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Ich fühlte mich überhaupt nicht gut, als man mich in die Leichenhalle führte. Mein Chef, Sir James, war ernst wie selten. Sicherheitsbeamte begleiteten uns. In einem besonderen Raum lag der Tote.
Welch eine Leiche. Weder verwest noch vermodert, aber über hundert Jahre alt. Und ein Körper, der nicht aus Knochen bestand, dafür aus zahlreichen Spiegeln.
"Er war der Zauberer von Stonehenge", sagte Sir James. "Legen sie ihm das dämonische Handwerk, John."
Ich sagte zu und geriet in die Fänge des Zauberers ...
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Der Zauberer von Stonehenge
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6852-9
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Der Zauberer von Stonehenge
von Jason Dark
Der Wagen fiel mir auf, weil er zu schnell fuhr!
Nicht, dass ich als Verkehrspolizist fungiert hätte und darauf versessen gewesen wäre, andere Fahrer zu kontrollieren, nein, es war allein das Fahrzeug, das mit einer so hohen Geschwindigkeit an mir vorbeirauschte und mich noch schnitt, als es auf die linke Seite rollte.
Der Wagen war ein Müll-Transporter!
Auch nichts Ungewöhnliches auf Londons Straßen, wo sich leider zu viel Müll findet, doch dieser Wagen gehörte nicht zum Fuhrpark der Stadt, er war ein privates Fahrzeug.
Und darin bestand das Problem!
London erstickte buchstäblich im Müll. Das alles musste man relativ sehen. Im Vergleich zu vielen asiatischen Großstädten oder denen Südamerikas war es bei uns noch sauber, jedoch hatten es die amtlichen Stellen schwer, den gesamten Müll wegzuschaffen.
Es gab also eine Lücke. In diese Lücke waren clevere Geschäftsleute gesprungen, die sich des Problems annahmen. Nur besaßen diese Geschäftemacher keine amtliche Lizenz. Die Fahrer der Wagen wurden von ihren Kunden – meist Restaurant-Besitzern – gut bezahlt, und ab ging die Reise mit dem Müll.
Nur nicht immer auf die normalen Müllkippen. Die Fahrer kippten den Dreck irgendwohin.
In die Parks, in die Slums, in die Sanierungsgebiete. Und wer sie dabei störte und ihnen auf die Zehen treten wollte, bekam ihre Brutalität zu spüren. Es gab zahlreiche Passanten, die zusammengeschlagen worden waren, denn die Polizei konnte nicht überall sein.
Seit Kurzem hatten wir vom Yard daher eine Notruf-Nummer eingerichtet, die jeder Bürger wählen konnte, wenn er Zeuge solcher Müllbeseitigungen wurde.
Und ich hatte einen solchen Wagen entdeckt. Der Fahrer schien es sehr eilig zu haben. Aus voller Fahrt bremste er plötzlich ab, blinkte kurz und fuhr in eine schmale Seitenstraße, deren Namen ich nicht kannte.
Die Straße endete dort, wo sich ein großer Platz befand. Leer war er nicht. Vor einiger Zeit musste hier ein Spielplatz gewesen sein, denn ich sah noch die Geräte, die vor sich hin rosteten, weil sie niemand mehr pflegte.
Auf der anderen Seite des Platzes bildete eine graue Mauer die Grenze. Über die Krone hinweg schaute mageres Gebüsch. Die Zweige sahen ebenso grau aus wie der winterliche Himmel, aus dem glücklicherweise noch keine Schneeflocken fielen.
Ich sah die Heckleuchten des Wagens aufglühen und auch den Müllberg an der Mauer. Ein stinkender Haufen Unrat, der jetzt Nachschub bekommen sollte.
Die neue Sammelnummer kannte ich auswendig. Wenn ich hier etwas reißen wollte, dann zusammen mit den Kollegen.
Ich tippte die Zahlen in die Tastatur des Autotelefons und hatte so gestoppt, dass der Rover noch von einer vorstehenden Häuserkante gedeckt wurde und die anderen mich nicht sehen konnten.
