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»Plötzlich bemerkte sie, dass ein Junge sie musterte. Er lehnte an einer Plakatwand auf der anderen Straßenseite. Er war ungefähr in ihrem Alter. Wie lange hatte er sie schon beobachtet? Langsam kam er zu ihr herüber, quer durch den dichten Verkehr. Er ließ sie nicht aus den Augen. Als er fast vor ihr stand, wandte er den Blick dem Tabakladen zu. Er betrat ihn zielstrebig, taxierte die Regale, schaute nach links zum Tresen und als er kein Personal erblickte, griff er zu.« Überaus spannend und glaubwürdig verwebt Martina Rapp in ihrem Romandebüt die Geschichten mehrerer Figuren, deren Wege sich in Paris kreuzen und die scheinbar unterschiedlicher nicht sein könnten. Dieser Roman, für den die Autorin 2017 mit dem Bremer Autorenstipendium ausgezeichnet wurde, ist eine literarische Entdeckung!
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Seitenzahl: 230
Veröffentlichungsjahr: 2024
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MARTINA RAPP
JULIE
FLUCHTPUNKT PARIS
Für Kristina
Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de
Julie
Auf dem Asphalt der Rue Méhul glänzten schmutzige Pfützen. Julie überquerte die Straße. Vor dem Gemüseladen an der Ecke blieb sie stehen und betrachtete die Kisten voll reifer Früchte. Sie füllte eine der braunen Papiertüten mit Pfirsichen und betrat den Laden. Hinter der Kasse saß Ibram auf seinem wuchtigen Drehstuhl, den Blick auf einen kleinen Bildschirm gerichtet.
»Salut Ibram, ça va?«
Er hob den Kopf und lächelte. »Ça va bien. Et vous?«
Julie nickte. Selten hatte sie gesehen, dass Ibram sich bewegt hätte, und jetzt am Abend saß er vor seinem kleinen Fernseher und verfolgte die Sportsendungen. Das Ende eines langen Tages auf wenigen Quadratmetern. Sie bog ab in den schmalen Gang, der in den hinteren Teil des Ladens führte. Sie musste aufpassen, nichts von den Regalen zu stoßen. Auch auf dem Boden stapelten sich Kartons, halb ausgepackt. Sie manövrierte an den Konserven, den Packungen mit Nudeln und Mehl vorbei und steuerte auf das Kühlregal zu, das in seiner Breite die Kurve auf dem Rückweg zur Kasse ausfüllte. Außer ihr war noch ein Junge im Laden. Er hatte die Kapuze seines Sweatshirts zur Hälfte über den Kopf gezogen, und die Ohrhörer seines Handys baumelten lose um den Hals.
Als Julie sich an ihm vorbeischob, konnte sie aus den Augenwinkeln sehen, wie er sich eine Rolle Chocuits in die Tasche steckte. »Vergiss es«, flüsterte sie ihm in den Nacken. »Ibram sieht alles.«
Der Junge zuckte zusammen und legte, ohne sie anzusehen, die Beute wieder zurück. Julie ergriff ihrerseits die Schokokekse, überholte ihn, nahm im Vorbeigehen noch Joghurt und eine Flasche Wein mit und gelangte zur Kasse.
Der Junge betrat nach ihr die Straße.
»Warte«, rief sie ihm zu und drückte ihm die glänzend verpackten Chocuits in die Hand. Er blickte ihr kurz in die Augen, nahm die Kekse, drehte sich um und rannte davon. Langsam folgte sie ihm in Richtung der Hochhäuser.
In ihrem Appartement angekommen, schloss sie die Tür und lehnte sich von innen an die kühle Kunststofffläche. Sie zog ihre Schuhe aus, ohne sich zu bücken, und kickte sie unter den Stuhl gleich neben der Türe.
Barfuß ging sie in die Küche und stellte ihre Einkäufe auf der Anrichte ab. Der Blick in den Kühlschrank entmutigte sie. »Merde«, entfuhr es ihr. Frédéric hatte die letzten Sandwiches für die Autofahrt zu seinem Familientreffen mitgenommen.
Sie drehte sich um, nahm aus dem Holzschränkchen eine Packung Cräcker und öffnete sie, sodass die Zellophanhülle gleich bis zur Mitte durchriss. Sie steckte sich den Ersten in den Mund. Während sie kaute, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Die Sonne war bereits hinter dem gegenüberliegenden Haus verschwunden. Das Geschrei spielender Kinder drang bis zu ihr in den 13. Stock. Sie strich über die fast vertrockneten Blätter ihres Bananenbaumes auf dem Fensterbrett. Pflanzen gießen, die Wäsche machen, Maman besuchen.
