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Sammelband 7: Drei gruselige Folgen der Kultserie zum Sparpreis!
John Sinclair - das besondere Gruselerlebnis: Begleite John Sinclair auf seinen gruseligen Abenteuern und ziehe mit ihm in den Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit. Erlebe mit, wie John Sinclair zum Schrecken der Finsternis wurde und die Serie Kultstatus erreichte.
Mit über 300 Millionen verkauften Romanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen verkauften Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horror-Serie der Welt.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John mit so bekannten Gegnern wie Asmodis, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 19 bis 21 der John Sinclair Sonder-Edition:
19: Ewige Schreie
20: In dieser Straße wohnt die Angst
21: Das Trumpf-Ass der Hölle
Tausende Fans können nicht irren - über 320 Seiten Horrorspaß garantiert!
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Jason Dark
John Sinclair Sonder-Edition Sammelband 7 - Horror-Serie
Cover
Impressum
Ewige Schreie
Vorschau
John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.
Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.
Lesen Sie in diesem Band:
Ewige Schreie
von Jason Dark
Bis spät ins 19. Jahrhundert hinein wurden Selbstmörder in besonderen Teilen des Friedhofs, die man »Selbstmörder-Ecke« nannte, beigesetzt. Meist lag sie an der dunklen und schattigen Nordseite der Kirche. Der Brauch ging auf alte germanische Vorstellungen zurück. Diese Stelle war nur für rastlose Seelen geeignet, weil man Selbstmord für eine unverzeihliche Sünde und die Geister von Selbstmördern für äußerst gefährlich hielt. Auf manchen Friedhöfen wurden Selbstmörder überhaupt nicht begraben.
Der einzig mögliche Ort für ihr Grab war eine Wegkreuzung. Zusätzlich wurde den Toten noch ein Holzpflock durch das Herz gestoßen, um zu verhindern, dass sie als Geist an dieser Stelle wieder erschienen.
***
Manche nannten ihn ein Werkzeug des Teufels, andere wiederum hatten überhaupt keinen Namen für ihn, weil ihnen die Furcht davor den Mund verschloss. Auf jeden Fall wurde er von den Menschen mehr gehasst und gefürchtet als geliebt. Auf ihn verzichten konnte jedoch niemand. Sie brauchten ihn, denn die Zeiten waren unruhig und voller Gefahren.
Es kam nicht oft vor, dass er leer stand. Irgendjemand machte sich immer eines Vergehens oder Verbrechens schuldig, um an ihm sein Leben auszuhauchen.
Es war der Mörder-Galgen!
Er stand im Schatten der Kirche, als Abschreckung für die Bösen, ein Mahnmal für die Gerechten. Nachts, wenn der Wind über das Land fuhr und die Büsche des alten Friedhofs geisterhaft bewegte, dann konnte man ihn sogar hören.
Sein Holz ächzte und stöhnte. Abergläubische Menschen behaupteten, es wären die Geister der Gehängten, die keine Ruhe fanden und für alle Ewigkeiten ihren unsichtbaren, höllischen Reigen um den Galgen tanzten.
Nicht weit entfernt stand die Kirche. Kein großes Bauwerk, aber in ihrer strengen Form noch an die Romanik erinnernd. Niemand betete für die Seelen der Verdammten, aber jeder wusste, dass sie unsichtbar um die Mauern der Kirche streiften. Die Angst ging um.
Und eines Tages passierte es. Man hatte zwei Wochen zuvor einen Mörder aufgehängt, der seine Frau und seine Tochter erschlagen hatte. Da kein neuer Fall vorlag, hing er sehr lange am Galgen, als Abschreckung für die Menschen.
Es waren nur wenige, die sich den Toten ansahen. Eines Abends im späten Oktober jedoch, als die Messe zelebriert wurde und der Küster seinen letzten Rundgang machte, wobei er auch den Friedhof nicht ausließ, geschah es.
Der Galgen war leer!
Der Küster sah dies, blieb minutenlang vor dem Gerüst stehen und holte röchelnd Luft. Aus weit geöffneten Augen sah er die Schlinge an, die sich im Nachtwind bewegte wie ein Pendel, und ihn erfasste das kalte Grauen.
Jemand hatte den Toten gestohlen! Eine andere Möglichkeit gab es für den Küster nicht. Er begann zu zittern, hart schlugen seine Zähne aufeinander. Der Schweiß drang ihm aus allen Poren. Mit weichen Knien lief er zurück und spürte plötzlich die Kälte, die seinen gesamten Körper erfasste.
Wie zu Eis geworden stand er da! Unbeweglich, flach atmend, mit der Angst im Nacken sitzend. Ohne sich umzudrehen, wusste er, wer hinter ihm stand. Ein Geist – der Geist des Toten.
Er schauderte. Über seinen Rücken liefen die kalten Schauer so schnell, als wolle einer den anderen einholen. Er wusste nicht, was er tun sollte, das Grauen war zu plötzlich über ihn gekommen, und er sank langsam in die Knie.
Der Boden war weich. Es hatte in den letzten beiden Tagen geregnet. Laub hatte einen dichten Teppich gebildet. Es knisterte zwischen seinen gespreizten Fingern, und von den nahen Wiesen her wurden große Nebelschleier wie gewaltige Leichentücher herbeigeweht.
Vorboten eines drohenden Todes, der auch ihn bald umfangen würde, dessen war sich der Küster bewusst.
Die Kälte hinter ihm nahm zu. Sie schnürte ihn zusammen, seine Atmung stockte, das Herz schlug überlaut, die Echos hallten in seinem Schädel wider, und dann hörte er die Stimme.
»Ich bin es, mein Lieber. Erkennst du mich nicht, Küster? Du warst doch auch dabei, als man mich hängen wollte, nicht wahr? Du hast mitgestarrt, mitgelacht, mitgegafft. Jetzt werde ich mich rächen. Ich werde euren schönen Friedhof zu einem Ort des Bösen machen, und du wirst damit beginnen. Hier!«
Kaum hatte der Unbekannte das letzte Wort ausgesprochen, als er vor sich das bläuliche Flimmern sah. Es hatte menschliche Konturen, und der Küster glaubte sogar, in dem Geist den Gehängten zu erkennen.
Mit einer Waffe. Es war ein kurzer Säbel. Mit Schrecken fiel dem Küster ein, dass der Mann damit seine Familie getötet hatte. Ja, das war die Klinge. Er sah sogar noch eingetrocknetes Blut auf dem Metall, und er ahnte, dass auch er an der Reihe war.
Aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Geist des Mörders hatte etwas anderes mit ihm vor. Er wollte den Friedhof zu einem Hort des Schreckens machen, vor dem sich alle Menschen fürchteten, und er drückte dem Küster den kurzen Säbel zwischen die Finger.
»Nimm ihn!«, kam der flüsternde Befehl. »Los, nimm ihn, und töte dich damit!«
»Was soll ich?«
»Dich töten!«, erklang es dumpf.
Der Küster spürte den hölzernen Griff zwischen seinen Händen. Er wusste nicht, ob er einen Traum erlebte oder sich in der Realität befand, doch als er genauer auf die Klinge blickte, da wurde ihm klar, dass er nicht träumte. Es war die Wahrheit!
»Stoß zu!«, zischte der andere. »Es gibt keinen anderen Weg!«
Der Küster verdrehte die Augen. Er sah hoch zum Himmel, wo die grauen Wolken in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren und wie gefährliche Schatten wirkten. Der Nebel wurde dichter. Er umfing die dicken Mauern der Kirche wie ein gewaltiges Tuch, und die Angst des Mannes steigerte sich ins Unermessliche.
»Mach es!« Der Geist des Gehängten zischte die Worte, er drängte den Küster, und dem blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten.
Er stieß mit dem Messer zu. Der heiße Schmerz drohte ihn zu zerreißen. Plötzlich hatte er das Gefühl, auseinanderzufallen. Er wollte schreien, hatte auch den Mund geöffnet, doch kein Wort drang über seine Lippen. Nicht einmal ein Krächzen oder Stöhnen.
Das Messer steckte noch in seiner Brust, als er langsam nach links kippte und schwer auf die Seite fiel, wobei er den Mund noch weiter aufriss und ein letzter verzweifelter Atemzug über seine Lippen drang.
Dann war er tot …
Der Geist aber schwebte über ihm. Er stieß ein Geräusch aus, das entfernt an ein Lachen erinnerte. Er hatte seinen Spaß gehabt. Der Friedhof war dem Bösen geweiht. Für alle Zeiten sollten die ewigen Schreie über den Totenacker wehen.
