Julia Jubiläum Band 2 - Anne Mather - E-Book

Julia Jubiläum Band 2 E-Book

Anne Mather

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Beschreibung

IM SCHATTEN DER VERGANGENHEIT von MATHER, ANNE
Der raue Schrei der Flamingos hallt über die Camargue, als Dianne mit bebendem Herzen nach Südfrankreich zurückkehrt. Vor drei Jahren fand sie hier bei Manoel St. Salvador zärtliche Liebe. Mit Folgen, von denen er nichts ahnt - und die sie ihm jetzt gestehen muss …

HEIßE KÜSSE UM MITTERNACHT von MORTIMER, CAROLE
Die nächtlichen Rendezvous mit Adrian Thornton, Chef von Thornton Cosmetics, sind aufregend und prickelnd - aber mehr auch nicht, glaubt Nina, Managerin einer Modelagentur. Bis ein Intrigenspiel sie zu Rivalen macht. Zu spät erkennt Nina, dass sie sich in Adrian verliebt hat …

ICH WERDE DICH HEIRATEN, CHERIE von GRAHAM, LYNNE
Ein Sturm widersprüchlicher Gefühle tobt durch Sarah, als sie den vermögenden Alex Terzakis hitzig auffordert, sie zu heiraten. Nicht im Traum denkt sie daran, dass er darauf eingeht! Aber Irrtum: Mit einem verheißungsvollen Lächeln erklärt Alex sich bereit …

UND WIEDER BRENNT DIE LEIDENSCHAFT von MORGAN, SARAH
Was fällt Rico nur ein? Am liebsten würde Anastasia dem sizilianischen Multimillionär die Tür vor der Nase zuschlagen. Vor einem Jahr hat er sie verstoßen! Jetzt soll sie zurückkommen. Nein, will sie rufen - und ringt doch um Atem bei dem heißen Verlangen in seinen Blicken …

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Seitenzahl: 828

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Anne Mather, Carole Mortimer, Lynne Graham, Sarah Morgan

JULIA JUBILÄUMSBAND 2

IMPRESSUM

JULIA JUBILÄUMSBAND - 40 JAHRE JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© by Anne Mather Originaltitel: „The Night of the Bulls“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© by Carole Mortimer Originaltitel: „Fantasy Girl“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Regina Maack

© by Lynne Graham Originaltitel: „Bond of Hatred“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Anke Beckmann

© by Sarah Morgan Originaltitel: „Public Wife, Private Mistress“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elke Schuller-Wannagat

Fotos: RJB Photo Library, Anne von Sarosdy, Harlequin Books S.A., Ryan McVay/Getty Images, iStockphoto/Getty Images

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA JUBILÄUMSBAND - 40 JAHRE JULIABand 2 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-758-7

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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ANNE MATHER

Im Schatten der Vergangenheit

Wie wird Manoel St. Salvador reagieren, wenn Dianne ihm gesteht, dass er einen Sohn hat? Wie, wenn sie ihn anfleht, ihren kranken Jungen zu retten? Und was soll sie selbst tun, wenn er sie wieder erobern will?

CAROLE MORTIMER

Heiße Küsse um Mitternacht

Mit Liebe haben unsere mitternächtlichen Rendezvous überhaupt nichts zu tun, redet Nina sich ein. Aber warum ist sie dann so verzweifelt, als sie und Adrian plötzlich zu erbitterten Rivalen werden?

LYNNE GRAHAM

Ich werde dich heiraten, Chérie

Nur eine Vernunftehe wollte Sarah mit dem reichen Unternehmer Alex Terzakis führen. Doch auf seinem Luxusanwesen im malerischen Loiretal erwartet sie eine pikante Überraschung: Alex will mehr …

SARAH MORGAN

Und wieder brennt die Leidenschaft

Seit einem Jahr lebt Anastasia von dem Multimillionär Rico getrennt – und jetzt soll sie so tun, als brenne die Leidenschaft zwischen ihnen wie damals? Eine erotische Scharade mit einem hohen Preis …

Im Schatten der Vergangenheit

1. KAPITEL

Wenn Anfang April der Mistral das Rhônetal hinunterfegt und die kalten Böen von den eisbedeckten Bergen der Haute Provence mit ungezähmter Wildheit über die weiten Marschen der Camargue stürmen, dann wagen weder Mensch noch Tier, sich der grimmigen Herrschaft des Windes zu widersetzen.

Aber wenn der zornige Wind sich ausgetobt hat, vertreibt die Sonnenwärme jede Erinnerung an die eisbedeckten Wüsteneien. Das ganze Flussdelta erwacht mit einer Farbenpracht, die es im Hochsommer nie wiedergewinnt, da dann die Hitze die Marschen ausdörrt und weite Strecken in schlickige und schlammige Watten verwandelt.

Im Frühling jedoch wimmeln die stillen Lagunen und die blauen Marschen vor Leben. Der vorlaute Teichrohrsänger wiegt sich auf hohen Gräsern, es glänzt das bunte Gefieder des Bienenspechts, und rosafarbene Flamingos stolzieren anmutig und elegant durch die schimmernden Lagunen.

Das war die Jahreszeit, die Dianne so gut kannte. Die Zeit, in der sie schon einmal in die Provence gekommen war, in jenen eigenwilligen Winkel Frankreichs, der für sie so sehr von Bedeutung war. Jetzt kehrte sie hierher zurück, und es quälten und beunruhigten sie die gleichen verworrenen Gefühle wie vor drei Jahren, als sie das Land so überstürzt verlassen hatte. Doch wie hätte es auch anders sein sollen … unter diesen Umständen.

Der Zug legte sich in eine weite Kurve, und das unerwartete Schwanken warf Dianne gegen die Lehne des Sitzes zurück. Sie umklammerte die Armstützen und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie durfte einfach nicht von der Vergangenheit träumen. Sie musste daran denken, dass sie, obwohl sie die Camargue so liebte, in Arles von niemandem erwartet wurde und sie niemand willkommen heißen würde.

Ein junger Mann, der ihr gegenübersaß, beugte sich besorgt vor. Sie hatte schon auf der ganzen Fahrt gemerkt, dass er sie immer wieder nachdenklich ansah. Aber ihre eisige Miene hatte ihn bisher daran gehindert, sie anzusprechen.

Sie wollte von Männern nichts mehr wissen!

Doch jetzt spürte er ihre Angst. Diese an Hysterie grenzende Angst, die sie überfiel, wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, was sie tat.

„Pardon, Mademoiselle“, sagte er und berührte leicht ihren Arm, „fühlen Sie sich nicht wohl?“

Er hatte einen unverkennbar französischen Akzent, und sie fragte sich, woher er wusste, dass sie Engländerin war. Aber vielleicht hatte er sie im Speisewagen mit dem Kellner sprechen gehört.

Sie richtete sich auf und lächelte ein wenig mühsam. „Danke, Monsieur“, sagte sie, „aber mir geht es gut. Ich bin nur ein bisschen nervös.“

Der junge Mann nickte verständnisvoll. Vielleicht glaubte er, sie würde in Marseille von einem Mann erwartet. Aber er irrte sich. Verstohlen betrachtete sie sein Profil und stellte fest, dass er gut geschnittene, klare Züge hatte. Er sah wirklich sehr gut aus, und Clarry würde sagen, sie sei eine Närrin, weil sie jeden Mann abwies, der sich für sie interessierte.

Aber Clarry war nicht hier. Sie war allein und im Augenblick mit Problemen eingedeckt. Um jede weitere Unterhaltung im Keim zu ersticken, wandte sie sich ab und blickte aus dem Fenster. Unzählige Schienenstränge liefen neben dem Zug her, verflochten sich, teilten sich wieder. Die große Bahnhofshalle tauchte auf, und der Zug fuhr hinein wie in einen Tunnel. Dianne schloss die Augen, es gab einen leichten Ruck, sie standen.

Tastend griff Dianne nach ihrem locker geschlungenen Nackenknoten, dann stand sie auf und sammelte ihre Habseligkeiten ein. Sie nahm den Mantel über den Arm und griff nach den Bügeln ihrer Reisetasche.

„Kann ich Ihnen helfen, Mademoiselle?“

Es war wieder der junge Mann. Die meisten Reisenden stiegen aus und entfernten sich in Richtung des Ausgangs, doch der junge Mann hatte offensichtlich auf sie gewartet.

Dianne lächelte abwehrend, schüttelte den Kopf und ging, ohne noch einmal zurückzublicken, hinter den anderen Reisenden her. Auf dem Bahnhofsvorplatz blieb sie einen Augenblick stehen. Die Luft war unglaublich warm. Es roch nach Staub und Benzin. Aber nicht einmal das hektische Treiben um sie herum, die drängenden, rufenden Menschen und das schrille Hupkonzert der vorüberflitzenden Wagen vermochten ganz die wehmütigen Gedanken zu verjagen, die in ihr aufstiegen.

Doch entschlossen schüttelte sie alle sentimentalen Gefühle ab und ging weiter. Sie fragte sich, wo sie wohl den Wagen finden würde, den sie von England aus gemietet hatte und der irgendwo auf dem Bahnhof auf sie warten sollte. Ein wenig hilflos schlängelte sie sich zwischen unzähligen parkenden Wagen und Bussen hindurch.

Dann tauchte abermals der junge Mann aus dem Zug auf und schlenderte lässig auf sie zu. Dianne biss sich ungeduldig auf die Unterlippe. Sie hoffte, er würde nicht aufdringlich werden. Als er sie ansprach, wandte sie sich ihm mit unverhohlener Gereiztheit zu. Sie runzelte die Stirn, und ihre seegrünen Augen funkelten unwillig.