Sie verspürte Müdigkeit und bereute fast, nicht mit Frédéric gefahren zu sein. Die Haushälterin der Beaudarts hatte bestimmt leckere Speisen zubereitet. Sie saßen wohl gerade um den Eichentisch im Esszimmer. Auch Frédérics Geschwister würden da sein. Und wenn sie es geschafft hätte, sich aus den Familienzwistigkeiten herauszuhalten, hätte sie sich einfach nur zurücklehnen und das Essen genießen können.
Andererseits genoss sie die Stille ihrer Wohnung. Frédéric hatte nie verstanden, warum sie über viele Jahre in dem schäbigen Appartement geblieben war und es ihr so schwerfiel, die Banlieue zu verlassen. Nicht nur einmal hatte er vorgeschlagen, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, sich eine Putzhilfe zu leisten.
Julie nahm ein Wasserglas aus der Spüle, schwenkte es mit kaltem Wasser aus und goss sich Wein ein. Sie mochte den Moment des Tages, an dem die Dämmerung einsetzte und der Himmel sich zu verfärben begann. Nicht mehr Tag und noch nicht Nacht.
An ihren Fußsohlen spürte sie, wie der Boden rhythmisch zitterte. Hoffentlich nicht wieder eine dieser Partys, die die ganze Nacht andauerten. Sie hatte Arbeit mit nach Hause gebracht, Berichte mussten noch geschrieben werden und dann wollte sie früh schlafen gehen.
Sie trank einen Schluck Wein und lehnte sich an den Kühlschrank, der leise surrte.
Fréijart
Abdul Fréijart fröstelte. Dennoch klebte er mit einer dünnen Schweißschicht auf der Kunststoffsitzfläche des Hockers fest. Aus dem Monitor blickte ihn eine blonde, junge Frau lächelnd an. »Ihr Name?«, fragte sie. Das Rauschen der Klimaanlage ging in ein leichtes Rattern über. »Bitte nennen Sie jetzt Ihren Namen.«
»Abdul. Ähm, Abdul Fréijart.«
»Bitte nennen Sie Vor- und Zuname ohne Ergänzungen.«
»Abdul Fréijart.«
»Bitte geben Sie Ihren Namen und alle weiteren Angaben nun manuell ein. Wann sind Sie geboren? Bitte notieren Sie Tag, Monat und das Geburtsjahr.«
Ihr Mund verzog sich in die Breite, um sich gleichsam im Voraus für die Mitarbeit zu bedanken.
Fréijart zögerte. Seine Eltern hatten sich damals auf den 7. April 1952 geeinigt. ›7. April 1952‹ tippte er in die Kästchen. Der bekannte Schmerz durchfuhr ihn. Er kniff die Augenwinkel leicht zusammen, um den Atem besser anhalten zu können.
»Bitte wählen Sie eine Kategorie für Ihre Beschwerden.«
Der Bildschirm teilte sich in zwei Hälften. Auf der linken Seite war ein Piktogramm mit einem grübelnden Gesichtsausdruck, auf der rechten Seite eine Figur mit einem dicken Verband an der Hand. »Leiden Sie unter psychischen oder physischen Beschwerden?«, lautete die Frage und Fréijart klickte auf die rechte Seite.
»Sie haben körperliche Beschwerden«, wiederholte die Frau auf dem Bildschirm.
»Sind Ihre Beschwerden mit Schmerz verbunden?«
›Ja‹ klickte Fréijart, ohne zu zögern.
»Geben Sie die Körperregion beziehungsweise die -regionen an, in denen Sie Schmerzen empfinden. Mehrfachnennungen sind möglich.«
Das Körperschema eines Mannes war auf dem Bildschirm zu sehen. Die Regionen des Körpers waren in unterschiedlichen Farben gekennzeichnet. Die Zeichnung erinnerte Fréijart an das Bild der Kuh, die in der Boucherie Sanzot über der Fleischtheke hing. Genaue Trennlinien waren gezogen zwischen Schultern, Brust, Flanken und Keule und in rosa Schrift war die daraus zuzubereitende Speise benannt: Schnitzel, Steak, Ragout.
Die Hüfte des Mannes war lila markiert und Fréijart berührte sie vorsichtig mit dem Finger.
»Wodurch wurden Ihre Beschwerden verursacht? Durch einen Unfall oder auf andere Weise?«
Fréijart bewegte den Cursor.
