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Ein Hauch von Moder umwehte unseren neuen Kollegen. Ich hielt es erst für einen Witz, bis auch Glenda Perkins, meine Sekretärin, diesen Geruch ausströmte. Selbst Sir James Powell blieb nicht davon verschont.
Suko und ich forschten nach den Gründen und erlebten fassungslos, dass uns der Hauch von Moder ebenfalls umgab und uns zu Verfluchten der Totengruft machte ...
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Ein Hauch von Moder
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6820-8
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Ein Hauch von Moder
von Jason Dark
Vorgeschichte
Als man sie jagte und endlich gestellt hatte, baten sie darum, nicht getötet zu werden. Sie bestanden auf eine andere Art der Vernichtung. Sie wollten bei lebendigem Leib eingemauert werden.
Man tat ihnen den Gefallen und ahnte nicht, welch einen Schrecken man damit konserviert hatte. Selten war die Macht der Baphomet-Templer so unterschätzt worden wie in diesem Fall.
Jahrhunderte später rächte sich dies auf grauenhafte Weise. Die Verdammten der Totengruft entkamen den finsteren Verliesen, und mit ihnen der Hauch von Moder …
Um Mitternacht hörte ich den Schrei!
So furchtbar und grauenhaft, wie ihn nur ein Mensch ausstoßen konnte, der sich in höchster Lebensgefahr befand.
Der Schrei riss mich aus dem Tiefschlaf. Er glich einer Alarmsirene, und ich reagierte wie ein gut gedrillter Soldat. Im Bett schoss ich förmlich hoch, blieb für einen Moment sitzen und hatte auf den Schalter der kleinen Lampe geschlagen.
Das Licht strahlte bis gegen die Decke, wo es einen Kreis zeichnete. Es erreichte auch die angelehnte Tür, die ich ebenfalls anpeilte, mich dann zur Seite drehte und aus dem Bett sprang.
Mir fiel auf, dass sich etwas zuckend und in der Farbe wechselnd durch den Türspalt schob, wobei es sich dicht dahinter und noch im Schlafraum verlief.
Zuckend wie Feuer!
Feuer? Stand möglicherweise meine Wohnung in Flammen? Das konnte nicht sein, ich hätte das Fauchen der Flammen hören und den dicken Qualm riechen müssen.
Mit zwei Dingen war ich bewaffnet, als ich die Tür ganz aufriss. Einmal mit der Beretta, zum anderen mit dem Kreuz, das vor meiner Brust hing. Ich tauchte ein in den Flur, drehte mich nach rechts, wo die Wohnzimmertür offen stand, und sah das Feuer.
Es war die reinste Flammenhölle. Ein zuckendes, gefährliches, lautloses Etwas, das den Raum bis in den letzten Winkel hin ausfüllte. Flammen, wohin ich schaute.
Tanzend, strahlend, sich wiegend. Rot, dunkel, manchmal hellgelb bis weiß – und die Schreie!
Von einer Person ausgestoßen. Dabei so fürchterlich, so grausam echt. Derjenige, der so schrecklich schrie, war jedoch nicht zu sehen.
Es gab ihn nicht für mich. Es sei denn, er hatte sich in der Flammenhölle versteckt.
Sie war dicht und durchsichtig gleichzeitig, sodass ich meine Möbel wie hinter einem Vorhang sah. Möbel, die im Raum standen und nicht verbrannten.
Ein Witz, eine Halluzination? Narrte mich ein Spuk?
Keines der drei Dinge traf zu. Es gab das Feuer, es war echt, nur handelte es sich nicht um gewöhnliche Flammen. Diese waren magisch aufgeladen. Feuer, ohne vernichtende Kraft, ohne Wärmeentwicklung. Feuer, das auf seine Art und Weise brannte, das zwar zerstören konnte, aber nur bestimmte Dinge.
Wer aber schrie?
Ich sah die Person nicht, noch nicht. Wenn ich das herausfinden wollte, musste ich in die Flammen hinein, die überhaupt keine Hitze ausstrahlten. Ich würde bestimmt nicht schreien.
Es kostete mich trotzdem Überwindung, ins Wohnzimmer zu gehen. Meine Nerven vibrierten, allmählich fanden sich wieder die Gedanken zu klaren Gebilden, und ich war froh, mein Kreuz bei mir zu tragen, vor dem die Flammen zurückwichen.
