John Sinclair Sonder-Edition 81 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair Sonder-Edition 81 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Über Nacht veränderte sich das Atomium. Plötzlich leuchteten in den großen Kugeln Augen von satanischer Kälte.
Gleichzeitig geschahen die Untaten.
Menschen irrten tobend und heulend durch die Straßen und riefen immer wieder: "Das ist die Offenbarung der Hölle! Das letzte Siegel ist gebrochen!"
Eine Stadt stand am Rande des Chaos.
Und wir befanden uns im Zentrum des Schreckens ...

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EPUB

Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Mordaugen von Brüssel

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Ballestar/Norma

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6633-4

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.

Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.

Lesen Sie in diesem Band:

Die Mordaugen von Brüssel

von Jason Dark

In dieser Nacht peitschte der Wind den Regen als nie abreißende Fahne vor sich her. Das Wasser überschüttete die Stadt, ließ die Kanäle über die Ufer treten und scheuchte die Ratten in die Keller.

Es war die Nacht des Orkans, der ungebändigten Natur und der Angst der Menschen.

Sie verkrochen sich in ihren Häusern, Wohnungen und Hotels. Mühsam bahnten sich vereinzelt fahrende Autos ihren Weg durch die Wassermassen. Fußgänger waren kaum zu sehen. Und wenn, dann hasteten sie mit aufgespannten Schirmen und geduckt über die Gehsteige oder standen in schützenden Hauseingängen, frierend, nass, fluchend.

Nur der einsamen Gestalt im langen Regenmantel machte das Wetter nichts aus. Der Mann schien den Regen zu genießen. Er prasselte auf die Gummihaut und den breitkrempigen Südwester auf seinem Kopf.

Der Mann stand an der Avenue de L’Atomium. Er hatte den Schutz der nahen Bäume verlassen, konzentrierte sich ganz auf die neun Kugeln sowie deren Verbindungsstreben und verzog die Lippen hin und wieder zu einem kalten Lächeln.

Die Kugeln waren von innen beleuchtet. Sie erinnerten an Gebilde aus einer fernen, anderen Welt, die Reisende bei einem Besuch zurückgelassen hatten. Regenschleier kippten aus den Wolken und wischten wie Tücher an den Kugeln vorbei. Das Licht bekam einen verschwommenen Glanz, die beiden runden Fensterreihen in der obersten Kugel sahen aus wie ein glitzerndes, um die Kugel herumlaufendes Band, und der Mann lächelte noch breiter, als er daran dachte, wie viele Menschen auch heute das Atomium besuchten.

Sie würden sich wundern.

Dieser Regen war kein Zeichen. In diesem Juni regnete es fast nur. Das Zeichen wollte der Mann, der heimliche Beobachter, setzen. Die Zeit war reif, das wusste er. Man hatte die Tafeln gefunden. Wer es schaffte, sie korrekt auszuwerten, der wusste Bescheid. Und wer Bescheid wusste, außer ihm, der war sein Gegner.

Also hielt er sich bei seinen Worten an die Prophezeiung der Anna Katharina Emmerich, einer Seherin, die in Ekstase in aramäischer Sprache redete.

»Einige Dämonen werden losgelassen zur Strafe und als Versuchung für die Menschen. Ich glaube, dass in unseren Zeiten schon einige entfesselt sind und nach unseren Zeiten wieder welche losgelassen werden.«

Diese Worte waren um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert gesprochen worden. Der Mann, der sie wiederholte, wusste, dass sie ihre Gültigkeit nicht verloren hatten. Und er fügte etwas hinzu, er rief es gegen die klatschenden Regenschauer, die seine Worte aufsaugten.