»Auf andere Weise«, murmelte er. Den Schuss hatte er abgefangen, als er sich über das Kind gebeugt hatte. Die Demonstration war gewaltsam aufgelöst worden. Das Kind war plötzlich aus einer Seitenstraße auf den Platz gerannt. Es war gestürzt und wäre von der Menge fast überrannt worden. Nachdem Fréijart es wieder auf die Füße gestellt hatte, hatte er den gleißenden Schmerz in seiner Hüfte gespürt und bemerkt, dass ihm das rechte Bein nicht mehr gehorchen wollte. Wie er es überhaupt über den Platz und in den Hauseingang geschafft hatte, wusste er nicht mehr.
Der Bildschirm begann vor Fréijarts Augen zu verschwimmen. Die Rufe und Schreie der Kämpfenden und der Verletzten hallten wider in seinen Ohren. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Seit fast dreißig Jahren spürte er die Folgen der notdürftig ausgeführten Operation im Krankenhaus in Algier. Fréijart sah sich um. Die Wände des fensterlosen Containers schienen auf ihn zuzukommen. Mit einem Ruck stand er auf und verließ den Raum. Er eilte über die Flure des Krankenhauses und hielt erst inne, als er draußen auf der Einfahrt stand und die kühle Morgenluft tief einatmete.
Julie
Frédérics Gesicht hellte sich auf, als er Julie sah. »Da bist du ja endlich.« Er drückte ihr einen kaum spürbaren Kuss auf die Wange. »Edouard tobt schon. Er hat das Meeting gleich um neun Uhr angesetzt. Wir kommen zu langsam voran. Er möchte erste Ergebnisse bei dem Kongress in Genf vorlegen.«
Julie atmete tief durch. »Wie war das Wochenende? Geht’s deiner Familie gut?«
Frédéric runzelte die Stirn. »Das übliche. Bernard möchte ein Haus kaufen. Délia ist dagegen. Meine Nichte will die Schule abbrechen. Und Maman will, dass wir alle zusammen im Sommer nach Banyuls fahren. Du kannst dir vorstellen …«
In diesem Moment betrat Edouard im Gefolge von Marie-Claire und dem neuen Praktikanten den Konferenzraum. »Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gleich mit der Analyse der Interviews der letzten Woche beginnen.« Er ging zur Frontseite des Konferenztisches und schwang sich auf einen der Drehstühle. Erwartungsvoll blickte er auf Julie. »Haben wir erste Zahlen?«
Edouard schien zufrieden. Die Präsentation der Arbeitsgruppe um Julie und Frédéric hatte eindeutige Ergebnisse geliefert. Die Verweildauer der Patienten in der Aufnahmestation war um 26 Prozent gesunken. Ein um 40 Prozent niedrigerer Einsatz von menschlichem Personal bei der Erstaufnahme ließ eine deutliche Kostensenkung erwarten.
Die meisten der Patienten waren nach der neu entwickelten computergestützten Diagnostik im richtigen, entsprechenden Kompetenzzentrum gelandet. Allerdings häuften sich Hinweise, dass zehn Prozent Irrläufer erhebliche Probleme und Reibungsverluste in den weiterbehandelnden Zentren verursachten.
»Zehn Prozent«, unterbrach Edouard die Präsentation, »diese zehn Prozent sind unsere Herausforderung.« Er blickte in die Runde. »Zehn Prozent Irrläufer sind neun Prozent zu viel. Mit dieser Quote werden wir das System nicht implementieren können. Ich schlage vor, wir gründen eine Untersuchungskommission, die die Interviews mit den Irrläufern noch einmal genau analysiert. Vermutlich benötigen wir eine weitere Differenzierung der Patientenprofile, der sozialen Milieus oder linguistischer Parameter. Ich gebe Ihnen da freie Hand. Die Untersuchungsgruppe wird für zwei Monate von allen anderen Aufgaben freigestellt.«
»Ich …«, Julie räusperte sich, »ich würde das gerne machen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den fragenden Blick Frédérics.
»Da hast du dir was aufgehalst.« Frédéric rührte das zweite Stück Zucker in seinen Kaffee. Die Cafeteria war nahezu leer. Nach dem Meeting und einem schnellen Kaffee waren die meisten wieder in ihre Büros geeilt. »Und dabei dachte ich, wir könnten endlich mal wieder ein Wochenende zusammen verbringen.«
»Isst du deinen Keks noch?« Julie ergriff, ohne die Antwort abzuwarten, den klebrigen Zuckerkringel und pickte mit spitzen Fingern die gröbsten Zuckerstückchen ab.