Bevor der Kollege aussprechen konnte, unterbrach ich ihn. »Ich bin Oberinspektor Sinclair und stehe hier ungefähr siebzig Yards hinter einem nicht registrierten Müllwagen. Folgende Adresse.« Ich beschrieb die Gegend, konnte den Namen der schmalen Straße nicht nennen, wusste aber, dass sie von der Rushworth Street abbog.
»Ja, die Gegend ist uns bekannt.«
»Wann können Sie hier sein?«
»In einer Viertelstunde.«
»Okay, ich werde versuchen, die Kipper so lange aufzuhalten.«
»Seien Sie vorsichtig, Sir, manche der Kerle sind bewaffnet. Also aufpassen.«
»Sicher, danke für den Tipp.«
Ich hängte ein und war vorläufig zufrieden. Man hatte mich noch immer nicht bemerkt. Aus dem Wagen waren zwei Männer ausgestiegen. Der Fahrer befand sich noch im Führerhaus. Durch Handzeichen wurde er so dirigiert, dass er seinen Wagen rückwärts in eine Kurve lenkte, bis er mit dem Heck vor dem Spielplatz stand.
Ich ließ den Rover anrollen, überwand allerdings nicht die gesamte Distanz. Etwa zwanzig Yards Zwischenraum ließ ich schon, bevor ich den Rover stoppte und ausstieg.
Die beiden Männer dirigierten noch immer. Es waren kräftige Typen in grauen Overalls. Auch ihr Wagen war grau, er sollte nicht groß auffallen.
»Halt!«, rief einer und hob beide Arme.
Ich war nahe genug heran, um gesehen zu werden. Bevor mich einer ansprach, übernahm ich die Redeführung. »Ist das nicht verboten?«, fragte ich.
Der mir am nächsten Stehende drehte sich um. Ein schwarzgelockter Typ, er sah aus wie ein Südeuropäer. Als er grinste, wirkte er so, als wollte er mich fressen.
»Hast du was gesagt, Stinker?«
»Ja. Ich fragte, ob das nicht verboten ist.«
»Und wenn?«
»Sie wissen doch, was es kostet, wenn irgendwo Müll hin gekippt wird. Oder nicht?«
Der Fahrer streckte den Kopf aus dem Fenster. Er trug eine graue Schiebermütze. »He, was ist denn los? Warum kann ich nicht kippen, verdammt?«
»Hier ist ein Saubermann«, erklärte der Schwarzgelockte, während sich der zweite Mann schaukelnd näherte. Er war zu fett. Unter dem Overall zeichnete sich der Kugelbauch ab.
Der Kollege am Telefon hatte mich vor den Waffen der Kerle gewarnt, aber nicht gesagt, welche Waffen sie bevorzugten. Sicherlich gab es Kerle, die auch Schießeisen bei sich trugen, diese hier gehörten nicht zu der Sorte.
Der Schwarzgelockte verließ sich lieber auf einen Hartgummi-Knüppel, den er schwungvoll unter dem Overall hervorzauberte und als Warnung klatschend in seine linke Handfläche schlug. Das tat er zwei Mal. Dann blieb er stehen.
»Hast du gesehen?«, fragte er mich.
»Was soll ich gesehen haben?«
»Ich habe zwei Mal in meine Handfläche geschlagen.«
»Ach so, ja.« Ich lächelte. »Ich wunderte mich nämlich, weshalb Sie nicht weiterschlugen? So etwas kann dem Kreislauf nur förderlich sein. Wirklich.«
Seine Augen verengten sich. »Willst du mich verarschen?«
»Nein, ich habe Sie nur etwas gefragt!«
»Ach so, ja.« Er war ein wenig durcheinander. Antworten, wie ich sie ihm gegeben hatte, war er wohl nicht gewohnt. »Den dritten Hieb bekommt immer derjenige mit, der mich angemacht hat. In diesem Fall bist du das, Stinker.«
Er drosch zu.
