Jungfernmord - Dagmar Hansen - E-Book

Jungfernmord E-Book

Dagmar Hansen

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Beschreibung

Als sich die Linnicher Herbergswirtin Edith im Frühjahr 1354 auf den Weg zur Burg Gripekoven macht, plant sie ihre geschäftstüchtige, aber säumige Magd zurück nach Hause zu holen. Doch sie kommt zu spät, das Mädchen ist tot. Obgleich sich die Belagerung der Burg anbahnt, bleibt Edith fest entschlossen, den Mörder ihrer Magd zu entlarven. Bald muss sie feststellen, dass der unerbittliche Feind nicht nur vor den Burgmauern lauert.

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Dagmar Hansen

Jungfernmord

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

Auf Mörderjagd Frühjahr 1354. Gerade erst gesund geworden, erfährt die Herbergswirtin Edith, dass ihre junge Magd Agnise einen gewinnversprechenden Handel mit einem jungen Edelmann abgemacht hat. Agnise sollte das ausstehende Geld in der berüchtigten Burg Gripekoven ausgezahlt bekommen. Die Rückkehr des Mädchens ist längst überfällig und Edith macht sich ohne Zögern auf zur Burg. Agnise, so findet sie beklommen heraus, hat diesen Ausflug nicht überlebt. Als Edith Fragen stellt, trifft sie auf ein Gespinst von Lügen, Schweigen und Ungereimtheiten. In dem Teichwirt Hanno findet sie einen Verbündeten, doch auch er scheint nach eigenen Regeln zu handeln. Genau wie seine unberechenbare Tochter Fidelis. Entschlossen, das Rätsel um den Tod der Jungfer aufzudecken, bleibt Edith in der Burg, obwohl die übermächtigen Truppen des Markgrafen von Jülich vor Gripekovens Toren Stellung beziehen. Bald erkennt Edith, dass ihr wahrer Feind nicht vor den Mauern steht …

Dagmar Hansen wurde in Aachen geboren und ist Zeit ihres Lebens dem Rheinland verbunden geblieben. Bereits von Kind an begeisterte sie sich für alles, was Einfallsreichtum voraussetzte und im Idealfall mit Tierliebe zu verbinden war. Hinzu kam später ein tiefgehendes Interesse an der facettenreichen Heimatgeschichte und die Lust, zu recherchieren. Diese beschränkt sich längst nicht nur auf das Lesen historischer Berichte und Besichtigungen eben dieser Orte, sondern wurde auch ab und an in Mittelalterlagern gelebt. Hier mimte die Autorin, wie sollte es anders sein, eine Feldköchin. Einige ihrer gerührten Erfolge und Fehlschläge finden sich in ihren Geschichten wieder. Heute lebt die Autorin zusammen mit ihrem Mann und zwei Katzendamen im Jülicher Land.

 

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rogier_van_der_Weyden_-_Portrait_of_a_Lady_-_Google_Art_Project.jpg

ISBN 978-3-8392-5802-6

- 1 -

Vor dem Haus rollte ein Fuhrwerk vorüber, zwei Männer unterhielten sich über die Straße hinweg, jemand pfiff ein Trinklied. Dann herrschte Stille, die wenig später von dem monotonen Ruf einer Taube unterbrochen wurde. Gurru, Gurru.

Irgendetwas war anders als sonst.

Edith schlug die Augen auf.

Sie war in ihrer Kammer. Die Sonne malte helle Flecke auf den Dielenboden. Leise Stimmen drangen durch den Boden zu ihr hinauf, gemischt mit den Geräuschen, die die Zubereitung einer Mahlzeit begleiteten. Betörender Duft verriet, dass es heute Zwiebeln und Rührei geben würde. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass es schon Mittag war. Mittag! Und dass Gäste in der Herberge waren.

Erschrocken fuhr Edith mit den Füßen in ihre Holzschuhe, die vor ihrem Bett standen. Sofort erfasste sie ein heftiger Schwindel und eine Welle der Übelkeit vertrieb augenblicklich das zarte Hungergefühl. Edith schloss die Augen, weiße Punkte tanzten wild vor dem Dunkel. Sie atmete tief und langsam, die Hände auf die Matratze gelegt, bis das flaue Gefühl verschwand. Als es ihr besser ging, unterzog sie sich und ihre Umgebung einer Bestandsaufnahme. Ihr Haar war nicht wie üblich zu einem Zopf geflochten, sondern hing ihr in feuchten Strähnen über die Schultern. Sie trug kein Kleid, nur ihr Untergewand, und dieses roch unangenehm klamm. Zwei Schaffelle, mit denen sie sich sonst nur in den Wintermonaten zudeckte, lagen über ihr Bett gebreitet.