»Maman hat auch nach dir gefragt«, sagte Frédéric.
Mit kleinen Bissen rückte sie dem Keks zu Leibe. »Das ist nett«, murmelte sie.
Frédéric nahm einen Schluck von seinem Kaffee und ließ sich tiefer in den Stuhl gleiten.
»Also, was dieses Projekt betrifft, ich kann beim besten Willen nicht auch noch in der Sonderkommission mitarbeiten.«
Er beobachtete, wie sie sich Krümel für Krümel voranarbeitete. »Und außerdem, Edouard braucht mich in Genf.«
Julie blickte auf, steckte sich den Rest in den Mund. »Verstehe«, sagte sie und spürte ein bekanntes Kratzen im Hals.
Einen Tag später war die Untersuchungsgruppe um Julie zusammengestellt. Robert Fanon, ein Arzt aus der Unfallchirurgie, hatte Interesse bekundet. An dem Abend nach Julies Präsentation hatte er bei ihr angerufen und war erfreut, dass sie sich eine Zusammenarbeit mit ihm vorstellen konnte.
Julie kannte ihn kaum. Er hatte den Ruf eines ausgezeichneten Chirurgen. In den wenigen Pausen, die sie während ihrer Krankenhausschichten gemeinsam verbracht hatten, war er sehr zurückhaltend gewesen. Und am Feierabend war er einer der ersten, die die Klinik wieder verließen. An Freizeitaktivitäten mit Kollegen schien er aus Prinzip nicht teilzunehmen. Sein deutlich gezeigtes Engagement überraschte Julie. Die Freude über die dazugewonnene Fachkompetenz wischte ihre Verwunderung jedoch beiseite.
Als Dritte in der Arbeitsgruppe wurde ihnen Marie-Claire zugeteilt. Edouard legte großen Wert darauf. Für die Zeit, die er in Genf sein würde, sollte sie ihnen als Assistentin zur Verfügung stehen.
Im Institut war ein kleiner, fensterloser Raum für ihre Recherchen freigeräumt worden. Julie und Robert vereinbarten, dass Julie vormittags und Robert nachmittags an den Interviews arbeiten sollte. Mittags würden sie ihre Ergebnisse diskutieren.
Am Morgen des ersten September nahm Julie ihre Arbeit auf. Da sich schon früh ein heißer Tag andeutete, machte sie sich ohne Jacke auf den Weg zum Institut. Die Metro wurde, wie immer zum Herbstanfang, bestreikt. So nahm sie den Bus, der zwar einen kleinen Umweg machte, aber mit dem sie nicht mehr umzusteigen brauchte. Sie hatte nur einen Stehplatz ergattert und stand schwitzend im Gang des Busses. Hinter ihr standen zwei ältere Frauen. Ihr Dialog über die Hochzeitsvorbereitungen ihrer Töchter war minutenlang zwischen ihre Schulterblätter gebrandet. Sie spürte, wie sich ihre Nackenmuskeln versteiften, um keine Angriffsfläche zu bieten. Zum Schluss nieste eine der beiden heftig, sodass sich kleine Tröpfchen von außen auf ihre dünne Bluse hefteten, die bereits von innen mit Schweißperlen benetzt war.
Als der Bus endlich vor dem Institut hielt und Julie aussteigen konnte, wäre sie am liebsten wieder nach Hause gefahren, um ein Bad zu nehmen. Sie betrat den abgedunkelten Raum, und der erkaltende Stoff auf ihrem Rücken machte sie mutlos. Kaffee, ohne einen Kaffee würde sie das nicht aushalten in dem Kabuff.
Sie ging in den Flur und geriet in den Gegenverkehr einer Putzkolonne. Lachend und scherzend kamen sie ihr entgegen. Offensichtlich hatten sie nach der Nachtschicht Feierabend und freuten sich auf ihr Frühstück in der Cafeteria.
Sie schnappte kleine Wortfetzen auf. Im Vorbeigehen wurde sie vom Arbeitskittel einer Putzfrau gestreift. Sie sah den müden Ausdruck in ihren Augen. In diesem Alter sollte man eigentlich keine Nachtschicht mehr machen müssen, dachte Julie und blickte auf den schleppenden Gang der Frau.
Sie nahm sich einen Kaffee vom Tisch des Stationsraumes und kehrte zurück an ihren Schreibtisch. Sie begann damit, die Daten der Irrläufer aufzurufen.
»Ça va?«
Sie hatte Robert nicht kommen gehört. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, und fast hatte sie das Gefühl, er müsse sich abstützen.