„Ja, Monsieur?“

„Werden Sie abgeholt, Mademoiselle?“, erkundigte er sich, und Dianne zögerte nur unmerklich, bevor sie nickte. Das war keine Lüge, sondern lediglich eine leichte Entstellung der Wahrheit. „Dann kann ich mich Ihnen also nicht als Chauffeur anbieten, Mademoiselle?“

„Nein danke.“ Dianne ging ein paar Schritte weiter und suchte die am Bordstein parkenden Wagen nach jenem ab, der dem Autoverleih Inter-France-Reisen gehörte.

Sie griff in ihre Reisetasche, holte die Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Ein ununterbrochener Strom von Autos glitt an ihr vorüber, die Sonne glitzerte auf Lack und Chromverzierungen. Sie hoffte, der junge Mann würde den Wink mit dem Zaunpfahl endlich verstehen und seiner Wege gehen. Aber kurz darauf tauchte er schon wieder neben ihr auf.

„Ich glaube, Sie haben das fallen gelassen, Mademoiselle.“

Dianne fuhr herum und wollte ihm eine eisige Bemerkung an den Kopf werfen, schnappte jedoch überrascht nach Luft, als sie sah, dass er die Bestätigung ihrer Hotelbuchung in der Hand hielt.

„Oh – ich danke Ihnen“, stammelte sie verlegen. „Sie – sie muss mir heruntergefallen sein, als ich die Sonnenbrille herausholte. Danke.“

Der junge Mann lächelte. „Es war mir ein Vergnügen, Mademoiselle“, erwiderte er höflich. „Auf diese Weise konnte ich wenigstens feststellen, dass Sie nach Arles wollen. Eine schöne Stadt. Ich wohne ganz in der Nähe.“

Dianne hielt den Atem an. „Tatsächlich?“, fragte sie. „Ich muss Ihnen recht geben, es ist wirklich eine schöne Stadt.“

Der junge Mann runzelte die Stirn. „Kann ich Sie wirklich nicht in meinem Wagen mitnehmen?“

„Nein!“ Dianne hob abwehrend die Hand. „Ich habe mir einen Wagen gemietet. Er müsste hier irgendwo stehen.“

Der junge Mann hörte aufmerksam zu und überflog die Reihe der wartenden Autos mit geübtem Blick. „Kommen Sie“, sagte er, „ich glaube, ich weiß, wo wir Ihren fahrbaren Untersatz finden.“

Er schien wirklich Bescheid zu wissen, und da er sich ihrer Koffer bemächtigte, hatte Dianne keine andere Wahl, als ihm zu folgen. In kürzester Zeit hatte er den kleinen Citroën entdeckt, stellte sie dem Angestellten der Autoverleihfirma vor und brachte es auf diese Weise fertig, ihren Namen zu erfahren. Dianne war darüber nicht eben erfreut, konnte jedoch nichts sagen, da er noch so hilfsbereit war, ihr Gepäck im Kofferraum zu verstauen.

„Vielleicht sehen wir uns wieder, Mademoiselle“, bemerkte er leichthin, als sie sich von ihm verabschiedete. „Ich bin oft in Arles und wäre sehr glücklich, wenn Sie mir erlauben würden, Sie einmal am Abend zum Essen einzuladen.“

Dianne lächelte vage und ließ die Einladung unbeantwortet. Schließlich war es logisch, wenn er annahm, sie wolle nur ihren Urlaub hier verbringen. Wie hätte er auch ahnen sollen, warum sie wirklich nach Arles fuhr, zumal ihr selbst noch völlig unglaublich schien, was sie tat.

Sie fuhr ab und sah ihn noch lange im Rückspiegel. In diesem Augenblick wünschte sie sich verzweifelt, sie wäre wirklich nur als Urlauberin hierhergekommen.

Nachdem sie von Marseille ein Stück nach Westen gefahren war, bog sie nach Norden ab und folgte der Straße nach Arles quer durch die weite Plaine de la Crau. Das war ein unwirtli­ches Gebiet, kahl und öd und nur wenig kultiviert. Sie erinnerte sich, dass Manoel ihr erzählt hatte, in der Mythologie sei Herkules hier auf ein Volk von Riesen gestoßen und habe Zeus um Hilfe angerufen. Der Gott habe es Felsen und Steine regnen lassen und den Helden vom Tode errettet, doch seither sei die Ebene mit den Trümmern aus dieser Schlacht übersät.

Manoel!

Ein Schauer durchlief sie. Zum ersten Mal, seit sie London verlassen hatte, erlaubte sie sich, an ihn zu denken, und es war verheerend, was allein dieser Gedanke ihr antat. Sie streckte die Hand aus, tastete nach ihrer Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Sie steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit zitternden Fingern an. Sie rauchte nur selten, nur dann, wenn sie unter einer starken inneren Spannung stand. Im Augenblick aber brauchte sie etwas, das sie beruhigte.

Als sie in Arles ankam, war es schon nach sechs. Sie kam sich nach der langen Reise schmutzig und staubig vor, und sie war müde. Sie fuhr direkt zu ihrem Hotel, trug sich ein, bestellte sich ein belegtes Brot auf das Zimmer und ging hinauf. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Hinterher schlüpfte sie in ihren Hausmantel, setzte sich ans Fenster, das auf einen kleinen Platz hinausblickte, aß ihr belegtes Brot und trank zwei Tassen ausgezeichneten Kaffees, den ihr die Besitzerin des Hotels mit heraufgeschickt hatte.

In den Platanen raschelte ein leichter Wind, und unter dem Fenster tollten ein paar Jugendliche auf Fahrrädern herum. Sonst war alles ruhig und friedlich. Diannes innere Verkrampfung löste sich ein wenig. Dass sie Manoel rein zufällig begegnete, war sehr unwahrscheinlich, und wenn sie ihn traf, würde das unter ihren, nicht unter seinen Bedingungen geschehen. Falls er bereit war, sich mit ihr zu treffen …

Peinigende Erinnerungen bedrohten ihren eben erst wiedergewonnenen Frieden, und sie schob den Teller mit dem halb gegessenen Sandwich beiseite. Was, wenn er sich weigerte, mit ihr zu sprechen? Das war sehr gut möglich. Schließlich sollte er die Wahrheit nicht erfahren, das hatte sie fest beschlossen.

Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und stellte die leere Kaffeetasse auf die Untertasse. Sie griff nach ihrer Handtasche, holte eine lederne Brieftasche heraus und öffnete sie. Ein paar Fotos rutschten heraus, sie fing sie auf und betrachtete sie liebevoll.

Das Gesicht des kleinen Jungen, das ihr vertrauensvoll und aufrichtig entgegenblickte, weckte ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit in ihr. Völlig unerwartet füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hatte schon lang nicht mehr geweint, Tränen waren ein Luxus, den sie sich nicht erlauben durfte. Sie fragte sich, was der Kleine jetzt wohl tat und ob er Clarry gehorchte.

Impulsiv neigte sie den Kopf und küsste das Foto. „Gute Nacht, Jonathan“, flüsterte sie mit etwas rauer Stimme, legte die Fotos in die Brieftasche zurück und verstaute sie in dem größeren ihrer beiden Koffer. Auf alle Fälle, dachte sie bedauernd.

Am Morgen wurde sie von der strahlenden Sonne geweckt, die durch die geschlossenen Vorhänge fiel. Im ersten Augenblick wusste sie nicht mehr, wo sie war, und wunderte sich, dass Jonathans Bettchen nicht neben ihrem Bett stand. Allmählich jedoch wurde sie sich mit einem beklemmenden Gefühl ihrer augenblicklichen Umgebung wieder bewusst.

Sie zwang sich, die Niedergeschlagenheit abzuschütteln, die sie nur selten verließ, stieg aus dem Bett, ging zum Fenster, öffnete die Vorhänge und blickte hinaus. In dem kleinen Park inmitten des Platzes spielten ein paar Kinder Ball. Der Anblick der fröhlich umhertollenden kleinen Bande verursachte ihr einen heftigen Schmerz in der Herzgegend. Sie wandte sich brüsk vom Fenster ab und ging ins Bad.

Später musterte sie sich kritisch im Spiegel des Toilettentisches. Sie trug eine eng sitzende marineblaue Hose und eine weiße Hemdbluse. Sie wirkte kühl, schlank und sachlich. Das dunkle Haar hatte sie im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen. Die Frisur diente einzig und allein dem Zweck, sie reifer und würdiger aussehen zu lassen. Doch trotz all ihrer Bemühungen verrieten ihre leicht schräg gestellten schönen Augen und ihr empfindsamer Mund, wie jung und unsicher sie noch war. Mit einem Gefühl von Hilflosigkeit ging sie hinunter in den Speisesaal.

Nach dem Frühstück fuhr sie in die Innenstadt. Arles war nicht groß, doch an Markttagen wimmelte es am Vormittag von Menschen. Das Angebot von Meeresfrüchten an den Ständen war verlockend, doch sie widerstand den werbenden Stimmen der Händler und kaufte nichts. Sie machte nur einen Schaufensterbummel, um die Zeit bis zum Mittagessen totzuschlagen.

Sie hatte beschlossen, gegen Mittag im Mas St. Salvador anzurufen, weil sie hoffte, Manoel, der vielleicht zum Essen heimkam, um diese Zeit am ehesten zu erreichen. Sie hatte nicht den Wunsch, mit seiner Mutter zu sprechen. Mit seinem Vater übrigens ebenso wenig. Was sie wollte, ging nur sie und Manoel an. Niemand sonst.