»Das letzte Siegel wird von mir gebrochen. Denn ich bin Radek und habe die Macht.«

Als wollte das Atomium seine Worte bestätigen, leuchteten in den Kugeln für einen Moment neun Augen von einer satanischen Kälte auf, die selbst der Regen nicht verwischen konnte …

Die gewaltige Baustelle befand sich in der Innenstadt von Brüssel, unweit der Kirche Notre-Dame, und sie hatte in den letzten Monaten zu gewaltigen Verkehrsstaus geführt. Man wollte hier ein Hotel bauen, dem ein Tagungszentrum angeschlossen wurde, in dem sich die Abgeordneten der EG treffen sollten.

Wann der Bau fertig war, konnte niemand sagen, und das interessierte Bill Conolly und mich auch nicht, als wir mit dem Taxi über die Avenue du Parc Royal fuhren und uns von Norden her dem Ziel näherten. Die gotischen Spitztürme der berühmten Brüsseler Kirche wiesen uns den Weg, verfahren konnten wir uns nicht mehr, aber wir steckten schon bald in einem Stau.

Der Fahrer, er trug eine Schiebermütze auf dem Kopf, hob die Schultern. »Da kann man nichts machen«, sagte er. »Wir müssen erst einmal warten.«

»Gibt es keine Abkürzung?«, fragte Bill.

»Sehen Sie eine, Monsieur?«

»Nein.«

»Ich ebenfalls nicht.«

Als umweltbewusster Mensch stellte unser Fahrer den Motor ab. Er öffnete das Fenster. Zum Glück regnete es nicht, dafür drang kühle Luft in den alten Mercedes. Es war viel zu kalt für Juni, aber in London hatten wir auch kein besseres Wetter.

Bill saß neben mir im Fond und strich durch sein braunes Haar. »Damit konnte ich nicht rechnen.«

»Das hätte dir dein Informant mitteilen können.«

»Er wird schon warten.«

Der Informant, das wusste ich, hieß Maurice Reuven. Er war zwar kein Kollege von Bill, aber er gehörte zu den Menschen, die es schafften, sich einige Scheine nebenbei zu verdienen, indem sie mit offenen Augen durch die Welt gingen, nach interessanten Dingen suchten und die Informationen anschließend, wenn sie etwas gefunden hatten, an die Presse verkauften.

Bill Conolly hatte in vielen Städten seine »Spitzel« sitzen, weil er ebenfalls stets auf der Suche nach Neuigkeiten war. Er arbeitete als freier Reporter für viele Magazine und Zeitschriften auf der gesamten Welt und kümmerte sich zumeist um die Dinge, die einen mystischen, okkulten oder dämonischen Hintergrund hatten.

Mir hatte er schon so manchen Tipp gegeben. Wir kannten uns seit einer Reihe von Jahren, waren gut aufeinander eingespielt und hatten so manches Mal den Teufel geärgert.

Was mich oder uns in Brüssel erwartete, wusste ich nicht. Bill hatte nur von gewissen Tafeln, alten Fundstücken, gesprochen, die eine bestimmte Bedeutung besaßen. Mehr wusste er nicht, und Maurice Reuven konnte genauso wenig Konkretes sagen. Dennoch glaubte Bill dem Mann. Dessen Stimme hatte am Telefon sehr aufgeregt und hektisch geklungen. Er hatte davon gesprochen, dass nicht mehr viel Zeit blieb.

Momentan hatten wir Zeit.

»Gefällt dir Brüssel?«, fragte Bill.

»Ich habe bisher nicht viel von der Stadt gesehen.«

»Das wird sich bestimmt ändern.«

»Dann könnten wir eigentlich den Rest zu Fuß gehen«, schlug ich vor.

»Besonders weit ist es nicht mehr.« Bill grinste mich an und holte bereits seine Geldbörse aus der Tasche. »Meister«, sagte er zu dem Fahrer, »wir haben es uns anders überlegt und wollen aussteigen.«

»Merde! Und ich hänge hier fest.«

»Das ist Ihr Pech.« Um es einigermaßen erträglich zu machen, gab der Reporter ein gutes Trinkgeld.

Das hellte die Miene des Taxifahrers wieder auf. »Dann schönen Tag noch, die Herren.«

»Danke gleichfalls«, sagte ich beim Aussteigen.

