Josses Tal - Angelika Rehse - E-Book

Josses Tal E-Book

Angelika Rehse

4,0

Beschreibung

Ein aufwühlendes Debütvon einer starken Stimme 1930: Der unehelich geborene Josef ist eine Schande für seinen Großvater und bekommt dies täglich zu ­spüren. Seine Kindheit ist geprägt von Angst und fehlender Nähe. Erst nach einem Umzug erfährt er in einer neuen Nachbarsfamilie Anerkennung und ­Zuneigung. Da ist vor allem Wilhelm, der ihn fördert und schützt, und Josefs Leben scheint sich endlich zum Guten zu ­wenden. Aber der arglose Junge ahnt nicht, dass ­hinter Wilhelms Freundlichkeit mehr steckt. Der aufstrebende SA-Mann formt Josef zu seinem ­ergebenen Helfer und benutzt ihn dazu, die ­Bewohner des Ortes ­auszuspionieren. Josef geht voller Stolz in ­dieser ­Mission auf. Doch dann erfährt er etwas, das sein bisheriges Leben aus den Fugen geraten lässt.

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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Gelesen und gehört dank Netgalley Die Geschichte beginnt in Norwegen wo Helen Josse in seinem einsamen Tal aufsucht um mehr über die Hintergründe des Todes ihrer Urgroßmutter zu erfahren. Sie wird in die einfache Hütte eingeladen und Josse/Joseph erzählt in mehreren Tagen die Geschichte seiner Kindheit, um die Hintergründe aufzuzeigen. Zurück in die 30er-Jahre, wo Joseph als uneheliches Kind mit unbekanntem Vater in einer lieblosen und gewalttätigen Familie aufwächst. Mit 5 entfliehen sie den Auswirkungen für ihren Ruf in einen kleinen Ort - und tatsächlich wird der 5jährige Junge direkt vor den Schlägen des Großvaters geschützt und gewinnt eine Mischung aus großem Bruder, Freund und fädenziehendem Manipulator. Ausgerechnet der SA-Mann des Ortes hält die Hand über ihm und lenkt sein Geschick und so verstrickt er sich immer tiefer in das braune Gewebe bis er eine unsägliche Sache über sich selbst erfährt... Die Geschichte hat mich gepackt und mitgenommen und obwohl Joseph als Kind ...
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Angelika Rehse

Josses Tal

„Die traurige Wahrheit ist, dass das Schlimmste von den Menschen begangen wird, die sich niemals dazu entscheiden, gut oder böse zu sein.“

Hannah Arendt

Inhalt

Juli 2004

Juli 1930

August 1930

April 1931

August 1931

Juli 1932

Oktober 1932

Mai 1933

Juli 1935

Juli 2004

Juli 1935

Juli 1935

September 1935

November 1935

Mai 1936

Juli 1936

August 1936

Juli 1937

Es war Anfang Juli

November 1937

Weihnachten 1937

Januar 1938

Mai 1938

Juli 2004

August 1938

Frühjahr 1939

September 1939

21. Dezember 1939

Juni 1940

September 1940

Oktober 1940

Sommer 1941

1942

August 1942

Juli 2004

August 1942

Dezember 1942

Mai 1943

Mai 1943

Juli 2004

Nachwort

Danksagung

Juli 2004

Die Bahnstrecke von Oslo nach Lillehammer lag in dichten Nebel gehüllt.

Helen starrte aus dem Fenster und hoffte, dass das undurchsichtige Grau kein trüber Vorbote war. Denn Helen war nach Norwegen gekommen, um Klarheit zu finden. Klarheit über das, was vor vielen Jahrzehnten ihrer Familie widerfahren war.

Gedankenverloren sah sie auf die vergilbte Ansichtskarte, die sie vor Monaten aus der Familienchronik gelöst hatte. Auf der einen Seite war der Besseggen zu sehen, ein mächtiger Bergrücken im Nationalpark Jotunheimen. Auf der anderen standen, wie im Kontrast zu der imposanten Landschaft, nur wenige Worte geschrieben – klein und eng.

Habe den Krieg überlebt. Den Kummer, den ich im Kreis verursacht habe, bedaure ich zutiefst. J. T.

Abgestempelt war die Karte am 20. September 1945 in Lillehammer, adressiert an den Bürgermeister im schlesischen Reichenbach, dem Geburtsort ihrer Urgroßmutter.

J. T., Josef Tomulka, so hatte es Helen von ihrer Mutter erfahren, musste auf irgendeine Art und Weise für den Tod ihrer Urgroßmutter Else verantwortlich gewesen sein. Doch was genau damals vorgefallen war, hatte ihr niemand sagen können. Und um das herauszufinden, war sie hier.

Es hatte Helen einiges an Energie und Zeit gekostet, diesen Josef ausfindig zu machen, der in einem abgelegenen Tal am Rande des Nationalparks ein Eremitendasein führte. Kontakt zu ihm war ihr bisher nur über die Betreiberin der Hüttenanlage in Randsverk möglich gewesen.

Die Telefongespräche mit Myra Paulsen waren stets kurz gewesen. Ja, Josef Tomulka lebt hier. Wir nennen ihn Josse. Nein, ans Telefon holen kann ich ihn nicht. Ich werde es ihm ausrichten. – Lange Pause. – Ja, er ist bereit, sich mit Ihnen zu treffen. Mit ihm telefonieren? Wie gesagt, das geht nicht. Da musst du dich schon auf den Weg zu ihm machen. Übrigens – ein kurzes Räuspern – wir siezen uns im Norden nicht.

Der Weg zu Josse führte Helen durch einen allmählich dichter werdenden Kiefernwald. Sie genoss seinen würzigen Duft und sah erwartungsvoll auf die Uhr. Laut Myra müssten es nur noch wenige Minuten bis zu dem mit ihm vereinbarten Treffpunkt sein.

„Du bist zu weit gegangen“, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen.

Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Wie hatte sie ihn nur übersehen können? Keine zwei Schritte von ihr entfernt saß er – saß Josse auf einem Baumstumpf, nickte ihr zu und erhob sich. Er war ein wenig größer als sie, ein drahtiger, wettergegerbter alter Mann, der sie mit müden Augen taxierte.

„Sie …, du bist Josse, nicht wahr? Ich bin …“

„Helen. Ich weiß“, sagte er, streckte ihr die Hand entgegen und zeigte mit dem Kopf zur Seite.

„Zu mir führt ab jetzt nur ein Trampelpfad. Bleib am besten direkt hinter mir, je weniger plattgetreten wird, desto besser.“

Darauf bedacht, es ihm rechtzumachen, setzte Helen konzentriert einen Fuß vor den anderen und wäre, als er ohne Ankündigung plötzlich stehen blieb, beinahe in ihn hineingelaufen. „Willkommen in Jossetal“, sagte er lakonisch und sah sie verstohlen an.

Umgeben von einem sanft ansteigenden Wall lag vor ihnen das Tal, das seinen Namen trug. Überall blühte es in den kräftigsten Farben, als wolle das Land beweisen, wie schön es war – jetzt, wo sich der Nebel verzogen hatte. Eng an den gegenüberliegenden Wall geschmiegt lag Josses Blockbohlenhütte, gestrichen im satten Grün der umliegenden Wiesen.

„Es ist nett hier“, sagte Helen und wurde rot. Nett wurde all dem hier nicht gerecht. Doch Josse schien es nicht zu stören. Er nickte bloß, begann gemächlich den Hang hinabzustiefeln und hielt dabei seine Prinz-Heinrich-Mütze so fest, als hätte er Sorge, der Wind könne sie ihm vom Kopf wehen.

„Sei so gut und pass auf, wo du hintrittst.“

‚Zerstörungen jeder Art müssen ihm zuwider sein, selbst, wenn es um Pflanzen geht‘, dachte Helen und folgte ihm auf dem schmalen Pfad, der neben quadratisch angelegten Gemüsebeeten zu seinem Zuhause führte.

„Gäste sind selten hier, und irgendwelche Etiketten gibt es bei mir nicht. Also warte nicht auf irgendwas Gestelztes wie Nimm Platz, Komm rein oder dergleichen.“

Während Helen sich noch fragte, ob das jetzt eine Aufforderung war, einen Blick in seine Hütte zu werfen oder nicht, nahm sie wahr, dass Josse sich räusperte und sie unverwandt ansah.