Nachdem sie Clarry auf einer Ansichtskarte kurz mitgeteilt hatte, sie sei gut angekommen, stellte sie fest, dass sie immer nervöser wurde, je weiter der Morgen fortschritt. Es war ärgerlich, dass bei der ganzen Angelegenheit ihre Gefühle noch immer so stark beteiligt waren. Sie musste, bevor sie Manoel sah, unbedingt ruhiger werden. Er durfte nicht merken, wie dumm sie war.

Sie wollte nicht daran denken, wie er wohl darauf reagieren würde, dass sie sich nach so langer Zeit wieder meldete. Bestimmt war er inzwischen mit Yvonne verheiratet und hatte selbst familiäre Verpflichtungen. Vielleicht weigerte er sich sogar, mit ihr zu sprechen. Wenn es nach Yvonne ging, würde er es gewiss tun. Warum glaubte sie eigentlich, er würde ihr Geld leihen, nur weil sie einander vor drei Jahren sehr nahe gestanden hatten? Für ihn war ihre Beziehung doch keineswegs bindend gewesen.

Kurz nach zwölf fuhr sie zum Hotel zurück und betrat beinahe widerwillig die Halle. Dann riss sie sich jedoch zusammen und ging energisch zur Telefonzelle. Sie musste anrufen, bevor der Mut sie völlig verließ.

Sie hatte sich die Nummer zwar aufgeschrieben, brauchte jedoch nicht nachzusehen, weil sie sie auswendig kannte. Mit zitternden Fingern nahm sie den Hörer von der Gabel; als sie es am anderen Ende der Leitung klingeln hörte, wurden ihre Handflächen feucht, und kleine Schweißperlen traten ihr auf die Stirn.

Endlich kam die Verbindung zustande, eine Frauenstimme meldete sich auf Französisch.

„Oui? Mas St. Salvador. Wer spricht dort?“

Diannes Stimme streikte, doch dann gelang es ihr, krächzend zu fragen: „Madame – St. Salvador?“

„Nein, hier ist Jeanne. Wollen Sie Madame St. Salvador sprechen?“

„Nein, nein!“, wehrte Dianne ab. „Eh – Monsieur St. Salvador, Monsieur Manoel St. Salvador – ist er da?“

Jeanne zögerte einen Augenblick. „Nein, Mademoiselle, er ist in Avignon.“

Dianne wurde das Herz schwer wie ein Stein. Manoel war in Avignon! Wie lange blieb er? Sie überlegte rasch. Sie konnte Jeanne, die alte Haushälterin, danach fragen; ob sie jedoch eine Antwort bekäme, war zweifelhaft. Schon spürte sie eine gewisse Zurückhaltung in der Stimme der alten Frau, die im nächsten Augenblick bestimmt danach fragen würde, wer Monsieur Manoel sprechen wollte.

Mit trockener Kehle sagte sie: „Merci – danke“, und legte auf, wobei sie bestürzt feststellte, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Als sie die Telefonzelle verließ, stand der Hoteldirektor vor ihr. Er musterte sie besorgt, weil sie so blass war und ihre Augen unnatürlich glänzten.

„Ist etwas passiert, Mademoiselle?“, erkundigte er sich fürsorglich.

Es gelang Dianne, mit halbwegs natürlicher Gelassenheit den Kopf zu schütteln. „Nein – nein, nichts“, erwiderte sie hastig. „Ein schöner Tag, nicht wahr?“

„Ein schöner Tag“, wiederholte er nickend, und sie flüchtete in ihr Zimmer hinauf.

Als sie sich zum Lunch umzog, versuchte sie verzweifelt, ihre Lage abzuschätzen. Sie kämmte sich, schlang den Knoten neu, tuschte ihre zart olivfarbenen Lider leicht mit Lidschatten, trug farblosen Lippenstift auf und schlüpfte in ein hübsches limonenfarbenes Baumwollkleid, das Clarry ihr genäht hatte. Doch sie tat all diese Dinge automatisch.

Sie dachte nicht über den Telefonanruf hinaus. Wenn sie noch einmal anrief, und Manoel war wieder nicht da, würde die Familie misstrauisch werden; dieses Risiko wagte sie nicht einzugehen. Doch wie sollte sie sich sonst mit ihm in Verbindung setzen? Sie konnte doch nicht auf gut Glück nach Avignon fahren. Die Chance, ihn dort zu treffen, war allzu gering.

Mit einem hohlen Gefühl im Magen, das jedoch nicht vom Hunger herrührte, ging sie hinunter in den Speisesaal.

Sie aß wenig, obwohl die Fischsuppe köstlich schmeckte, und lehnte bis auf ein paar frische Früchte alle andern Speisen ab. Den Kaffee genoss sie; er war stark und wirkte belebend. Während sie ihn schluckweise trank, überlegte sie, ob sie vielleicht zur Manade hinausfahren sollte, ohne sich telefonisch anzumelden.

Sie verließ das Restaurant, ging durch die Halle zum Eingang und blickte nachdenklich auf den schattigen Platz hinaus. Das Hotel war um diese Zeit noch nicht voll belegt, denn für Touristen war es noch zu früh. Sie kamen später, im Mai und im Juni, wenn die Festivals begannen, wenn die Zigeuner sich hier versammelten, um ihre Stammesfeste zu feiern …

Dianne presste die Hand auf ihren Magen, der mit einem Mal nervös zu flattern begann. Ihr war alles so bitter vertraut, und es schien ihr so unfair, dass sie ausgerechnet in dieser Jahreszeit hierher zurückkehren musste. Sie fuhr sich mit der Zunge leicht über die Lippen, auf denen sie plötzlich wieder den Geschmack trockenen gesalzenen Brotes spürte. Der Duft von würzigem roten Wein, aus irdenen Krügen getrunken, stieg ihr in die Nase. Sie hörte das erregte Durcheinander von Geräuschen und Stimmen, die leidenschaftliche Musik. Sie wurde wieder von jenem rückhaltlosen Glücksgefühl durchpulst, das sie damals empfunden hatte, als sie an den seit Jahrhunderten überlieferten Festen teilnehmen durfte.

Mit geballten Fäusten wandte sie sich ab. Es hatte keinen Sinn! Sie musste es tun, gleichgültig, wie schmerzlich oder hässlich es sein würde. Sie musste es um Jonathans willen tun.

Sehr zum Erstaunen des Hoteldirektors verbrachte sie den Nachmittag im Hotel. Er hatte sie offensichtlich als Touristin eingestuft, und es war ihm rätselhaft, warum sie nicht auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten war. Ein paar Mal ertappte sie ihn dabei, dass er sie von der Schwelle des Gesellschaftszimmers aus beobachtete. Doch sie tat so, als bemerke sie es nicht, weil sie ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte.

Als am Spätnachmittag auf dem Platz die Schatten länger wurden, verließ sie das Gesellschaftszimmer und ging wieder hinüber zur Telefonzelle. Ihr zitterten die Knie, und es fiel ihr schwer, ihre Bewegungen zu koordinieren. Schließlich erreichte sie aber doch die Telefonzelle und nahm den Hörer von der Gabel.

Wieder antwortete eine weibliche Stimme, und Dianne sank der Mut. Aber diesmal war es nicht Jeanne. Es war eine Mädchenstimme, eine Stimme, an die Dianne sich unklar erinnerte. Manoel hatte eine jüngere Schwester – Louise.

„Excusez-moi – entschuldigen Sie“, sagte sie und hoffte, ihr Akzent sei nicht allzu auffallend englisch, „ich hätte gern Monsieur St. Salvador gesprochen.“

„Manoel?“ Das Mädchen schien überrascht. „Wer spricht dort?“

Dianne zögerte. Wie konnte sie ihren Namen nennen, ohne jene Situation heraufzubeschwören, die sie um jeden Preis vermeiden wollte?

„Eine Freundin von Monsieur St. Salvador“, erwiderte sie ausweichend.

„Aber Sie sind ja Engländerin!“, rief das Mädchen erstaunt.

Dianne presste die Lippen zusammen. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr Akzent so verräterisch sei, doch es war ein paar Jahre her, seit sie zum letzten Mal Französisch gesprochen hatte. Was konnte sie sagen? Wenn sie leugnete, würde das Mädchen wissen, dass sie log. Gab sie es zu, verschlechterte das ihre Lage noch mehr.

„Es ist nicht wichtig“, sagte sie und legte zum zweiten Mal auf, verachtete sich jedoch wegen ihrer Feigheit.

Sie ging wieder in ihr Zimmer hinauf und starrte sich lang im Spiegel an. Ihre Augen wirkten kummervoll, in den grünen Tiefen malte sich die Angst, die sie quälte. Was sollte sie tun?

Als sie sich gerade zum Abendessen umzog, klopfte es. „Made­moiselle! Mademoiselle!“

Dianne wickelte sich in ihren Morgenmantel und öffnete. Vor der Tür stand das Zimmermädchen.

„Sie werden am Telefon verlangt, Mademoiselle“, sagte es lächelnd. „Leider müssen Sie sich in die Halle hinunter bemühen.“

Dianne umklammerte die Türklinke fester. „Ist – ist der Anruf auch bestimmt für mich?“, fragte sie stockend.

„Mais certainement – aber gewiss, Mademoiselle. Es ist ein Herr.”