Wir gingen auf den schmalen Gehsteig und spürten den Westwind, der den Stoff unserer Mäntel knattern ließ.

Beide stellten wir die Kragen hoch, blickten über die Dächer der abgestellten Wagen hinweg und sahen schon das Gerüst der Baustelle unweit der Kirche. Man war zwar tief in die Erde gegangen, aber die Baustelle selbst wuchs über das gewaltige Loch hinweg.

Westlich der Kirche erstreckte sich eine große Grünfläche, der Cimetière de Laeken, der größte Brüsseler Friedhof. Dichter Baumbestand bildete eine grüne Lunge.

»Da sind wir ja richtig. Der Friedhof, der Fund …«, meinte Bill.

»Hängt er mit dem Friedhof zusammen?«

Bill stieß einen kleinen Stein zur Seite. »John, ich weiß so gut wie nichts. Ich habe mich nur auf die wenigen Worte von Maurice Reuven verlassen.«

»Hoffentlich bist du da nicht verlassen.«

»Nicht bei Reuven.«

»Kennst du ihn so gut?«

Wir gingen während unseres Gesprächs weiter.

»Nein, aber trotzdem ist er kein Spinner«, antwortete Bill. »Ich war mal vor Jahren mit ihm zusammen in Singapur. Da haben wir einen Bericht über Finnen geschrieben, die sich, um Steuern und Löhne zu sparen, dort niederlassen. Reuven war ein guter Rechercheur, kein Spinner oder Fantast, obwohl er, wie ich, stets an die Story dachte.«

»Und jetzt hat er die Tafeln gefunden?«

»John, das glaube ich nicht. Er wird davon gehört und nachgeschaut haben.«

»Ich lass mich überraschen.«

Wir hatten die Baustelle inzwischen erreicht. Der Verkehr wurde an einem hohen Bretterzaun vorbeigeleitet. Einspurig floss er über die schmale Straße, wo es immer wieder zu kleinen Staus kam. Der Wind ließ Wimpel und Bänder flattern. Warnleuchten glotzten uns an wie künstliche Augen. Gewaltige Baukräne stachen skelettgleich aus der Grube hervor. Eine Auf- und Ausfahrt gab es ebenfalls. Aus ihr rollten die Lastwagen, beladen mit Lehm und Steinen, denn die Ungetüme von Baggern wühlten sich stündlich tiefer in den Boden hinein.

Die Arbeiter trugen gelbe Helme. Kommandos erschallten. Wir sahen die Vorgesetzten, zu erkennen an ihren roten Helmen.

Sie schrien ihre Anordnungen in Megafone und gaben Zeichen mit den Armen. Aufgereiht standen die Bauwagen hintereinander. Dort saßen die Überwacher vor ihren Monitoren und schauten zu, ob auch nichts schieflief.

Der Lärm hatte sich gesteigert. Das Quietschen der Kräne, der Krach der Bagger, wenn ihre Schaufeln in das Erdreich hieben, und das Dröhnen der schweren Lastwagenmotoren vermischten sich zu einer nie abreißenden Geräuschorgie.

Wenn wir uns verständigen wollten, mussten wir schreien. Bill hatte sowieso keine Zeit für mich, er suchte seinen Informanten Maurice Reuven.

Vor einer Absperrung mussten wir halten. Ein kräftiger Mann in gelber Jacke und lehmbeschmierten Schuhen stellte sich uns in den Weg. »Wer sind Sie?«

»Wir warten auf Maurice Reuven«, sagte Bill.

»Kenne ich nicht. Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Es sei denn, Sie haben einen Passierschein. Kann ich den mal sehen?«

»Wie gesagt, wir warten.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Gehen Sie wieder. Wenn Sie die Baustelle besichtigen wollen, halten Sie sich an die offiziellen Zeiten.«

»Wir sind von der Presse«, erklärte Bill.