Es schuf mir einen Tunnel, einen schmalen Gang durch das magische Feuer und hinein in ein Zimmer, das sich verändert hatte und dennoch gleichgeblieben war.
Kein Möbelstück war verkohlt, angebrannt und angesengt worden. Alles stand wie immer an seinem Platz, nur eben eingehüllt von einem lautlosen Flammenmeer.
Wer schrie? Wer schickte mir diese jetzt wimmernd und klagend klingenden Laute? Ich musste es herausbekommen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Als ich die Mitte des Raums erreichte, war es so weit. Gleichzeitig überfiel mich eine schreckliche Angst. Etwas war anders geworden, denn von einem Schrank, wo ich eine ungemein wertvolle »Waffe« aufbewahrte, war die Tür aufgerissen worden.
Dort stand der Dunkle Gral, der Kelch des Feuers mit der roten Kugel der Seherin Tanith.
Er sah völlig anders aus. Zwar schimmerte er noch golden und die Kugel in ihrem dunklen Rot. Gleichzeitig aber war der Dunkle Gral das Zentrum des Feuers, in dem sich das Gesicht eines Mannes abzeichnete.
Ein Gesicht mit einem Knebelbart, dessen Mund weit geöffnet war und die Züge aus diesem Grund so verzerrte.
Es war die Person, die so schrecklich schrie.
Das Gesicht besaß die Größe des Grals und der Kugel. Es bildete sogar eine Einheit, war mit ihm verschmolzen und zeigte an der Oberseite eine Rundung, wo es mit der Kugel verbunden war.
Mich hatte ein Schlag in den Magen erwischt. Ein Unsichtbarer hatte dabei die Faust geführt.
Ich kannte das Gesicht.
Dieser Mann, dessen Züge sich dort abzeichneten, war seit Jahrhunderten tot, aber in mir wiedergeboren worden.
Er hieß Hector de Valois!
☆
Ich stand da und tat nichts. Nur über meinen Rücken lief der kalte Schauer. In meiner Kleidung kam ich mir nicht einmal lächerlich vor. Ich starrte nur auf den Gral und das Gesicht von Hector de Valois, der den Gral einmal besessen hatte und über seine Geheimnisse so gut Bescheid wusste. Ein Wissen, das mir fehlte.
Er schrie.
Ein Toter brüllte, ein Toter jammerte. Jemand, dessen Geist das Jenseits durcheilte und versuchte, die höchsten Stufen zu erlangen, hatte sich mir gezeigt.
Weshalb schrie er so? Aus welchem Grund waren seine männlichen und etwas kantig wirkenden Gesichtszüge durch dieses Grauen so gezeichnet? Spürte er einen tiefen inneren Schmerz, den ich nicht mitbekam?
Eine andere Lösung gab es nicht. Es konnte auch sein, dass er mich warnen wollte.
Ich musste mir einen innerlichen Ruck geben, um weiterzugehen. Die Kette mit dem Kreuz hatte ich jetzt über den Kopf gestreift. Wieder wies mir mein Talisman den Weg durch die Flammenhölle. Obwohl ich umtanzt und umzüngelt wurde, konnte mir das Feuer nichts anhaben.
Nach wenigen Schritten schon hatte ich den Dunklen Gral erreicht. Noch wagte ich es nicht, ihn zu berühren. Als ich die Arme ausstreckte, zitterten die Hände. Der Gral kam mir so fremd vor, so unantastbar, als wäre er nicht für mich geschaffen worden.
Hector de Valois’ Gesicht befand sich in einem vibrierenden Zustand. Der Mund zuckte, die Lippen schlossen sich plötzlich. Gleichzeitig verstummten die Schreie.
Das Feuer blieb.
Und dann sagte er etwas. Das Gesicht bewegte die Lippen. Ich hörte trotzdem keinen Laut, nur in meinem Schädel klang etwas wider. Ich bekam den Eindruck, dass es mein Kreuz war, das mir diese Worte übermittelte.
»Die Verdammten der Totengruft … die Verdammten der Totengruft werden kommen …«
Nur diese beiden Sätze wiederholte der Sprecher. Sie mussten für Hector de Valois äußerst wichtig sein.
Ich fragte nach, ich wollte mehr wissen und bekam keine Antwort. Noch einmal wiederholte er das Gesagte, dann verschwand das Gesicht von einer Sekunde auf die andere.
Die Flammen fielen zusammen. Mein Wohnzimmer lag wieder vor mir, wie ich es kannte.