***
Das alles war vor mehr als zweihundert Jahren nahe der kleinen Stadt Walham geschehen. Die Menschen, die den Küster damals gefunden hatten und mit dem Aberglauben fest verwurzelt gewesen waren, hatten sofort die richtigen Schlüsse gezogen.
Für sie war der Friedhof entweiht. Jemand hatte dort Selbstmord verübt. Ein Gerechter konnte dort nicht mehr begraben werden, das war einfach unmöglich.
So verkam der Friedhof, und auch in die Kirche traute sich kaum jemand. Als der Pfarrer starb, fand er keinen Nachfolger. So blieb die Gemeinde jahrelang ohne Geistlichen, bis irgendjemand auf die Idee kam, eine neue Kirche zu bauen. Weit weg von dem Ort des Schreckens.
Nahe der Kirche wurde auch ein neuer Friedhof angelegt, und die Menschen vergaßen den alten sehr schnell.
Doch die ewigen Schreie waren nicht verstummt. Im Gegenteil, die klangen wieder auf.
Schrecklicher als je zuvor. Und der kleine schottische Ort wurde in einen wahren Strudel des Schreckens hineingerissen.
***
Als James McMullogh nach Hause kam, fiel ihm sofort die herrschende Stille auf. Er ging erst gar nicht ins Haus, sondern blieb in der offenen Tür stehen, denn die Stille war so ungewohnt, dass er direkt eine Gänsehaut bekam. Warum meldete sich Gladys denn nicht? Sie musste doch zu Hause sein.
Der vierzigjährige Vertreter schüttelte den Kopf. Vielleicht war sie sauer, dass er in den letzten beiden Tagen nicht angerufen hatte, aber es war zu viel zu tun gewesen. Bei dem warmen Wetter orderten die Geschäftsleute die doppelte Menge an Sommerkleidung, und gegen Abend war er immer todmüde in sein Bett gefallen. Hatte sie deshalb das Haus verlassen?
McMullogh betrat den Flur und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er fühlte dabei den Schweiß unter seinen Fingerkuppen, und das wiederum erinnerte ihn daran, dass er unbedingt eine Dusche nehmen musste.
»Gladys!« Sein Ruf hallte durch das Haus.
Er musste auch in den oberen Etagen zu hören sein, wovon die zweite schräg war und in ihrer Bauweise dem Dach folgte, aber seine Frau meldete sich auch jetzt nicht. Für James der endgültige Beweis, dass Gladys nicht zu Hause war.
Unten lag die kleine Küche. Die betrat er zuerst. Aufgeräumt war sie wie immer. Nur die nachträglich eingebaute Schiebetür zum Wohnzimmer stand offen. Durch das Fenster an der Nordseite fiel ein langer Streifen des abendlichen Sonnenlichts und malte ein helles Muster auf die Möbelstücke. Eine Vase mit frischen Blumen stand auf dem Tisch. Es war aufgeräumt und eigentlich wie immer.
Nur eine fehlte – seine Frau!
Wo konnte sie stecken? Vielleicht bei der Nachbarin, oder war sie einkaufen gegangen? Nein, da hatte sie den Tag über Zeit, denn sie arbeitete nicht, und Kinder hatten sie auch keine. Gladys’ Fehlen war schon ungewöhnlich.
Ob etwas passiert war? Als der Mann daran dachte, wurde ihm kalt. Er schüttelte sich und merkte, dass seine Hände heftig anfingen zu zittern. Die Schweißausbrüche wurden stärker, und er warf mit Schwung seine Jacke über einen Sessel, wo sie liegen blieb.
Egal, was geschehen war, er musste Gladys suchen. Im Wohnraum steckte sie nicht. Auch nicht auf der kleinen Toilette links neben der Eingangstür, dann konnte sie, falls sie sich im Haus aufhielt, eigentlich nur oben sein.
Dort wollte er jetzt nachsehen. Die Treppe war aus Holz. Er hatte sie nicht abreißen lassen, als er das Haus nach dem Kauf umgebaut hatte. Gladys hatten die alten Stiegen so gut gefallen.
Etwas schwerfällig stieg James McMullogh die Stufen hoch. Seine linke Hand lag auf dem Geländer und hinterließ dort, wo sie das Holz berührt hatte, einen Schweißfilm.
Als er die erste Etage erreichte, sah er die offenen Türen. Aus den Zimmern strömte das Sonnenlicht bis in den winzigen Flur und traf auch die ausgefahrene Leiter, die nach oben zum Dach führte. Das war seltsam.
James McMullogh blieb neben der Leiter stehen und fuhr mit seiner rechten Hand über das Kinn, wo sich die bläulichen Bartstoppeln im Lauf des Tages kräftig vermehrt hatten. Die Leiter war eigentlich nie ausgefahren. Sollte sich seine Frau oben auf dem Speicher aufhalten? Wenn ja, warum hatte sie sich dann nicht gemeldet, schließlich hatte er laut genug gerufen.
Er rief noch einmal, aber er bekam keine Antwort.
James McMullogh beschloss, sich persönlich zu überzeugen. Wenn er seine Frau auf dem Speicher nicht fand und auch nicht im Keller, dann wusste er nicht, wo er noch suchen sollte. Entschlossen stieg er die Leiter hoch. Diese Stufen waren nicht so stabil wie die der Treppe, sie bogen sich unter seinem Gewicht durch, das Holz bewegte sich und knarrte.
Schon auf halber Höhe spürte McMullogh die Hitze. Als Schwall kam sie von oben und drang gegen ihn. Als er weiter ging, nahm sie ihm fast die Luft.
Auf dem Speicher war es noch heißer. Hier hatte sich die Wärme gestaut, sie stand wie eine Wand. Dem Mann fiel es schwer, Luft zu holen und die letzten beiden Sprossen hinter sich zu lassen. Er musste noch den Kopf einziehen, um nicht gegen die ersten schräg stehenden Balken zu stoßen.
Ein letztes Nachziehen seines rechten Beins, dann stand er auf dem Speicher und sah sich um. Seine Frau und er hatten das Haus zwar nach dem Kauf umgebaut, doch den Speicher so gelassen, wie er war. Das Geld reichte einfach nicht mehr, und von der Bank wollten sie nicht extra etwas aufnehmen. Deshalb fehlte die Isolierung, und es waren auch noch die alten Fenster vorhanden.
Kleine Fenster, mehr als Luken zu bezeichnen. Vier gab es insgesamt davon, allerdings ließen sie nicht die Menge an Licht durch, die nötig war, um den Speicher auszufüllen. Es gab noch eine ziemlich dunkle Ecke. An der Nordostseite, wo ein Giebel ausgebaut worden war.
Die Luft kam ihm vor wie flüssiges Blei. McMullogh riss den Mund auf, atmete schwer und bog seinen steifen Rücken durch. Der Schweiß strömte aus seinen Poren, er war nass bis auf den letzten Hemdfetzen, und er drehte sich langsam auf der Stelle, damit er in jeden Winkel des Speichers blicken konnte.
Leere Regalbretter, ein altes Sideboard, ein paar Übertöpfe für Blumen, die verschlissenen Koffer, das war alles. Oder?
Er sah genauer in die Ecke, die am wenigsten Licht bekam. Bewegte sich dort nicht etwas? Eine Gestalt vielleicht? Sein Herz klopfte plötzlich schneller. Er hörte die Echos im Hirn. James wollte den Namen seiner Frau rufen, die Laute erstarben aber auf seinen Lippen.
Langsam ging er näher. Jeden Schritt hörte er. Obwohl er die Füße vorsichtig aufsetzte, schienen ihm seine Schritte überlaut vorzukommen. Sie dröhnten regelrecht in den Ohren.
Zögernd ging er auf diese Ecke des Speichers zu. Sein Kopf streifte die alten Holzbalken, es kümmerte ihn nicht, er merkte auch nicht mehr die Hitze, sondern sah nur die Gestalt, die dort in der Ecke stand.
Es gab mehrere Lichtschalter. An einem musste der Vertreter vorbei. Er hob den Arm und legte den Schalter um. Automatische Bewegungen, die eigentlich gar nicht hatten sein sollen, aber er wollte Gewissheit haben.
Es wurde heller. Sogar über der hinausgezogenen Dachgaube, sodass James McMullogh alles deutlich erkennen konnte. Jede Kleinigkeit nahm er in sich auf. Endlich sah er seine Frau. Sie hatte sich erhängt!
***
Zuerst drang nur ein hohl klingendes Pfeifen über die Lippen des Mannes. Es war der angehaltene Atem, der sich freie Bahn verschaffte. Dann schüttelte McMullogh den Kopf, hob die Arme in einer hilflos anmutenden Bewegung, ließ sie auf halber Höhe stehen, ballte die Hände und begann zu schreien.