Der Vorarbeiter warf ihm einen schiefen Blick zu. »Leute wie Sie sind bei uns besonders beliebt. Gehen Sie jetzt, wir haben zu arbeiten.«

Ich wollte keinen Streit, nickte meinem Freund zu, aber der ließ sich nicht beirren. Er hatte einen Mann in brauner Lederjacke entdeckt, der winkend auf uns zulief. »Das ist Maurice Reuven!«

»Kommen wir durch ihn ans Ziel?«

»Das glaube ich doch.«

Reuven blieb keuchend vor uns stehen. »Sorry, aber durch die Baustelle habe ich mich verspätet.«

»Verschwinden auch Sie«, verlangte der Vorarbeiter.

»Moment, Meister, nicht so schnell.« Reuven griff in die Tasche und holte drei Bögen hervor. »Das ist die Erlaubnis. Ausgestellt von Ihrem Chef. In dreifacher Ausfertigung, wenn Sie genau hinschauen wollen. Man gewährt uns den freien Durchgang zur Baustelle. Sind Sie nun zufrieden, Meister?«

Der Meister las erst nach. Ich schaute mir Maurice Reuven inzwischen an. Er war älter als Bill und ich. Sein krauses Haar wuchs nur mehr auf dem hinteren Rand des Kopfes. Es zeigte eine rostrote Farbe und bestand aus zahlreichen Locken. Zur Stirn hin war das Haar ausgefallen. Dafür schimmerten auf der Schädelplatte zahlreiche Sommersprossen. Die dichten Augenbrauen zeigten die gleiche Farbe wie das Haar. Reuven hatte ein fleischiges Gesicht mit leicht aufgeworfenen Lippen und einem stark ausgeprägten Kinn.

Wir bekamen die Papiere zurück. »Ja, sie sind in Ordnung«, sagte der Vorarbeiter. »Kommen Sie mit.« Er führte uns in einen Bauwagen.

Auf dem Weg dorthin machte mich Bill mit Reuven bekannt. Der Händedruck des Informanten war fest. »Habe schon einiges von Ihnen gehört, Sinclair.«

»Hoffentlich nicht zu viel Schlechtes.«

»Das kann ich nicht sagen.« Er zwinkerte mir zu. »Für diesen Job sind Sie der richtige Mann, glauben Sie mir.«

»Mal sehen.«

Der Wagen war ziemlich eng und vollgestopft mit zahlreichen Geräten. Für uns waren die Helme wichtig. Sie hatten an der Vorderseite kleine batteriegespeiste Lampen.

»Wollen Sie auch Stiefel anziehen?«

»Darauf verzichten wir«, erwiderte Bill.

»Es ist schlammig im Bauch.«

»Im Bauch?«

»Ja, so nennen wir die Tiefe.«

Wir verzichteten trotzdem auf die Stiefel. Der Vorarbeiter bot uns einen Führer an, doch Reuven schüttelte den Kopf. »Den brauchen wir nicht, danke. Wir kennen uns aus.«

»Wie Sie wollen.«

Mein Helm passte mir leidlich. Wir hatten die mit der grünen Farbe bekommen, für Besucher.

Über einen hochgelegten Brettersteg betraten wir die eigentliche Baustelle. Primitive Geländer sicherten ihn an beiden Seiten ab. Unter uns gähnte die Tiefe der Baugrube. Brauner und gelber Lehm wechselten sich ab mit dunkler Erde. Die Menschen wirkten klein, selbst die Lastwagen kamen uns nicht mehr gefährlich vor, im Gegensatz zu den gewaltigen Kränen, die alles überragten.

»Wo müssen wir hin?«, fragte Bill.

»Ganz nach unten«, antwortete Reuven.

»Und dann?«

Der Informant lachte. »Noch tiefer, Bill.«

»Was ist denn da zu sehen?«, fragte ich.