Jemand, ihre Magd Grit vermutlich, hatte das Öltuch vom Fenster genommen, sodass kühle Luft in Ediths Kammer gelangte. Gut so. Edith versuchte, sich zu erinnern.

Sie hatte gearbeitet wie immer. Hatte Gäste bedient, dem Metzgerburschen den Korb Würste bezahlt, etwas gegessen. Ihre Gelenke schmerzten, bald darauf auch ihr Kopf.

Du bist bleich wie Milch, hatte Agnise besorgt gemeint.

Edith hatte dies aus einem Reflex heraus bestritten. Als einer ihrer Gäste vor ihr zurückwich, hatte sie sich zu gleichen Teilen geärgert und geschämt. Nachmittags war ihr flau geworden. Ihr Magen rebellierte, sie fror und schwitzte gleichzeitig. Obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, ahnte sie, dass es auch diesmal keine normale Erkältung war. Das Wechselfieber war zurückgekehrt.

Am folgenden Morgen hatte sie sich nach unten geschleppt und das Brot aufgeschnitten. Dann war sie einfach am Tisch sitzen geblieben, zu elend, um sich noch aufzuraffen. Ihre Wangen hatten geglüht und durstig war sie gewesen, den stechenden Halsschmerz hatte sie noch in Erinnerung.

Mehr aber nicht.

Edith stemmte sich von der Bettkante hoch, überrascht davon, wie viel Kraft dies erforderte.

Mit zweiunddreißig war sie nicht mehr die Jüngste, jedoch noch vor Kurzem packte sie das Leben bei den Hörnern. Jetzt war ihr nicht danach zumute. Nur allzu gerne hätte sie sich wieder hingelegt, die Decke über sich gebreitet und die Welt Welt sein lassen. Es war nicht leicht, die Verlockung beiseitezuschieben, doch die Vorstellung von dem feuchten, nun kalten Laken half.

Edith tauschte ihr Leibchen gegen ein frisches, kramte mühevoll ein sauberes Kleid aus ihrer Truhe hervor und zurrte die Schürze um die Taille. Der Zopf geriet ihr zerzaust, aber weil ohnehin die Haube darübergestülpt wurde, war es egal.

An der Stiege, nach unten hin, wurden die Stimmen kraftvoller. Zwei gehörten Männern, die sich in dem Dialekt der Brabanter unterhielten. Kaufleute waren sie, Edith lieb und teuer. Eine Hand am Mauerwerk ging Edith vorsichtig Schritt um Schritt die Treppe hinunter. Hier unten war einfach alles von dem Zwiebelduft eingehüllt. Grit stand bei der Kochstelle und rührte mit einem Holzlöffel in dem Kessel. Ihre Aufmerksamkeit aber war auf die Männer gerichtet, die an dem Tisch neben ihr saßen. Beide hatten leere Schalen und volle Bierbecher vor sich, waren gleichsam praktisch als auch teuer gekleidet und bestens gelaunt. Es waren Guy van Leuven und sein Sohn Luik. Beide gut genährt und mit roten Wangen, erfolgreiche Tuchhändler und führende Bürger ihrer Stadt. Edith lächelte ihnen entgegen. »Die Herren van Leuven. Wie schön, dass Ihr uns beehrt.«

Grit wirbelte mitten aus dem Rühren herum, Zwiebeln rutschten vom Löffel, platschten auf den Boden. Mit zweiundvierzig Jahren war Grit nur zehn Jahre älter als Edith, aber sie gehörte zu den Menschen, die man leicht älter schätzte. Die weit aufgerissenen Augen und der dürre, lange Hals erinnerten geradezu an ein aufgescheuchtes Huhn. Ein pflichtbewusstes, das sich sofort nach den Zwiebeln bückte, aber zwischendurch immer wieder aufsah. »Edith! Meine Güte, du hättest doch rufen können. Magst du etwas essen? Oder trinken? Beides natürlich! Setz dich hin. Ich bringe dir etwas Bier. Oder Wein zur Stärkung. Ja, Wein, mit Kräutern aufgekocht. Und Brot. Oder besser etwas anderes?«