Die Laute waren kaum menschlich zu nennen, die aus seinem Mund drangen. Aus ihnen waren all das Entsetzen und die Angst zu hören, die der Mann empfand. Er sah ein Bild, das sich wie mit einem Meißel geschlagen in sein Bewusstsein grub.
Seine Frau hing in einer Schlinge. Er wusste nicht, wie lange sie schon tot war. Die Haut war aufgedunsen, die Augen verdreht, das braune Haar mit den rötlichen Streifen zeigte verfilzte Ansätze. Sie trug ein leichtes rotes Sommerkleid, und ihre nackten Füße baumelten etwa kniehoch über dem Boden. Wie Glasmurmeln wirkten die Augen. Ihr Blick war starr auf den sie betrachtenden Mann gerichtet, aber sie konnte ihn nicht mehr sehen, der Tod hatte sie längst ereilt. Selbstmord …
Sie hatte sich selbst aufgehängt. Aber weshalb, zum Teufel? Warum hatte Gladys zum Strick gegriffen? Es gab kein Motiv, ihr Leben war glücklich gewesen, sie hatten zwar keine Kinder gehabt, trotzdem hatte sich Gladys immer ausgefüllt gefühlt. Und jetzt dieser Schritt. Dieser verdammte, endgültige, nicht mehr rückgängig zu machende Schritt.
James McMullogh stand vor einem Rätsel. Er wusste auf seine Fragen keine Antworten. Er stand dem Problem völlig hilflos gegenüber, und er merkte, wie seine Zähne im Schüttelfrost und wie bei einem Fieberanfall aufeinanderschlugen.
Tränen rannen aus seinen Augen. Als helle Bäche liefen sie an seinen Wangen entlang. Die Knie wurden weich, er konnte sich einfach nicht mehr auf den Beinen halten und brach zusammen. Sein Kopf pendelte nach vorn, während ein trockenes Schluchzen aus seiner Kehle drang. Es gab einfach nichts mehr, wofür es sich noch zu leben gelohnt hätte. Das Schicksal hatte ihn hart und unbarmherzig getroffen. Gladys war nicht mehr da.
Selbstmord! Dieser Begriff schnitt durch sein Bewusstsein. Es war wie ein stummer Schrei, und ein Schrei drang auch aus der Kehle des Mannes.
»Warum?«, brüllte er. »Warum hast du das getan?«
Durch die offen stehende Speichertür drang das Echo und hallte durch das Haus.
Er schrie noch zweimal, dann konnte er nicht mehr, seine Stimme versagte, der Kopf sank nach vorn, und er blieb in seiner Haltung sitzen. James McMullogh war ein gebrochener Mann.
Wie lange er auf der Stelle gesessen hatte, konnte er nicht sagen. Irgendwann hob er den Kopf, sah sich um und stellte fest, dass die Sonne weitergewandert war. Sie erreichte nicht einmal die kleinen Fenster an der Nordseite des Speichers.
Aus rot geweinten Augen schaute er auf seine Frau. Es herrschte Durchzug, der auch den Körper traf. Er pendelte hin und her, als würden unsichtbare Hände mit ihm spielen.
James McMullogh lief es kalt den Rücken hinab. Die Haut dort zog sich zusammen, er zitterte wie Espenlaub, seine Mundwinkel zuckten, der Blick seiner Augen hatte einen leeren Ausdruck.
»Gladys!«, hauchte er. »Gladys, mein Gott …«
Sie gab keine Antwort, und mit Erschrecken wurde James McMullogh klar, dass er seine Frau begraben musste. Er konnte sie nicht mehr zurückholen, sie würde in ein kaltes Grab kommen, und er sah jetzt schon die Gesichter der Menschen, die sich an der Beerdigung beteiligten. Das ganze Dorf würde auf den Beinen sein. Man war neugierig, es war eine Sensation. Jemand hatte Selbstmord begangen.
Oder war es vielleicht keiner? Hatte man Gladys etwa erhängt? Befand sich ein Mörder in der Nähe, der sich für diese grässliche Tat verantworten musste?
McMullogh fiel ein, dass er noch die Polizei benachrichtigen musste. Ja, sie sollten den Speicher hier untersuchen. Unter Umständen fanden sie Spuren, die auf einen Mord hindeuteten.
Das Entsetzen und den Schmerz hatte der Mann zurückgedrängt, er stützte sich ab und stand auf. Ziemlich wacklig in den Knien blieb er stehen. Er riss sich zusammen und schritt noch einmal auf seine tote Frau zu.
Das Seil der Schlinge hatte sie unter der Decke an einem Balken befestigt. Die Schlinge selbst war durch einen Doppelknoten gesichert, nicht so fachmännisch geknüpft wie die von einem Henker. Gladys musste gelitten haben, bevor sie endgültig gestorben war.
»Warum hast du das getan?«, hauchte James. »Warum …?«
Und er sah seine Frau an, ließ die Blicke vom entstellten Gesicht abwärts gleiten und sah plötzlich im unteren Teil des geknöpften Ausschnitts etwas Helles leuchten. James McMullogh wurde misstrauisch. Er berührte seine Frau, brachte sie dadurch ins Pendeln und fasste mit zwei Fingern nach dem Weißen, das dort leuchtete.
Es war ein Zettel! Eine Nachricht? McMulloghs Hände zitterten, als er das Papier auseinanderfaltete und die zittrige Handschrift sah, die von seiner Frau stammte. Ja, die Worte hatte Gladys geschrieben, das war deutlich zu sehen. Er kannte schließlich die Schrift seiner Frau.
Halblaut begann er das zu lesen, was ihm Gladys aufgeschrieben hatte.
Mein geliebter James! Wenn du mich hier auf dem Speicher findest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Dann habe ich mich umgebracht. Ich weiß selbst, dass du für diesen Selbstmord keine Erklärung finden wirst, ich kann sie dir auch nicht direkt geben, aber lass dir gesagt sein, es musste sein. Es gab einfach keinen anderen Ausweg mehr für mich. Ich musste mich umbringen, und ich bin nicht die Einzige, es werden mehr folgen, denn der alte Fluch ist nicht erloschen.
James konnte nicht mehr weiterlesen, weil die Tränen seinen Blick verwischten. Er holte ein Taschentuch hervor, wischte seine Augen klar und schnäuzte die Nase. Ein paar Mal holte er tief Luft, dann endlich hatte er sich gefangen und las murmelnd weiter.
Was immer auch ich getan habe, es hat mit dir und deiner Person nichts zu tun. Ich habe dich sehr geliebt, doch es gibt eine Kraft, die wesentlich stärker ist, stärker als unsere Liebe. Wir hätten nicht hierher ziehen dürfen, denn damit hat alles begonnen. Ich hoffe, du verzeihst mir, auch wenn du mich nicht verstehen kannst. Zieh du weg aus diesem Ort, geh wieder zurück in die Stadt, denn dort bist du sicher. Hier ist alles verloren. Die Menschen von Walham werden nicht mehr lange zu leben haben, denn ich bin erst der Anfang einer Kette von grausamen Ereignissen. Um einen Gefallen allerdings möchte ich dich bitten, mein Geliebter, und du musst mir versprechen, ihn zu erfüllen. Bring mich bei Anbruch der Dunkelheit zum alten Friedhof. Das Grab für mich ist schon ausgehoben. Es liegt in der äußersten Ecke, wo die beiden alten Ulmen stehen und wo vor langer Zeit der Platz für den Galgen gewesen war. Dort kreuzen sich zwei Wege, und da findest du auch mein Grab. Aber du darfst mich nicht einfach hineinlegen, du musst noch etwas tun, auch wenn es dir schwerfällt …
McMullogh stöhnte auf. Er ließ seinen rechten Arm sinken, weil er nicht mehr weiterlesen konnte. Zu schrecklich war das alles, was ihm seine Frau noch offenbarte. Und der Text ging weiter. Es waren noch einige Zeilen zu lesen. Sie kosteten Überwindung, aber James sprach auch die restlichen Worte.
Der letzte Gefallen wird dir am schwersten werden, das weiß ich. Geh hin, nimm einen angespitzten Pflock und stoß ihn mir durch das Herz. Ich bitte dich darum, ich bitte dich herzlich darum. Frag dich nicht nach den Gründen, tu es einfach, nur so kann ich meine ewige Ruhe finden, sonst werden meine Schreie des Nachts über den Friedhof gellen und dich dein Leben über martern … In Liebe – deine Gladys!
James McMullogh wiederholte die letzten Worte. Das geschah wie bei einem Automaten, nur flüsternd, jedoch monoton. Dann schrie er, fiel auf die Knie und presste beide Hände gegen seinen Kopf. Was er da gelesen hatte und wie seine Frau ihren Letzten Wunsch formulierte, ging über seinen Verstand, das konnte er nicht begreifen. Er sollte sie nicht nur in das schon für sie vorbereitete Grab legen, sondern ihr auch noch einen angespitzten Pflock ins Herz stoßen.