„Ein Herr!“ Dianne schüttelte verwirrt den Kopf. „Nun gut, ich komme hinunter. Ich brauche nur ein paar Sekunden, um mir etwas anzuziehen.“

Während sie in eine eng sitzende, cremefarbene Hose schlüpfte und einen dicken, jadegrünen Pulli überzog, der ihre Schlankheit betonte, suchte sie nach einer Erklärung für diesen Anruf. Hatte Louise Manoel Bescheid gesagt? Doch sie konnte wohl kaum mit Sicherheit ihre Stimme erkannt haben. Und selbst wenn es sich so verhielt, war es doch unmöglich, dass Manoel so rasch festgestellt hatte, in welchem Hotel sie wohnte.

Die Beine zitterten ihr, als sie zum Telefon hinunterlief. Doch als sie sich meldete, war die Stimme, die darauf „Mademoiselle King?“ sagte, ganz gewiss nicht die von Manoel. Sie war heller, klang jünger und bei Weitem nicht so beunruhigend.

„Wer – wer ist da?“, fragte sie abgehackt.

„Henri Martin, Mademoiselle. Wir haben uns gestern im Zug kennengelernt.“

Dianne ließ sich gegen die Wand der Telefonzelle fallen. „Oh – Monsieur Martin!“, rief sie atemlos, als wäre sie rasch gelaufen. „Ich kannte Ihren Namen nicht.“

„Ich weiß. Aber ich hatte ja das Glück, den Ihren zu erfahren. Haben Sie sich schon in Ihrem Hotel eingewöhnt? Fühlen Sie sich dort wohl?“

Dianne seufzte. „Ja, es ist alles in Ordnung“, erwiderte sie niedergeschlagen. „Warum rufen Sie an?“

„Warum ich anrufe?“, fragte er verwundert und mit einem leisen Lachen. „Aber das wissen Sie doch! Ich möchte Sie heute Abend zum Essen einladen.“

Dianne richtete sich auf. „Tut mir leid, ich kann leider nicht. Unmöglich!“

„Warum? Warum ist es unmöglich?“

Dianne zuckte mit den Achseln. „Ich – ich bin müde, Monsieur. Ich habe außerdem überhaupt keinen Appetit.“

„Ich bin untröstlich, Mademoiselle!“, rief er. „Sie müssen doch etwas essen.“

Dianne biss sich auf die Unterlippe. „Tut mir wirklich leid“, sagte sie. „Aber ich kann nicht. Nicht heute Abend.“

„Morgen dann?“

„Was ich morgen vorhabe, weiß ich noch nicht.“ Das zumindest war die Wahrheit.

„Sie vernichten mein Selbstbewusstsein“, stellte er leichthin fest. „Dann treffen wir uns doch bitte zum Mittagessen.“

„Ein anderes Mal“, sagte Dianne mit großer Entschiedenheit und legte auf.

Sie verließ die Telefonzelle und stieg langsam die Treppe zu ihrem Zimmer empor. Dort angekommen, machte sie sich nicht einmal die Mühe, sich umzuziehen. Von Bitterkeit überschwemmt, warf sie sich der Länge nach auf das Bett. Sie fühlte sich unendlich einsam. Nicht einmal das Wissen, dass Clarry und Jonathan so vertrauensvoll in England auf sie warteten, half ihr, dieses Gefühl der Verlassenheit zu überwinden.

Sie kam zu dem Schluss, dass sie es nicht ertragen könnte, jetzt im Speisesaal zu essen, nahm ihre Handtasche, ging wieder hinunter und verließ das Hotel. Die Laternen warfen nur mattes Licht über die schattigen Straßen. Es war sehr warm, und die schmelzend weiche Dunkelheit legte sich wie Balsam auf ihr Herz und ihre Seele. Morgen war ein neuer Tag!

In einem kleinen Bistro am Rhôneufer trank sie eine Tasse Kaffee und aß ein Stück Kuchen. Dann schlenderte sie zur Arena hinaus. Sie hatte die Arena ein paar Mal mit Manoel besucht und das Schauspiel mit angesehen, das auch dem abgebrühtesten Magen Übelkeit verursachen konnte. Die berühmten Stiere der Camargue waren würdige Gegner der Toreros. Während Dianne sich stets schaudernd von dem blutigen Morden abwandte, das in der gleißenden Sonnenhitze des Nachmittags besonders grausam wirkte, hatten die Männer, die so lässig mit dem Tod spielten, sie fasziniert.

Einige der berühmtesten Stierkämpfer Spaniens kamen nach Arles, um hier an der Corrida teilzunehmen und ihre Kraft und Geschicklichkeit mit jener der schwarzen Stiere zu messen, die mit einem Hieb ihrer spitzen Hörner so grausam verwunden konnten. Und immer wieder versuchten auch Amateure von weit und breit die Berufsstierkämpfer zu übertrumpfen. Sie forderten, einer bereitwilliger als der andere, den Tod heraus.

Dianne hatte im Corral des Mas öfter Manoel mit den Stieren beobachtet. Sie stand immer wie vor Schreck erstarrt, wenn er Angriffe wagte, die in der Arena mit einem begeisterten, vieltausendstimmigen „Olé!“ beantwortet worden wären. In solchen Augenblicken hatte sie ihn gehasst, weil er sie Qualen der Angst aussetzte, sie war davongelaufen. Doch er war ihr gefolgt. Er hatte sie ins Gras geworfen und ihre Empörung auf eine Weise fortgeküsst, dass sie alles vergaß und nur noch wusste, wie sehr sie ihn brauchte …

Schmerz krampfte ihr den Magen zusammen. Wie schnell diese Monate vergangen waren, wie zauberhaft jeder einzelne Tag gewesen war, die Erfüllung ihrer kühnsten Träume, und wie qualvoll der Abschied. Dieser unvermeidliche Abschied …

Gegen neun kehrte sie zurück von ihrem Spaziergang, der sie schließlich wunderbar beruhigt hatte. Sie war angenehm müde und wollte nicht mehr an das denken, was morgen vielleicht auf sie wartete. Es war hoffnungslos, etwas so Unbestimmbares vorhersehen zu wollen.

Die Tasche lässig über der Schulter, mit der Hand eine lose Strähne des seidig schwarzen Haares zurückstreichend, betrat sie langsam die Hotelhalle.

Zuerst dachte sie, die Halle sei leer, doch als sie über den grünen Teppichboden zur Treppe ging, erhob sich aus einem Sessel ein Mann und stellte sich ihr in den Weg.

Dianne blieb stehen. Ihr Blick schweifte über kniehohe, mit Schlamm bespritzte Stiefel und lederne grüne Hosen. Groß und schlank war der Mann, stellte sie fest, und das im Schatten bleibende Gesicht ungewöhnlich dunkel. Sekundenlang verharrte er reglos, während ihr vor Angst ein leichtes Frösteln das Rückgrat hinunterlief.

Dann trat er ins Licht. Sie öffnete lautlos die Lippen und wich einen Schritt zurück.

„Hallo, Dianne“, sagte er, und die Stimme mit ihrem unverkennbaren Akzent verletzte sie mit ihrer schneidenden Härte. „Darf man fragen, warum Sie hier sind und warum Sie mit mir sprechen wollen?“

2. KAPITEL

Dianne starrte ihn ungläubig an. Im ersten Augenblick war sie nicht imstande zu begreifen, dass dies kein fantastisches Hirngespinst war. Eine Halluzination, heraufbeschworen von ihrem verzweifelten Verlangen, Manoel St. Salvador wiederzusehen; einem Verlangen, das bisher nur in ihrem Unterbewusstsein gelebt hatte.

Doch das war nicht der Manoel, den sie kannte. Ihre Erinnerung an ihn war noch sehr lebendig, und dieser Fremde mit den kalten Augen hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem warmherzigen Mann, den sie geliebt hatte. Die Züge waren dieselben und doch nicht die gleichen: Graue Augen unter dunklen Brauen, ausgeprägte Wangenknochen, die dem Gesicht etwas Hochmütiges gaben, ein voller, sinnlicher Mund, dunkle Koteletten, die bis an das energische Kinn reichten.

Er war schlanker, als sie ihn in Erinnerung hatte, die grauen Augen lagen tiefer in den Höhlen und hatten einen Ausdruck von Bitterkeit. Scharfe Linien umgaben Nase und Mund, er wirkte müde und erschöpft. Unter dem weichen Ziegenleder seiner kurzen Jacke sah man das Spiel seiner Brustmuskeln, und die enge Hose spannte sich prall über den kräftigen Schenkeln.

Dianne schüttelte hilflos den Kopf. Ihr war vom ersten Augenblick an klar, dass sie diesem Wiedersehen nicht gewachsen war. Wie konnte sie von dem grausamen Mann, der vor ihr stand und sie mit einem Ausdruck von Hass betrachtete, auch nur einen Funken Mitgefühl erwarten? Wie hatte sie jemals glauben können, dass sie ihn um etwas bitten durfte? Wie töricht von ihr, sich einzubilden, auch er hätte in den vergangenen Jahren Schweres erlebt und erfahren, genau wie sie.

„Nun, Mademoiselle?“

Es war die kalte, abweisende Stimme eines Fremden, und Dianne wandte sich ab. Der Vorwurf in seinem Blick war ihr unverständlich und nicht zu ertragen. Wessen beschuldigte er sie? Warum sah er sie mit so unverhohlenem Misstrauen, solcher Abneigung an? War für ihn die Erinnerung an die Vergangenheit so widerwärtig?