Edith hob die Hand. »Mach nur weiter, damit unsere Gäste nicht hungrig bleiben. Ein Becher Dünnbier reicht mir für den Anfang. Und wenn du so gut wärest, mir nachher einen Bottich mit Wasser nach oben zu tragen.«

»Freilich!« Die Magd presste ihre Hand auf den mageren Brustkorb. »Jessas Maria und Juppes sei Dank! Ich dachte schon, dich holt diesmal der Meister Schnitter.«

Edith bemerkte den Blick, den ihre Gäste beklommen austauschten. Das hatten die van Leuvens selbstredend verstanden. Die Händler sprachen die niederrheinische Mundart recht gut. Niemand wollte außerhalb eines Spitals mit einer Siechen unter einem Dach sein. Oder gar an deren Tisch sitzen. Zu oft gingen solche Krankheiten tödlich aus. »Ach Grit, übertreibe nicht.«

Die Magd öffnete den Mund, doch bevor ihr ein Protest über die Lippen kam, verstand sie den Wink und zog die Schultern hoch. »So bin ich. Kann nichts dafür.«

»Nicht, dass ich einen Baum ausreißen könnte. Aber mit einem Grasbüschel würde ich es jederzeit aufnehmen«, erklärte Edith betont munter. Grit leerte ihre Hand über dem Resteeimer, ging zu der kleinen Theke hinüber, nahm einen Humpen von dem Haken und machte sich daran, das Bier einzufüllen. Edith wandte sich nun mit ganzer Aufmerksamkeit und einem Lächeln ihren Gästen zu. »Ich hoffe, es liegt nicht an der Herberge, dass Ihr so lange nicht hier wart?«

Guy, deutlich sprachgewandter als sein Sohn, hob beide Hände zur Entschuldigung. »Nicht doch, Mevrouw Edith. Ihr führt ein ausgezeichnetes Haus. Keine Bettwanzen, keine Diebe, frei von losem Weibsvolk, keine Saufgelage und das Essen, ach, was soll ich sagen: Es ist vorzüglich wie daheim. Ich habe vorhin zu Luik gesagt: »Luik, wenn wir das nächste Mal kommen, bringen wir Mevrouw Edith Rheinwein mit. Eine Blase für sie und eine, damit sie uns die Flusskrebse darin kocht wie de laatste keer. Diese delicaate Saus! Ein Gedicht!« Ein Schatten huschte über Guys volle Wangen. »Oder war das bei unserem vorletzten Besuch?«

Edith legte die Zeigefinger vor ihren Lippen zusammen und dachte nach. »So oder so muss es mehr als ein Jahr her sein.«

Guy schlug die Beine übereinander, lehnte sich wieder bequemer in den Stuhl. Seine Augen strahlten fröhliche Ruhe aus. »Bald, Mevrouw Edith, werden wir jeden warmen Monat hier essen. Mit vierzehn, achtzehn Mensen, so viele eben, die es braucht, um einen Tross mit feinsten Stoffen in den Norden zu fahren. Und schafft Heu herbei, für unsere Ezel. Wir zahlen es Euch. Und sein wir tevreden, unsere freunde zijn es ook.«

Edith nickte. Sie mochte die kleinen Sprachschnitzer ebenso gerne wie den Mann, dem sie über die Lippen kamen. »Dann sei es so. Was hat sich geändert, dass Ihr wieder die Straße nehmt?«

Guy strich den Finger unter der Nase vorbei. »Mevrouw Edith, wollt Ihr mich foppen?«

»Nein. Die Wege sind unsicher, das weiß ich. Wohlhabenden Kaufleuten aus Limburg, Brabant und Gelderland wird gelegentlich von den Gripekovenern aufgelauert und sie werden gefangen genommen und erst gegen Lösegeld freigelassen.«

»Gegen heel veelLösegeld. Aber damit ist nun Slot. Jetzt zieht Wilhelm von Jülich mit seinen Verbündeten gegen die Saubande.«