Nein, nein! Niemand konnte das von ihm verlangen. Es war unmöglich, sie war tot. Sollte er sie noch einmal töten? Einfach umbringen? Eine Tote umbringen?
Er hob den Kopf. »Ich … ich kann es nicht!«, flüsterte er. »Nein, das bringe ich nicht fertig. Tut mir leid, Gladys, das geht über meine Kraft …«
Wieder nahm er den Zettel. Noch einmal las er die Nachricht. Wort für Wort. Er spürte direkt, wie eindringlich seine Frau ihn gebeten hatte, so zu handeln, wie sie es für richtig hielt. Sicherlich hatte sie ihre Gründe gehabt. Etwas versponnen war sie schon immer gewesen. Sie hatte manches Mal von einer bösen Aura gesprochen, die den alten Friedhof überlagerte. Dort wurde seit Jahren niemand mehr begraben. Und Gladys wollte dort ihre letzte Ruhestätte finden. Weshalb nur?
James McMullogh überlegte hin und her. Er kam zu keinem Ergebnis. Der Fall blieb ein ebenso großes Rätsel wie der Selbstmord seiner geliebten Frau.
Und musste man nicht den Letzten Willen eines Gestorbenen erfüllen? War das nicht die Pflicht der noch Lebenden?
James entschloss sich schließlich, ihr den Gefallen zu tun. Ja, er würde sie auf dem Friedhof begraben, aber er wollte auch das Rätsel dieses unheimlichen Totenackers lösen.
Einen Pflock sollte er ihr ins Herz stoßen. Er schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein, das durfte er nicht tun, er konnte doch keiner Toten so …
Wie ein Kind schluchzte er auf. Plötzlich durchlief ein starkes Zittern seine Gestalt, sein Mund öffnete sich, ein Krächzen drang hervor, die Augen traten aus den Höhlen, dann fiel er nach vorn. Er streckte noch die Arme aus, berührte seine in der Schlinge hängende Frau, doch halten konnte er sich nicht. Er rutschte ab, fiel zu Boden und blieb bewusstlos liegen.
Die Tote bewegte sich noch immer, und ihre Beine pendelten langsam hin und her …
***
Meine Mutter hatte Geburtstag!
Und endlich einmal erlaubte es mir die Zeit, bei ihrem Festtag dabei zu sein. Mein Gott, wie hatte sie sich gefreut, als ich so überraschend eintraf, denn eine Überraschung war es wirklich gewesen. Bewusst hatte ich nicht angerufen. Ich hatte mir Urlaub genommen, den mein Chef, Sir James Powell, zähneknirschend bewilligt hatte, und dann war ich losgefahren.
Von London nach Schottland. In einer Tour. Es tat dem alten Bentley mal gut, wieder ein langes Stück Asphalt unter den Rädern zu spüren. Über die Autobahn, bei uns Motorway genannt, jagte ich in Richtung Norden, überquerte die Grenze und erreichte schließlich Lauder, den kleinen Ort, in dem sich meine Eltern zur Ruhe gesetzt hatten.
Nach seiner Pensionierung, mein Vater war Anwalt gewesen, hatte es ihn wieder nach Schottland gezogen, denn aus diesem Land stammte unsere Familie. Ja, wir hatten einen Stammbaum, sogar mit einem Dämon darin. Mit Schrecken erinnerte ich mich noch an das Abenteuer, das ich mit diesem Dämon erlebt hatte.
Das war vorbei, aber mein Vater hatte versprochen, in dieser Richtung weiter Nachforschungen anzustellen. Bei Telefongesprächen mit ihm konnte ich erfahren, dass er bisher noch keinen Erfolg verbucht hatte.
Das halbe Dorf war versammelt. Das große Haus reichte gerade aus, um die Gäste zu fassen. Meiner Mutter standen die Tränen in den Augen, als ich zu ihrem Sechzigsten eintraf.
»Junge!«, rief sie immer wieder. »Junge, mein Gott, wie freue ich mich darüber!«
Sie umarmte und küsste mich, wollte sich nicht darüber beruhigen, dass ich gekommen war.
Auch mein Vater freute sich wie ein Schneekönig. Er zog mich nach der Begrüßung durch meine Mutter ein Stück zur Seite, und wir sprachen über den letzten, gemeinsam erlebten Fall.
»Ich habe noch nichts Weiteres herausfinden können«, erklärte er mir.
»Weiß Ma davon?«
»Nein, um Himmels willen. Ich habe ihr nichts gesagt. Die hätte mich nicht mehr aus dem Haus gelassen. Sie hat schon Angst um dich, wenn ich noch dazukomme, grämt sie sich zu Tode.«
Das konnte ich mir vorstellen. Meine Mutter hatte sich noch immer nicht mit meinem Job abgefunden. Es war für sie weiterhin unbegreiflich, wie jemand Geister und Dämonen jagen konnte. Sie hätte mich lieber als Nachfolger meines Vaters in dessen Anwaltskanzlei gesehen, aber der Job war mir zu langweilig gewesen, deshalb war ich nach meinem Studium zur Polizei gegangen.
Auch in Schottland hatte der frühe Sommer Einzug gehalten. Die Luft war mild und lau, und meine Eltern hatten das Beste aus der Situation gemacht. Man aß und trank draußen.
Vier Mädchen aus dem Dorf bedienten die Gäste. Eins fiel mir besonders auf, eine quirlige schwarzhaarige junge Frau mit Locken und kirschgroßen Augen. Immer wenn sie mir etwas zu trinken brachte, schenkte sie mir ein Lächeln, dass es mir warm ums Herz wurde. Ich kannte die Kleine nicht, hörte jedoch, dass sie von den anderen Helen gerufen wurde.
Von den Einwohnern wurde ich ein paar Mal auf meinen Job angesprochen. Ich hatte aber keine Lust, davon zu erzählen, so wich ich immer aus. Auch an den Fall, der hier in Lauder gespielt hatte, erinnerte man mich. Es war damals um Melina gegangen, ein psychisch krankes Mädchen, das den kleinen Ort durch schreckliche Morde in Atem gehalten hatte.1) Melina steckte jetzt in einer Anstalt. Wie ich hörte, sollte es ihr ganz gut gehen.
Als es bereits auf Mitternacht zuging und die ersten Gäste gegangen waren, setzte mein Vater sich zu mir. »Und wie lange hast du vor, zu bleiben, mein Junge?«
Ich schüttelte mir eine Zigarette aus der Packung und hob die Schultern. »Eigentlich muss ich morgen wieder weg.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage!« Die Stimme klang hinter mir auf, und sie gehörte meiner Mutter. Ungesehen hatte sie sich uns genähert und legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Wenn du schon mal kommst, dann soll es auch für länger sein.«
»Aber Mutter, ich muss nach London.«
»Ach, woher. Du hast bestimmt in den letzten Jahren keinen Urlaub gehabt. Nimm dir welchen …«
»Das stimmt schon. Aber dass ich keinen Urlaub machen konnte, hatte seine Gründe. Eben aus diesen Gründen kann ich nicht länger bei euch bleiben, so leid es mir tut.«
»Sag du doch was, Horace!« Mary Sinclair suchte bei meinem Vater Unterstützung.
Der strich mit fünf Fingern durch sein grau gewordenes Haar. »Ich kann das nicht so beurteilen, meine Liebe. Aber wenn ich mich an meinen Job erinnere …«
»Hör auf, ich weiß schon, was kommt. Mit dir war es früher ja ebenso. Niemand hat Rücksicht auf mich genommen. Der Job, die viele Arbeit …« Die Stimme meiner Mutter klang traurig.
Ich stellte mein Glas zur Seite, erhob mich und legte einen Arm um ihre Schultern. »Sieh mal, Mum, das musst du verstehen. Ich habe wirklich einen Fulltime-Job. Und Urlaub ist nicht immer drin. Dad hat da schon recht.«
»Ich weiß, ihr haltet alle zusammen.«
Mein Vater hob die Schultern. Er wollte damit andeuten, dass meine Mutter so nicht zu überzeugen war.
Dann lächelte sie plötzlich: »Ist ja schon gut«, sagte sie, drehte sich um und ging zur Frau des Bürgermeisters, die der leckeren Erdbeerbowle zusprach.
»Sie meint es nur gut«, versuchte mein Vater sie zu entschuldigen.
»Das weiß ich ja, Dad, aber du kennst mich.«
»Sicher, John. Wie geht es den anderen?«
Ich berichtete ihm von Suko und den Conollys. Mein Vater freute sich, dass alle gesund waren. Schließlich erkundigte er sich auch nach Jane Collins.