„Könntest du dir vorstellen, hier zu übernachten?“, fragte er leise. „Zwei, drei Tage?“

„Übernachten? Ich meine …“ Helen sah an sich herunter.

„Manchmal kommt Myra zu Besuch, von ihr liegen immer ein paar Sachen in meinem Schrank. Vielleicht sind sie dir ein bisschen zu groß, aber … an einem Tag ist die Geschichte nicht erzählt.“ Josse sah hinauf zur Sonne, eine Uhr zur Zeitbestimmung brauchte er nicht. „Außerdem muss ich mich jetzt erst einmal um meine Kaninchen kümmern. Wenn du Hunger hast, drinnen steht was zum Essen auf dem Tisch.“

Obwohl Helen es nach wie vor sonderbar fand, einfach allein hineinzugehen, schlug ihre Unsicherheit, kaum dass sie die Türschwelle übertreten hatte, in Erstaunen und Neugier um. Auch hier drinnen sah Josses Zuhause aus wie die perfekte Abbildung in einem Reisekatalog: Tassen, Teller, das gesamte Geschirr, alles war akribisch aufgereiht, gruppiert und sortiert, die Möbel mustergültig aufeinander abgestimmt – aber alles war steif und sachlich, als sei …

„Und, wie gefällt es dir?“

Helen zuckte zusammen. Heute schon zum zweiten Mal. „Außergewöhnlich“, erwiderte sie und drehte sich zu ihm um, „nur, was ich vermisse …, es gibt keine Fotos von dir, keine Erinnerungsstücke, keine …“

„Ich stell nicht gern die Vergangenheit zur Schau“, sagte Josse rau, „aber deine Fragen werde ich alle beantworten. Und die ganze erbärmliche Geschichte erzählen. Ich habe nur eine Bedingung: Alles, was ich dir sage, bleibt unter uns, ja? Alles, ohne Ausnahme.“

Helen schluckte. „Natürlich“, sagte sie mit belegter Stimme, „ganz, wie du möchtest.“

Josse sah sie durchdringend an. „Ich hoffe, du hältst dein Wort.“

Helen schwieg und wartete. Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, die passenden Worte zu finden.

„Die Schuld, die ich auf mich geladen hab, … wiedergutmachen kann ich sie nicht. Aber vielleicht kann ich erklären, wie es dazu kam.“

„Manche Dinge muss man aussprechen, um ihnen die Macht zu nehmen. Ich bin nicht hier, um dich zu verurteilen.“

Josse holte tief Luft. So tief, als hoffe er, die Geschichte mit einem einzigen Atemzug erzählen zu können. Doch dann schloss er die Augen und verzog gequält sein Gesicht. „Hast du schon mal versucht, etwas zu Papier zu bringen, und nicht gewusst, wie du anfangen sollst? Ich finde nämlich keine passende Einleitung zu all dem, zu mir, hier.“ Er presste seine Lippen zusammen und sah Helen nachdenklich an. „Lass mich noch eine Nacht drüber schlafen“, sagte er leise. „Und du, du solltest dir die Zeit nehmen, dich darauf vorzubereiten.“

‚Darauf vorbereiten? Auf seine Beichte? Wie denn?‘ Helen lag hellwach in dem Bett, das Josse ihr wie selbstverständlich überlassen hatte, starrte an die Decke und fragte sich, wann sie wohl zur Ruhe kommen würde, so angespannt und nervös, wie sie war.

Über dem Bett war eine kleine Holztafel angebracht. Schalom stand darauf, in geschwungenen, eingebrannten Buchstaben.

„Schalom“, murmelte Helen und fiel irgendwann in der nicht dunkel werdenden Nacht in einen unruhigen Schlaf. Zum Frühstück gab es frisches Brot mit Milch und Käse von der Ziege und … Schweigen. Josse aß mit gesenktem Kopf und machte keine Anstalten, es zu brechen.

Helen ging schließlich auf die Veranda, wartete und lauschte. Auch hier draußen umfing sie für einen Moment nichts anderes als das Schweigen der Natur. Außerdem schien hier in Josses Tal die Zeit langsamer zu vergehen.

„So!“ Dieses Mal erschreckte Josse sie nicht. Als er sich neben sie setzte, war fast eine Stunde vergangen. „Jetzt können wir anfangen. Was mich von Reichenbach hierhergetrieben hat“, fuhr er mit Bedacht fort, „ist keine schöne Geschichte. Da sind einige sehr unansehnliche Flecken drin.“

„Alle selbst fabriziert oder auch welche von anderen?“

„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit hässlichen Brauntönen bemalt.“

Josse holte tief Luft und sah zum Himmel hinauf, als könne er den passenden Anfang für seine Geschichte in den Wolken lesen.

„Allein schon meine Kindheit … sie war ein Kapitel für sich.“

Juli 1930

Josef saß auf der Bordsteinkante, weinte und rieb sich den Nacken. Wenn Großvater zuschlug, tat es immer so verdammt weh.

„Er ist doch erst fünf“, hörte er seine Mutter sagen – schwach und leise.

Josef hörte genau, dass sie traurig war. Er hätte gern seine Arme um sie geschlungen und sie getröstet, aber das wollte sie ja nicht. Heute nicht, gestern nicht und morgen nicht. Vor kurzem, da hatte er mal wieder auf ihrem Schoß sitzen dürfen. Vor ein paar Wochen, als sie mit ihm zum Arzt gegangen war, weil der ihm in die Ohren sehen musste. Daheim durfte er das nie – bei ihr auf dem Schoß sitzen.

Doktor Jeschke hatte ihn nach der Untersuchung lange angesehen, ihm über den Kopf gestreichelt, viele Male, und ihm dann ein Sahnebonbon geschenkt.

„Sieh zu, dass du kein Wasser in die Ohren kriegst, junger Mann.“ Der Doktor hatte ihm aufmunternd zugenickt, sich danach aber wütend zu seiner Mutter umgedreht und war laut geworden.

„Der Josef ist nicht gefallen. Der hat eine Ohrfeige bekommen, meine liebe Helene. Sag deinem Vater, dass er sich zusammenreißen soll. Diesmal hat’s ihm das Trommelfell zerrissen.“

Helene hatte sich die Hand vors Gesicht gehalten und geweint.

„Irgendwann kommt der Tag, dass so was angezeigt wird. Hoffentlich noch zu meinen Lebzeiten.“ Doktor Jeschke war ärgerlich auf und ab gegangen. „Er ist nun einmal da, der kleine Kerl, und er selbst kann ja wohl am wenigsten dafür.“

„Wenn wir umgezogen sind, wird alles besser. Dann sagen wir, dass sein Vater beim Grubenunglück ums Leben gekommen ist. Dann hat alles ein Ende. Das ist besser als unehelich.“

„So ein Blödsinn. Spätestens bei seiner Einschulung muss seine Geburtsurkunde auf den Tisch. Name des Vaters. Gibt die Mutter nicht an. Glaubst du wirklich, das sickert nicht durch? Und was dann? Meine Güte, uneheliche Kinder hat es zu allen Zeiten gegeben. Das Problem ist nicht der Junge. Das Problem ist vor allem dein Vater, der so ein Drama daraus macht. Natürlich hat er sich das alles anders vorgestellt. Klar, dass er seine Tochter anders aus Breslau zurückerwartet hat. Rumstolziert und angegeben wie ein Pfau hat er mit dir. Nein, meine Helene ist nicht in Stellung. Eine Stellung hat sie da. Sie ist doch kein Dienstmädchen. Die rechte Hand der gnädigen Frau ist sie! Wenn nur diese unglückselige Mischung nicht gewesen wäre. Dein Vater und dieser scheinheilige Pfaffe, den sie nicht mal in die Nähe der Himmelspforte lassen werden!“

Josef wischte sich die Tränen ab und drückte die Handballen so lange gegen seine Augen, bis er rote und grüne Schleier sah. Manchmal waren es nur kleine, schwarze Bäume, deren Zweige so dünn wie Mutters Nähgarn waren. Manchmal waren es große, bunte, pulsierende Flecken und Ringe. Schöne, bunte Bilder waren es, die ihm keiner nehmen konnte, die ihm ganz allein gehörten, die immer wieder anders, immer wieder neu waren. Bilder, an denen er Freude hatte und an denen er sich nicht sattsehen konnte.

„Lass das sein“, hörte er seine Großmutter poltern, „wie oft soll ich dir noch sagen, dass man davon blind wird.“

Frieda Tomulka griff in Josefs Haare und zog ihn mit einem einzigen Ruck auf die Füße.

