltern sind keine normalen Menschen, sondern Werwölfe!«
Schweigen – Funkstille. Ich aber, der alles mitgehört hatte, zuckte so heftig zusammen, dass ich den Meister der Schere irritierte und er mir mit derselben leicht in die Kopfhaut stach.
»Entschuldigung!«, sagte er lautstark. »Aber Sie haben sich so plötzlich bewegt, Sir. Ich werde …«
»Ruhig sein!«, rief ich. »Seien Sie nur ruhig. Und tun Sie mir einen Gefallen, bitte: Stellen Sie das Radio lauter!«
»Wirklich?«
»Ja, machen Sie schon.«
Er ging hin und drehte an einem Knopf.
Die Moderatorin hatte sich von ihrer Überraschung erholt. »Werwölfe also?«
»Ja, Miss.«
»Du kannst mich Erica nennen.«
»Gut, Erica.«
»Dann möchte ich noch von dir wissen, Gwen, wieso du in jeder Nacht Besuch von Werwölfen bekommst.«
»Nicht in jeder Nacht, nur wenn der Vollmond scheint.«
»Entschuldige, ich vergaß.«
Einige Kinder im Hintergrund begannen, zu lachen. Jemand ahmte das Jaulen der Bestie nach.
»Soll ich wirklich erzählen?«, fragte Gwen.
»Bitte.«
»So ein Quatsch«, sagte der Figaro neben mir. »Die legen die Leute rein, wo sie nur können.«
»Bitte, seien Sie ruhig, sonst bin ich das letzte Mal bei Ihnen gewesen.«
»Natürlich, Sir.«
Ich aber hörte zu, was das Mädchen namens Gwen zu sagen hatte. Der Meister merkte, dass es mir ernst war. Er schnibbelte nicht mehr mit der Schere herum, sodass störende Geräusche an meinen Ohren glücklicherweise ausblieben.
Gwens Stimme bekam einen dozierenden Klang. »Sie wissen ja, Erica, dass Werwölfe Geschöpfe der Nacht sind. Deshalb kommen sie nur in der Nacht. Sie erscheinen stets bei Vollmond. Ich erwarte sie dann in unserem Garten.«
»Darf ich mal etwas fragen?«
»Ja.«
»Wissen deine Eltern davon?«
»Nein.« Gwen lachte hell. Das Interview schien ihr Spaß zu bereiten. »Aber jetzt werden sie bestimmt davon erfahren.«
Die Reporterin holte geräuschvoll Luft. »Und du kennst diese Werwölfe. Sie tun dir nichts?«
»Es sind ja meine Großeltern.« Das Mädchen äußerte sich, als wäre dies die selbstverständlichste Sache der Welt. Im Hintergrund klang Gemurmel auf, und selbst die Reporterin war sprachlos. »Glauben Sie mir nicht, Erica?«
Die Frau lachte. »Es ist zumindest schwer. Aber du hast eine blühende Fantasie, Gwen.«
»Ich habe das erlebt. Sie glauben mir nicht.«
»Erzähl weiter.«
»Sie kommen bei Vollmond. Wir treffen uns in unserem kleinen Pavillon. Dort sitzen wir dann zusammen. Ich spüre, dass sie besorgt um mich sind. Wenn sie bei mir sind, habe ich keine Angst. Sie … sie beschützen mich. Sie streicheln mich. Ich genieße das.«
»Und dann gehen sie wieder?«
»Klar.«
»Wohin denn?«, wollte die Reporterin wissen.
»Das weiß ich nicht.«
»Du hast nie danach gefragt?«
»Nein. Sie gehen in ihre Welt, das denke ich mir. Wenn wieder der Vollmond am Himmel steht, kommen sie zurück. So einfach ist das.«