Kein Feuer, keine Schreie, nur mein eigenes heftiges Atmen war zu hören. Es dauerte seine Zeit, bis ich mich beruhigt hatte. Ich nahm den Dunklen Gral vorsichtig an mich, ging zurück und setzte mich in einen der Sessel, das wertvolle Erbe auf dem Schoß.
Die rote Kugel passte genau in die Öffnung. Ich blickte hinein, sah dort nichts, nur das geheimnisvolle, düstere Innere, das war alles.
Die Verdammten der Totengruft!
Sosehr ich über darüber nachdachte, ich hatte dies heute zum ersten Mal gehört. Was konnte dahinterstecken? Welches Geheimnis verbarg sich hinter diesem Begriff?
Was wusste Hector de Valois darüber, und weshalb hatte er mich in dieser Nacht auf eine so ungewöhnliche Art und Weise gewarnt? Etwas musste auf mich zukommen, dessen war ich mir sicher.
Der Dunkle Gral gab mir keine Antwort auf diese Frage. Es gab auch keine Reste innerhalb der Wohnung, die auf das Feuer hingedeutet hätten, außerdem nicht die Spur eines Geruchs. Die Normalität war schon erschreckend.
Ich dachte über die Schreie nach. Sie waren schrill und laut gewesen. So laut, dass ich sie nicht nur hätte allein hören müssen.
Mein Freund und Kollege Suko wohnte nebenan. Der Inspektor besaß ein empfindliches Gehör. Ich wollte wissen, ob er die Schreie ebenfalls vernommen hatte, stellte den Dunklen Gral wieder in den schmalen Schrank und rief meinen Freund an.
Klar, dass ich ihn aus dem Bett holte. Seine Stimme klang keineswegs brummig.
»Kannst du mal kommen?«
Jetzt reagierte er leicht sauer. »Warum? Soll ich dir ein Schlaflied singen?«
»Nein, aber ich will dir etwas erzählen.«
»Nur keine Horrorgeschichten, die mag ich nämlich nicht.«
»Bestimmt nicht.«
Suko kam im Jogginganzug. Im Schlafanzug machte er auch eine zu komische Figur.
»Setz dich.«
»Dauert es länger?«, fragte mein Freund.
»Kann sein. Hast du vorhin nichts gehört?«
»Was meinst du?«
»Ich denke da an Schreie. Schrill, entsetzlich, als befinde sich ein Mensch in Todesangst.«
Der Inspektor legte die Stirn in Falten, bevor er den Kopf schüttelte. »Sorry, John, daran hätte ich mich erinnert. Ich habe tatsächlich nichts dergleichen vernommen.«
»Das hatte ich mir gedacht.«
»Und weshalb fragst du?«, wollte er wissen.
»Weil ich die Schreie gehört habe und es bei mir im Zimmer gebrannt hat.«
»Aha.« Suko nickte. »Gebrannt also?«
»Ja.«
Er stand auf und legte eine Hand auf meine Stirn. »Sag mal, sind die Tassen dahinter noch heil?«
»Sogar heiler als heil. Wenn ich dir sage, dass es im Zimmer gebrannt hat, dann hat es gebrannt. Außerdem habe ich Schreie gehört.« Ich berichtete, was mir widerfahren war, und diesmal konnte Suko nichts mehr sagen. Er schwieg mich an.
Nach einer Weile fragte er: »Und das entspricht den Tatsachen?«
Ich stand auf, ging zum Schrank und schenkte mir einen kleinen Whisky ein. »Ja, ich habe nichts ausgelassen und nichts hinzugedichtet.« Mit dem Glas in der Hand drehte ich mich um. »Die Verfluchten der Totengruft, Suko, hast du diesen Begriff schon einmal gehört?«
»Nein.«
Obwohl mein Freund schnell antwortete, musste ich ihm glauben. »Dann werden wir uns morgen näher damit beschäftigen. Das kann der neue Kollege machen.«
»Basil Hartford?«
»Sicher, wer sonst?«
»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Suko und stand auf. »Ich frage mich nur, wie Sir James dazu kommt, uns diesen Knaben zuzuteilen.«
Ich hob die Schultern. »Soviel ich weiß, ist er eine Art von Protektionskind.«
»Und was heißt das?«
»Seine Eltern sind hohe Tiere. Die Familie Hartford ist eben ein Begriff.«
»Wie lange soll er bleiben?«, erkundigte sich Suko.