„Die schöne Vase“, jammerte sie, „echtes Meißner Porzellan. Und du lässt sie einfach fallen. Nu mach schon, geh rein und hol die Kehrschaufel.“

Sie versetzte ihm einen kräftigen Hieb in den Rücken, und Josef stolperte zurück ins Haus.

Dass er nicht so rumstehen solle, hatte sie kurz vorher zu ihm gesagt, dass er sich gefälligst nützlich machen und die leichten Sachen rausbringen solle. Die Vase war leicht gewesen. Und zu groß war sie auch nicht.

Ängstlich drückte sich Josef an die Wand und stellte sich vor, dass er einfach durch sie hindurchglitt. In Sicherheit. Doch die Wand half ihm nicht.

„Zu nischte biste zu gebrauchen, zu rein gar nichts“, fauchte Fritz Tomulka, der auf seinem Rücken den großen Ohrensessel nach draußen schleppte. Er blieb unmittelbar vor seinem Enkel stehen. „Dieser ganze verdammte Umzug. Und alles nur wegen dir und deiner Mutter.“

„Aber wenn se mich doch umgerannt haben.“

„Wer? Was?“ Fritz Tomulka bückte sich noch ein wenig tiefer zu Josef herab und funkelte ihn wütend an.

„Der Hund von Werners und ihre Katze. Gejagt habn se sich. Die Vase, … ich war vorsichtig damit.“

„Ausreden hast du jedenfalls schon genug für dein Alter. Hast du keine Augen im Kopf? Hast du nich gesehn, dass die zerbrechlichen Sachen in Kisten kommen?“

Josef schüttelte sich und zog ängstlich den Kopf ein. Er schüttelte sich immer, wenn jemand mit ihm schimpfte, und besonders dann, wenn es der Großvater war. Großvater, der dieses Schütteln jedes Mal missverstand.

„Was?“, hatte der Großvater erst wieder beim letzten Mal gebrüllt. „Du sagst auch noch nein!“

Josef war seinem Hieb ausgewichen und mit dem Kopf ans Küchenbüffet geknallt. Tagelang hatte er Kopfschmerzen gehabt. Doch den dicken Kopfverband, den hatte er gemocht, denn als er einkaufen gegangen war, hatte er vom Bäcker ein Rosinenbrötchen und vom Kaufmann Honigbonbons bekommen. Platzwundenheiler hatten sie sie genannt.

‚Ach ja‘, kam es Josef in den Sinn, ‚als die genäht wurde, da habe ich auch bei der Mutter auf dem Schoß sitzen dürfen, und hinterher hat sie mir Schokolade gekauft und gesagt, dass ich das auf gar keinen Fall dem Großvater sagen darf.‘

Doch heute blieb Josef verschont, heute musste der Großvater den Sessel festhalten und hatte keine Hand frei. Josef holte Kehrschaufel und Besen, blieb für einen Moment stehen und sah seiner Mutter zu, wie sie eine Kaffeetasse in Zeitungspapier wickelte und in einen Karton legte.

„Nimm den Eimer mit“, sagte sie und schniefte. „Aber tu vorher den Wischlumpen raus. Fehlt nur noch, dass du die Scherben auf ihn schmeißt.“

Josef legte den Lappen auf den Boden, sah erst ihn, dann seine Mutter an, und runzelte die Stirn.

„Muttel?“, fragte er und musterte sie eindringlich. „Warum sagt der Großvater eigentlich immer, dass du ein rumgewischtes Frauenzimmer bist?“

Helene Tomulka bekam einen roten Kopf und schloss die Augen. Josef legte seinen Kopf auf die Seite und sah prüfend an ihr hoch. Mutter war klein und zierlich, jedenfalls kleiner als die Großmutter, und wenn sie lächelte – das tat sie eigentlich nur hin und wieder, meistens nur dann, wenn sie las –, dann strahlten ihre braunen Augen besonders schön. Josef konnte einfach nicht begreifen, was seine Mutter mit so einem hässlichen Wischlappen zu tun haben sollte.

Zu ihren Füßen sitzen dürfen, wenn sie las, und dabei mit Bauklötzen spielen, das war Josefs größte Freude. Manchmal umrundete er mit seinem Holzauto ihren Sessel, kroch von hinten an ihm hoch und ließ seine Nase in ihrem großen Dutt verschwinden. Sie schien das zu mögen, denn sie hatte Josef deswegen nie ausgeschimpft oder weggejagt – höchstens ins Bett geschickt, wenn es schon spät war.

„Das verstehst du nicht“, sagte Helene Tomulka, sah ihren Sohn nicht an und starrte in die Umzugskiste. „Da musst de dich verhört haben“, fügte sie rasch hinzu und schickte ihn mit einer Handbewegung nach draußen.

‚Frauenzimmer, rumwischen‘, grübelte Josef und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen – so lange, bis das Haus leer geräumt und der Lastwagen vollgepackt war.

Es war Mittag, als sich Fritz Tomulka mit versteinertem Gesicht hinter das Steuerrad setzte, neben ihm seine still in sich hineinweinende Frau, rechts an die Tür gequetscht seine beschämt nach unten blickende Tochter.

Die alte Frau Poppelwitz, die zwei Häuser weiter wohnte, war die Einzige, die zum Auf-Wiedersehen-Sagen gekommen war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reichte Josef, der hinten auf der offenen Ladefläche eingepfercht zwischen dem Hausrat saß, ein mächtiges Stück Streuselkuchen hinauf.

„Danke!“ Josef strahlte, und Frau Poppelwitz fragte sich, ob seine hochroten Wangen Zeichen der Aufregung oder, wie so oft, mal wieder das Resultat von Backpfeifen waren, die ihm sein Großvater verpasst hatte.

„Es ist ein Opel, hat der Großvater gesagt. Er heißt Blitz, und er kann über 60 Kilometer in der Stunde fahren.“

„Oh wei, oh wei. So schnell?“ Frau Poppelwitz riss die Augen auf und schlug die Hände vors Gesicht. „Dann halt dich da oben bloß gut fest.“

Als sich der Wagen langsam in Bewegung setzte und die schmale Straße hinunterzuholpern begann, rief sie ein leises „Fahr mit Gott“ hinter ihm her. Ihr Segenswunsch galt einzig und allein dem Jungen, weder der Mutter noch der Großmutter und schon gar nicht dem Alten.

Und Josef freute sich. Erstens, weil die Sonne schien, und zweitens, weil in einem Haus nach dem anderen die Gardinen vor den Fenstern weggezogen wurden. So viel Aufmerksamkeit war ihnen schon lange nicht zuteilgeworden, und er winkte begeistert zurück, mit beiden Armen. Fast hätte er dabei den Kuchen und das Gleichgewicht verloren, denn der alte Tomulka war abrupt aufs Gaspedal getreten – trotz des Kopfsteinpflasters. Es war ihm egal, ob und wie sehr sein Enkel dabei durchgeschüttelt wurde.

Mit erhobenem Kopf und ausdrucksloser Mine versuchte Fritz Tomulka, seinen inneren Kampf, seine Wut zu verbergen. Weder nach rechts oder links blickend trieb er den fast fabrikneuen Pritschenwagen, den ihm die Werksleitung der Gleiwitzer Hütte für den Umzug zur Verfügung gestellt hatte, aus dem Dorf hinaus. Vergebens hatten sie versucht, ihn umzustimmen, doch wenigstens in der Nähe zu bleiben, wenn er schon glaubte, dass mit dem Wegzug aus Ostroppa alles besser werden würde.

Seit seinem 14. Lebensjahr hatte Fritz Tomulka in der Kunstgussschmiede gearbeitet und sich bald auf das Hämmern und Gravieren von Plaketten und Wappen spezialisiert. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass seine Stücke besonders gediegen waren, und nicht wenige Auftraggeber hatten ausdrücklich eine von ihm angefertigte Arbeit verlangt. Ruhig, besonnen, hilfsbereit und freundlich war er gewesen – bis zu jenem Tag, als seine Tochter aus Breslau zurückkehrte, im Gepäck einen Haufen neue Kleider und die Nachricht, dass sie ein Kind erwartete.