Meister Kugelbauch, sein Kollege, grinste breit. Er steckte voller Vorfreude, aber die verging ihm, denn er musste mit ansehen, wie ich den Schlag abblockte.
Blitzschnell hatte ich den rechten Arm hochgerissen. Die Handkante erwischte den Unterarm des Schwarzgelockten, der nie an eine Körperdeckung gedacht hatte.
Meine Linke konnte sich die Stelle aussuchen. Ich fand einen guten Punkt. Der Schwarzgelockte bekam nicht nur große Augen, sondern auch weiche Knie und eine sehr ungesunde Gesichtsfarbe. Er wankte zurück, bis er gegen das große Hinterrad des Müllwagens stieß und dort ein wenig in die Knie ging.
Ich lief vor.
Kugelbauch schüttelte den Kopf. »Hat es geregnet?«, fragte ich ihn.
»Wieso?«
»Du schüttelst dich wie ein Hund, der aus dem Teich kommt.«
Er rannte vor. Der Dicke kam wie eine Kugel auf zwei Beinen und hätte mich bestimmt überlaufen, aber ich war wieder schneller. Zur Seite weichen und ein Bein vorschieben, war eins. Der Dicke stolperte über meinen Fuß und legte eine astreine Bauchlandung hin. Sehr schnell kam er wieder auf die Beine, wirbelte herum, als ich gegen ihn prallte.
Meine vorgestreckten Arme mit den weit gespreizten Händen erwischten ihn im Rücken.
Dieser Wucht hatte er nichts entgegenzusetzen. Er rannte los, nur sein Ziel war ein ungewöhnliches. Der Müllhaufen musste vor seinen Augen wachsen und wachsen. Er schrie noch, dann erstickte sein Schrei, denn ein Tritt in seinen Allerwertesten beförderte ihn direkt in diese weiche, widerliche Masse aus Schlamm, Papier, Karton, aus Blech und Gummi.
Ich fuhr herum.
Der Schwarzgelockte hatte noch immer zu kämpfen. Aber er wollte mir Saures geben. Vom Hinterrad hatte er sich gelöst. Eine Hand auf die getroffene Stelle gepresst, torkelte er auf mich zu, das Gesicht noch käsig, aber mit vor Wut lodernden Augen. Und den Gummiknüppel hielt er auch noch in der Hand.
»Was ist denn?«, fragte ich ihn.
Er holte aus.
Der Abfallgangster erlebte wohl zum ersten Mal in seinem Leben, was es heißt, matschig zu werden. Mein Hieb riss ihn von den Füßen, und mit dem Hinterkopf zuerst krachte er auf den Boden, der zwar nicht aus Stein bestand, dessen Härte jedoch ausreichte, um den Knaben ins Reich der Bewusstlosigkeit zu schicken.
Das war erledigt.
Blieb der dritte.
Und der hatte nur staunend zusehen können. Leider musste er die Niederlage seiner beiden Kumpane schlucken. Er jedoch wollte einer der Gewinner sein.
Motor starten – Flucht – und weg!
Das hatte er sich so gedacht. Ich war schneller an der Fahrertür als der berühmte Blitz, riss sie auf, als der Knabe gerade anfuhr.
Er bekam unter dem Mützenschirm große Augen, sah meine Faust und fiel nach dem Treffer zurück auf den Beifahrersitz. Seine Füße rutschten von den Pedalen, der Motor wurde abgewürgt, der schwere Mülltransporter zitterte noch nach, dann stand er.
Nicht der Fahrer. Der kam wieder hoch. Er fluchte und schwang seine Fäuste. Mich erwischte er nicht voll, ich hatte den Kopf eingezogen, so traf er das Lenkrad, dann erwischte ich sein Handgelenk und drehte es.
»Nein, nicht!«, schrie der Mann. Die Mütze war ihm vom Kopf gerutscht. Er hatte eine Glatze.