»Keine Ahnung. Bestimmt nicht länger als vier Wochen.«
Suko stand schon an der Tür, als er sagte: »Ich frage mich, weshalb er ausgerechnet zu uns gekommen ist. Der Yard ist ein Riesenunternehmen. Da hätte er sich zahlreiche andere Stellen aussuchen können. Ausgerechnet zu uns setzt man ihn. Das ist ungewöhnlich, wirklich. Aber ich will nichts gesagt haben. Gute Nacht.«
»Okay, schlaf gut.«
Ich dachte über Sukos Worte nicht länger nach. Mich interessierten vielmehr die Verfluchten aus der Totengruft.
Wer konnte das nur sein, und in welcher Verbindung standen sie zu Hector de Valois?
☆
»Sie sind sehr nett, Mister Hartford«, sagte Glenda Perkins und bedankte sich mit einem Kopfnicken, als ihr der neue Kollege den Stuhl zurechtrückte.
»Ich bitte Sie, Glenda, sagen Sie nicht Mister Hartford. Ich heiße Basil, ganz einfach.«
»Danke, Basil.« Glenda schaute den neuen Kollegen genauer an und fand, dass er attraktiv aussah.
Er wirkte männlich. Sein Gesicht zeigte einen harten Schnitt, ohne dass es eckig oder kalt wirkte. Die Nase war gerade gewachsen, das dunkle Haar wies erste graue Strähnen auf, war gescheitelt und trotzdem in die Stirn gekämmt. Wie zwei Wellen zeichneten sich die Brauen über den Augen ab, und die schmalen Lippen über dem strammen Kinn sahen stets so aus, als wären sie zu einem Lächeln verzogen. Vielleicht hätte der Mann etwas mehr Sonnenbräune vertragen können, aber der letzte Sommer war keiner gewesen. Da war der Frühling direkt in den Herbst übergegangen, und der hatte bereits die ersten Orkane gebracht. Leider waren auch Todesopfer zu beklagen gewesen.
Basil Hartford hatte Glenda Perkins in ein kleines Restaurant eingeladen, in dem ein fantastischer Fisch serviert wurde. Es gab nur sechs Tische. Der Raum wirkte wie ein Zimmer aus der Jugendstilzeit. So waren die Möbel gehalten und die Stofftapeten an den Wänden.
Ein junges Mädchen erschien und erkundigte sich nach dem Aperitif. Basil Hartford drehte den Kopf und schaute die Kleine an, die unter dem Blick der grünblauen Augen errötete.
»Sind Sie mit einem Glas Champagner einverstanden, Glenda?«
»Gern.«
»Gut, dann bringen Sie uns zwei.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Gefällt es Ihnen hier, Glenda?«
»Ja.« Sie nickte. »Man fühlt sich ein wenig in Großmutters Zeit versetzt.« Glenda lächelte etwas verlegen. Sie war unter dem Blick der durchdringenden Augen ihres Gegenübers leicht errötet.
»Ja, es ist wunderbar. Eigentlich verdanke ich es einem Zufall, dass ich dieses Restaurant entdeckt habe. Es hatte geregnet, ich wollte mich nur unterstellen, weil ich keinen Schirm bei mir trug, da landete ich hier. Es gefiel mir auf Anhieb. Ich war von Anfang an begeistert.«
Ein Ober brachte die beiden Gläser, in denen der Champagner perlte. Das Mädchen hielt sich im Hintergrund und reichte anschließend die Karten. Sie waren nicht besonders groß und zeigten ein dunkles Rot.
Sie prosteten sich zu.
Beim leichten Klang der Gläser sagte Basil Hartford: »Auf eine wirklich schöne Kollegin. Ich hätte nie gedacht, dass es beim trockenen Yard eine Frau wie Sie gibt, Glenda, Kompliment.«
»So schlimm ist es nicht.«
»Na, das sagen Sie. Die Männer denken anders darüber.« Basil stellte das Glas weg. »Schmeckt er Ihnen, Glenda?«
»Ja, der Champagner ist fantastisch.«
»Dann werden Sie vom Essen ebenfalls überrascht sein. Suchen Sie sich aus, was Ihnen zusagt.«
Glenda hatte die Karte aufgeschlagen. »Meine Güte, das ist so viel.«
»Nein, die Portionen sind nicht zu groß.«
»So meine ich das nicht. Ich dachte nur daran, dass ich nicht weiß, was ich nehmen soll. Es liest sich schon so gut.«
»Es schmeckt auch so.«
Glenda entschied sich schließlich für eine Kalbsleber mit Pfifferlingen, die natürlich frisch waren.