»Vater«, warf Luik sofort ein. Doch Guy winkte ab. »Es ist, wie ich es sage. Die Gripekovener sind Ritter nur dem Namen nach. Eine große Burg haben sie und Land, und viele Menschen haben bei den Brüdern Zywel Schulden. Maar sie schulden anderen noch mehr, und um das zu bezahlen, nehmen sie es von uns. Diepgeworteleld im Herzen sind diese Mannen Räuber.«

Edith sah zwischen den Brabantern hin und her. »Ein Feldzug ist schon seit Jahren im Gespräch, aber bisher liefen immer noch Verhandlungen und im Grunde glaubt niemand, dass es zu einer Einigung kommt.«

»Es ist, wie ich sage, Mevrouw. Schluss mit Reden. Der Jülicher zieht unter der Vlag des Königs. An seiner Seite sind Johann von Brabant und seine Vasallen, die Truppen des Erzbischofs von Köln, Graf Dietrich von Loen und sein Heer. Es sind viele Hundert Mannen, die sich aufmachen, die Gripekovenern das Fürchten zu lehren.« Guy legte seine fleischige Hand auf seinen Brustkorb. »Ik heb ook en donatie gegeven. Ihr versteht?«

»Eine Spende, ja. Unterstützung.« Edith wusste nicht, was davon zu halten war. Es war nicht übertrieben, als sie gesagt hatte, dass es schon jahrelang ein reges Hin und Her zwischen den verschiedenen Parteien gab. Manchmal, wenn auch nicht oft, hatten sich die berittenen Boten sogar in der Herberge getroffen und Nachrichten ausgetauscht. Oft genug ging es nur um den Zustand der Straßen und Passierzeiten oder von wo man ausgeruhte Pferde herbekam. Wenn man sich darüber hinaus ein bisschen für das Leben um sich herum interessierte, konnte man auch daraus Rückschlüsse ziehen. Es wurde gedroht, geplustert, beschwichtigt und letztendlich hielt man Frieden.

Dass nun ein Heer gen Gripekoven zog, erschien Edith wenig real.

Grit brachte das Bier für Edith. Ein paar Sätze sprachen sie noch über Belanglosigkeiten, dann häufte Grit das Essen in die Schalen der Gäste, reichte Brot dazu und Edith nutzte die Gelegenheit, um sich zu entschuldigen. Sie nahm ihren Becher und betrat, vorbei an der Theke, den hinteren Teil des Raums, in dem selten ein Gast Platz nahm. Gebrauchtes Geschirr stapelte sich auf dem Tisch, eine Schüssel mit Zwiebelschalen stand zwischen trockenen Wurstpellen und Fischschuppen und auf dem Boden in einer Ecke lagen die Hinterlassenschaften einer Mäusefamilie.

Edith hob die Stimme. »Grit, kommst du mal?«

Die Magd war rasch zur Stelle, drehte einen Fuß hin und her, wie sie es immer tat, wenn sie verlegen war. »Das ist eine Ausnahme. Ich habe mir gedacht, ich sehe zuerst nach den Gästezimmern. Da können wir nun die Herren van Leuven einquartieren. Die beiden kleinen Kammern sind morgens frei geworden und im Gemeinschaftsraum habe ich drei Zinngießer untergebracht. Sie kommen von Magdeburg und wollen nach Köln. Ihre Füße sind in einem schrecklichen Zustand. Ich habe ihnen von der gelben Ringelblumensalbe gegeben. Die letzte«, fügte sie etwas beschämt an. »Ich werde neue rühren. Gleich morgen. Ich trage dir erst das Wasser nach oben, dann versorge ich die Kaninchen und anschließend räume ich hier auf.«

»Wo ist Agnise?«

»Weg. Aber sie kommt bestimmt bald wieder. Bestimmt. Morgen oder so.«

»Grit, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Was ist los?«

Grit wich Ediths Blick aus. »Vor vier Tagen, wir hatten dich gerade nach oben verfrachtet, machten hier zwei Männer halt. Sie gehörten zu Herrn Heinrich von Coslair, waren auf dem Weg nach Gripekoven und fragten nach etwas zu essen. Ich habe ihnen angeboten, Brot aufzuschneiden, aber das war ihnen nicht genug. Einer von ihnen drängte sich an mir vorbei in die Speisekammer und begann sofort, sich Käse und Würste in die Taschen zu stopfen. So was habe ich noch nie erlebt! Agnise und ich haben sie nicht davon abhalten können. Edith, das hättest du sehen sollen. Ich habe mir einen Besenstiel geschnappt, wütend wie ich war, aber Agnise rechnete in Windeseile aus, was sie uns schuldeten. Mit dem Fleisch waren es neun Mark und vier Groschen.«