»Willst du still sein?« Ich sprach zu ihm wie zu einem kleinen Kind. Er nickte.
Ich ließ ihn los und zog gleichzeitig den Zündschlüssel ab, den ich einsteckte. »So«, sagte ich und schaute den Knaben an, der sein Gelenk rieb. »Wir haben uns sicherlich etwas zu erzählen.«
»Ich sage nichts.«
»Auch nicht der Polizei?« Ich holte meinen Ausweis hervor, der Fahrer schrak zusammen und senkte den Kopf. »Vielleicht komme ich wieder. Jedenfalls sind die Kollegen alarmiert, die sich um Sie kümmern. Ich muss nach Ihren beiden Freunden schauen.«
So wie er aussah, würde er keinen Fluchtversuch mehr unternehmen. Der hatte Angst bekommen. Ich verließ das Führerhaus und sah auch die biden anderen Müllkipper. Sie hatten sich noch immer nicht erholt. Der Dicke aus dem Abfallhaufen war dabei, sich das Gesicht zu reinigen. Er wischte Schmutz und Schleim ab, hustete dabei und schimpfte gleichzeitig.
»Das hätten Sie sich ersparen können!«, rief ich ihm zu. Er wollte mir eine Antwort geben, als wir das Heulen der Sirenen hörten.
Zwei Streifenwagen fegten um die Ecke und rasten auf den ehemaligen Spielplatz zu. Der Schwarzgelockte unternahm auch keinen Fluchtversuch mehr. Er ballte die Hand zur Faust und schlug sie wütend auf seinen Oberschenkel.
Die Kollegen stoppten und stürmten aus den Wagen. »Einer hockt noch im Fahrerhaus«, rief ich ihnen zu.
»Sind Sie Oberinspektor Sinclair?«, fragte mich der Streifenwagenführer.
»Ja.«
»Mein Name ist Stanton. Sergeant Stanton. Sie stehen uns als Zeuge zur Verfügung?«
»Das versteht sich.«
»Ich habe nur ordnungshalber fragen wollen.«
»Wann werden Sie das Protokoll aufnehmen?«
»Möchten Sie es gleich machen, Sir?«
»Das wäre mir lieb.«
Wir setzten uns in den Wagen, wo ich den Männern auf Band diktierte, was mir widerfahren war und mich zum Eingreifen veranlasst hatte. »Sie können es mir zur Unterschrift ins Büro schicken, wenn Sie es abgetippt haben.«
»Geht in Ordnung, Sir.«
Die drei Männer waren kassiert worden. Der Wagen würde später abgeholt werden.
»Wenn alle so wären wie Sie, Sir«, sagte der Sergeant, »hätten die Müllkipper kaum eine Chance.«
Ich hob die Schultern. »Wissen Sie, das kann man nicht verlangen. Die Kerle gingen sofort rabiat ran. Mich wollte der Schwarzgelockte niederknüppeln. Dass er an den Falschen geraten war, konnte er nicht ahnen. Ein normaler Bürger hätte keine Chance gegen ihn gehabt.«
»Das glaube ich mittlerweile auch.«
Ich verließ den Streifenwagen und wartete noch, bis die beiden Fahrzeuge wegfuhren. Als sie an mir vorbeirollten, wurde ich mit hasserfüllten Blicken bedacht.
An so etwas hatte ich mich längst gewöhnt.
Da ich noch ein wenig Zeit hatte, sah ich mir die Müllkippe genauer an. Er war eine Unverschämtheit. Man hatte hier wirklich alles hin geladen, was man woanders nicht losgeworden war. Das waren menschliche Schweine ohne Verantwortungsgefühl für die Umwelt. Aber die Hehler waren ebenso schlimm wie die Stehler.
Hinter der Mauer ragten auch die Fassaden alter Häuser hoch. Rückseiten, noch schlimmer aussehend als die Vorderfronten. In Southwark machte das Leben keinen Spaß. Das Londoner Eastend wirkte wie ein riesiger Slum, der irgendwann einmal im eigenen Dreck erstickte.