»Kannst du nicht anklopfen?«, wies sie ihn zurecht und richtete sich auf, um ihn abzuschütteln. Mit einem Blick auf die Zeitanzeige erfasste sie, dass es bereits Mittag war.
»Entschuldige«, sagte Robert.
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. In dem fahlen Kunstlicht wirkte er noch blasser als sonst. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Krankenhauskittel wirkte genauso zerknittert wie seine Gesichtszüge.
»Wie ist dein erster Eindruck?«, fragte er.
Julie rieb sich die Stirn. Das Bild war alles andere als eindeutig. »Wenn du mich fragst, kriegen wir durch das Studium der Daten keine genauen Ergebnisse. Die Sensoren messen zwar vegetative Reaktionen, wir haben die Videobewegungsanalyse und die Sprachanalyse, aber wir haben zu wenig Information über kognitive und emotionale Abläufe bei den Patienten.«
Robert nickte.
Julie fuhr fort: »Ich habe mir die Daten von zwanzig Patienten angesehen. Bei neun ist der Abbruch der Diagnostik eindeutig nachvollziehbar. Herz-Kreislauf-Kollaps, epileptischer Anfall, emotionaler Ausbruch, die ganze Palette. Aber bei elf Patienten bleibt die Motivation für das Ausscheiden völlig im Dunkeln. Ich denke, wir müssen eine andere Strategie verfolgen. Vielleicht sollten wir uns vor Ort ein Bild von der Lage machen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Robert. »Das ist doch viel zu aufwendig. Wofür haben wir denn die ganzen Daten der Diagnostik gesammelt?«
Julie atmete aus. Das hatte sie befürchtet. Mit Robert hatte sie ein Alphatier in ihrer Arbeitsgruppe, einen Mann, der von ihr keine Vorschläge annahm und sich schon gar nicht sagen lassen wollte, was zu tun sei.
»Aber«, unternahm sie einen neuen Anlauf, »wir werden so nichts rauskriegen! Letzte Woche zum Beispiel dieser Fall, dieser ›Fréijart‹ … dieser ›Abdul Fréijart‹ …« Julie holte seine Daten auf den Bildschirm. »Der ist hier einfach rausspaziert. Und das Seltsamste ist, ich konnte nicht mal rauskriegen, wie er zur Diagnostik gelangt ist. Ich konnte keine Bewilligung, keine Einladung finden. Offensichtlich gab es im Vorfeld schon eine Fehlplanung. Wir sollten in der Aufnahmeabteilung der Diagnostik nachfragen.«
»Auf keinen Fall!«, erwiderte Robert. »Das … das müssen wir erst mal intern klären.«
Er kam um den Schreibtisch herum. »Du siehst müde aus«, sagte er. »Was hältst du davon, wenn ich mich noch mal dransetze und versuche, die Aufnahmedaten zu finden?«
Julie lehnte sich zurück. Der plötzliche Vorschlag ärgerte sie. Als ob sie nicht selbst gut genug recherchiert hätte. Dann machte sich wieder der leichte Kopfschmerz bemerkbar, den sie den ganzen Vormittag über gespürt hatte.
»Ist gut«, sagte sie. »Versuch dein Glück. Wir sehen uns morgen Mittag um die gleiche Zeit.«
»Gleiche Zeit«, wiederholte Robert.
Julie verließ den Arbeitsraum. Sie schloss behutsam die Tür. Nur dann würde die Klimaanlage richtig arbeiten, und deren Hilfe würde Robert sicher gebrauchen. Er arbeitete Vollzeit im Krankenhaus, und obwohl er immer einer der Ersten war, der pünktlich nach Hause ging, sah er am nächsten Morgen nie erholt aus. Sie wusste nichts über seine Lebenssituation. Während andere nach den Wochenenden Fotos von Familienfeiern zeigten oder von ihren Ausflügen berichteten, saß Robert meist mit einem Kaffee am Tisch des Stationszimmers und schwieg.
Die Flure in der Résidence waren lang. Julie konnte sich die Zimmertür nur durch das spezielle Farbmuster des Türrahmens merken.
Eines Tages werde ich selbst in so einer Einrichtung landen, dachte sie und hielt die Lilien, die sie für ihre Mutter mitgebracht hatte, fester an ihren Körper gedrückt.
Blau und Orange. Das waren die Farben, die das programme color personnel für ihre Mutter berechnet hatte.
Nur für das Personal und für Besucher standen Name und die Patientennummer an der Tür. Rosalie Djann, 2174.