Basil Hartford nickte. »Sie haben eine gute Wahl getroffen. Ich nehme das Gleiche.«
»Wie Sie wollen.«
»Und welchen Wein lieben Sie, Glenda?«
»Erst einmal reicht mir der Champagner. Außerdem muss ich ein wenig auf meine Figur achten.«
»Die nicht besser sein könnte.« Basil Hartford lächelte wie Roger Moore. Dabei hob er seine linke Augenbraue an. Es wirkte wie einstudiert.
Glenda wusste nicht, wie sie diesen neuen Kollegen einstufen sollte. Okay, sie war mit ihm zum Essen gegangen, da sie etwas mehr über ihn wissen wollte. Mittlerweise hatte sie den Eindruck, dass Basil Hartford zwar ausgezeichnete Manieren besaß und sehr charmant sein konnte, aber unter die Oberfläche schaute sie nicht. Er war ihr ein wenig zu glatt, zu selbstsicher. Als Polizisten konnte sie sich ihn kaum vorstellen.
»Wie steht es denn mit einer Vorspeise?«
Die Stimme des Mannes unterbrach Glendas Gedanken. Sie schaute hoch und stimmte zu.
»Darf ich Ihnen etwas empfehlen?«
Glenda nickte. »Gern.«
»Ich wäre für Kalbsfilet. Es wird mit einer schmackhaften Marinade angerichtet und ist hervorragend. Sie sollten es unbedingt probieren.«
»Wenn Sie es sagen.«
Hartford gab die Bestellung auf. Er rauchte Zigarillos. Der blaue, dünne Rauch verteilte sich über seinem Kopf. Vier weitere Gäste saßen an zwei Tischen. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang leise Musik.
Vom Nebentisch tönte der Klang von Gläsern zu ihnen herüber, als das Paar anstieß.
Es war eine nette Atmosphäre. Über die Kerzenflamme hinweg schaute Basil Hartford Glenda wissend lächelnd an.
»Was ist?«, fragte diese.
Er lachte leise. »Wissen Sie, worüber ich nachdenke? Wahrscheinlich nicht. Sie fragen sich bestimmt, weshalb ich zur Polizei gekommen bin.«
»In der Tat, Basil.«
»Das ist ganz einfach, Glenda. Ich habe mich entschlossen, nach meinem Studium der Juristerei noch einmal von vorne anzufangen. Ich möchte in den höheren Polizeidienst und will die Basis kennenlernen. Das sind meine Motive, die ich mit der Familie abgesprochen habe.«
Glenda nickte und nippte am Glas. »Die Familie ist wichtig für Sie, oder?«
»Das stimmt. Ich muss gewisse Rücksichten nehmen. Wir gehören zu den Alteingesessenen. Jeder im Clan hat seine Aufgabe. Unsere Familie hat sich vorgenommen, dem Land zu dienen. Die Mitglieder sind in zahlreichen Positionen vertreten, nur die Polizei, die Exekutive fehlte. Dieses Manko ist durch mich beseitigt worden.«
»Wie lange wollen Sie bei uns bleiben?«
Basil Hartford lachte leise. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es kommt darauf an, ob man mich will.«
»Wieso sollte man nicht?«
»Ich weiß nicht, wie die Kollegen über mich denken.«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sie waren noch kein Thema bei uns.«
Basil Hartford schaute Glenda an, als würde er ihr nicht glauben. Bevor er etwas erwidern konnte, brachte der Ober die Vorspeise. Glenda lächelte, als sie die hauchdünn geschnittenen Scheiben sah.
»Dazu muss man einen leichten Weißwein trinken, Glenda.«
Sie stöhnte auf. »Überredet.«
Basil Hartford bestellte einen trockenen Franzosen, den sie offen hatten.
Er hatte nicht übertrieben. Die Scheiben schmeckten in der Tat vorzüglich. Dazu der frische Wein, das war schon ein Genuss der allerersten Klasse.