Edith stieß einen leisen Pfiff aus. »So viel?«

»Sie haben gegriffen, was zu greifen ging. Alles, was der Metzger uns gebracht hatte, und noch mehr. Als es dann ans Bezahlen ging, wurden die Kerle ganz schweigsam. Münzen hätten sie nicht dabei, aber die Taschen wollten sie auch nicht wieder ausräumen.«

»Sie haben uns bestohlen?«, folgerte Edith.

»Nein. Nicht direkt jedenfalls. Der jüngere Kerl händigte Agnise das Siegel seines Herrn als Pfand aus. Sie solle damit nach Gripekoven kommen, dort würde Herr Heinrich von Coslair die Schuld begleichen. Agnise ist gleich am nächsten Morgen losgegangen. Sie ist bisher nicht zurückgekehrt.«

Edith sah die tiefe Sorge in Grits Gesicht. Sie war berechtigt. Agnise war jung und kräftig. Gripekoven lag knapp einen halben Tagesmarsch entfernt, sie hätte am Abend des gleichen Tages zurückkehren müssen. Grit setzte sich auf den Rand eines Hockers und besah ihre Fingernägel. »Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, schon gar nicht allein, aber es war viel Geld. Und sie war so … ach, wie soll ich sagen … zuversichtlich und lebensfroh. Sie wollte das.«

»Wusstet ihr, dass die Truppen gegen die Burg ziehen?«

»Was man halt so hört. Dass sie unterwegs sind, aber noch weit genug entfernt. Agnise war sich sicher, dass sie schnell genug sein würde. Außerdem …«, Grit schluckte hörbar. »Ich glaube, sie wollte auch nicht, dass der Mann wegen des Siegels Ärger mit seinem Herrn bekam. Dieser Raimund schien ihr zu gefallen, und ich glaube, es war auch umgekehrt so. Dabei habe ich Agnise schon hundertmal gesagt, dass es nichts außer Tränen und einen dicken Bauch einbringt, wenn sich eine Magd mit einem Adelsherrn einlässt.«

»Bisher hat sie keinen angeschaut. Und nun ist sie siebzehn, hübsch und kehrt nicht von einer Burg zurück, die bald umkämpft wird.« Edith fackelte nicht lange. »Ich werde Agnise holen.«

»Vielleicht … also, es kann ja auch anders sein«, wandte Grit mit dünner Stimme ein.

»Du meinst, man könnte sie ausgeraubt haben. Um so mehr ein Grund, nach dem Mädchen zu suchen.«

»Sie könnte damit durchgebrannt sein. Wäre doch möglich.«

Edith sah Grit ungläubig an. »Das meinst du nicht ernst, nicht wahr?«

Grit rang die Hände. »Du weißt nicht, woher sie stammt. Ob ihre Eltern redliche Menschen waren.«

»Agnise ist seit Jahren in meinem Dienst und hat sich an jedem einzelnen Tag als treu und ehrlich erwiesen.«

»Möglich wäre es trotzdem«, beharrte Grit.

Edith hatte genug gehört. Ärgerlich verschränkte sie die Arme. »Was ist los mit dir, Grit? Du kennst Agnise. Sei ehrlich: Hat sie dein Misstrauen wirklich verdient?«

Die Magd ließ die Schultern hängen. »Hat sie nicht. Aber was ist, wenn du auch nicht wiederkehrst? Die Arbeit schaffe ich, das ist kein Problem. Wärest du nur ein bisschen später hinuntergekommen, hättest du hier alles blitzblank vorgefunden. Doch wenn du weg bist … Dir gehört das alles. Deine Gäste kommen nicht nur wegen der schönen Betten, sondern auch, weil du hier bist. Weil du Ideen hast, wenn jemand ratlos ist, weil du Menschen zusammenbringst, sodass sie voneinander profitieren. Und es müssen Entscheidungen getroffen werden.«

»Du bist seit elf Jahren bei mir und du kennst mich wie niemand sonst. Du weißt, wie ich handeln würde. Außerdem bin ich bald wieder da.«