Julie öffnete sachte die Tür. »Maman«, flüsterte sie.
»Chérie.« Rosalie wandte den Blick vom Fenster ab und sah in ihre Richtung. »Komm her zu mir. Aber sei leise. Die Kinder schlafen.«
Julie betrat den Raum, wickelte die Blumen aus dem Papier und legte sie auf den Tisch. Sie nahm die leicht verblühten Rosen aus der Vase und warf sie in den Mülleimer neben dem Waschbecken. Sie reinigte die Glasvase mit fließendem Wasser und füllte das Behältnis halb voll. Mit den Lilien gefüllt stellte sie die Vase auf den Fenstersims, sodass ihre Mutter sie sehen konnte.
»Wo hast du nur die schönen Blumen her, Chérie?«, sagte Rosalie und blickte durch sie hindurch in die Bäume des angrenzenden Parks.
»Maman.« Julie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Geht’s dir gut?«
»Ja«, sagte Rosalie. »Aber ich bin müde.«
Julie strich ihr mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Rosalie zuckte leicht.
»Ich habe den ganzen Tag im Zelt auf die Medikamente gewartet. Und diese Hitze. Drei Kinder sind gestorben heute, drei unschuldige Kinder.«
»Die Armen«, sagte Julie und nahm sich den Hocker, der neben dem Waschbecken stand. Sie setzte sich neben ihre Mutter, nahm ihre Hand in die ihre.
»Maman, wollen wir gleich mal zusammen runtergehen in den Speisesaal? Es gibt Quiche heute Abend. Die magst du doch.«
Rosalie nickte, und als sie Julie ansah, schien es eine ganze Weile zu dauern, bis sie sie wirklich sehen konnte. »Julie«, sagte sie, »da bist du ja endlich.«
Fréijart
Fréijart packte die letzten Plastikcontainer aus dem kleinen Lieferwagen. Der Aufkleber médicaments urgents erlaubte ihm das Parken an jeder Stelle der belebten Straße. Heute hatte er sogar einen der begehrten Parkplätze direkt neben der Pharmacie Grenelle ergattert. So machte ihm der Regen, der am Abend eingesetzt hatte, wenig zu schaffen. Die Medikamentenlieferungen waren erledigt. Er war früh dran. Wenn Bernard nicht wieder zu lange für die Abrechnung brauchte, konnte er sich noch einen Apéritif im Café nebenan genehmigen, bevor er wieder losmusste. Die Schachtel mit den Tabletten für Fardia spürte er in der Innentasche seiner Weste. Seit sie mit ihren Kindern nach Pantin, in die Banlieue, gezogen war, hatten die Depressionen eher noch zugenommen. Dabei hatten sie große Hoffnungen darin gesetzt, dass ein normales Umfeld sie stabilisieren würde. Allerdings war es schwierig, in dem Hochhaus in Kontakt mit anderen Bewohnern zu kommen. So hellhörig die Wände auch waren, hatte Fardia es in den vergangenen Monaten nicht geschafft, den Geräuschen aus den angrenzenden Wohnungen die Gesichter zuzuordnen, die ihr auf den Fluren begegneten. Und da sich niemand beschwerte, hatte sie auch aufgegeben, ihrem Sohn die Musik mit den wummernden Bässen zu verbieten, die aus seinem Zimmer kam, wenn die Jungs, die Fardia allesamt nicht kannte, bei ihm im Zimmer saßen. Nounou war noch zu klein für den Kindergarten. Auch darüber konnte sie keine Kontakte knüpfen.
Als Fréijart letzte Woche gekommen war, hatte er fünf Minuten auf die Klingel gedrückt, ohne dass die Kinder oder Fardia ihn gehört hatten. Nur als Jérôme die Wohnung verlassen wollte, gelang es Fréijart, der noch immer mit der Hand an der Klingel stand, sich an ihm vorbei ins Innere zu schieben. Der Junge war kommentarlos an ihm vorbeigerannt in Richtung Aufzug.
Fréijart betrat das Hinterzimmer der Pharmacie Grenelle. Bernard war in die Listen auf dem Bildschirm vor ihm vertieft und wandte kaum den Kopf.
»Der Doktor will dich sprechen. Ich habe ihm gesagt, du wärst gleich im Begnini.« Fréijart sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs.