Reuven drehte sich um. »Lassen Sie sich überraschen. Ich sage nur so viel, dass wir die Reste einer uralten Kirche betreten werden. Machen Sie sich auf etwas gefasst. Es war Zufall, dass sie entdeckt wurde. Eben durch diesen Aushub von Erdmassen.«

»Dann hat die Kirche keinen Namen?«, wollte ich wissen.

»Wenigstens keinen offiziellen.«

Wir hatten das Ende der Galerie erreicht und standen vor einer primitiven Holztreppe, die uns bis zum Grund der Baugrube brachte. Auch diese lehmbeschmierten und feuchten Stufen waren an den Seiten durch ein Geländer gesichert.

Maurice Reuven, der sich hier auskannte, hatte die Führung übernommen. Bill und ich blieben stets zwei Stufen hinter ihm. Ich kam mir tatsächlich vor wie jemand, der tief in den Bauch eines gewaltigen Monsters steigt.

An den Krach hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Wir verständigten uns nur mehr durch Zeichen. Auf dem Grund angekommen, mussten wir uns an die abgeteilten Strecken halten, die für Fußgänger vorgesehen waren. Nicht weit entfernt ratterten die LKW mit ihren Erdladungen vorbei und krochen den steilen Weg der Ausfahrt in die Höhe.

Wir brauchten nicht durch das schlammige Erdreich zu waten. Man hatte extra Wege geschaffen. Sie bestanden aus aneinander und nebeneinander gelegten Holzplatten, die wiederum eine gelbbraune Schicht aus Schlamm zeigten.

Wenn ich an den Seitenwänden hochschaute, kam ich mir vor wie die Ameise, die vor einem Elefanten steht und dessen Ende so gut wie nicht erkannte.

Die Wände waren gewaltig, unheimlich hoch. Sie schimmerten braungelb. Heller war das Holz der Gerüste, das die Wände abstützte, weil doch einige Stellen vom Einsturz bedroht waren.

Maurice Reuven kannte den Weg genau. Er führte uns in einen Teil der Baugrube, wo nicht gearbeitet wurde. Dafür diente sie als Freilager. Eisenmatten, Holzstempel, Stangen, Bohrer, Hacken, Schaufeln und Raupen mit dicken Ketten standen dort.

Maurice Reuven zündete sich eine Gitanes an. Er paffte drei Wolken und erklärte uns, dass wir uns nur mehr ein paar Schritte vom Ziel entfernt befanden.

»Was finden wir dort?«, erkundigte ich mich.

»Zwei alte Steinplatten.«

»Mit einer Beschriftung?«

»Sicher.« Er hustete und rauchte. »Sie ist, so würde ich meinen, sehr gefährlich, denn sie beinhaltet eine düstere Prophezeiung. Das erinnert mich ans Mittelalter, als man die großen Weissagungen machte. Für mich ist es ein Teil der Apokalypse, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich erfüllen wird.«

»Wann?«, fragte ich.

»Vielleicht in diesen Tagen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Kann ich auch nicht sagen. Es ist mehr ein Gefühl, wissen Sie. Obwohl sich schon einiges verändert hat.«

»Was?«

»Es stand nichts in der Presse, Sinclair, aber es hat Zeugen gegeben, die Augen gesehen haben wollen. Riesige Augen von einer höllischen Kälte und Grausamkeit. Sie zeigten sich innerhalb der Kugeln des Atomiums. Das war in den letzten Tagen, und ich habe auch mit jemandem gesprochen, der vor dem Ende warnte.«

»Wer war das?«

»Ein uralter Mönch. Er lebt in einem Kloster und bekommt dort seine letzte Versorgung. Der Mann weiß viel, aber er wurde von den meisten als Spinner abgetan. Meiner Ansicht nach braut sich etwas zusammen, das wir uns gemeinsam ansehen sollten. Außerdem habe ich ständig das Gefühl, verfolgt zu werden.«