„Ich – ich – wie haben Sie mich gefunden?“, fragte Dianne kaum hörbar.

„Ist das wichtig?“, versetzte Manoel ungeduldig. „Warum sind Sie hier? Was wollen Sie von mir?“ Er machte einen Schritt auf sie zu und drehte sie um, damit sie ihm ins Gesicht sehen musste. Der Griff, mit dem er ihre Schulter gepackt hielt, war schmerzhaft. „So! Wenden Sie sich nicht ab, Dianne! Oder ist Ihnen mein Anblick so ekelhaft?“

Dianne zitterte unter seinem Griff, denn er ließ sie nicht los, während er sie langsam von Kopf bis Fuß musterte. Dann wurde das Gewicht seiner Hand auf ihrer Schulter leichter, und sein Daumen tastete über die zarten Knochen an ihrem Hals. Die Muskeln an seinem Kinn spannten sich, abrupt gab er sie frei, sein Arm fiel schlaff herunter.

„Nun?“, sagte er. „Ich wiederhole – warum sind Sie hier?“

Dianne schluckte mühsam, sie glaubte, an ihrem Atem zu ersticken. „Ich – ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich – ich habe niemand, an den ich mich sonst wenden könnte.“

Manoels Blick verdüsterte sich. „Sind Sie in Schwierigkeiten?“ Ungeduldig sah er sich um. „Hier können wir nicht sprechen. Gehen wir in Ihr Zimmer.“

„Nein!“, rief sie, es war beinahe ein Aufschrei, und stammelnd setzte sie hinzu: „Nein – ich meine, wir können nicht – nicht hinaufgehen. Es ist ein winziges Schlafzimmer, mehr nicht.“

„So? Und was glauben Sie, was ich in diesem Zimmer will? Mit Ihnen Polka tanzen, Sie kleine Katze?“ Er presste die Lippen zusammen.

Dianne schüttelte wieder hilflos den Kopf. Wie konnte sie ihm erklären, dass sie ihn nicht in ihrem Zimmer haben wollte, weil sie sonst die Erinnerung an ihn nie wieder loswerden, weil sie ihn in den langen, einsamen Stunden der Nacht immer vor sich sehen würde?

„Es – es gibt hier einen Gesellschaftsraum“, stotterte sie. „Wenn er jetzt leer ist …“

Sie stieß die Tür auf, Dunkelheit umfing sie wie eine schwarze Wolke. Sie tastete nach dem Schalter und machte Licht. Sie hatten Glück – wenn man in dieser Situation überhaupt von Glück sprechen durfte –, der Raum war leer.

Manoel blickte sich mit finsterem Gesicht um. „Gut, das genügt auch.“ Er folgte ihr in den stillen Raum, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.

Er strömte eine besondere Kraft aus, die sie völlig wehrlos machte. Sie erinnerte sich wieder, dass sie ihm gegenüber auch früher hilflos gewesen war. Doch hatte sie geglaubt, das habe sich geändert. Nun wurde sie eines Besseren belehrt.

„Nun, Dianne, was gibt es? Was ist passiert? Warum brauchst du meine Hilfe?“

Wenigstens das zwischen ihnen so unendlich lächerliche Sie hatte er fallen lassen!

Unruhig lief Dianne im Zimmer auf und ab, unfähig, seinem eindringlichen, forschenden Blick standzuhalten. Vergeblich suchte sie nach den Worten, die sie sich zurechtgelegt hatte, und fand sie nicht. Es dauerte nicht lange, und er wurde ihrer Nervosität überdrüssig.

„Um Gottes willen, Dianne!“, rief er aufgebracht. „Ich bin kein geduldiger Mensch. Sag, was du zu sagen hast, damit wir’s hinter uns bringen.“ Seine Augen wurden schmal. „Was willst du? Geld?“

Dianne blieb unvermittelt stehen und starrte ihn an, ihre Lippen bebten. „Wie kommst du auf den Gedanken, ich wollte Geld von dir?“ Sein zynischer Ton verletzte sie tief.

„Will das nicht jeder?“, fragte er lässig. Er schnippte mit den Fingern. „Wenn du mir deshalb dieses eindrucksvolle Schauspiel gibst, kannst du damit aufhören. Derartige Vorstellungen langweilen mich.“ Er reckte sich hoch und blickte verächtlich auf sie herab. „Was mich verblüfft, ist die Sicherheit, mit der du zu glauben scheinst, ich würde dir Geld geben. Wie kommst du auf die Idee?“

Dianne starrte ihn immer noch an und fuhr sich mit der Zungenspitze in den Mundwinkel. „Muss ich deinen Bemerkungen entnehmen, dass du dich weigerst, mir zu helfen?“, fragte sie kurz und nahm allen Mut zusammen, ihm in die Augen zu sehen.

Manoel hielt ihrem Blick beinahe unverschämt stand. Er zwang sie, verlegen die Lider zu senken. Sie fand es auch nach so langer Zeit unglaublich schwierig, ihm selbstsicher zu begegnen, und sie fürchtete, ihre Augen könnten ihre Gefühle widerspiegeln.

Es bereitete ihr eine Art schmerzlicher Freude, ihn anzusehen, doch gleichzeitig kehrten Erinnerungen zurück, die sie bisher immer ins Unterbewusstsein verdrängt hatte. Sie kannte jeden Zug seines schmalen Gesichts. Sie hatte ihn geküsst, seine Lippen auf ihrem Körper gespürt. Sie war ihm so nahe gewesen, dass sie nicht mehr klar zu denken vermocht hatte, es war alles Gefühl. Und jetzt, nach Jahr und Tag, ließen sie die Erinnerungen nicht unberührt.

Er steckte die Daumen in den Gürtel seiner Hose und ging auf ihre Frage nicht ein. „Sag mir nur eines, wozu brauchst du das Geld?“

Dianne straffte die Schultern. „Das ist eine persönliche Angelegenheit“, sagte sie. „Außerdem kann es dir ja gleichgültig sein, da du mir ohnehin nicht helfen willst.“

„Ich erinnere mich nicht, kategorisch erklärt zu haben, dass ich dir nicht helfen will!“, entgegnete er hochmütig und musterte sie wachsam. „Du bist zu schnell beleidigt, Dianne. Du kannst doch nicht erwarten, dass du nach drei Jahren Menschen und Dinge unverändert vorfindest.“

Dianne presste die Handflächen aneinander. „Ich erwarte nichts Derartiges“, sagte sie vorsichtig abwägend. „Mir ist klar, dass das Leben weitergeht und nichts unverändert bleibt. Ich möchte nur unnötige Komplikationen vermeiden, um dein Leben nicht durcheinanderzubringen.“

Manoel fluchte heftig und kam drohend auf sie zu. „Bildest du dir wirklich ein, du könntest hierherkommen, ohne mein Leben durcheinanderzubringen, wie du es ausdrückst?“, fragte er wütend. „Guter Gott, wir sind Menschen und keine Automaten! Alles, was du hier tust, hängt mit dem zusammen, was war, und wird sich zwangsläufig auf das auswirken, was kommt.“

Dianne zitterte unter dem Einfluss seiner zornigen Erregung. „Du verstehst mich nicht“, meinte sie erstickt. „Ich musste zu dir kommen. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen!“

„Und du brauchst Geld?“ Er beherrschte sich nur mühsam. Wie zum Sprung bereit, mit Augen, die vor unterdrückter Wut funkelten, stand er vor ihr.

„Ja“, antwortete Dianne mit Anstrengung.

„Wie viel?“

Dianne schluckte hart. „Zwei- zweihundert Pfund“, stotterte sie.

Er zog die Brauen zusammen. „Zweihundert Pfund? Das sind ungefähr zweitausendfünfhundert Francs?“

„Ungefähr – ja.“ Dianne nickte.

Manoel kaute eine volle Minute auf seiner Unterlippe herum, dann wiederholte er: „Zweihundert Pfund, wie?“ Sein musternder Blick glitt über ihren schlanken Körper und blieb mit einem unverschämten Ausdruck auf ihren halb geöffneten Lippen haften. „Wozu brauchst du das Geld, Dianne? Erwartest du vielleicht ein Baby?“

„Nein!“ Dianne starrte ihn entsetzt an. „Nein! Wie kannst du wagen, so etwas auch nur anzudeuten?“ Verärgert merkte sie, dass ihr die Stimme umschlug. Sie musste ein paar Mal tief durchatmen, um sich zu beruhigen.

„Warum nicht?“, versetzte er mit grausamer Offenheit. „Warum sollte ich es nicht andeuten? Ist das in England etwas so Ungewöhnliches? Sind die Männer dort anders als in der übrigen Welt? Ich denke, nicht. Du bist eine schöne Frau, Dianne, warst es immer. Wie viele Nächte habe ich wach gelegen und daran gedacht, wie schön du warst, wenn du in meinen Armen lagst.“ Er verzog spöttisch die Lippen. „Bestimmt hat doch inzwischen ein anderer Mann die Freuden genossen, die ich genießen durfte –“

Diannes Hand schoss vor, sie versetzte ihm einen heftigen Schlag auf die Wange. Dann lief sie mit einem leisen Aufschrei, der fast wie ein Schluchzen klang, an ihm vorbei zur Tür. Als wäre der Teufel ihr auf den Fersen, flüchtete sie in ihr Zimmer.

Sie warf die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel um und lehnte sich zitternd an die Wand. Doch niemand folgte ihr, niemand hämmerte zornig an ihre Tür. Ihr Atem ging keuchend und stoßweise, und es dauerte ein paar Minuten, bevor ihr rasender Pulsschlag sich normalisierte.