Das gab mir einen Stich. Er merkte dies und wollte das Thema wechseln, doch ich erklärte ihm die genaueren Umstände, was mit Jane Collins geschehen war. Dass der Geist des Rippers in die Detektivin eingedrungen war, sie zu einer anderen gemacht hatte und dass sie in den Reigen der Oberhexe Wikka aufgenommen worden war.
»Jane eine Hexe?«
»Leider.«
»Mein Gott.« Horace F. Sinclair schlug sich gegen die Stirn. »Das muss man sich einmal vorstellen. Könnte das mit jedem Menschen geschehen, John?«
»Sicher.«
»Auch mit dir?«
»Das will ich nicht hoffen. Zum Glück trage ich das Kreuz. Es schützt mich einigermaßen.«
»Ja, natürlich. Hast du mittlerweile herausgefunden, woher es stammt und wieso man dich Sohn des Lichts nennt?«
»Nein, noch nicht.«
»Meinst du, dass es nicht langsam Zeit würde?«
»Natürlich. Aber das habe ich nicht zu bestimmen Dad. Wirklich nicht. Es liegt, wie man so schön sagt, in der Hand des Schicksals, wie mein Kreuz nun reagiert oder nicht.«
»Hast du keinen Verdacht?«
»Schon.«
»Und welchen?«
»Erst einmal allgemein. Das Kreuz muss uralt sein, ich nehme an, dass es aus den ersten Anfängen unserer Zeitrechnung stammt, als das Christentum noch in der Wiege lag.«
»Ja, das ist möglich. Darauf deutet auch der Begriff Sohn des Lichts hin.«
Überrascht sah ich meinen Vater an. »Weißt du etwas mehr, Dad?«
»Nein, das nicht. Es ist nur eine Vermutung. Hast du schon mal etwas von den Makkabäern gehört?«
»Ja, das war eine christliche Sekte.«
»So ungefähr. Sie lebte in den Anfängen der ersten Jahrhunderte. Und sie nannten sich Söhne des Lichts. Ich habe das gelesen, ob allerdings eine Verbindung zwischen ihnen und deinem Kreuz besteht, konnte ich nicht herausfinden.«
»Ist auch nicht schlimm. Ich werde da selbst mal recherchieren«, erwiderte ich und wurde nachdenklich. Es war wirklich interessant, was mir mein Vater gesagt hatte, und ich beschloss, mich in Zukunft darum einmal zu kümmern, falls es die Zeit zuließ.
Ja, die Zeit. Das war immer so ein Problem. Meine Gegner ließen mir einfach nicht die Ruhe, um Nachforschungen zu betreiben, was die Herkunft des Kreuzes anging. Deshalb musste ich mich darauf verlassen, dass es irgendwann einmal zu einem Fall kommen würde, wo all dies mit hineinspielte.
Als ich gähnte, sagte mein Vater: »Leg dich hin, Junge, du hast eine lange Fahrt hinter dir! Und dann jetzt noch dieser Trubel, das hält kein Pferd aus. Wann willst du denn weg?«
»Gegen Mittag.«
»Dann wirst du auch ausgeschlafen sein.«
Ich verabschiedete mich von meinen Eltern. Auch meine Mutter machte einen erschöpften Eindruck. Kein Wunder, sie hatte viel Arbeit gehabt, und um sie hatte sich schließlich alles gedreht.
Mein Zimmer im ersten Stock war frisch hergerichtet worden. Als ich die mit Blumen und Geschenken überladene kleine Halle im Erdgeschoss durchquerte, lief mir Helen, die schwarzhaarige Bedienung, über den Weg. Sie hatte sich inzwischen umgezogen, trug einen blauen Rock und eine weit geschnittene Bluse mit einem runden Ausschnitt.
Ich blieb stehen. »Na, endlich Feierabend?«
»Ja, ein Glück. Ich bin auch geschafft, ehrlich.«
»Wollen Sie jetzt nach Hause?«
Sie lachte hell. »Nein, das würde schlecht gehen. Ich wohne etwa dreißig Meilen von hier. Ich schlafe bei einer Tante. Morgen muss ich wieder zurück.«
»Wohin denn?«
»Nach Walham.«
»Kenne ich nicht.«
Helen lächelte, und Grübchen erschienen auf ihren Wangen. »Walham kennt kaum jemand. Das Nest hat nicht mal einen Bahnhof, es liegt, wie wir immer sagen, am Ende der Welt.«
»Ja, so etwas gibt es. Und wie kommen Sie nach Walham?«
»Mit dem Bus.«
»Haben Sie kein Auto?«
»Als Studentin, die ihr Studium für ein Jahr unterbrochen hat, um zu arbeiten? Nein, einen Wagen kann ich mir nicht leisten. Ich fahre eben mit dem Bus oder auch mit der Eisenbahn.«
Die Kleine gefiel mir. Dieses Walham lag zwar nicht auf meiner direkten Route, aber mit so einer hübschen Begleiterin würde ich gern einen Umweg machen.
»Wie wär’s? Sie können mit mir fahren. Ich mache dann den kleinen Schlenker über Walham.«
»Das wäre toll.« Sie strahlte plötzlich. »Und wann fahren Sie los?«
»So gegen Mittag.«
»Gut, dann kann ich noch lange genug schlafen. Bis später dann.« Sie winkte mir zu und verschwand.
Auch ich lächelte, denn ich freute mich über meine Begleiterin. Bestimmt konnte sie sich nett unterhalten. Schade, dass ich nicht noch Zeit hatte.
***
Die Bettwäsche duftete wie früher, als ich noch zu Hause geschlafen hatte. Ich zog mich aus, duschte noch kurz und legte mich hin. Das war ein herrliches Gefühl. Mein altes Bett!
In den folgenden Stunden quälte mich kein Traum, keine Geister und Dämonen erschienen, ich schlief herrlich ruhig durch. Es war eine direkte Wohltat. Ich merkte auch nicht, dass die Sonne aufging und langsam höher wanderte. Erst als meine Mutter das Zimmer betrat, schreckte ich hoch.
»Willst du nicht aufstehen, John?« Sie sagte die gleichen Worte wie früher, wenn sie mich weckte, damit ich zur Schule gehen konnte.
»Wie, was?« Ich war noch schlaftrunken und kam erst langsam zu mir, wobei ich mich aufrichtete.
»Aufstehen, Junge. Wir haben Mittag.«
Das war doch nicht möglich. Ich richtete mich auf und sprang aus dem Bett. Ich sah meine Mutter vorwurfsvoll an. »Warum hast du mich denn nicht früher geweckt?«
Sie lächelte spitzbübisch. »Ich dachte immer, du wärst erwachsen, John. Als Kind hast du dich oft genug beschwert. Nie wolltest du aufstehen. Erinnerst du dich nicht?«
»Sicher.«
»Und als Student habe ich dich dann am Wochenende schlafen lassen. Falls du überhaupt nach Hause gekommen bist.«
Oje, da erinnerte sie mich an die schlimmsten Jahre meiner Sturm-und-Drang-Zeit. Damals kannte ich schon Bill Conolly. Mit ihm hatte ich so manchen Zug gemacht. Beide hatten wir da noch nicht wissen können, dass uns unsere Wege einmal wieder so dicht zusammenführen würden.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war drei Minuten vor zwölf. Meine Güte, hatte ich geschlafen, da bekam man direkt ein schlechtes Gewissen.
»Willst du frühstücken oder zu Mittag essen?«
»Direkt warm.«
Meine Mutter ging zur Tür. »Ach so«, sagte sie noch, als sie den Griff bereits in der Hand hielt. »Da ist Besuch für dich. Ein Mädchen, Helen, sie …«
»Richtig, ich wollte sie ja mitnehmen.«
»Ihr Bus fährt in einer halben Stunde …«
»Sag ihr, dass wir die Zeit noch einholen.«
Meine Mutter lächelte. »Wie du meinst, John.«
Ich duschte mich und spürte die Energie, die in meinem Körper steckte. Der Schlaf hatte gutgetan. Ungemein erfrischt fühlte ich mich. Mit dem Trinken hatte ich mich am Abend auch zurückgehalten, sodass ich keinen schweren Kopf hatte.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass es wieder warm war. Eine prächtige Sonne stand am Himmel und goss ihren goldenen Schein über die etwas tiefer liegenden Dächer der Häuser, die zum Ort Lauder gehörten.
Ich stieg in die helle Leinenhose, zog das gestreifte Hemd über und nahm die leichte Jacke über den Arm. Die Reisetasche hatte ich bereits gepackt. Sie nahm ich ebenfalls mit nach unten, wo meine Eltern mit dem Essen warteten.