Nein, den Vater wollte sie nicht nennen. Nein, Unterhalt könne sie von ihm nicht erwarten. Nein, die Leute, bei denen sie in Stellung war, hatten ihr nicht gekündigt, sie sei von selber gegangen. Ja, sie habe es auch schon dem Alfred gesagt, dem jungen Mann aus dem Dorf, der ein Auge auf sie geworfen hatte, und nein, sie wüsste nicht, was nun werden würde.

An diesem Tag hatte Fritz Tomulka seine Tochter zum ersten Mal geschlagen. Zwanzig war sie da gewesen. Sein Ein und Alles war sie bis dahin gewesen, sein ganzer Stolz. Seine Welt war unheilbar zerrissen.

Als am selben Abend Alfred gekommen war, um Helene zu einem Spaziergang abzuholen, hatte Fritz Tomulka einen Streit vom Zaun gebrochen und ihm unterstellt, dass er auf diese Weise ja ein ideales Feld zum Austoben habe, da für die Konsequenzen ja schon ein anderer gesorgt hätte.

Doch Alfred hatte sich nicht beirren lassen, war wiedergekommen, hatte dabei jedes Mal versichert, dass er sie trotzdem heiraten wolle, und schließlich hatte Fritz Tomulka nachgegeben. Es kehrte wieder Ruhe und Frieden ein in Helenes Elternhaus, und Fritz Tomulka fing sogar an, sich auf sein Enkelkind zu freuen.

Drei Tage nach dem Aufgebot war der Pfarrer gekommen und hatte Helene und ihren Eltern eine Moralpredigt gehalten, auf sie eingeredet, ihnen Vorhaltungen gemacht und sie beschworen, von dem Alfred doch nicht ein derart großes Opfer abzuverlangen. Eine befleckte Frau vor den Altar zu führen, ob sie sich darüber wirklich im Klaren wären? Und überhaupt, er würde sich sehr schwertun, sie zu vermählen, und wenn, würde er die Trauung nur in aller Stille im Pfarrhaus vollziehen und Helene dürfe kein weißes, sondern müsse ein schwarzes Kleid tragen. Eine fröhliche Hochzeitsfeier würde dem guten Alfred entgehen, und jeden Tag hätte er mit dem Wissen zu leben, dass das Kind in ihr, das er großziehen und ernähren müsse, nicht sein eigen Fleisch und Blut sei. Was für eine Zumutung das doch alles wäre.

„Nein“, hatte Pfarrer Gollberg immer wieder gesagt, „so eine Ehe steht unter keinem guten Stern. Willst du etwa, dass er eines Tages wegen dieser Last das Saufen anfängt? Gib ihn frei. Sag ihm einfach, dass du ihn nicht willst.“

Helene hatte geweint. „Aber das wäre gelogen … lügen ist doch Unrecht!“

„Das kleinere in solch einem Fall.“ Der Pfarrer hatte die Augen verdreht und beschwörend die Hände gehoben. „Glaubst du denn etwa, ich würde dir zu irgendetwas raten, womit der Himmel nicht einverstanden ist?“

Helene hatte also Ja und Amen gesagt, unter Tränen, und den Pfarrer danach auf Knien um Vergebung bitten müssen – ihn, der das Haus erst verlassen hatte, nachdem sie schon lange in ihre Kammer gegangen war.

Folgenden Beschluss hatte der Pfarrer ihren Eltern mitgeteilt: Schwarze Kleider müsse sie von nun an tragen, ein ganzes Jahr lang, höchstens mal ein dunkelblaues an den Festtagen wie Ostern, Weihnachten, Mariä Himmelfahrt oder Fronleichnam. Das Kind, wenn es da wäre, würde eine Haustaufe bekommen. Nein, in die Kirche, da würde er es nicht hineinlassen. Nach der Vollendung seines ersten Lebensjahres erst dürfe auch wieder die Mutter die Messe besuchen – selbstverständlich hätte sie hinten zu sitzen. Dass sie bis dahin auch von allen anderen Festen und Versammlungen in der Gemeinde ausgeschlossen wäre, verstünde sich von selbst.

Nein, Helene verstand diese Form der Buße nicht. Verstand nicht, warum diesem Pfarrer ihre Eltern und alle anderen Leute so ergeben waren. Sie verstand nicht, warum er solch einen Einfluss, solch eine Macht auf seine Gemeindemitglieder ausüben konnte, obwohl doch jeder wusste, dass er Abend für Abend zu seiner Haushälterin ins Bett kroch. Ihre Vorgängerin, die war von heute auf morgen ausgezogen, und man munkelte, dass sie zuvor bei der alten Muschnern, die in einer alten Klitsche am Rande des Dorfes lebte, abgetrieben habe und seitdem im Niederschlesischen einem Fabrikanten den Haushalt führen würde.

Helene war überhaupt nicht mehr in die Kirche gegangen. Der Herr Pfarrer, der sonst immer die Straßenseite gewechselt hatte, wenn er Helene auf sich hatte zukommen sehen, hatte deswegen zuerst mit den Eltern gesprochen und Helene schließlich in aller Öffentlichkeit vor dem Brunnen auf dem kleinen Dorfplatz zur Rede gestellt. Sie hatte ihn ausreden lassen und dann auf die Pflastersteine gezeigt. „Der, der ohne Sünde ist, Herr Pfarrer, der werfe den ersten Stein“, hatte sie ruhig, doch laut und vernehmlich, gesagt und war noch einen Schritt näher an den Brunnen herangetreten. „So sagt man doch, nicht wahr? Und ich denke, dass es für Ihre Gemeinde besser wäre, wenn Sie mitsamt Ihrer ganzen Scheinheiligkeit mit einem besonders dicken um Ihren Hals hier drin verschwinden würden.“

Die Leute, die mit offenstehendem Mund Zeuge dieses Szenarios geworden waren, hatten noch gesehen, dass sich die Helene erst bekreuzigt, ihm danach vor die Füße gespuckt hatte und erhobenen Hauptes nach Hause gegangen war.

Der Pfarrer hatte ihr eine ganze Weile hinterhergestarrt und sich lange nicht gerührt. In der darauffolgenden Nacht bekam er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholte. Er wurde zwei Wochen später nahezu sang- und klanglos zu Verwandten gebracht, die irgendwo in der Nähe von Oppeln wohnten, und dort soll er bald darauf verstorben sein.

Ostroppa lag hinter ihnen. Josef kuschelte sich an die aufgestellten Matratzen und fragte sich, warum Großvater die Mutter auch mit diesen Dingern verglich. „Das hat man eben davon, wenn man zur Großstadtmatratze geworden ist“, hatte er erst wieder letzte Woche seine Tochter angefaucht. Diesmal war sie nicht weinend in ihre Kammer gelaufen, diesmal hatte sie ihm stumm ins Gesicht gesehen, sich umgedreht und ihn stehengelassen.

Am selben Abend noch, Mutter und Tochter saßen ausnahmsweise einmal friedlich nebeneinander, hörte Josef seine Mutter etwas sagen, das er anfangs ebenso wenig einzuordnen wusste. Es war nur der Klang ihrer Stimme gewesen, die ihn aufhorchen ließ.

„Weißt du noch“, hatte sie zur Großmutter gesagt und ihr Strickzeug in den Schoß gelegt, „wie froh ich damals war, als ich aus diesem kratzigen Wollmantel herausgewachsen war und du ihn im hohen Bogen auf den durch die Straße schleichenden Wagen des Lumpensammlers geworfen hast? Wie er auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist? In Dorotheenthal die Vergangenheit einfach verschwinden lassen …“

Über das Gesicht der Großmutter war ein leichtes Lächeln gehuscht. Das erste seit langem.

Nun wird alles gut. Josef riss beide Arme hoch und schmetterte den Bäumen rechts und links neben der Chaussee ein lautes Hurra entgegen.

Josef mochte dieses Dorotheenthal. Auf Anhieb. Dreizehn kleine Häuser, alle auf derselben Seite, und das, vor dem sie jetzt stehengeblieben waren, lag mittendrin.

Drei Stunden waren sie unterwegs gewesen. Josef hatte sich nicht sattsehen können an der vorbeiziehenden Landschaft, hatte sich so sehr gefreut über all die, die ihm vom Straßenrand oder von den Feldern her zugewinkt hatten, und nun, kaum dass sie ihr Ziel erreicht hatten … er konnte sein Glück nicht fassen.

Kaum, dass der Großvater den Wagen vor ihr neues Zuhause gelenkt hatte, kaum, dass er den Motor abgestellt hatte, kaum, dass er aus dem Führerhaus geklettert war, sah Josef sie auch schon kommen – die neuen Nachbarn, einen nach dem anderen durch das Tor spazieren.