»He, du!«
Ich war angesprochen worden, ohne den Mann zu sehen. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn.
Er trat hinter der Müllhalde hervor und rieb seine Hände, die in dunklen Handschuhen steckten. Auf seinem Kopf saß die Wollmütze schief. Das Gesicht war gerötet. Er trug einen alten Mantel im Fischgrätmuster, dessen Saum die Waden berührte.
»Meinen Sie mich?«, fragte ich.
»Klar doch.«
»Und?«
Er kam noch näher. Dabei roch ich seine Schnapsfahne. »Bist du auch hier, um sie zu suchen?«
»Wer ist sie? Eine Frau?«
»Unsinn, Mann. Du weißt schon.« Er verengte die Augen. »Wenn wir es schaffen, sind wir fein raus.«
»Sicher, wir alle.«
Er deutete auf den Müll. »Was hat du schon alles abgesucht? Die vordere Seite?«
»So ungefähr.«
Er nickte. »Ich war an der Rückseite, habe aber nichts gesehen. Leider nicht.«
Ich wusste nicht, was der Knabe überhaupt meinte. Sicher war, dass er etwas suchte. Aber was konnte das sein? Wenn ich über das Wort sie nachdachte, musste es sich um eine weibliche Person handeln oder um einen Gegenstand, über den ich gern mehr gewusst hätte. Deshalb beschloss ich, auf das Spiel einzugehen.
»Soll ich noch mal auf der Rückseite nachschauen?«
Der Mann sah mich schief an. »Meinst du, dass es Sinn hat, da zu suchen?«
»Keine Ahnung. Aber vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Das stimmt.« Der Mann überlegte einen Augenblick. »Aber wenn du die Scherbe findest, musst du sie mir geben. Sie gehört ja eigentlich mir, weil das meine Seite war.«
Jetzt wusste ich, was er suchte. Eine Scherbe. Tatsächlich eine Scherbe?
Ich schüttelte den Kopf. Wieso wühlte der Mann in diesem Abfallhaufen nach einer Scherbe herum? Das konnte verstehen, wer wollte, ich nicht.
Er merkte etwas und fragte: »Was glotzt du denn so?«
»Ich habe über die Scherbe nachgedacht.«
»Ach so, ja.« Er räusperte sich. »Stimmt da etwas nicht?«
»Eigentlich ist alles okay, wirklich. Nur …« Ich lachte leise auf. »Weißt du, ich bin neu hier. Es ist das erste Mal, dass ich hier herumwühle. Ich bin noch nicht so richtig eingeweiht. Ich habe nur von der Scherbe gehört.«
»Aber du weißt, dass sie wichtig ist?«
»Klar. Sonst wäre ich nicht hier.«
Er nickte. »Ja, du hast recht. Die Neuen haben es schwer. Ging mir auch so. Was habe ich gesucht und noch immer keine gefunden, aber ich gebe nicht auf. Wenn wir alle unsere Scherben gefunden haben, wird er entstehen und uns entführen.«
»Davon hörte ich.«
»Freust du dich auf die Reise?«
»Ich bin gespannt.«
»Ebenfalls. Sie wird uns in die Weiten hineinführen, an die wir bisher nicht einmal zu denken wagten. Das ist alles anders, glaub mir. Ich bin wie verzaubert. Ich freue mich wahnsinnig darüber. Es wird ein regelrechtes Fest werden.« Er kam noch näher. »Weißt du, dass der Zauberer Macht hat?«
»Klar.«
»Und hast du auch davon gehört, wo er hergekommen sein soll oder hergekommen ist?«
»Nicht direkt …«
»Aus der Dimension der Sterne oder so. Ich sage es dir. Du bist neu, deshalb. Außerdem mag ich dich. Suchen wir?«
»Klar. Nur – wie heißt du?«
»Ich bin Phil Grover. Ist eigentlich blöd, dass man sich untereinander fast nicht kennt. Aber was willst du machen? Später, wenn wir alle Scherben zusammen und den Spiegel gebaut haben, wird es uns besser gehen.«
»Einen Spiegel? Du hast doch vom Zauberer geredet.«
Grover schüttelte den Kopf. »Man merkt wirklich, dass du neu bist. Wie heißt du denn?«
»John.«
»Also gut, John«, es störte ihn nicht, dass ich ihm meinen Nachnamen nicht gesagt hatte, »lass uns suchen.«
»Du wolltest noch was von dem Zauberer und dem Spiegel sagen?«
»Wollte ich das?«
»Ja.«
»Meinetwegen. Der Zauberer ist der Scherbenmann. Oder Spiegelmensch, wenn du verstehst.«
»Jetzt ja.«
»Dann viel Glück.« Er wandte sich ab.