Edith ging vor der Magd in die Hocke und legte eine Hand auf Grits unruhige Finger. »Ich komme wieder, mit oder ohne Agnise.«

»Schwöre es.«

»Grit, was soll das? Ich werde alles tun, um mein Versprechen einzuhalten. Und nun mach mir etwas Wasser warm. Wenn ich in eine Burg gehe, will ich nicht nach dem Krankenlaken riechen.«

Als Edith sauber war und ihr bestes Kleid vor der Brust zuschnürte, kamen ihr Grits Worte in den Sinn. Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass Grit recht hatte, man konnte in den Menschen nicht hineinsehen. Agnise war weder eine Heilige noch eine Klosterschülerin. Sie war ein anständiges und auch lebenshungriges Mädchen. In dem Alter, wo man glaubte, alles zu wissen, und doch erst so wenig kannte, in einem Alter, in dem nicht nur das Leid, sondern auch das Glück schreckliche Wunden zufügen konnte. Edith ruckte die Schnürung noch ein wenig enger. Daheimbleiben und warten war keine Option. Dies würde sie sich niemals verzeihen. Also war es entschieden. Sie musste los und zwar sofort, was bedeutete, dass sie in oder bei der Burg übernachten müsste.

Edith betrachtete die Gegenstände, die vor ihr auf dem Tisch lagen, und verglich sie mit ihren Überlegungen. Löffel, Tischmesser, ein Ersatzhemd, den Gurt, darin drei Halbpfennige. Ein zweites Münzsäckchen, versteckt zwischen den Rockfalten getragen, drei Mark und drei Binger Heller darin. Kein Vermögen, aber genug, um – falls erforderlich – einen Gefallen kaufen zu können. Kamm. Socken. Eine kleine Dose, in der sie Salz zum Reinigen der Zähne aufbewahrte. Edith zögerte, packte die Dose dann aber auf den Haufen. Und natürlich ihre Essschale.

Das war viel Gepäck für einen einzigen Tag und wahrscheinlich war es völlig unnötig. Trotzdem, sie war lieber gut für alle Fälle gerüstet.

Nach kurzem Abwägen packte Edith etwas Wolle, Zunderschwämmchen, Feuerstein sowie zwei Kerzen dazu. Sie hängte sich die Tasche um, rückte die Haube wieder über ihrem Zopf zurecht und nahm ihr Schultertuch von dem Haken neben der Tür. Jetzt im Mai waren die Tage schon warm, die Nächte aber brachten empfindliche Kühle mit sich. Und nicht zu vergessen, dass sie ja erst gerade wieder auf den Beinen war. Dass sie sich noch angeschlagen fühlte, bereitete Edith ein bisschen Sorgen, aber davon brauchte Grit nichts zu wissen.

- 2 -

Das Land gehörte der Abtei Prüm, die es von den Vögten zu Randerath verwalten ließen. Es war nicht das Schlechteste, hier zu leben. Die Pachten waren bezahlbar und die Herren zu Randerath standen in dem Ruf, gerecht zu sein. Das Land, auf dem Ediths Herberge stand, gehörte genau genommen nicht ihr. Aber als Ediths Mann vor zwölf Jahren bei dem Versuch, einem Neffen eines Randerather Vogts das Leben zu retten, starb, hatte man der jungen Witwe die Pacht auf achtzig Jahre überlassen. Der Junge war ins Eis eingebrochen. Er und auch Ediths Mann konnten nur noch tot geborgen werden. Eine schlimme Zeit, in der sie von einem Tag auf den anderen alleine dastand. Damals war sie überzeugt, nie wieder Glück empfinden zu können. Doch die Jahre ließen den Schmerz verblassen und mittlerweile gefiel es ihr, schalten und walten zu können, ohne dass sie einem Mann unterstellt war. Meistens jedenfalls.

Größere Städte suchte man ringsum vergebens, über das weite Land waren Höfe und kleinere Ansiedlungen verteilt. Wälder gab es, dicht und dunkel, in denen Wölfe, Rotwild und Wildschweine lebten. Ein beruhigender Anteil des Landes war urbar gemacht. Felder gab es, auf denen Roggen, Einkorn, Zwiebeln und Kohl angebaut wurden. Und dazwischen umzäunte Wiesen, auf denen Vieh weidete.