„Herzlich willkommen!“, riefen sie, dass sie sich freuten, dass ihr kleines Dorf nun wieder komplett sei. Mit anpacken wollten sie, brachten Kaffee, Kuchen und Butterbrote mit und waren so guter Laune.

Gute Laune, die mit einem Handstreich – mit einer schallenden Ohrfeige von Josefs Großvater, ausgeteilt an seinen Enkel, der sich freudestrahlend eines der ihm vorgehaltenen Wurstbrote greifen wollte, ein jähes Ende fand. Und dann hat er den Klinkes, den Reimanns, den Steiners und wie sie alle hießen, gesagt, dass seine Familie auch ohne sie zurechtkäme und sie bestens versorgt seien.

Ganz verlegen waren die Nachbarn gewesen, haben was von er ist wohl von der weiten Fahrt a bissla überdreht gesagt, haben Kaffeekannen, Kuchen und Wurstschnitten auf den Gartentisch gestellt und sind gegangen. Und da ist der alte Tomulka völlig aus der Haut gefahren.

„Bloß, weil meine Tochter keinen Mann nich hat, haben wir trotzdem alles, was wir brauchen!“, brüllte er ihnen hinterher, zog seinen Enkelsohn rüde von der Ladefläche herunter und stellte ihn unsanft auf den Boden.

Der Teller mit dem Kuchen stand Josef am nächsten, und ehe er von seinem Großvater erneut daran gehindert werden konnte, griff er nach zwei Stücken und brachte sich mit ihnen hinter dem Auto in Sicherheit. Wenn es schon mal welchen gab, dann – so hatte ihn die Erfahrung gelehrt – durfte er nicht lange fackeln. Da hieß es zugreifen. Außerdem knurrte ihm der Magen. Auch diesmal war das Stück, das er in sich hineinstopfte, viel zu groß. Ihm war nicht zum ersten Mal ein Bissen im Hals steckengeblieben. Verzweifelt rang er nach Luft und stolperte aus seiner Deckung hervor. Nun wären ihm ein, zwei kräftige Schläge auf den Rücken sogar ganz recht. Lange darauf warten musste er nicht.

„Du dummes Luder!“, hörte er den Großvater brüllen, und Josef betrachtete halb wehmütig, halb erleichtert die vor ihm im Gras liegenden Brocken. Der nächste Hieb machte, dass Josefs Kopf fast den Boden berührte. Instinktiv hob er die Arme, umklammerte schützend sein Genick und ließ sich ins Gras fallen, rollte sich zusammen und hoffte inständig, dass er sich zusammenreißen könne. Er wusste aus Erfahrung, dass es eher ein Ende geben würde, wenn er Großvaters Dresche klag- und reglos ertrug.

„Lassen Sie das gefälligst bleiben!“

Josef drehte leicht seinen Kopf, schielte nach oben und sah vor seinem Großvater einen jungen Mann stehen.

„Sie werden das Kind nicht mehr schlagen“, sagte er scharf, hielt die Handgelenke von Fritz Tomulka fest umklammert und drängte ihn Schritt für Schritt zurück. „Sie werden nicht weiter auf ihn eindreschen wie auf einen kleinen, nichtsnutzigen Ju…“

Der junge Mann war kräftig, einen Kopf größer als Fritz Tomulka, er trug eine hellbraune Uniform und, was Josef besonders faszinierte, an seinem linken Arm ein männerhandbreites rotes Band mit einem eigenartigen schwarzen Zeichen darauf.

„Sie haben mir gar nichts zu sagen. Lassen Sie mich augenblicklich los!“, blaffte Fritz Tomulka zurück – zum Erstaunen seines Enkels von Wort zu Wort ein wenig leiser statt lauter werdend.

Im Hauseingang standen Frieda und Helene Tomulka mit offenem Mund und rührten sich nicht.

„Ich bin nicht oft hier. Bei meinen Eltern, mein ich.“ Der Mann gab Fritz Tomulkas Arme frei, rückte aber keinen Zentimeter von ihm ab. „Aber ich werd ihnen sagen, dass sie ein Auge auf Sie und den Jungen werfen sollen. Wenn so was noch mal vorkommt, dann wird das Konsequenzen für Sie haben, verstanden?“

Der Mann in Uniform half Josef auf die Beine, nahm ihn wie selbstverständlich auf den Arm, ging mit forschen Schritten zu den verschüchtert dreinblickenden Frauen und schlug die Hacken zusammen.

„Reckzügel, Wilhelm Reckzügel“, stellte er sich vor und tätschelte dabei Josefs Wange. „Die Partei hat ein Herz für Kinder. Die Zukunft Deutschlands ruht in Jungen wie diesem.“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, putzte Josef die Nase und sah Helene mit leicht herabgezogenen Mundwinkeln an. „Und wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, sind Sie also die Mutter ohne Mann.“

Helene wurde rot und sah zu Boden. „Er ist bei einem Grubenunglück umgekommen. Bevor wir heiraten konnten“, stammelte sie.

„Da hab ich aber Glück gehabt“, sagte Wilhelm Reckzügel und nickte lächelnd auf sie herab. „Ich meine, dass meine Eltern noch vor meiner Geburt getraut wurden.“ Er sah an sich herunter und lachte leise. „Keine zwei Monate später, und ich war da.“

Fritz Tomulka hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt und starrte mit zusammengekniffenen Lippen zu ihnen hinüber.

„Also, wie gesagt, ich heiße Reckzügel. Wilhelm, wie mein Vater. Wir fangen alle mit W an. Mein Bruder heißt Werner und meine Schwester Waltraud. Nur meine Mutter tanzt aus der Reihe, die heißt Lotte.“

Wilhelm Reckzügel nahm wieder Haltung an und sah über seine Schulter. „Irgendwie ist anscheinend immer einer da, der aus der Reihe tanzen muss.“

Josef sah mit weit aufgerissenen Augen zwischen ihm und seinem Großvater hin und her. Dieser Herr Reckzügel, der ihn noch immer auf dem Arm hielt, musste ein sehr wichtiger Mann sein. So ein wichtiger wie der Herr Doktor oder die Polizei. Nur, dass die Uniform von Polizisten grau und nicht braun war.

„Ich werde ihn mitnehmen“, sagte Reckzügel bestimmt. „Wie ich sehe, ist der Ihnen bei der Arbeit hier sowieso im Weg. Sobald sein Schlafplatz fertig ist, können Sie ihn ja bei uns abholen. Hausnummer dreizehn. Das ist das letzte hier in der Straße.“

Helene Tomulka nickte beklommen, ihre Mutter ging wortlos ins Haus, und der alte Tomulka machte sich auf der Ladefläche des Wagens zu schaffen.

„Und jetzt im Galopp“, sagte Wilhelm Reckzügel, hob Josef auf seine Schultern und stob mit dem vor Vergnügen quietschenden Josef davon.

Helene schüttelte sich, lief zum Gartentor und sah den beiden hinterher.

‚Vielleicht wird hier doch alles besser für uns – und dich.‘ Sie schloss die Augen und seufzte. ‚Ich muss dich … einfach mehr in den Arm nehmen, dich lieb haben … verteidigen. Aber Vater sagt, dass man einen Jungen damit nur verweichlicht.‘

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück, um beim Abladen zu helfen.

In Dorotheenthal gab es 15 Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen waren so alt wie Josef, die Zwillingsmädel von nebenan waren erst ein knappes Jahr alt und die restlichen neun – vier Jungen und fünf Mädel – gingen schon zur Schule.

Bisher hatte Josef keine guten Erfahrungen mit Kindern gemacht. Launisch waren sie gewesen – wie die Erwachsenen. Einmal durfte er mitspielen, ein andermal jagten sie ihn davon, und immer wieder hatten sie ihn damit aufgezogen, dass er keinen Vater hatte. Selbst die alte Frau Poppelwitz, die zum Abschied so nett zu ihm gewesen war, hatte erst kurz vor der Abreise mit einer anderen Frau über ihn gesprochen. Josef hatte es ganz deutlich gehört: „Mit dem Jungen – ein Kreuz ist das. Was soll aus so einem bloß mal werden? So ohne Vater.“

Mit Reckzügels war das anders. Von Anfang an.

„Darf ich vorstellen?“ Wilhelm nahm Josef von seinen Schultern, ging in die Hocke und tippte ihm auf die Nasenspitze.