Sie hatten das Mädchen eingeladen, zu bleiben. Helen hatte gern angenommen, und sie bot in der Tat einen erfreulichen Anblick. Sie trug eine weiße Hose, die an den Knien endete und über dem Oberkörper ein rotes Sonnentop, das von zwei dünnen Trägern gehalten wurde. Auf einen BH hatte sie verzichtet. Deutlich zeichneten sich die Umrisse des Busens unter dem dünnen Stoff ab.
Zur Kleidung gehörte noch eine weiße, leichte Leinenjacke, die über der Lehne eines leeren Stuhls hing.
»Sie haben ja lange geschlafen«, begrüßte sie mich und reichte mir die Hand.
»Ja, das tat mal richtig gut.«
»Bekommst du sonst so wenig Schlaf?«, fragte mich meine Mutter besorgt.
»Es reicht aus.«
»Dann setz dich mal, und iss.«
Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass ich inzwischen erwachsen war. Aber so sind Mütter nun einmal. Die Kinder bleiben für sie eben Kinder, auch wenn sie noch so alt sind.
Es gab Lammeintopf, der hervorragend schmeckte. Meine Mutter kannte noch meine Lieblingsgerichte, und sie freute sich, als ich so kräftig zulangte. Auch meinem Vater und Helen schmeckte es. Die beiden aßen um die Wette.
Ich erfuhr, dass Helen mit vollem Namen Helen Cloud hieß. In Walham wohnte sie bei ihren Eltern. Das Studium hatte sie in Glasgow begonnen, und sie würde es auch dort fortsetzen, wenn das nächste Semester anfing. Der Platz war ihr sicher.
»Nachschlag?«, fragte meine Mutter.
Ich nickte. Alle staunten, was ich so verputzen konnte, aber ich hatte in der Tat großen Hunger. Nach dem Essen gab es Erdbeeren mit Eis. Auch davon schaffte ich noch eine Portion. Dann saßen wir zusammen und unterhielten uns. Über meinen Job sprachen wir nicht, dafür über Lauder und über meinen Vater, der hier zahlreiche Ehrenämter innehatte und auch in den Stadtrat gewählt worden war.
»Er kann es eben nicht lassen«, beschwerte sich meine Mutter, lächelte jedoch dabei.
»Ich wollte, mein Vater wäre ebenso gewesen«, sagte Helen. »Leider ist er tot.«
»Das tut uns leid«, sagte ich.
Das Mädchen hob die Schultern. »Es ist noch nicht lange her. Die Umstände waren schrecklich. Ich selbst habe auch nur davon gehört, weil ich mich auf einer Studienreise befand.«
»Wie ist er denn gestorben?«, erkundigte ich mich. »Durch einen Unfall vielleicht?«
»Nein. Man munkelt etwas von einem Selbstmord.«
Für eine Weile schwiegen wir betroffen. Bis ich einen Blick auf die Uhr warf und damit zu verstehen gab, dass es Zeit für den Abschied war.
Meiner Mutter ging es gegen den Strich. Ich sah das verräterische Glänzen in ihren Augen und tröstete sie mit den üblichen Worten.
»Ich komme euch ja wieder besuchen, keine Angst. Schließlich bin ich nicht aus der Welt.«
»Das sagst du immer.«
»War ich nicht gestern auch da?«
Mary Sinclair lächelte. »Darüber habe ich mich auch sehr gefreut, mein Junge.«
Meine Eltern brachten uns zum Wagen. Mutter umarmte mich, von meinem Vater bekam ich einen kräftigen Händedruck. Als wir abfuhren, winkten sie uns hinterher.
Helen Cloud meinte: »Ich finde es wunderbar, wenn man noch beide Eltern hat, John.«
»Da sagen Sie was, Mädchen, und ich hoffe, dass es auch noch lange so bleiben wird …«
***
Er hatte sich eine Leiter geholt und aufgestellt. Direkt neben die Erhängte. Als er die Leiter hochstieg und ihr Gesicht dicht vor seinem sah, zuckte er zurück. Nichts war mehr von dem einst so hübschen Gesicht seiner Frau zurückgeblieben. Es war nur noch eine Grimasse, ein unförmiges Etwas, kaum mehr als menschlich zu bezeichnen.
Er hob den rechten Arm. In der Hand hielt er ein scharfes Messer mit Sägeklinge.
Dann schnitt er. Dabei keuchte er, denn die Fasern des Stricks waren verflucht zäh. James McMullogh presste die Lippen hart zusammen, auf der Stirn glitzerte der kalte Schweiß, sein Atem roch nach Alkohol, und die Luft pumpte schwer durch seine Nase.
Ein letzter Schnitt, ein Ruck, der Strick riss, die Leiche polterte zu Boden.
James blieb noch auf der Leiter stehen, starrte zuerst auf das Messer und dann auf seine am Boden liegende Frau. Er schüttelte sich und sah die schwarzen, fetten Fliegen, die über der Toten ihre Kreise zogen. Manche Flügel schimmerten grünlich, und er schlug mit den Händen nach den tanzenden Insekten. Für eine Weile konnte er sie verscheuchen, bis sie zurückkehrten und weiterhin ihre Reigen flogen.
Dann stieg er von der Leiter. Das Messer warf er zu Boden und ließ es liegen. Die Tote war auf die Seite gefallen. Wie eine Puppe sah sie aus. Von dem Gesicht war nichts zu erkennen, weil das Haar sich ausgebreitet und es verdeckt hatte.
Die schwerste Aufgabe stand noch bevor. Die körperlich schwerste, denn er musste die Leiche die steile Stiege zum ersten Stock hinuntertragen. Besonders kräftig war James McMullogh nie gewesen. Aus diesem Grund fiel es ihm auch schwer, die Tote anzuheben und über die Schulter zu wuchten.
Erst beim zweiten Versuch schaffte er es und sank trotzdem in die Knie, als er das Gewicht auf seiner rechten Schulter spürte. Mit wackligen Schritten durchquerte er den Speicher, auf dem die stickige Luft noch immer wie eine Wand lag. Er hatte das Gefühl, durch eine zähe Masse zu laufen, wahrscheinlich jedoch lag es an seiner eigenen Schwäche, dass er so reagierte.
Dann kam die Leiter. Es war schwierig genug, die Sprossen hinunterzusteigen. Fast wäre er ausgerutscht. Mit einem raschen Griff jedoch konnte er sich halten.
Seine Knie zitterten, als er nach unten ging. Die Arme der Toten pendelten, und eine Hand schwang immer dicht vor seinem Gesicht in die Höhe.
Er musste daran denken, wie glücklich sie gewesen waren. Über fünfzehn Jahre waren sie verheiratet. Als junges Mädchen hatte James seine Gladys kennengelernt. Sie hatte in einem kleinen Ort an der englischen Westküste gewohnt, eine Landschönheit, wie die Städter sagten. Es hatte ihr nichts ausgemacht, mit ins kühlere Edinburgh zu gehen, ihre Liebe war zu groß gewesen. Dann hatten sie sich das alte Haus in Walham gekauft und es umgebaut. Für Gladys war damit ein Traum in Erfüllung gegangen.
Und jetzt war alles vorbei. Warum hatte Gladys Selbstmord begangen? Diese Frage quälte ihn stark. Er suchte verzweifelt darauf eine Antwort, war jedoch nicht in der Lage, eine zu finden. Auch hatte er sich Vorwürfe gemacht und darüber nachgedacht, ob er etwas falsch gemacht hatte, aber er war sich keiner Schuld bewusst.
Als er die Stiege hinter sich gelassen hatte, zitterten seine Beine so sehr, dass er die Tote am liebsten fallen gelassen hätte, doch er riss sich noch einmal zusammen und nahm Kurs auf die Treppe, die nach unten führte.
Am Handlauf hielt er sich fest. Noch immer bebten seine Knie, und er sprach flüsternd den Namen seiner geliebten und jetzt toten Frau aus.
Als er das Erdgeschoss erreichte, ließ er die Leiche von der Schulter gleiten, setzte sie auf den Boden und drückte sie mit dem Rücken so gegen die Wand, dass sie sitzen blieb. Er konnte nicht mehr. Die Hitze und der Transport der Toten hatten ihn körperlich geschafft. Hinzu kam noch der seelische Druck.
Mit müden Beinen taumelte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und sah die Dosen mit Bier. Eine holte er hervor und riss den Verschluss auf. Der helle Schaum quoll durch die Öffnung, als er sie ansetzte und das kalte Getränk hastig in sich hineinkippte. Er schluckte kaum, sondern ließ das Bier einfach laufen, so einen großen Durst hatte er.