Als schließlich feststand, dass niemand hinter ihr herkam, warf sie sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett. Ihre Augen brannten, doch sie konnte nicht weinen. Sie fühlte sich so verlassen und gedemütigt wie nie zuvor.

Nur sehr widerwillig stand Dianne am nächsten Morgen auf. Sie hatte schlecht geschlafen, ihre Augen waren dunkel umrandet. Als sie zum Frühstück hinunterging, setzte sie eine getönte Brille auf, um den besorgten Fragen des Direktors zu entgehen.

Während des Frühstücks, das für sie nur aus einigen Tassen starken, schwarzen Kaffees bestand, versuchte sie, ihre Situation zu überdenken. Wenn nur Clarry hier wäre, überlegte sie sehnsüchtig, obwohl ihr klar war, dass Clarry mit der Art, wie sie die Dinge anpackte, nicht zufrieden gewesen wäre. Clarry war immer dafür, dass man die Wahrheit sagte und sich den Teufel darum scherte, was daraus entstand.

Aber diesmal war Dianne anderer Meinung. Wie konnte sie Manoel St. Salvador sagen, wozu sie das Geld wirklich brauchte? Wie würde er auf dieses Geständnis reagieren? Sie wusste, sie hatte nicht das geringste Mitgefühl von ihm zu erwarten, nachdem er sie gestern Abend so beschämt und gedemütigt hatte.

Aber was wirst du tun, wenn er nicht wiederkommt? fragte eine leise Stimme in ihrem Innern vorwurfsvoll. Wie willst du dann zurechtkommen? Willst du Jonathans Gesundheit deinem Stolz opfern?

Nervös sprang Dianne von ihrem Stuhl auf. Solche Gedanken waren unerträglich. Sie durfte nicht aufgeben! Sie musste sich vor Manoel St. Salvador demütigen, und wenn er das Letzte von ihr forderte – sie musste es geben, um Jonathans willen.

Aber was dann? Ihre Gedanken liefen unermüdlich weiter. Was dann? Wenn er nun, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, das Kind für sich forderte? Mit welchen Argumenten wollte sie es ihm verweigern? Was konnte denn sie, die auf ihr Lehrerinnengehalt angewiesen war, Jonathan bieten im Vergleich zu Manoel mit seinem riesigen Besitz in der Camargue und den Weingärten im oberen Rhônetal, einem Reichtum, von dem sie nicht einmal zu träumen wagte. Wer würde diesen Kampf gewinnen? Die Antwort auf die Frage war wohl eindeutig.

Ihre Handflächen wurden feucht. War es töricht gewesen, hierherzukommen und Manoel um Geld zu bitten? Ging sie nicht in jedem Fall ein entsetzliches Risiko ein? Würde er sich damit zufriedengeben, sie mit Geld zu unterstützen, und nicht nach dem Verwendungszweck fragen?

Übelkeit stieg ihr in die Kehle. Aber an wen sonst sollte sie sich wenden? Außer Tante Clarry hatte sie keinen Menschen. Freunde natürlich, gute Freunde sogar, doch keiner war wohlhabend genug, um ihr eine solche Summe leihen, geschweige denn schenken zu können. Und wie sollte Jonathan sonst diesen schrecklichen, peinigenden Husten loswerden, der ihn nicht schlafen ließ und auch sie wach hielt?

Immer den Klang des qualvollen Hustens im Ohr, lag sie da und zermarterte sich den Kopf darüber, wie es zu ermöglichen wäre, ihn aus dem feuchten Klima in eine wärmere, trockenere Gegend zu bringen, wo er wieder gesund und kräftig werden konnte.

Tränen schossen ihr in die Augen. Zweihundert Pfund bedeuteten für die St. Salvadors so wenig. Selbst zweitausend Pfund waren, das wusste sie aus eigener bitterer Erfahrung, für sie wie ein Tropfen in einem Ozean. Vor drei Jahren hatten sie ihr diese Summe unbedingt aufdrängen wollen. Warum sollten sie ihr jetzt den zehnten Teil davon verweigern? Sie machte eine hilflose kleine Geste. Sie hätte damals den Scheck eben nicht zerreißen dürfen. Doch woher hätte sie wissen sollen, dass sie jemals etwas von ihnen brauchen würde?

Mit einem tiefen Seufzer trat sie auf die Treppe vor dem Hotel. Der Morgen war wieder wunderschön, die Sonne glitzerte auf dem Turm einer fernen Kirche. Ein paar Reiter kamen vorbei, die Hufe ihrer Pferde klapperten auf dem Kopfsteinpflaster des Platzes. Unter den Reitern befanden sich auch ein paar Kinder. Sie führten ihre Pferde mit einer Geschicklichkeit, die ihnen angeboren schien. Die Pferde waren grau, nicht weiß, hatten aber die dicken Schweife aller Pferde aus der Camargue.

Dianne beobachtete sie, bis sie sie nicht mehr sehen konnte, und stampfte dann unglücklich und rebellisch mit dem Fuß auf. Was sollte sie tun? Den ganzen Tag ergeben darauf warten, ob Manoel am Abend wiederkam? Oder ihn suchen? Wenn sie bis zum Abend wartete und er kam nicht, hatte sie einen weiteren Tag vergeudet.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Aber woher sollte sie wissen, wo sie ihn suchen musste? Sie kannte natürlich den Weg zum Mas St. Salvador, sie war oft dort gewesen. Doch das Land war Privatbesitz, und sie würde es unbefugt betreten. Sie zweifelte nicht daran, dass Manoels Mutter sie mit dem größten Vergnügen hinauswerfen und davonjagen lassen würde.

Also was? Sie konnte nicht den ganzen Tag im Hotel herumsitzen und untätig warten. Schon jetzt waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Der einzige Balsam für sie war, etwas zu tun, etwas zu unternehmen, gleichgültig, was.

Entschlossen kehrte sie ins Hotel zurück. In ihrem Zimmer zog sie das Kleid aus, schlüpfte in eine marineblaue Hose und eine fuchsienrote, langärmelige Hemdbluse. Das Haar trug sie wieder zu einem Knoten zusammengenommen und hoffte, nüchtern und sachlich auszusehen. Es hatte keinen Sinn, sich besonders herauszuputzen. Niemand auf dem Mas St. Salvador würde von ihrem Erscheinen auch nur im Geringsten beeindruckt sein.

Nachdem sie ihren Citroën aufgetankt hatte, fuhr sie aus der Stadt hinaus und folgte dann der staubigen, unbefestigten Straße, die sich zwischen dem Fluss und den Marschen dahinschlängelte, immer in der Nähe des Wassers, das gierig am Ufer nagte. Über ihr kreischten, vom Geräusch ihres Motors aufgeschreckt, Schwärme von Seeschwalben und Wildenten.

In der Ferne schimmerte das rosafarbene Gefieder der Flamingos wie eine Fata Morgana. Sie wateten durch das flache Wasser eines Étang, eines jener Seen, die von Leben wimmeln und in denen Tausende und Abertausende von heimischen Vögeln ihre Nahrung finden. Farbflecke zwischen den hohen Riedgräsern erwiesen sich als Büschel von Meerfenchel und Lavendel, dessen zarte Blüten in dieser rauen Gegend kaum eine Überlebenschance zu haben schienen.

Ein paar Hundert Meter weiter bot sich ihr ein Anblick, der sie früher mit einer Erregung erfüllt hatte, die den Adrenalinspiegel ihres Blutes schlagartig ansteigen ließ und ihren Pulsschlag bis an die Grenzen des Erträglichen beschleunigte: die schwarzen Stiere der Camargue.

Ungefähr ein Dutzend weidete auf den grasigen Hügeln, die sich aus dem Marschboden erhoben. Als sie vorüberfuhr, hoben die Stiere die Köpfe, wandten sich dann jedoch uninteressiert ab. An ihren gefährlich gebogenen Hörnern erkannte sie, dass es spanische Stiere waren.

Diannes Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. An ihren Flanken trugen die Stiere das Brandzeichen der Herden von St. Salvador, ein Doppel-s. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein, dachte sie unruhig, sie fuhr bereits über St.-Salvador-Land.

Vor ihr flüchteten ein paar Pferde von der Straße in einen Platanenhain, und sie entdeckte, unter den Bäumen versteckt, einen Zigeunerwagen.

Dianne trat die Bremse durch, brachte den Citroën zum Stehen und starrte neugierig zu dem Wohnwagen hinüber. Obwohl er vernachlässigt wirkte, kam er ihr seltsam vertraut vor. Plötzlich erkannte sie ihn auch: Es war Gemmas Wohnwagen. Der Wohnwagen, in dem sie und Manoel …

Sie rief ihre schweifenden Gedanken zur Ordnung, zog die Handbremse an und verließ den Wagen. Warum stand Gemmas Wohnwagen hier? Warum sah er so verlassen aus? Sie hatte sich doch wohl kaum einen anderen gekauft. Oder brauchte sie ihn am Ende nicht mehr?

Dieser Gedanke kam ungebeten, er schien jedoch überzeugend, und Dianne schob die Hände tief in die Taschen ihrer Hose. Das war doch nicht möglich! Gemma war alt gewesen, aber ein so aktiver Mensch, eine so vitale Frau. Sie konnte nicht gestorben sein! Oder doch?