»Ist gut, ich geh schon mal rüber. Bist du nachher noch da? Ich kann das Geld dringend gebrauchen.«
Bernard nickte. Fréijart legte seine Lieferscheine neben ihn auf den überfüllten Schreibtisch. Er konnte sich schon denken, was der Doktor von ihm wollte. Wochenlang hatte er sich bemüht, ihn in die Diagnostik des Hôpital Central einzuschleusen. Und er hatte alles vermasselt. Merde! Die Panikattacke war so schnell und unerwartet gekommen wie immer. Wodurch war sie ausgelöst worden? Fréijart konnte sich nur noch schemenhaft erinnern. An den weißen fensterlosen Raum. An die Sitzfläche aus Kunststoff, die Armlehnen aus Metall, die Befragung durch die Untersucherin auf dem Bildschirm. Er erinnerte sich an die Darstellung der einzelnen Körperteile und wie sich plötzlich das Gefühl breitgemacht hatte, sein Körper würde sich zerlegen, wie von selbst, in die beschriebenen Teile. Schweißgebadet war er über den Flur und durch die Notfalltreppe, durch die er hereingekommen war, aus dem Gebäude geeilt.
Der Doktor, so wie alle ihn in der Grenelle nannten, musste das schon mitbekommen haben. Fréiiart wusste, dass er ohne gültige Diagnose keine Aussichten auf eine Operation haben würde. Er schluckte eine weitere kleine Kapsel. Schon die vierte heute. Solange er gute Beziehungen zu Bernard hatte, würde er es noch eine ganze Zeit lang ohne Operation aushalten.
Durch die Glastür des Begnini betrat er das kleine Café. Der Doktor saß bereits an seinem Stammplatz im hinteren Teil des Raumes, direkt neben der Durchreiche zur Küche. Er blickte auf.
Esme
Im Vorbeifahren konnte sie die Dächer des Olympiastadions sehen. Doch Esme versuchte, den Blick geradeaus zu halten. Es war schlimm genug, dass sie Bein an Bein mit dem schwitzenden Grauhaarigen saß, der unablässig vor sich hinmurmelte.
Seine Frau und ihre dunkelhaarige Tochter hatten sich rechts von ihr auf die Rückbank des Taxis gedrängt.Es war alles sehr schnell gegangen. Als ihre Eltern aufgefordert worden waren, sich in die Reihe für Balkan-Flüchtlinge zu stellen, war sie gerade von der Toilette zurückgekommen. In der allgemeinen Unruhe war sie hinter dem Rücken der Uniformierten unbemerkt zum Ausgang der Halle gelangt. Draußen auf dem Vorplatz standen mehrere Taxis.
Einige Taxifahrer waren bereits von Gruppen umlagert. Offensichtlich wurden Preise ausgehandelt.
An dem letzten Taxi in der Schlange erkannte sie die Familie, die mit ihr im Bus gewesen war. Das Mädchen hatte während der ganzen Fahrt die Kekse zerkrümelt, die ihnen nach der österreichischen Grenze von Menschen in Zivil zugesteckt worden waren. Bis zur Ankunft im Lager in München hatte sie sämtliche Kekse zwischen ihren Fingern zerrieben, jedoch keinen einzigen Krümel davon in ihren Mund gesteckt.
Esme näherte sich dem letzten Taxi und konnte einzelne Worte aufschnappen. »Seven hundred! …« »Too much …« »Dann eben nicht …« »But we have to go to Paris!« »Okay, then seven hundred …«
Ohne zu zögern, trat Esme hinzu und zeigte ihren kostbaren 100 €-Schein, ein Geschenk von Milena. »To Paris?«
Der Grauhaarige taxierte sie kurz, nickte, nahm ihr den Schein aus der Hand und gab dem Taxifahrer zu verstehen, dass der Preis damit akzeptiert sei.
Die wenigen Taschen waren schnell verstaut. Esme selbst trug nur ihren Stoffbeutel bei sich. Ihr Gepäck war bei ihren Eltern geblieben.
Das Taxi schaukelte leicht. Sie verließen das Stadtzentrum. In der scharfen Kurve zur Autobahnauffahrt wurde die Frau neben Esme mit dem Gewicht ihres ganzen Oberkörpers gegen sie gepresst. Mit aller Kraft versuchte Esme, die Neigung der Körper nicht nach links an den Grauhaarigen weiterzugeben.
Sie wusste nicht, wie lange die Fahrt dauern, nur, dass jede Minute des Eingepferchtseins für sie zur Belastungsprobe würde. Sie musste sich zusammenreißen. Möglichst wenig davon wahrnehmen, was links und rechts um sie vorging. Atmen, um die aufkommende Panik einzudämmen.