»Von wem?«

»Lachen Sie mich nicht aus, Sinclair, von einem Unbekannten, verstehen Sie?«

»Einer Person?«

»Nein, einer Macht oder Kraft. Wie immer Sie es nennen wollen. Es gibt ja Menschen, die ihren Tod vorausahnen. Darüber habe ich früher gelacht. Heute nicht mehr. Ich werde den Eindruck nicht los, dass man mich auf die Liste gesetzt hat.«

Bill begann, zu lachen, und schlug Reuven auf die Schulter. »He, Maurice, so kenne ich dich ja gar nicht. Wo ist dein alter Schwung geblieben?«

»Der ist vorbei.«

»Ach komm, reiß dich zusammen. Wir sind zu dritt und werden das Kind schon schaukeln.«

Reuven warf die Kippe auf den Boden. »Entschuldigt, lasst uns jetzt weitergehen.«

Bill warf mir einen langen Blick zu und hob die Schultern. Er wurde aus dem Verhalten seines Bekannten ebenfalls nicht recht schlau.

Zwei lehmbeschmierte Raupenfahrzeuge standen dicht nebeneinander. An ihnen schoben wir uns vorbei, und es öffnete sich ein Loch in der gelben Lehmwand.

»Dort müssen wir rein«, sagte Reuven.

Ich runzelte die Stirn. »Sieht aus wie ein Tunnel.«

»Ist auch einer. Er endet in einer Höhle. Schalten Sie die Lampe ein, Sinclair, es wird gleich dunkel.«

Der Strahl war nicht besonders stark. Als wir gingen, hüpfte er auf und nieder. Wie ein heller Finger tastete er sich durch die Finsternis des Tunnels.

Es roch nach feuchtem Lehm und alter Erde. Auf dem Boden zeichneten sich Spuren ab. Sie waren von Maurice Reuven, der diesen Weg nicht zum ersten Mal nahm.

Er hatte den Kopf eingezogen, obwohl die Gangdecke hoch genug war. Ich schaute mich in dem engen Tunnel so gut um wie möglich. Dass nur wenige Schritte hinter uns eine Großbaustelle lag, war kaum zu begreifen. Wir befanden uns hier in einer anderen Welt, die sich später auch äußerlich von der normalen Baugrube abhob, denn der Lehm an den Wänden verschwand und schuf einem grauen Gestein Platz.

Es sah aus wie eine Landkarte, stand an einigen Stellen kantig und schroff vor, bildete Hügel, Mulden, kleine Täler und Reliefs.

Der Grund war ebenfalls nicht eben. Oft liefen wir durch Wasserpfützen. Ich hatte nasse Füße bekommen und bedauerte es jetzt, keine Stiefel angezogen zu haben.

Reuven drehte sich um. Der Lampenstrahl blendete mich. »Wir sind bald da, Freunde. Dann könnt ihr die Platten sehen.«

»Liegen sie im Gang?«, fragte Bill.

Maurice schüttelte den Kopf. »Nein, wir erreichen gleich die Höhle, wie ich schon sagte. Und sie kommt mir vor, als wäre sie eine alte Kirche. Komisch, nicht?«

»Das wird sich herausstellen«, meinte Bill.

Es dauerte nur mehr eine Minute, bis wir den Gang hinter uns gelassen hatten. Vor uns öffnete sich tatsächlich eine Höhle, in diese dicke Dunkelheit stachen die Strahlen unserer drei Lampen wie weiße, breite, zitternde Knochenfinger und erhellten den Großteil.

»Wie eine kleine Kirche. Er hat recht«, flüsterte Bill Conolly und schob sich vor.

Unter unseren Schuhen knirschte der Dreck. Ich folgte meinem Freund und erkannte, dass er die Lampe auf eine bestimmte Stelle gerichtet hatte, die aussah wie ein Altar. Jedenfalls war es eine Erhöhung. Eine waagerechte Steinplatte lag auf einer senkrecht stehenden. Ich leuchtete in die Höhe und erblickte über mir die graue unregelmäßige Decke aus dicken Steinen.