„Hier, unser neuer Nachbar. Und der junge Mann wird uns sicher auch gleich seinen Namen verraten, nicht wahr?“

Josef strahlte.

Noch nie hatte jemand junger Mann zu ihm gesagt, geschweige denn, ihn oben auf den Schultern getragen. Noch nie hatten ihn so viele Augenpaare auf einmal so freundlich angesehen.

„Ich bin der Josef, wir wohnen jetzt hier, wir sind grade angekommen, mit einem ganz großen Auto“, sprudelte es aus ihm heraus.

„So, so. Der Josef bist du“, sagte Wilhelm Reckzügels Mutter und zog ihn auf ihren Schoß. „Da wird sich der Herr Pfarrer aber freuen, dass er bald wieder einen richtigen Josef fürs Krippenspiel hat. Der Josef aus dem Nachbardorf, der geht nämlich schon aufs Lyzeum und mag nicht mehr.“

„So viele Kinder und sonst kein weiterer Josef in den frommen Familien? Im ganzen Pfarrbezirk nicht?“, gab Wilhelm frotzelnd von sich und handelte sich von seinem Vater einen tadelnden Blick ein.

„Ich weiß, ich weiß.“ Wilhelm hob beschwichtigend seine Arme. „Und in den letzten Tagen werden Spötter kommen, die ihren Spott treiben.“ Er lachte leise und legte seine Hände auf die Schultern des Vaters. „Aber vergiss nicht“, mit jedem Wort wurde er ein ganz klein wenig lauter, „ich tu jeden Tag eine gute Tat. Jeden Tag … für Volk und Vaterland.“

„Solange du noch Bibelstellen zitieren kannst, können wir ja zufrieden sein.“ Vater Reckzügel ging einen halben Schritt zurück, sah an seinem Sohn herunter und räusperte sich. „Aber deine Uniform kannst du jetzt trotzdem ausziehen. Wir wissen deine Anwesenheit auch ohne sie zu schätzen.“

Für einen Moment war es still in der kleinen Küche, und Josef zog den Kopf ein und wartete auf ein Donnerwetter.

„Nun komm schon, Bruderherz“, durchbrach Wilhelms Bruder Werner die Stille und klatschte in die Hände. „Dass auch hier bei uns jede Hand gebraucht wird, wirst du in deiner Ambulanz ja wohl nicht vergessen haben, oder?“

Josef spitzte die Lippen und atmete pustend aus.

„Eigentlich hab ich ihm ja nichts zu sagen“, grinste Werner und beugte sich zu Josef hinunter, „er ist nämlich der ältere von uns beiden. Ein ganzes stolzes Jahr.“ Er tätschelte Josefs Wange. „Und so wie du aussiehst, so groß und stark, willst du doch sicherlich auch helfen.“

Werner zeigte auf die große Küchenuhr und streckte Josef seine Arme entgegen. „Es wird Zeit, weißt du. Ich habe nämlich Kaninchen und die haben Hunger.“

„Ich will aber laufen“, platzte es aus Josef heraus.

Keiner regte sich, keiner sagte ein Wort.

Erschrocken schlug sich Josef die Hand vor den Mund und blickte unsicher von einem zum andern. Hätte er sich lieber tragen lassen sollen?

„Na, und richtig resolut biste auch!“ Frau Reckzügel nickte ihm aufmunternd zu und befreite ihn aus seiner Starre.

„Fein“, sagte Werner, drehte sich um und ging zur Tür, „dann bin ich ja mal gespannt, wie schnell du bist.“

Türen macht man leise zu, Türen werden nicht geknallt, war Josef vom Großvater eingebläut worden. Als er sie sachte hinter sich zuzog, konnte er gerade noch hören, wie Wilhelm empört über den Vorfall vor seinem neuen Zuhause berichtete – wie bösartig dieser Fritz Tomulka mit seinem Enkelsohn umgesprungen war und dass er ihm eine reinwürgen würde, wenn er sich noch einmal an ihm verginge.

Josef runzelte die Stirn. Eine reinwürgen? Das hatte er noch nie gehört. Ob das wohl so was wie Dresche war? Und von einer Ambulanz, hatte er auch noch nie gehört. Aber eines hatte er verstanden. Bei den Reckzügels ging es viel freundlicher zu als bei ihm daheim.

„Wilhelm studiert Medizin. In Berlin. Er will Arzt werden und arbeitet dort in der Ambulanz“, sagte Werner und Josef fragte sich, ob er Gedanken lesen konnte. „In einer Ambulanz, da hilft man Leuten, die sich was gebrochen oder große Wunden haben. Die kriegen dann einen Verband von Wilhelm und was gegen die Schmerzen.“

Sie waren inzwischen bei den Kaninchenställen angekommen, und Werner stellte Josef auf eine Kiste, damit er besser hineinsehen konnte.

Josef sah mit großen Augen zurück zum Haus und nickte ehrfürchtig. ‚Wenn der Wilhelm eine Uniform hat, dann muss er bestimmt viel wichtiger als der Doktor Jeschke sein. Der trug immer ganz normale Sachen oder seinen weißen Ki…‘

„Na, willst du es mal streicheln“, unterbrach Werner seine Gedanken. Er hatte inzwischen eine der Boxen geöffnet und eines der Kaninchen herausgehoben.

Josef verzog sein Gesicht, beugte sich ein wenig zurück und steckte seine Hände hinter den Rücken. „Nee“, sagte er kopfschüttelnd, „das ist ja ganz staubig.“

„Ach, was“, Werner lachte und pustete in sein Fell. „Schau genau hin, das sieht nur so aus. Das liegt an den weißen Haaren, die zwischen all den schwarzen sitzen.“ Er hielt das Kaninchen in die Abendsonne. „Siehst du, wie sie glänzen? Drum nennt man sie auch Silberkaninchen, Französische Großsilber. Ob du dir das wohl merken kannst?“

Josef nickte und ließ langsam seine Finger durch das Fell gleiten – gegen den Strich, machte es genauso, wie Werner es ihm vorgemacht hatte – und nickte. Nickte, obwohl er nicht wusste, was es mit dem Französische auf sich hatte und … Silber? So nannte die Großmutter ihre Messer, Gabeln und Löffel, die nur an Weihnachten oder zu Ostern auf den Tisch kamen. Silber, das glänzte. So sehr, dass man sich drin spiegeln konnte. Aber das hier? Josef seufzte stumm in sich hinein, fest darauf vertrauend, dass er all das eines Tages verstehen würde.

Werner setzte das Kaninchen in den Stall zurück. „Wenn du willst, dann kannst du es haben. Aber dann musst du jeden Tag kommen, jeden Morgen und jeden Abend. Musst ihm was zu fressen und zu saufen geben und es hin und wieder auch mal bürsten. Weihnachten ist es dann ausgewachsen. Dann habt ihr einen leckeren Braten und deiner Mutter kannst du das Fell schenken. Kann sie sich einen schönen Muff draus machen lassen.“

Josef wusste nicht, was ein Muff war, aber wenn der Werner meinte, dass die Mutter ihn schön finden würde, dann würde er wohl recht haben.

„Es ist übrigens ein Rammler“, fuhr Werner fort und drückte Josef einen kleinen Weidenkorb in die Hand. „Du pflückst Löwenzahn und ich mäh Gras. Einverstanden?“

„Ein Rammler?“, fragte Josef und sprang von der Kiste.

Werner wuschelte durch Josefs Haare. „Ein Rammler, das ist ein Papa-Tier. So was wie … ein Kater.“

Josef nickte und zeigte auf die anderen Kaninchen. „Und das sind alles seine Kinder?“

„Nee.“ Werner lachte. „Der hat noch keine, der ist selber noch ein Kind.“

Josef machte ein langes Gesicht. „Dann will ich nicht, dass er geschlachtet wird. Dann soll er erst Papa werden.“

„Was willst du?“

Laut hatte Werner nicht gesprochen. Gut, es hatte ein wenig ironisch geklungen, als er sich dabei zu Josef umgedreht und sich auf Augenhöhe zu ihm heruntergebeugt hatte, aber Werner hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass Josef derart zusammenfahren würde. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und er hatte schützend die Arme um seinen Kopf geschlungen.

„Aber, aber“, flüsterte Werner, ging auf die Knie und streckte Josef seine Hände entgegen.