Dianne blieb am Straßenrand stehen. Der Boden um den Wohnwagen war schlammig, und sie trug Schuhe, mit denen sie sich sofort nasse Füße holen würde. Außerdem war der Wohnwagen ganz offensichtlich unbewohnt. Die Vorhänge hinter den schmutzigen Fenstern waren geschlossen und zerrissen. Nirgends ein Zeichen von Leben.

Kopfschüttelnd ging Dianne zu ihrem Wagen zurück und glitt nachdenklich hinter das Steuer. Gemmas Wohnwagen, ihr Heim, auf das sie so stolz gewesen war, und das sie immer blitzsauber gehalten hatte, verwahrlost und verlassen.

Sie blickte noch einmal zurück, und ein Kloß steckte plötzlich in ihrer Kehle. War Gemma tot? War dieser unbezähmbare Geist ausgelöscht für immer? War das, zum Teil, der Grund für Manoels Erbitterung?

Sie legte die Arme um das Steuer und starrte blicklos ins Leere. Gemma hatte zu jenen Menschen gehört, die scheinbar unsterblich waren, die Einzige des St.-Salvador-Clans, die ihr mit Güte und Herzlichkeit entgegengekommen war. Sie hatte alterslos gewirkt, schien der Zeit zu trotzen. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr hier sein könnte, um ihr den Rücken zu stärken, ließ Dianne wünschen, sie hätte die Reise nie unternommen.

Verzweifelt blickte sie sich um. Was sollte sie tun? Umdrehen oder weiterfahren und das Risiko auf sich nehmen, Manoels Frau zu begegnen? Jenem Mädchen, das aus seiner Abneigung gegen sie, die Engländerin, nie ein Hehl gemacht hatte und das nach Meinung von Manoels Mutter so gut zu ihm passte, weil die Ländereien seines Vaters an die des Mas St. Salvador grenzten.

Dianne startete den Motor und zwang sich, an Jonathan zu denken. Seinetwegen war sie hier, für ihn wollte sie jede Demütigung in Kauf nehmen.

Das Land zu beiden Seiten der Straße war jetzt weniger sumpfig, und in der Ferne stand, von einem Wäldchen umgeben, eine Häusergruppe. Kleine, von Schilf umwachsene Seen funkelten in der Sonne, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie schien in dieser grenzenlosen Weite ganz allein zu sein.

Wieder hielt sie an, kletterte auf die Motorhaube, beschattete die Augen mit der Hand und blickte in die Ferne. Weit draußen am Horizont nahm sie eine undeutliche Bewegung wahr, und sie strengte sich an, um zu erkennen, was es war.

Das Bild nahm feste Umrisse an, Männer und Pferde tauchten auf – die berühmten Gardiens der Camargue, die Vieh- und Pferdeherden hüteten, wie seit vielen, vielen Jahren.

Als sie näher kamen, sah Dianne, dass sie eine Viehherde vor sich hertrieben, kräftige, schwarze, furchterregende Tiere. Rasch kletterte Dianne von ihrem Ausguck hinunter und stieg in den Wagen, der ihr wenigstens einigermaßen Schutz gewährte.

Auf dem Mas St. Salvador – Mas ist der provenzalische Ausdruck für ein Hofgut – züchtete man spanische Stiere für die Corrida; nicht die kleineren, weniger kräftigen, in der Camargue heimischen Tiere, die hauptsächlich im Course libre ihre Kämpfe bestehen. Als Dianne vor drei Jahren hier gewesen war, hatte sie gelernt, dass die Corrida eine Art von Barbarei war, bei deren Anblick man sich fragte, ob sich die Zivilisation seit den Tagen der römischen Gladiatorenkämpfe überhaupt weiterentwickelt habe. Der Course libre hingegen war eine gemäßigtere, wenn auch nicht minder gefährliche Form des Stierkampfes, ein Sport, bei dem die Stiere am Leben blieben und sich zu weiteren Kämpfen stellen konnten. Trotzdem waren die spanischen Stiere die wertvollsten und teuersten. Manoels Vater führte den in dieser Gegend hoch angesehenen Titel Manadier. Auf jeden Fall schienen diese hochgezüchteten Tiere die wildesten, die Dianne je gesehen hatte. Man musste sie mit äußerstem Respekt behandeln und durfte ihre Unberechenbarkeit nie unterschätzen.

Die Herde wogte vorüber, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Die Gardiens indessen musterten sie neugierig und fragten sich wohl, wer sie sein mochte und was sie auf St. Salvador’schem Land zu suchen hatte.

Einer der älteren Männer zügelte sein Pferd und ritt auf den Wagen zu. Er nahm den breitkrempigen Hut ab, der so sehr einem Cowboyhut aus dem amerikanischen Westen ähnelte. Dianne erkannte keinen der Männer und war verblüfft, dass einer sie ansprach.

„Bonjour, Mademoiselle“, sagte er höflich. „Was wünschen Sie?“

Dianne lächelte mit mehr Selbstsicherheit, als sie empfand. „Eh – wo ist Monsieur Manoel?“, fragte sie beiläufig.

Der Mann runzelte die Stirn. „Le patron, Mademoiselle – er ist nicht hier.“

Dianne biss sich auf die Unterlippe. „Nein, nicht der Herr, sondern Monsieur Manoel.“

„Monsieur Manoel ist der Herr“, entgegnete der Mann würdevoll.

Dianne starrte ihn ungläubig an. Manoel war sein ‚patron‘, sein Chef! Wo war dann Manoels Vater?

Aber selbstverständlich konnte sie eine so verräterische Frage nicht stellen. „Pardon, entschuldigen Sie, ich kenne die Familie nicht gut“, sagte sie daher mit einer hilflosen Geste.

Die Falten auf der Stirn des Mannes vertieften sich. „Sie sind Engländerin, Mademoiselle, ja?“

Dianne nickte. „Ja. Sprechen Sie Englisch?“

Der Mann lächelte breit und offensichtlich sehr stolz. „Un peu – ein bisschen, Mademoiselle, ein bisschen.“

Dianne fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, die sich so spröde anfühlten, als hätte sie Fieber. „Nun gut, Monsieur. Wissen Sie, wo Monsieur Manoel ist?“

Der Mann drehte sich in dem schweren Sattel um und ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Seine Augen waren von einem hellen Blau, wie Dianne es nie vorher gesehen hatte; Augen, die es gewohnt waren, in große Weiten zu blicken. Seine knorrigen Hände und sein Gesicht waren so dunkel wie Mahagoni.

„Er könnte überall sein, Mademoiselle“, sagte er endlich. „Um diese Jahreszeit gibt es viel Arbeit – für uns und für den Herrn. Soll ich ihm sagen, dass Sie ihn im Haus erwarten? Es könnte ja sein, dass ich ihn unterwegs treffe.“

„Oh nein!“ Dianne schüttelte rasch – zu rasch – den Kopf, und der alte Gardien sah sie misstrauisch an. Es war jetzt offensichtlich, dass er in ihr einen unbefugten Eindringling sah, vor allem deshalb, weil sie nicht wollte, dass sein Chef von ihrer Anwesenheit erfuhr. „Ich – ich muss nach Arles zurück“, erklärte Dianne ihm lahm und wenig überzeugend. „Vielleicht – vielleicht sagen Sie Ihrem Patron, dass er mich dort findet.“

„Bien sûr, Mademoiselle – aber gewiss.“ Der alte Mann neigte mit zurückhaltender Höflichkeit den Kopf, und da Dianne merkte, dass er darauf wartete, dass sie abfuhr, ließ sie den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Doch sie war so nervös, dass sie die Kupplung zu schnell kommen ließ und das kleine Auto einen Sprung rückwärts machte. Die Räder schlitterten über die unebene Straße und landeten im Straßengraben.

„Verdammt!“ Dianne presste die Lippen aufeinander und zwang sich zur Ruhe. Mit scheinbarer Gelassenheit stieg sie aus und besah sich den Schaden.

Es war nicht viel passiert, nur das rechte Hinterrad steckte im Schlamm. Doch ohne Hilfe würde sie es kaum schaffen, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Sie blickte zu dem alten Gardien hinüber. Er klopfte seinem Pferd den Hals, worauf es langsam auf die andere Seite der Straße trottete.

„Haben Sie ein Seil, Mademoiselle?“, fragte der Gardien, und in seinen hellen Augen funkelte es belustigt.

Dianne beherrschte ihren Ärger nur mühsam. Sie hätte am liebsten schnippisch erwidert, sie halte es normalerweise nicht für nötig, sich mit einem Seil auszurüsten, wenn sie eine Spazierfahrt unternahm.

Aber vorlaute Reden waren sinnlos und halfen ihr ganz gewiss nicht aus dem Graben. Sie schüttelte energisch den Kopf und starrte böse das unbotmäßige Rad an, beinahe so, als wolle sie es mit der Kraft ihres Willens aus dem Graben ziehen. Zu dumm, dass ihr das hier passieren musste! Wenn zu allem Überfluss jetzt noch Manoel an Ort und Stelle erschiene, müsste sie vor Scham in den Boden sinken.

Der Gardien stieg langsam aus dem Sattel. Seine Bedächtigkeit war schrecklich aufreizend. Fast hätte sie wie ein ungezogenes Kind mit dem Fuß auf den Boden gestampft. Doch sie wusste, dass Hast und moderne Hektik diesen Männern fremd waren, die ungezählte Stunden in den Marschen verbrachten und deren einzige Gefährten oft Erde und Himmel waren.

„Ich habe ein Seil, Mademoiselle“, sagte er gelassen und löste es vom Sattelknopf.