Sie sprachen erst wieder nach der Vorspeise, und Hartford hatte das Thema nicht vergessen. »Also, was meinen die Kollegen über mich?«
»Wir haben nicht über Sie geredet.«
»Glenda, bitte …« Er lächelte wieder. »Ich weiß ja, dass Sie darüber nicht sprechen wollen.«
Die junge Frau lehnte sich zurück. »Haben Sie mich eingeladen, um mich auszuhorchen?«
Erstaunt schaute Hartford sie an. »Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Das entnehme ich Ihren Fragen.«
Er räusperte sich kurz. »Sollte bei Ihnen tatsächlich der Eindruck entstanden sein, so entschuldige ich mich dafür. Ich habe keinerlei Hintergedanken gehabt. Dass man als Neuling wissen möchte, mit wem man es zu tun bekommt, ist menschlich, meine ich. Schließlich arbeite ich bald mit zwei bekannten Kollegen zusammen. John Sinclair und Suko. Ich möchte gerne wissen, wie ich sie anzufassen habe. Sie verstehen?«
»Natürlich. Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass ich mit beiden hervorragend auskomme.«
»Ich hörte davon. Sie sind ein gutes Team.«
»Ja, so ist es.«
»Sind Sie denn auch hin und wieder mit an der Front, Glenda, oder machen Sie nur Bürodienst?«
»Fast nur.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zu John Sinclair?«
»Jetzt fragen Sie schon wieder.«
Hartford lachte. Unecht, wie es Glenda vorkam. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Glenda, ich komme einfach nicht von John Sinclair los. Er ist zu bekannt.« Er nahm einen Schluck Wein und »kaute« ihn regelrecht durch.
»Sie werden ihn morgen kennenlernen. Fragen Sie ihn selbst. Bestimmt wird er Ihnen die entsprechenden Antworten geben.«
»Das hoffe ich. Ich hoffe weiterhin, dass er und sein Kollege Suko mir vorurteilslos begegnen werden.«
»Dessen bin ich mir sicher. Ich kenne die beiden schon lange. Sie geben jedem Menschen einen gewissen Vorschuss.« Glenda erhob sich. »Sie entschuldigen mich für einen Moment, Basil?«
»Selbstverständlich.«
Er stand ebenfalls auf und schaute Glenda nach, die auf eine schmale Tür zulief, wo es zu den Toiletten ging.
Glenda trug ein schlichtes blaues Strickkleid. Bis zur Taille eng anliegend, der Rock schwang glockenförmig um ihre Waden.
Die Treppe war nicht lang. Im Waschraum blieb Glenda vor einem breiten Spiegel stehen. Sie wollte sich etwas erfrischen, zögerte aber.
Irgendetwas störte sie.
Es war der Geruch. Normalerweise roch es in Räumen wie diesen nach Seife und Parfüm, hier aber nicht.
Dieser Geruch passte nicht dazu. Er war streng, alt und irgendwie anders.
Glenda schaute sich um.
Sie konnte keinen Gegenstand entdecken, der den Geruch ausströmte. Muffig, ja es war ein Hauch von Moder, der durch den Waschraum streifte.
Um ihn zu überdecken, sprühte sich Glenda mit Parfüm ein. Sie zählte nicht unbedingt zu den Duftwasserfans, doch in diesem Fall war das Parfüm ganz nützlich.
Jedenfalls überlagerte das Parfüm den Geruch.
Wieder am Tisch, erhob sich der neue Kollege. »Das Essen wird gleich serviert.«
»Das ist fein.«
»Wie hatte Ihnen die Vorspeise geschmeckt?«
Glenda nahm Platz. »Sie war hervorragend.«
»Dann wird Ihnen das Hauptgericht ebenso zusagen, da bin ich mir ganz sicher.«
Die Kalbsleber wurde serviert. Der Ober legte sie vorsichtig von der Platte auf die Teller. Ein wenig Fond träufelte er darüber, häufte mit abgezirkelt wirkenden Bewegungen die Pfifferlinge neben die Leberstücke. Etwas Kartoffelschnee kam dazu, es wurde serviert, der Mann wünschte einen Guten Appetit und zog sich zurück.
Glenda musste sich eingestehen, dass die Leber vorzüglich war. Basil Hartford hatte neuen Wein bestellt. Einen schweren französischen Rotwein.
Wieder tranken sie sich zu.
»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er lächelnd.
»Ja, das wünsche ich mir ebenso.«
»Und auf dass wir Freunde werden.«
Glenda war vorsichtiger. »Die Zeit wird es zeigen«, erwiderte sie diplomatisch.