Während sie langsam ruhiger wurde, schaffte sie es, sich mit dem Rücken an das Polster anzulehnen. Vielleicht werde ich überleben, dachte sie und entfernte sich mit 180 Stundenkilometern von ihren Eltern.
Als Esme erwachte, regnete es leicht. Sie spürte einen starken Druck auf der Blase. Bislang hatte es noch keinen einzigen Halt gegeben, zumindest keinen, den sie mitbekommen hatte.
Auf einem Schild konnte sie ›Prochaine Sortie‹ entziffern und einen Ortsnamen, der mit einem Heiligen begann – »Saint Jean …«. Vorbei. Das musste bereits Frankreich sein.
Das Taxi bog auf einen Parkplatz ein. Der Fahrer richtete ein paar Worte an den Grauhaarigen.
In die Gruppe auf dem Rücksitz kam Bewegung. Auch der Beifahrer, der die ganze Fahrt noch kein Wort geredet hatte, stieg aus. Mutter und Tochter machten sich auf den Weg in Richtung eines kleinen Toilettenhäuschens, und Esme eilte ihnen nach. Sie hatte Bauchschmerzen. Das konnte der Hunger sein oder, noch schlimmer, sie könnte ihre Tage bekommen, jetzt, unterwegs und ohne darauf vorbereitet zu sein. Erleichtert stellte sie in der Kabine fest, dass ihre Befürchtung nicht eingetroffen war. Nachdem sie sich die Hände mit kaltem Wasser gewaschen hatte, bemerkte sie, dass sie mit dem Mädchen allein in dem Waschhaus verblieben war. Das Mädchen kam langsam aus ihrer Kabine und blickte sich um. Esme trat vom Waschbecken zurück und lehnte sich an die Tür zum Ausgang. Das Mädchen benetzte kaum die Hände mit Wasser, wischte sich diese am Stoff ihres Rockes ab und wandte sich zur Tür. Esme rührte sich nicht. Das Mädchen blickte zu Boden, trat von einem Fuß auf den anderen. »Fabiana«, konnten sie die mahnende Stimme ihrer Mutter von draußen hören. Das Mädchen presste die Lippen aufeinander und sah an Esme vorbei zur Tür. Esme zeigte auf die Tüte mit den Kekskrümeln, die in der Jackentasche des Mädchens steckte. Das Mädchen fasste in die Tasche, ergriff den Beutel und streckte ihn Esme hin, ohne sie anzusehen. Esme griff zu und gab die Tür frei. Das Mädchen zog sie auf, eilte nach draußen, und Esme konnte hören, wie sie von ihrer Mutter in einer fremden Sprache heftig ausgeschimpft wurde. Sie riss den zugeknoteten Plastikbeutel auf und schüttelte sich die trockenen Krümel in den Mund, schluckte, ohne zu kauen. Sie blickte in den trüben Spiegel über dem Waschbecken und erblickte ihr fahles Gesicht. Mit der Hand am Wasserhahn stillte sie den Durst und rannte nach draußen.
Gerade noch rechtzeitig vor dem Grauhaarigen konnte sie auf die Rückbank rutschen und ihren Platz einnehmen. Die Mutter des Mädchens würdigte sie keines Blickes. Fabiana sah aus dem Fenster.
Die Rücklichter des Taxis mischten sich unter die vielen anderen, die vom Gare de l'Est in Richtung Périphérique strömten. Esme zog den Reißverschluss ihrer Jacke ein Stück höher und hielt ihren Stoffbeutel nahe am Körper.
Der Grauhaarige, seine Frau und das Mädchen wurden erwartet. Zwei junge Männer stiegen aus einem Auto und umarmten sie wortreich. Als sie abgefahren waren, blieb Esme mitten auf dem breiten Gehweg stehen. Sie war geblendet von den hell erleuchteten Schaufenstern, den Restaurants mit ihren beheizten Terrassen. Auf großen hölzernen Auslagen wurden frische Austern angeboten. Mehrmals wurde Esme von dem dichten Strom der Passanten angerempelt, bis sie sich langsam mitschieben ließ, eine Richtung einschlug. Vor einem kleinen Tabakladen stand ein klappriger Gartenstuhl, auf den sie sich müde setzte.
Jetzt wurde ihr die Waghalsigkeit ihres Unternehmens bewusst. Wie sollte sie Milena in einer Stadt wie Paris finden? Sie ließ die Augenlider halb sinken, sodass die Farben und der Glanz der Lichter verzerrt wurden. Geld hatte sie fast keines mehr. Ihr Handy war ihr schon in Österreich gestohlen worden.