Nachdem die Dose leer war, fühlte er sich ein wenig besser. Er stützte die Hände auf die Spüle und sah aus dem Fenster nach draußen.
Dort stand sein Wagen, ein Opel Caravan. Er hatte ihn bei der Ankunft nicht in die Garage gefahren, sodass der Wagen ziemlich günstig stand, um die Leiche im Fond zu verstauen.
Er wollte warten, bis sich die Dunkelheit oder zumindest die Dämmerung über das Land gesenkt hatte. So lange musste er noch mit der Toten allein unter einem Dach bleiben.
In der Küche stand ein Stuhl. Erschöpft ließ er sich auf ihn sinken und streckte die Beine aus. Als er den Blick hob, konnte er durch die halb offen stehende Tür seine tote Frau in der Diele sehen.
James McMullogh schüttelte sich. Er konnte diesen verzerrten Gesichtsausdruck nicht mehr ertragen, es brachte ihn fast um, und er trat gegen die Tür, sodass sie mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
Das Grab ist schon fertig! An diese Stelle des Abschiedsbriefes musste er immer denken. Wer hatte es geschaufelt, wenn es bereits fertig war? Es gab in Walham einen Totengräber, er erledigte die Arbeit als Nebenjob, aber James konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Mann für Gladys ein Grab geschaufelt hatte.
Und noch etwas sollte er tun. Ihr einen Pflock ins Herz schlagen! Warum hatte sie so eine Forderung gestellt? Sie war tot und auch kein Vampir, den man auf diese Art und Weise von seinem untoten Dasein in den endgültigen Tod beförderte.
Rätsel über Rätsel. Und vor allem Rätsel, die blieben, denn er fand für sie keine Lösung. Der ganze Vorgang war so unwahrscheinlich, so irreal, dass er ihn überhaupt nicht richtig begriff.
Die Gedanken und Vermutungen verwirrten ihn und zeichneten ein schiefes Bild. Es war so verschwommen und teigig, dass er irgendwann den Überblick verlor und auch nicht mehr weiter denken konnte. Die Natur forderte ihr Recht. James McMullogh fielen die Augen zu.
Draußen wanderte die Sonne nicht nur weiter, sondern auch tiefer. Sie senkte sich dem westlichen Horizont zu und war schließlich nur noch als eine Halbkugel zu sehen, die weiterrutschte, sodass die Dämmerung Einzug halten konnte.
***
Irgendwann schreckte James McMullogh hoch. Seine erste Reaktion, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte, war der Ruf nach seiner Frau.
»Gladys?«
James bekam keine Antwort, öffnete die Augen weiter, rutschte zur Seite, wollte sich abstützen und wäre fast vom Stuhl gefallen, denn er hatte nicht mehr damit gerechnet, wo er saß.
Erst als seine Hand den Boden berührte, schreckte er hoch. Sein Blick fiel zufällig auf die leere Bierdose, und sofort war die Erinnerung wieder da. Die Schatten der Dämmerung lagen über dem Ort und fanden auch ihren Weg in die kleine Küche.
James McMullogh erhob sich, öffnete die Tür und sah die Tote auf dem Boden sitzen. Sie war zusammengefallen, berührte zwar mit dem Rücken noch die Wand, doch sie hatte inzwischen eine Schräglage eingenommen, sodass sie irgendwann kippen würde.
McMullogh ging zur Haustür und öffnete sie. Da er genau wusste, was er zu tun hatte, wollte er nicht, dass irgendwelche Nachbarn ihm zusahen, wenn er seine tote Frau in den Kofferraum legte.
Von gegenüber hörte er Stimmen. Die Nachbarn hielten sich jedoch im Garten auf. Dort brannte auch Licht. James erkannte einen schwachen Schein, der seinen Weg um die Hausecke suchte.
Als er Schritte vernahm, drehte er sich um. Die Familie, die zwei Häuser weiter in der gleichen Reihe wohnte, kehrte von einem Spaziergang zurück. Ein nettes älteres Ehepaar. Normalerweise hätte James sich auch mit den Leuten unterhalten, heute ging es nicht. Er zog sich hastig zurück und warf die Tür zu. Mit dem Rücken presste er sich gegen das Holz, als hätte er Angst, die beiden könnten von außen die Tür aufstemmen.
Sie gingen jedoch vorbei. James hörte, dass sein Name fiel, dann verklangen die Schritte. Er wartete noch zwei Minuten und öffnete abermals die Tür. Er sah nach draußen. Diesmal war die Luft rein. Keine Spaziergänger weit und breit, er konnte es riskieren.
Er ging hastig die zwei Schritte zurück, wuchtete die Tote hoch, und bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, stoppte er sie mit dem Fuß. Dann drehte er sich halb, winkelte das Knie an, stieß die Tür noch weiter auf und ging nach draußen. Als er schon das Haus verlassen hatte, fiel ihm ein, dass er die hintere Tür des Kombis noch öffnen musste. Das schaffte er nicht mit einer Toten auf dem Arm. Er legte sie deshalb nieder, holte aus seiner Hosentasche die Wagenschlüssel, schüttelte sie aus dem Bund, schaute sah abermals scheu um und öffnete die Klappe.
Hastig stieß er mit dem Handballen darunter, damit sie auch schnell genug in die Höhe flog. Sofort hob er die Leiche an und legte sie auf die Pritsche im Fond.
Dann klappte er die Tür wieder zu. Der Knall hörte sich irgendwie endgültig an, und James schloss für Sekunden die Augen. Zudem hatte er auch ein schlechtes Gewissen. Er wusste genau, dass er falsch handelte, denn er hätte die Polizei informieren müssen. Die aber hätten erst vom vier Meilen entfernten Nachbarort kommen müssen, so war es schon besser, dass er die Beamten aus dem Spiel ließ und erst einmal den Letzten Willen seiner toten Frau erfüllte.
Die Jacke wollte er nicht erst aus dem Haus holen. So schnell wie möglich musste er zum Friedhof fahren, lief an der rechten Seite des Wagens vorbei und schloss die Fahrertür auf.
»Sie haben es aber eilig, Mister McMullogh!«
James stand steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt. Die Stimme, die ihn da angesprochen hatte, kannte er. Sie gehörte einer Frau aus dem Nachbarhaus, einer aufgedunsenen, ordinären Person, von der böse Zungen behaupteten, dass sie mal Kassiererin in einem Bordell in Glasgow gewesen war, bevor ihr Vater ihr das Haus vererbt hat.
»Ja, ja, Mrs. Cavendish, ich muss noch mal weg.«
»Komisch.«
»Was ist komisch?« James Herz klopfte plötzlich oben im Hals. Er hatte höllische Angst davor, dass Mrs. Cavendish etwas gesehen haben konnte.
»Ihre Frau, Mister McMullogh. Ich habe sie schon seit Stunden nicht gesehen. Sie ist sonst immer im Garten.«
»Sie fühlt sich nicht wohl.«
»Ah, so ist das.« Die Matrone mit den gefärbten Haaren lachte breit. Ihr Gesicht wirkte in der Dunkelheit wie die Fratze aus einem Gruselkabinett.
James McMullogh hatte beschlossen, sich um die Frau nicht mehr zu kümmern. Er stieg ein und verfehlte zweimal das Zündschloss, so aufgeregt war er.
Als er es endlich geschafft hatte und der Motor ansprang, sah er, wie Mrs. Cavendish winkte. Für einen Moment war er drauf und dran, einfach Gas zu geben, dann riss er sich zusammen und kurbelte die Scheibe nach unten.
»Was ist denn noch?«
»Wenn Sie Ihre Frau sehen, bestellen Sie ihr schöne Grüße. Und sagen Sie ihr, dass wir bald alle kämen.«
James spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nur so.«
McMullogh schüttelte den Kopf, gab Gas und legte einen Kavaliersstart hin, über den er sich im Nachhinein ärgerte, weil es wie eine Flucht aussah.
***
Die Worte der Frau gingen James McMullogh auf dem Weg zum Friedhof nicht aus dem Kopf. Was hatte sie damit gemeint? Und vor allem: Wusste sie vielleicht mehr, als sie zugegeben hatte?
Alles wies darauf hin. Der Mann beschloss, noch vorsichtiger zu sein. Er fuhr nicht schnell, da er nicht auffallen wollte. Betrieb herrschte nicht mehr. Wenn man in Walham von Betrieb überhaupt reden konnte, dann waren es zumeist Fußgänger, die unterwegs waren. Autos waren fast eine Seltenheit. Die Ziele innerhalb eines Ortes konnte man samt und sonders zu Fuß erreichen.