War Phil Grover ein Spinner? Im Prinzip ja, beim ersten Eindruck auch. Unterhielt man sich aber länger mit ihm, so traf dieser Eindruck nicht zu. Er war von seiner Sache sehr überzeugt, er gehörte zu den Menschen, die nicht nachgaben, und auch jetzt nicht, wo er im Abfallhaufen herumwühlte, um die Scherbe zu suchen.
Scherbe! Als ich daran dachte, konnte ich nur den Kopf schütteln. Das war einfach zum Lachen. Wieso suchte er eine Scherbe? Dann kam noch der Zauberer hinzu. Eine Scherbe, der Zauberer, der Spiegel — irgendetwas stimmte da nicht.
Ich würde einen Teufel tun und im Müllhaufen herumsuchen. Am besten war es, wenn ich verschwand.
Da machte mir Phil Grover einen Strich durch die Rechnung. Von der anderen Seite des Müllbergs hörte ich seinen jubelnden Schrei. »Ich habe sie! Himmel, ich habe sie! Ich habe sie gefunden …«
Jetzt war ich gespannt!
☆
Mit wenigen Schritten hatte ich den Abfallberg umrundet und sah Phil Grover, der sich freute wie ein kleines Kind, das vom Weihnachtsmann eine Überraschung bekommen hat.
Er stand da, hielt das Fundstück mit beiden Händen fest und presste es gegen seinen Mantel. Als ich näher kam, ging er zurück. »Nein, John, du bekommst sie nicht. Ich habe sie gefunden.«
»Ich will sie auch nicht haben. Sie gehört dir. Aber ich möchte sie mir gern einmal ansehen.«
Er überlegte noch. »Ehrlich?«, fragte er.
»Ja!«
Er lächelte. »Du hast gute Augen, keinen falschen Blick«, sagte er. »Ich vertraue dir.« Er ging sogar auf mich zu, sah sich dabei vorsichtig um, ob man uns auch nicht beobachtete. »Ich bin bestimmt einer der Ersten, die den Spiegel gefunden haben. Ein Stück davon, Bruder, das ist viel, viel wert.«
Dann zeigte er mir seinen Fund.
Es war eine Spiegelscherbe. Sie hatte die Form eines Dreiecks, das oben spitz zulief. Dabei wirkte sie an den Rändern völlig glatt, wie aus einem Teil hervorgeschnitten. Ich entdeckte weder Splitter noch andere Unebenheiten, als ich sachte mit dem Finger über den Rand hinwegstrich.
»Na, was sagst du?«, fragte er mich.
Ich nickte Phil zu. »Es ist ein außergewöhnlich schönes Teil. Wirklich wunderbar.«
»Ja, das finde ich auch. Ich … ich habe mich schon in sie verliebt. Was meinst du? Wo könnte sie hinpassen? In das Gesicht oder in den Körper des Zauberers?«
»Körper?«
»Tu doch nicht so, John. Der Körper des Zauberers. Wir warten doch auf ihn.«
»Ja, entschuldige, ich vergaß. Darf ich sie mir noch einmal genauer ansehen?«
»Bitte. Ich habe Vertrauen zu dir wie zu einem Freund, John.«
Ich musste lächeln. Phil Grover war herrlich. Überhaupt war die gesamte Situation irgendwie verrückt. Da standen zwei erwachsene Menschen vor einer wilden Müllkippe, sahen sich eine Spiegelscherbe an und taten so, als wäre sie ungewöhnlich kostbar.