»Na?«, sagte der Belgier. »Habe ich euch zu viel versprochen?«

»Den Altar sehen wir«, erwiderte Bill. »Aber was ist mit den Platten, von denen du gesprochen hast?«

»Sie sind auch hier. Kommt mit.« Er wandte sich nach rechts und folgte dem Lichtstrahl, der schließlich einen Kreis auf das Gestein der Wand warf.

Maurice bewegte den Kopf nach links, das Licht wanderte mit und traf eine Nische. Anhand der Bruchstellen konnte ich feststellen, dass sie erst vor Kurzem aus dem Gefüge herausgebrochen waren.

»Da habe ich die Platten gefunden«, erklärte Reuven.

»Das sehen wir uns an, John.« Bill bewegte sich gedeckt vor, ich schlich hinter ihm her. Zusätzlich hatte ich meine eigene Halogenleuchte hervorgeholt. Ihr kaltes Licht füllte die Nische bis in den letzten Winkel aus. Und die Steinplatten sahen wir. Der Finder hatte sie aufgerichtet, sie lehnten mit der Rückseite an der Wand.

»Könnt ihr lesen, was darauf eingemeißelt ist?«, fragte Reuven leise hinter uns.

Bill versuchte es. »Nein, die müssen wir erst säubern.«

»Es ist in lateinischer Sprache geschrieben«, meinte der Belgier.

»Hast du mit dem alten Mönch schon darüber gesprochen?«, wollte der Reporter wissen.

»Natürlich. Er sagt, dass zwei verschiedene Texte auf den Tafeln stehen. Sie sind von verschiedenen Personen geschrieben oder eingemeißelt worden.«

»Kennt man die?«

»Der Mönch kannte sie, Bill. Das war einmal Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus und dann Matthäus, glaube ich.«

Ich dachte mehr praktisch und packte eine Tafel mit beiden Händen an. Die kleine Leuchte hatte ich in der Tasche verschwinden lassen. Stein ist schwer, das spürte ich, als ich die Tafel abhob. Sie wog einiges, und ich schleifte sie über den Boden, bis sie vor den Füßen des Belgiers lag.

Bill hatte sich die zweite Tafel genommen und direkt neben die erste gelegt. »So«, sagte er und rieb sich die Hände. »Jetzt wollen wir uns mal anschauen, was dort steht.«

Wir nahmen unsere Taschentücher, putzten den Staub weg, sodass die eingeschlagenen Buchstaben deutlicher zum Vorschein traten. Glücklicherweise hatten Bill und ich Latein in der Schule gelernt, das kam uns jetzt zugute.

»Schalte mal deine Lampe ein, John.«

Ich hielt sie so, dass die Tafel, auf der die Botschaft des Paulus an Timotheus stand, voll angestrahlt wurde. Mein Freund las mit leiser Stimme und flüssig vor.

»Das sollst du aber wissen, denn in den letzten Tagen werden greuliche Dinge kommen. Denn es werden die Menschen viel von sich halten, geldgierig sein, hoffärtig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, lieblos, unversöhnlich, Verleumder, zuchtlos, wild, ungütig, Verräter, Frevler, aufgeblasen, die die Lüste mehr lieben als Gott, die da haben den Schein eines gottesfürchtigen Wesens, aber seine Kraft verleugnen sie.« Bills Stimme versiegte. Er holte tief Luft, drehte mir den Kopf zu, der ich gebückt neben ihm stand, und fragte mich: »Was hältst du von der Sache?«

»Das ist eine Art Apokalypse.«

»Stimmt, John. Mehr sagst du nicht?«

Ich hob die Schultern. »Meiner Ansicht nach kann sie zu jeder Zeit passen.«

»Da hast du auch wieder recht.«

Maurice Reuven meldete sich. »Lest erst einmal den Text der zweiten Tafel.«

Bill rückte ein Stück zur Seite. Ich machte ihm Platz und leuchtete wieder. Abermals las er flüssig vor.

»