Josef hielt die Luft an, hob den Kopf und schaute Werner stumm an – seine Augen glitten unruhig an ihm herauf und herunter, hin und her.

„Natürlich darf dein Kaninchen Kinder haben. So viele und so lange du willst.“

Werner sah hinüber zum Haus. ‚Jeden Tag eine gute Tat. Heute war’s wohl wirklich mal eine …‘

„Aber nun lass uns an die Arbeit gehen“, sagte er, klopfte Josef auf die Schultern und zeigte auf die große Wiese.

Josef ging mit Eifer ans Werk, nahm, wie Werner es ihm erklärt hatte, nur den großen, blühenden Löwenzahn und ließ die kleinen Pflanzen stehen. Vor allem aber: Werner lobte ihn, lobte ihn so sehr, dass er vor Freude rote Wangen bekam, und als er den vollen Korb vor den Stall stellte, sagte Werner auch noch „Ich danke dir!“

Niemals zuvor hatte ihm jemand gesagt, dass er etwas großartig gemacht hatte – in ganz Ostroppa nicht. Bis auf den Doktor, der hatte ihm hin und wieder gesteckt, dass er ein tapferer kleiner Kerl sei. Vor allem, wenn er Josefs aufgeschlagenes Knie wieder mal mit Jod behandeln musste. Jod, das längst nicht so schlimm brannte wie Großvaters Ohrfeigen. Aber das hatte er dem Doktor nicht gesagt.

„Hast du dir weh getan? Hast du dir in den Fuß gesenst?“ Josef hatte erst jetzt bemerkt, dass Werner beim Gehen das linke Bein nachzog.

Werner schüttelte den Kopf, blieb stehen und zog beide Hosenbeine hoch.

„Das sieht aber böse aus!“ Betroffen schaute Josef auf die große, wulstige Narbe über Werners Knöchel und schlug sich beide Hände vor den Mund.

„Das kommt davon, wenn man beim Schlittenfahren nicht aufpasst.“

Josef sah Werner fragend an.

„Ich war sechs. Es war das Jahr, als ich in die Schule kam.“ Werner verzog sein Gesicht. „Hat ganz schön geknirscht, als mir der Junge dagegengefahren ist. Aber bremsen konnte er nicht mehr und ausweichen auch nicht. Quer über eine Rodelbahn laufen, das macht man halt nicht.“

„Tut das noch weh?“ Josefs Stimme zitterte ein wenig.

„Dort unten nicht mehr. Nur hier drinnen.“ Werner legte seine Hand auf die linke Brust. „Wenn sie mich deswegen schief ansehen, meine ich. Aber eigentlich …“, Werner hielt inne und überlegte, ob er es aussprechen solle. Richtig glücklich machte ihn seine plötzliche Erkenntnis nicht. ‚Aber Tatsache ist Tatsache. So liegen die Dinge nun mal.‘ Werner räusperte sich und schloss mit Nachdruck: „Jedenfalls, seitdem der Wilhelm diese Uniform trägt, macht keiner mehr dumme Bemerkungen über mich.“

Josef nickte heftig. Über diese Antwort musste er nicht lange nachdenken. „Wenn ich groß bin, will ich auch so eine haben. Dann wird mich der Großvater nicht mehr hauen. Dann halt ich ihm auch die Hände fest. So, wie es vorhin der Wilhelm gemacht hat.“

Werner blies seine Wangen auf und schaute hinüber zum Haus. „Hat’s Ärger bei euch gegeben?“

Josef zog die Schultern hoch, presste die Lippen zusammen und nickte. „Großvater hat mich geschlagen, und der Wilhelm hat’s ihm verboten“, sagte er und betrachtete mitleidig Werners deformierten Knöchel.

Werner schnitt in Josefs Beisein das Thema Uniform nicht mehr an. Nicht an diesem Abend und auch später nicht mehr.

Als Helene Tomulka kam, um ihren Sohn abzuholen, hatte es bereits zu dämmern begonnen. Unschlüssig blieb sie in der Tür stehen und sah ihm zu – sah seine roten Wangen, sah, wie er fröhlich am Küchentisch saß und Erbsen auspulte, wie geschickt er sich dabei anstellte, wie glücklich er dabei aussah –, sah und spürte die Harmonie, die hier im Haus herrschte, und wünschte sich in diesem Moment nichts Sehnlicheres, als dass sie diese Stimmung mit zu sich nehmen könne.

Sie räusperte sich. „Früher ist er anders gewesen.“ Sie hielt es für notwendig, das Verhalten ihres Vaters zu entschuldigen und spielte geistesabwesend mit ihren Schürzenbändern. Helene Tomulka war so schlank, dass sie die Bänder zweimal um ihre Taille wickeln und die Schleife vorne binden konnte. „War halt alles zu viel für ihn. Mit mir und dem Kind.“

„Dem Kind“, echote Wilhelm Reckzügel junior, der jetzt noch zu gerne in seiner Uniform gesteckt hätte. „Können Sie es nicht noch ein bisschen abwertender sagen?“ Wilhelm sah Helene Tomulka herablassend an. „Es hat einen Namen, das Kind. Es hat unser aller Aufmerksamkeit verdient und keine Schläge. Außerdem, Josef ist ein Prachtkind.“ Überheblich lächelnd sah er in die Runde. „Und die Partei wird ihn noch um einiges prächtiger machen.“

Was dann geschah, sollte Josef nie wieder erleben. Nie wieder sollte er hören, dass seine Mutter die Stimme erhob. Den Sinn dessen, was aus ihr herausbrach, verstand er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Begreifen sollte er es erst viele Jahre später. Wann immer er sich daran erinnerte, waren seine Gefühle zwiespältig. Je älter er aber wurde, desto mehr überwog ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und des Verständnisses für seine Mutter. Dafür, dass sie ihn behalten hatte.

Der Spott in ihrer Stimme, ihre aufrechte Körperhaltung, der Trotz in ihren Augen, all das war für Josef völlig neu, so hatte er seine Mutter noch nie erlebt. „Dann soll sie doch zufrieden sein, die Partei, und tun, was sie nicht lassen kann. Hätte ja auch zur Engelmacherin gehen können, oder? Angst hatte ich jedenfalls keine. Ich habe das Kind behalten, weil ich es wollte, weil ich es liebte. Es … und den Vater.“

Es gab niemanden in der kleinen Küche, der nicht die Luft angehalten hatte. Bei dem Wort Engelmacherin waren alle zusammengezuckt. Josef wunderte sich darüber, wunderte sich über ihre betretenen Gesichter und darüber, dass Mutter Reckzügel rot anlief. Engel waren doch etwas Schönes, Niedliches – sahen so aus wie diese kleine Figur über dem Bett der Großeltern. Schade, dass seine Mutter nicht mit ihm zur Engelmacherin gegangen war. Flügel haben, das konnte er sich gut vorstellen, dann hätte er den Großen sicherlich nicht so oft vor den Füßen gestanden.

Am liebsten hätte Josef seine Mutter gefragt, ob sie das nicht noch nachholen könne, aber da war sie schon wieder in sich zusammengesackt, war wieder ganz wie immer und winkte ihn mit ausdrucksloser Miene zu sich heran. Sie sah ihn nicht einmal an dabei, starrte geradeaus, murmelte ein paar entschuldigende Worte und schob ihn zur Tür hinaus.

Betreten lief Josef neben ihr her. Er hatte so viel auf dem Herzen, so viel zu erzählen – von Wilhelm, von Werner, von den Kaninchen. Von seinem Kaninchen!

„Werner hat mir ein Kaninchen geschenkt“, platzte er schließlich heraus, und weil seine Mutter mit einem nicht unfreundlichen Mhm reagierte, sprudelte es weiter aus ihm heraus, „… und Hühner, Gänse und ein dickes Schwein haben die Zügels auch.“

„Reckzügel heißen die Leute.“ Helene Tomulka war müde.

„Ich hab sie alle gefüttert. Und zum Schluss hat mir der Werner gesagt, dass ich dem Schwein über den Rücken fegen soll. Weil es das mag, hat der Werner gesagt. Und da hat es ganz laut gequiekt – vor Freude. Und morgen gehe ich wieder zu meinem Kaninchen und …“

„Und, und, und!“ Seine Mutter schnitt ihm das Wort ab. „Und jetzt bist de stille, verstanden, und dem Großvater sagst du gar nichts davon.“ Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn hinter sich her.