McMullogh suchte und fand seine Zigaretten. Er klemmte sich eine zwischen die Lippen und rauchte hastig auf Lunge. Er hatte Angst und versuchte, sich durch den Qualm zu beruhigen.
In Walham brannten nur wenige Laternen. Meist vor den öffentlichen Gebäuden, zu denen auch die drei Pubs zählten. Die Scheinwerfer warfen ihre hellen Streifen auf die Straße, und in ihren Lichtbahnen tanzten unzählige Staubpartikel.
Fast hätte er die Abzweigung zum Friedhof verpasst, denn wer fuhr schon diesen alten Schleichweg, der zu einem Totenacker führte, den man vor Ewigkeiten stillgelegt hatte.
Um diesen Friedhof rankten sich zahlreiche Geschichten und Rätsel. Man sprach von dem Geist eines Gehängten, der dort spuken sollte und auch von gefährlichen Selbstmörder-Ecken. Die älteren Einwohner machten einen Bogen um das Gelände, neben dem noch die Mauern der alten romanischen Kirche standen.
Die Kirche wurde auch nicht mehr benutzt. Nach dem Mord an einem Küster – das Verbrechen schob man dem Geist in die Schuhe, und es war während der Messe passiert – hatte sich niemand mehr getraut, die Kirche zu betreten. Der Pfarrer hatte sämtliche christlichen Symbole entfernen lassen, das Kreuz war vom Turm montiert worden, und man hatte ein neues Gotteshaus gebaut. Dies allerdings am anderen Ende des Ortes.
So erzählte es die Überlieferung, und McMullogh kannte die Geschichte von seinen Stammtisch-Besuchen. Den Friedhof selbst hatte er schon mehrere Male betreten. Er gehörte zu den wenigen Zugezogenen, und Angst vor dem verwilderten Gelände hatte er nie gehabt. Im Gegenteil, dort konnte man herrlich und in Ruhe spazieren gehen, denn andere Menschen begegneten einem kaum.
Ausgerechnet hier wollte Gladys begraben werden. Eine Gänsehaut lief über den Rücken des Mannes, während er daran dachte, und sie blieb auch, als er das alte, hohe, zweiflügelige Eisentor im Licht der Scheinwerfer sah, das den Eingang des Friedhofs markierte. Der rechte Flügel stand offen!
James McMullogh stieß pfeifend den Atem aus, als er dies erkannte. Er schüttelte den Kopf, damit hätte er nicht gerechnet, und ein böser Verdacht keimte in seinem Innern hoch.
Sollte er vielleicht nicht der Einzige sein, der dem Friedhof in dieser Nacht oder an diesem Abend einen Besuch abstattete? War das ganze makabre Spiel vielleicht eine Falle für ihn, das irgendein unbekannter Regisseur inszeniert hatte?
Er stoppte und wollte den Motor schon ausstellen, als er es sich anders überlegte, den Wagen drehte und so hinstellte, dass er mit dem Heck zum Tor wies.
Dann stieg er aus. Ein wenig Wind war aufgekommen. Abendwind, der von den Bergen in das weite Tal hineinfuhr und Kühlung nach dem heißen Tag brachte.
Still war es nicht. Überall in den Büschen war ein geheimnisvolles Wispern und Zirpen zu hören. Keine menschlichen Laute oder Geräusche, die Tiere der Nacht stimmten ihr Abendkonzert an. Grillen und andere Insekten zirpten, und ihr Konzert – tagsüber kaum zu vernehmen – durchbrach die Stille der Nacht.
Der Boden war weich. James’ Schritte klangen gedämpft, als er um seinen Wagen herum und auf den offen stehenden Flügel des Tors zu schritt. Daneben blieb er stehen. Sein Blick glitt über den Hauptweg, der im Laufe der Jahre so sehr mit Unkraut zugewuchert war, dass James den Untergrund kaum erkennen konnte.
Verdächtige Personen konnte er nicht entdecken, so sehr er sich auch bemühte. Demnach blieb ihm nichts anderes übrig, als die Leiche zu holen.
Er öffnete die Heckklappe, sah zu, wie sie in die Höhe schwang und beugte sich in den Wagen. Es war zwar dunkel, aber im Wageninnern brannte die winzige Deckenlampe. Ihr Schein reichte aus, um erkennen zu können, dass sich das Gesicht der Toten verändert hatte. Noch schlimmer war es geworden, die Hitze hatte ihr sehr zu schaffen gemacht.
Es kostete den Mann Überwindung, die Tote auf seine Arme zu nehmen. Mit dem Kinn drückte er die Klappe zu, die schnackend wieder in das Schloss zurückfiel.
Zum zweiten Mal ging er den Weg auf das Tor zu. Diesmal allerdings beladen mit einer Leiche, deren Arme rechts und links des Körpers nach unten hingen und wie zwei Zeiger pendelten.
Es wurde für James McMullogh ein schwerer, makabrer Gang. Er durfte auch nicht darüber nachdenken, was er da vorhatte. Gedanken, die sich um dieses Thema drehten, hatte er ausgeschaltet und weit von sich gewiesen. Das Schicksal hatte brutal in sein Leben eingegriffen und einen einschneidenden Schnitt getan.
Er dachte kurz daran, wieso es kam, dass dieses alte Tor offen stand, doch sich genauer damit zu beschäftigen, kam ihm nicht in den Sinn. Er wollte seine Aufgabe endlich hinter sich bringen. Dabei wäre es besser gewesen, wenn er sich um das offen stehende Tor mehr Gedanken gemacht hätte.
So aber lief er mit seiner toten Frau dem Grauen direkt in die Arme. Über zweihundert Jahre war der Friedhof alt. Und seit genau zweihundert Jahren gehörte er zu den Geisterplätzen, die man lieber nicht aufsuchte.
Die Atmosphäre dieses alten, verwilderten Totenackers war in der Tat seltsam. Die Luft schien mit Schattenwesen gefüllt zu sein, die beim Atmen in den Körper eindrangen, in das Blut gerieten und ein ungutes Gefühl erzeugten.
Man betrat einfach eine andere Welt. Die Welt des Moders, der Vergänglichkeit, des Todes. Überall schien sein Sinnbild zu lauern. Der grinsende Sensenmann, der mit seiner Waffe hinter jedem Busch oder Baum stand, um zuzuschlagen, falls sich ihm jemand näherte.
Der Weg hinter dem Eingangstor war einmal breit gewesen, doch im Laufe der langen Jahre hatte sich das Unkraut ungemein stark vermehrt. Gras, Buschwerk, kleinere Bäume, darüber die großen, die ihre Äste und Zweige schützend vorstreckten, wobei sie sich gegenseitig berührten und ein Dach bildeten, das bis an das Ende des Wegs reichte.
Der Boden war weich, nachgiebig. Die Schritte federten, die Arme der Toten bewegten sich, wobei die Hände schon im hohen Gras verschwanden.
Lange Jahre hatte man auf diesem alten Friedhof die Toten begraben. Und das war auch zu sehen. Die Menschen von Walham hatten sich in den früheren Jahren an ein bestimmtes Schema gehalten. Sie hatten, wenn die Toten bestattet waren, die Grabsteine nicht aufrecht hingestellt, sondern sie schräg und flach auf die Erde gelegt, sodass sie wie gekippte Dachfenster wirkten.
Und seltsamerweise hatte die Natur um die Grabsteine herum einen Wachstumsstopp eingehalten. Die Steine lagen frei. Kein Unkraut bedeckte sie, und das Moos hatte seinen Weg kaum über die grauen Platten gefunden.
Sie waren so geblieben, wie man sie aufgestellt hatte. Ein Spiegelbild des vorletzten Jahrhunderts. Natürlich waren die Namen der Personen, die unter den Steinen begraben waren, nicht mehr zu lesen, aber das interessierte auch keinen. Hier stattete niemand den Toten einen Besuch ab.
Mit seiner makabren Last über der Schulter schritt der Vertreter weiter. Er atmete schwer und schnell. Das Gewicht auf seiner Schulter drückte. Die ineinander verfilzten Bäume und Büsche standen da wie eine dichte grüne Wand. Sie ließen kaum Wind durch, da musste schon ein Sturm kommen, um Kühlung zu bringen. Zudem hatten sie die Wärme auch gespeichert. Zusammen mit dem wilden Duft der Blüten und der Schwüle schien die Luft zu einem breiigen Etwas zu werden, das kaum noch zu atmen war.
James McMullogh verzog das Gesicht. Sein Mund stand offen. Pfeifend holte er Luft. Er hatte immer größere Schwierigkeiten, und es kostete ihn sehr viel Kraft, überhaupt auf den Beinen zu bleiben. Die Knie wollten nachgeben, sie zitterten, und mehr als einmal war er nahe daran, sich einfach fallen zu lassen.