Im Mai hatten die Bauern alle Hände voll zu tun. Viele der Äcker und Schollen waren bereits beackert, Kompost und Mist mussten untergepflügt, Saatgut ausgebracht, Schnecken und Raupen von den zarten Schösslingen abgesammelt werden. Edith hatte sich entschieden, nicht über die Handelsstraße zu gehen. Es wäre ohnehin nur ein kurzes Stück gewesen, breit und gut befestigt und wahrscheinlich auch sicherer als der von ihr gewählte Pfad. Dennoch ging sie lieber an den Mühlen vorbei und an den Menschen, die dort arbeiteten. Einige von ihnen kannte sie, man grüßte sich, aber zu mehr blieb keine Zeit. Der Himmel wurde bereits dunkler.

Edith legte eine kurze Pause ein, doch als sie merkte, dass ihr die Augen zufielen, riss sie sich zusammen und marschierte weiter. Sie kam gut voran und bald bestätigte ihr ein Bauer am Wegesrand, dass sie Gripekoven vor Einbruch der Nacht erreichen würde.

Von der Burg hatte sie gehört, aber vorstellen konnte Edith sie sich nicht. Das Gemäuer stand noch nicht lange und dessen schiere Größe stellte jede andere Wehranlage der Umgebung in den Schatten, hieß es. Das ummauerte Gelände sei riesig. Es sollte Unmengen von Teichen, Bächen, Quellen und Gräben geben, eine eigene Mühle und Schmiede, Öfen und sogar eine Ziegelbrennerei.

Als dann endlich die Wehrmauer in Sicht kam, war Edith erleichtert. Ein einsamer Wagen rollte der untergehenden Sonne entgegen, ein Pulk Schwalben sauste durch die Lüfte. Edith atmete tief durch und wünschte sich für einen schwachen Moment lang in ihre Herberge zurück. Dort gäbe es nun das Vesperbrot und wahrscheinlich würde Guy van Leuven eines seiner Abenteuer erzählen. Es wäre ein schöner Abend.

Wie der ihre verliefe, würde Gott alleine wissen.

Sei’s drum. Agnise hatte sich ohne Zögern daran gemacht, ihr Geld einzutreiben. Und Edith würde nun auch nicht kneifen. Von dem Aufmarsch des gewaltigen Heeres war nichts zu sehen. Na bitte. Wieder nur Gebaren.

Hoffentlich.

Die Wehrmauer war gewaltig. In einem Umkreis von geschätzten dreihundert Schritten standen weder Baum noch Strauch. Zahlreiche Stümpfe zeugten davon, dass hier einmal ein Forst gestanden haben musste. Ein Großteil des Holzes war für den Burgbau verwendet worden, ebenso brauchte man Brennholz. Zudem: Je näher ein Wald an eine Burg heranreichte, desto besser konnte sich dort ein Feind verschanzen, Zweige und Blätter als Schilde nutzen. Gepanzerte Schützen beobachteten die Gegend.

Edith schluckte ihr mulmiges Gefühl hinunter, fühlte sich, als sei sie dabei, Verbotenes zu tun. Trotzdem ging sie weiter. Der Weg war staubig und mündete in eine herunter gelassene Zugbrücke. Mittels armdicken Ketten konnte sie bei Bedarf nach oben gezogen werden. Eisenzähne hoch oben im Torbogen verrieten, dass der Zugang von einem Fallgitter geschützt wurde. Edith hielt auf das Tor zu. Flankiert wurde es von zwei Wächtern, die sie argwöhnisch betrachteten. Eine helle Glocke war zu hören. Die Wachen stellten die Speere beiseite und zogen die Torflügel aufeinander zu. Edith drückte ihr Bündel an sich, ging schneller, der Spalt wurde kleiner. Die würden ihr glatt das Tor vor der Nase schließen. Kaum noch sieben Schritt breit, sechs, fünf. Sie lief. Holz stieß auf Holz, ein schweres Poltern schloss sich an.

Fassungslos starrte Edith auf die eisenbeschlagenen Torflügel, ratlos, was nun zu tun sei. Zum Umkehren war es zu spät, und überhaupt, das war keine Option. Genauso wenig, wie ohne schützendes Dach im Freien zu übernachten. Ein dünnes Quietschen ließ Edith nach links sehen, wo ein altes, freundliches Gesicht aufgetaucht war. »Wenn Ihr keine Wurzeln geschlagen habt, kommt herüber. Ich muss die Mannpforte zuschließen.«

Der Name der engen Tür war selbsterklärend.