Sein neues Zuhause war mit seinen knapp 70 Quadratmetern eines der kleineren Häuser in Dorotheenthal. Ein schmaler Flur teilte es in zwei genau gleich große Hälften, mit zwei Räumen auf jeder Seite.

Josef schaute sich neugierig um. Vorn rechts – das war also das Schlafzimmer der Großeltern geworden, die Betten waren bereits aufgebaut und frisch bezogen, nur den Schrank und die Kommode hatten sie noch draußen vor der Tür unter einer Plane gelassen. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Küche. Er hörte, wie die Großmutter mit den Töpfen klapperte und spähte vorsichtig hinein. Der Großvater saß mit aufgestützten Ellbogen am Tisch, den Kopf in seine Hände gelegt, und hatte die Augen geschlossen. Helene legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und zog Josef weiter. Auf Zehenspitzen folgte er ihr in den dahinterliegenden Raum. Ihr gemeinsames Schlafzimmer war kleiner als das in Ostroppa, aber es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, es gefiel ihm gut, dass ihre Betten nun ein bisschen dichter beieinanderstanden. Am liebsten hätte er laut gejauchzt, aber als er mit seiner Mutter das Gartentor passiert hatte, wusste er, dass es wieder ein Ende hatte mit dem Fröhlichsein, dass er wieder aufhören musste mit dem Lachen und Geplapper. So zog er sich rasch und wortlos aus, schlüpfte in sein Nachthemd und kuschelte sich unter die dicke Daunendecke.

Alles war kleiner und enger in Dorotheenthal und – die Wände waren dünner.

„Ein Haus hatten wir und was ist das hier? Ne Klitsche is das!“

Erschrocken drehte sich Josef zur Seite und atmete erleichtert auf. Wie gut, da war ja wirklich eine Wand zwischen ihm und dem Wutausbruch des Großvaters. Josef hörte, wie er mit der Faust auf den Tisch schlug und zog sich die Decke über den Kopf.

„Vier Räume hat das Haus, aber dass einer noch ein Stall ist, davon hatten sie nichts geschrieben! Wie nennt man das? Vom Pferd auf den Esel kommen! Und das alles wegen dem rumgewischten Frauenzimmer!“

„Aber wenn du dort den Fußboden reingezogen und das Fenster vergrößert hast, kommt da die Küche rein und dann haben wir hier vorne wieder unsere gute Stube.“

„Nichts als Ärger, nichts als Schinderei!“ Wieder schlug Fritz Tomulka mit der Faust auf den Tisch. „Erst Kunstschmied und jetzt Hilfsarbeiter in der Weberei!“

Josef lag in seinem Bett und rührte sich nicht. Es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen und hörte nicht mehr, wie seine Mutter leise weinte.

Josef träumte von einem Kaninchen, das so silbern glänzte wie Großmutters Tafelbesteck.

August 1930

Als Josef, aufgeweckt vom Geschrei der Nachbarsgänse, am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hatte seine Mutter die Kammer schon verlassen. Auch heute war ihr Bett so akkurat gemacht, so glatt gestrichen, dass man annehmen konnte, sie habe gar nicht darin gelegen.

Rasch schlüpfte er in Hemd und Hose, tappte in die Küche, griff sich eine trockene Scheibe Brot, ging nach draußen und machte einen langen Hals.

„Wo ist das Auto?“, fragte er verdutzt.

„Auf dem Weg nach Ostroppa, wohin sonst“, brummelte Frieda Tomulka, die mit ihrer Tochter neben den Kisten und Möbeln im Vorgarten stand.

„Wenn du willst, kannst du wieder zu den Reckzügels gehen“, sagte Helene tonlos, „helfen kannst du uns doch nicht. Ich hol dich nachher wieder ab.“

„Kann ich noch ein Stück Kuchen haben?“ Josef sah sehnsüchtig zu dem noch immer vollen Teller auf dem Gartentisch. Ob der wohl die ganze Nacht draußen gestanden hatte?

„Jetzt mach, dass du wegkommst“, blaffte ihn seine Großmutter an, „fehlt nur noch, dass du dich wieder verschluckst.“

Die knapp vier Meter breite Dorfstraße von Dorotheenthal war ungepflastert.

Sie war Treffpunkt, Sportplatzersatz und mit ihren zahlreichen Löchern ein ideales Spielfeld für Murmelspieler. Heute aber war ein Mädchen-Spiel an der Reihe. Seilspringen war eindeutig ihre Domäne. Bisher war noch keinem der Jungen ein fehlerfreier Lauf die Straße hinauf und wieder hinunter gelungen.

Der zehnjährige Steiner-August machte auch heute keine gute Figur dabei. Die Mädchen zeigten bereits mit Fingern auf ihn, stichelten und prophezeiten sein baldiges Ausscheiden. Bei den letzten Schwüngen war es gerade noch gut gegangen. Verbissen kämpfte er dem Ziel entgegen und schien sich wieder gefangen zu haben. Doch ausgerechnet in dem Augenblick, als Josef auf die Straße geflitzt kam, verhedderten sich seine Füße im Seil, und August fiel der Länge nach hin – genau vor Josefs Füße.

Seine zwei Jahre jüngere Schwester war die Erste, die sich lachend den Bauch hielt, und dann johlten sie alle und hüpften schadenfroh um August herum. Angesteckt von so viel Gelächter, lachte auch Josef mit – aus vollem Hals, bis ihm die Tränen kamen.

„Halt’s Maul, du Zwerg!“ Wutentbrannt war August wieder auf den Beinen. „Haltet alle das Maul. Vor allem aber du!“, brüllte er mit sich überschlagender Stimme und stieß Josef mit voller Wucht zu Boden. „Was fällt dir eigentlich ein und, und wo kommst du überhaupt her?“

Josef lag auf dem Rücken und starrte ängstlich von einem zum anderen.

„August, August – eins, zwei, drei – mit dir ist es jetzt vorbei“, verkündete eines der Mädel und zog den völlig verstörten Josef wieder auf die Beine. „Der gehört doch zu denen, die gestern gekommen sind. Das ist dein neuer Nachbar“, gackerte sie und streckte August die Zunge aus.

Josef sah es auf einen Blick. Das hier waren mehr Kinder als in seiner Straße in Ostroppa. In der Zwiebelgasse waren es nur vier Jungen und kein einziges Mädchen gewesen. Zwei der Jungen waren bereits zur Schule gegangen, und auch mit den jüngeren hatte er kaum gespielt. „Ich will nicht, dass du in andere Häuser gehst“, hatte der Großvater gesagt, „und hier sehen will ich auch keinen.“

„Seid ihr alle von hier?“ Josef sah zaghaft lächelnd in die Runde.

„Ja, wo sollen wir denn sonst herkommen?“, prustete die siebenjährige Martha aus der Nummer elf, die gar nicht wieder aufhören wollte zu lachen und vor Josef wie ein Hampelmann auf und ab sprang.

„Stimmt’s, dass ihr Tomulka heißt?“, fuhr August aufgebracht dazwischen, machte ihrem Gehopse ein Ende und baute sich breitbeinig vor dem beklommen nickenden Josef auf.

„Tomulka, Tomulka“, begann August feixend, verdrehte seine Augen, hielt einen Moment die Luft an und höhnte ein lang gezogenes Tomul-ka, tanzt so gerne Pul-ka hinterher, hatte damit die Aufmerksamkeit der Kinder wieder auf sich gezogen und das Gelächter hob von Neuem an.

„Polka heißt das … mit O“, verbesserte ihn der zwölfjährige Hübner-Heinrich aus Haus Nummer neun. Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken, blickte ernst in die Runde, machte ihren Lehrer nach und hatte die Lacher nun auf seiner Seite.

„Mulka, Mulka, tanzt so gerne Pulka“, setzte er leiernd nach – in einer Zweiton-Melodie, immer und immer wieder, so lange, bis einer nach dem anderen mit einstimmte und die Mädchen anfingen, um Josef herumzutanzen. Beim vierten Mal hielt sich Josef die Ohren zu. Tränen begannen ihm über das Gesicht zu laufen. Er hatte sich so sehr auf Dorotheenthal gefreut. Sollte es hier für ihn noch schlimmer werden als in Ostroppa? Hilfesuchend sah er zum Haus. Doch seine Mutter und die Großmutter waren nicht zu sehen. Entweder hatten sie nichts davon mitbekommen oder ließen ihn einfach im Stich.

„Wollt ihr wohl aufhören damit!“