Dianne war so erleichtert, dass sie die Bemerkung hinunterschluckte, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen lächelte sie ein wenig gezwungen und fragte: „Wo soll ich es am Wagen befestigen?“

Der Gardien zog träge die Brauen hoch, bückte sich und band das Seil an der vorderen Stoßstange fest. Dann richtete er sich auf und sah sie an, die mit geröteten Wangen und ziemlich aufgelöst vor ihm stand. „Das Steuer, Mademoiselle. Sie müssen den Wagen steuern“, sagte er und zeigte ihr, was er von ihr erwartete.

„Selbstverständlich.“

Dianne öffnete die Wagentür, er kletterte in den Sattel zurück und befestigte das andere Seilende am Sattelknopf. Dann begann Dianne, mit einer Hand das Steuer, mit der anderen die offene Wagentür festhaltend, zu schieben. Es war eine schwere Arbeit, und als der Wagen langsam, Zentimeter um Zentimeter, auf die feste Straße zurückzugleiten begann, war Dianne in Schweiß gebadet.

Beinahe hatten sie es geschafft, als sie plötzlich den raschen Hufschlag eines Pferdes hörte. Nervös wandte sie sich um und stellte fest, dass sich ihnen ein einsamer Reiter näherte. Zuerst dachte sie, es sei ein Junge, doch als der Reiter näher kam, sah sie, dass ihm eine Mähne goldblonden Haares über eine Schulter hing. Ein Mädchen also!

Dianne richtete sich beklommen auf, als das Mädchen sein Pferd zügelte und neben ihr anhielt. Auf den freudig erregten Ausruf, mit dem sie begrüßt wurde, war sie ganz und gar nicht gefasst.

„Dianne! Du bist es, Dianne! Was, in aller Welt, tust du hier?“

Dianne sah das Mädchen erstaunt an. Doch ihre abweisende Zurückhaltung hielt der unverhohlenen Freude nicht stand, die ihr aus dem jungen Gesicht entgegenstrahlte. „Louise“, sagte sie. „Guter Gott, ich habe dich kaum erkannt. Du warst ein Kind, als ich – als ich von hier fortging.“

Das Mädchen lachte mit ansteckender Fröhlichkeit. „Ich war vierzehn, Dianne, jetzt bin ich siebzehn. Was tust du hier? Kommst du zu uns? Willst du Großmutter besuchen?“

3. KAPITEL

Dianne war verwirrt. Mit dieser Entwicklung hatte sie nicht gerechnet, sie nicht vorhergesehen. Louises Freude war so aufrichtig, und sie wusste kaum, was sie ihr antworten sollte. Sie wandte sich an den Gardien, der, nachdem er das Seil von der Stoßstange losgebunden hatte, wieder in den Sattel stieg, und bedankte sich herzlich bei ihm.

Das gab ihr einen Augenblick Zeit zu überlegen, unter welchem Vorwand sie sich so schnell wie möglich von Louise verabschieden konnte. Doch als der Mann davonritt, erinnerte sie sich an etwas, das Louise gesagt und das sie in ihrer Verwirrung zunächst nicht erfasst hatte.

„Du – du hast Großmutter gesagt?“, fragte sie erstaunt. „Meinst du – meinst du Gemma?“

„Selbstverständlich.“ Louise lächelte jetzt nicht mehr. „Du wolltest doch nicht wieder abreisen, ohne sie zu sehen?“

Dianne schüttelte hilflos den Kopf. „Ich – ich habe den Wohnwagen gesehen“, murmelte sie. „Ich dachte –“ Sie zuckte mit den Achseln. „Nun, egal. Ich – schau, Louise, ich bin nicht hier, um euch zu besuchen.“ Sie machte eine Pause. „Du bist doch gewiss schon alt genug, um zu begreifen, dass ich auf dem Mas kein willkommener Gast wäre.“

Louises Blick verdunkelte sich. „Großmutter bekommt so selten Besuch“, sagte sie traurig. „Warum bist du hier, Dianne? Ich dachte, Manoel hätte gestern Abend mit dir gesprochen.“

Dianne runzelte die Stirn. „Das weißt du?“

Louise zuckte mit den Achseln. „Aber selbstverständlich“, erwiderte sie, „ich habe am Telefon sofort deine Stimme erkannt. Und ich habe Manoel gesagt, dass du hier sein müsstest.“

Dianne ballte die Hände. „Und – und wissen alle, dass ich hier bin?“

Louise schnitt eine Grimasse und stieß mit dem Fuß nach dem struppigen Gras. „Oh nein“, entgegnete sie leichthin, „nicht alle. Nur Manoel und ich.“

Dianne biss sich auf die Unterlippe. „Sag mir noch eins, Louise. Ist – ist dein Vater nicht mehr auf dem Mas?“

„Papa ist tot“, sagte Louise traurig. „Er starb vor zwei Jahren. Manoel ist jetzt für die Manade verantwortlich. Das hier ist sein Gut, das sind seine Stiere.“

Dianne blickte verwundert vor sich hin. „Das wäre mir nicht im Traum eingefallen“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Louise. „Deine Mutter lebt aber mit Manoel auf dem Mas, nicht wahr?“, setzte sie dann hinzu.

Louise nickte. „Natürlich. Sie und Yvonne.“

In Diannes Magen wurde ein Messer herumgedreht. „Oh ja, Yvonne“, sagte sie mühsam.

„Dianne. Wie ist es dir ergangen? Unterrichtest du immer noch?“ Louise sah sie forschend an. „Du bist dünner geworden.“

Dianne presste die Lippen zusammen. „Oh ja“, antwortete sie tonlos, „ich unterrichte immer noch. Und du? Bist du mit der Schule fertig?“

„Manoel will mich in eine Schweizer Internatsschule schicken, aber ich mag nicht dorthin. Mir gefällt es hier viel zu gut. Ich begreife einfach nicht, warum er mich fortschicken will, sehe den Grund nicht ein. Nur, weil er das Leben so unmöglich findet.“ Sie warf Dianne einen kurzen Seitenblick zu. „Du weißt doch, dass Yvonne einen schweren Unfall hatte?“

„Nein“, erwiderte Dianne rasch. „Was ist passiert?“

Louise zuckte mit den Achseln. „Sie wurde von einem Stier auf die Hörner genommen und ist seither von der Hüfte abwärts gelähmt.“

Dianne stöhnte leise vor Entsetzen. Louise sagte das so kaltblütig, so obenhin. Beinahe so, als sei sie der Meinung, Yvonne habe es nicht anders verdient.

„Aber das ist ja grauenhaft!“ Dianne breitete die Hände aus. „Wann – wann war das?“

Wieder zuckte Louise mit den Achseln. „Kurz nach deiner Abreise, glaube ich. Warum? Ist das irgendwie von Bedeutung?“

„Findest du nicht?“, fragte Dianne entsetzt.

Louise spielte mit den Zügeln. „Yvonne hat nur bekommen, was sie verdiente. Sie hat es geradezu herausgefordert“, sagte sie kalt. „Sie war wütend auf Manoel und dachte, sie könnte ihn ärgern, indem sie seine Stiere reizte.“ Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Keiner darf mit den Stieren spielen.“

Dianne zupfte an einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Kein Wunder, dass Manoel um so vieles älter und reifer aussah. Was für eine schreckliche Zeit musste das für ihn gewesen sein!

Jetzt legte Louise leicht die Hand auf ihren Arm. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Dianne. Ich meine das ernst. Aber warum wolltest du Manoel sehen? Ich dachte – wir dachten –“ Sie hielt unvermittelt inne und biss sich auf die Lippen. „Bleibst du lang in der Camargue?“

Zerstreut spielte Dianne mit dem Griff der Wagentür. „Ich – ich weiß nicht, Louise. Es – es hängt von verschiedenen Dingen ab.“

Louise seufzte. „Bist du nur hier, um mit Manoel zu sprechen?“

Dianne zögerte und nickte dann. „Ja. Wo ist er?“

„Er ist heute früh in die Weingärten gefahren“, antwortete Louise und runzelte die Stirn. Sie starrte Dianne lange nachdenklich an. „Was ist gestern Abend vorgefallen?“

„Wie meinst du das?“ Dianne tat so, als verstehe sie nicht.

„Zwischen dir und meinem Bruder! Dianne, du weißt ganz genau, was ich meine. Er war in einer fürchterlichen Laune, als er nach Hause kam. Nicht einmal Yvonne wagte, ihn zu fragen, was geschehen war. Nur ich erriet, dass ihr euch gestritten haben müsst.“

Dianne verzog das Gesicht. „Ich muss jetzt wieder los, Louise“, sagte sie ausweichend. „Wenn Manoel nicht hier ist, hat es keinen Sinn – ich meine, dann habe ich keinen Grund, zum Mas hinauszufahren.“

„Und Großmutter? Soll ich ihr sagen, dass ich dich gesehen habe?“

Dianne glitt auf den Fahrersitz. „Ich kann es dir natürlich nicht verbieten“, sagte sie. „Aber vielleicht wäre es unter diesen Umständen besser, wenn du nichts sagtest. Ich möchte nicht, dass sie – dass sie sich kränkt.“

„Oh Dianne!“, rief Louise unbeherrscht und stützte sich auf die Motorhaube des Wagens. „Warum tust du so geheimnisvoll? Warum bist du nach so langer Zeit wiedergekommen? Du musstest doch wissen, was es für Manoel bedeutet, dich wiederzusehen – jetzt wiederzusehen!“