Mich wunderte schon, dass die Scherbe keinen Riss und keine Beschädigung aufwies, obwohl sie so lange in diesem Müllhaufen gesteckt hatte. Sie kam mir vor wie ein Gegenstand, der überlebt hatte.
Noch etwas fiel mir auf. Es störte mich auf irgendeine Art und Weise. Obwohl die Spiegelscheibe nicht ganz blank war, hätte ich mich eigentlich in ihr sehen müssen.
Das war nicht der Fall. Ich blicktegegen das Scherbendreieck, sah mich aber nicht darin.
Phil Grover war aufgeregt. »Was hast du?«, fragte er mit gehetzt klingender Stimme. »Ist etwas nicht in Ordnung? Du siehst so komisch aus.«
Ich lachte leise. »Das kann schon sein. Ich möchte dich aber etwas fragen.«
»Bitte.«
»Ist dir nichts aufgefallen, wenn du dir die Scherbe einmal ansiehst?«
»Nein, wieso? Doch, sie ist wunderschön. Ja, sie ist einfach fantastisch, John.«
»Das meine ich nicht. Ich spreche nicht von ihrer Form, Phil. Aber sieh direkt auf sie.«
»Und dann?«
»Siehst du dich?«
Er drückte den Kopf nach unten, und ich hielt die Scherbe so, dass sie mit der Breitseite vor ihm lag. »Na?«, fragte ich leise. »Was fällt dir auf?«
»Noch immer nichts.«
»Aber Phil, ich bitte dich. Wenn du in einen Spiegel schaust, dann musst du dich selbst sehen können – oder nicht?«
»Schon.«
»Siehst du dich hier? Spiegelt sich dein Gesicht darin wider?«
»Nein.«
»Das genau ist es, was mich stutzig macht. Obwohl die Scherbe nicht so blank ist, hätten wir uns trotzdem darin sehen müssen. Es stört mich etwas. Zudem ist sie ziemlich schwer. Jedenfalls schwerer als andere Stücke in dieser Größe.«
Phil Grover sah die Sache anders. »Ich finde sie einfach toll«, erklärte er.
»Man müsste sie eben reinigen«, murmelte ich.
»Ha!« Ich hörte seinen erschreckten Ruf und sah, dass er zurücksprang. »Auf keinen Fall darfst du so etwas tun. Du darfst nicht einmal daran denken, John.«
Ich lachte. »Weshalb nicht?«
»Weil … weil …« Er holte tief Luft. »Weil sonst ihre Kraft verloren geht.«
»Tatsächlich?«
»Ja. In ihr steckt die Kraft des Zauberers. Die Scherbe ist etwas Besonderes. Damit musst du fertig werden. Sie ist ein Teil des großartigen Zauberers.«
»Wie heißt er?«
Phil schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts, habe ich das Gefühl.« Sein von der Kälte rot gewordenes Gesicht bekam einen misstrauischen Ausdruck. »Du weiß wohl überhaupt nichts.«
»Wenig.«
»Gib sie her!«, sprach er mich hart an. »Gib sie mir sofort zurück.«
Er wollte nach dem Stück schnappen, ich aber zog meine Hand zurück, sodass er ins Leere griff. »Du hast es mir versprochen, du …«
»Keine Panik, Junge«, sagte ich. »Reiß dich mal zusammen. Du kannst sie ja zurückbekommen, allerdings unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Du gibst mir deine Adresse.«
Er staunte mich an, als hätte ich ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. »Das kann doch nicht wahr sein.«
»Doch, ich will wissen, wo du wohnst.«
Er lächelte verlegen. »Das … das ist nicht schwer. Ich habe keinen festen Wohnsitz.«