»Edith, Herbergswirtin zu Linnich. Ich möchte zu Herrn Heinrich von Coslair.«

Der Alte ließ Edith eintreten, drehte den Schlüssel im Schloss und winkte einem jungen Mann, der ein robustes Brett als zusätzliche Sicherung anbrachte. Der Wächter ging einige Schritte voraus, dann wartete er auf Edith. »Ist es wichtig oder kann das noch bis morgen warten?«

»Am besten, er entscheidet dies selbst. Es geht um sein Siegel.« Das war nicht ganz gelogen und brachte Bewegung in den Mann. Er schickte einen Jungen zu einem Kameraden und die Männer tauschten ein paar Sätze aus. Edith wurde wenig später in die Obhut eines hochnäsigen Dritten übergeben, dessen Kleidung so wirkte, als arbeite er nicht oft draußen.

Rechts von ihr gab es einen Platz, an zwei Seiten von der Wehrmauer begrenzt. Nach Norden hin eröffnete sich eine gepflasterte Straße, ebenfalls von einer Mauer gesäumt, darauf befand sich ein weiterer Wehrgang, über dem sich ein spitzes Dach aus Ziegeln erhob.

Es war ein beklemmendes Gefühl, hier unten zu sein mit dem Wissen, dass dort oben Bogenschützen standen. Zwei mächtige Außentürme flankierten die Straße, die vor einem dreistöckigen Gebäude endete. Es war riesig, ganz aus hellem Sandstein errichtet, besaß Glasfenster und ein Dach aus Schieferschindeln. Es gab kleinere, spitze Türme und eine Treppe, an deren Fuß mehrere Männer beratschlagend zusammenstanden. Über allem wehte das blaue Banner mit den weißen Punkten derer zu Gripekoven.

»Der Palas«, sagte Ediths Begleiter. »Warte hier.«

Edith nickte. Sie sah sich um. Es ging lebhaft zu. Eine weitere Gruppe Männer stand vor einem Haufen Rüstzeug. Einzelne Stücke nahmen sie heraus. Edith erkannte einen Handschutz, an dem sich nur noch ein Finger befand. Das Teil wurde an einen gedrungenen Mann weitergereicht. Der Schmied, vermutlich. Einige Kinder trieben eine Gänseschar vorüber, zwei Knechte schleppten Wassereimer in den Palas. Ein untersetzter Mann schlug eine Decke aus und sah zu ihr herüber. »Neu hier?«

»Ja«, antwortete Edith mit einem unverbindlichen Lächeln, das von dem Mann breit erwidert wurde. Er schlenderte heran und taxierte sie von der Haube bis zur Sohle. »Ist schon spät. Du brauchst einen Schlafplatz.«

»Sieht so aus, ja.«

»Du bist alleine, wie ich sehe. Ist nicht ganz ungefährlich hier bei uns. Viele Männer, wenige Frauen. Ist gut, wenn einer da ist, der aufpasst.«

»Du, oder wer?« Solches und ähnliches Schwafeln hatte Edith schon zuhauf gehört. Meist waren Bier oder Wein im Spiel. Dieser Mann roch jedoch nicht nach Alkohol, sondern streng nach Tier. Der Mann grinste geschmeichelt. »Könnte schon sein.«

»Ich bin weder auf der Suche nach einem Freund noch nach einem Gefährten für die Nacht«, patzte Edith unfreundlich. Der Kerl grinste selbstgefällig. »Du bist nicht mehr taufrisch, Goldstück. Ich mag nicht der Schönste sein, aber dir wird keiner mehr den Hof machen.«

Den Hof machen? Edith holte zu einer giftigen Antwort aus, bemerkte aber aus dem Augenwinkel, dass der Diener zurückkehrte.

»Der Herr von Coslair ist beschäftigt. Es ist Vesperzeit.«

»Und später?«

»Die Adelsleute haben viel miteinander zu bereden.«

»Und morgen?«

»Keine Ahnung.«

»Dann werde ich warten«, erklärte Edith ihrem gereizten Gegenüber. Die Geduld des Dieners war nahezu aufgebraucht, aber aufgrund Ediths besserer Kleidung scheuchte er sie auch nicht fort, wie er es sicher längst bei einer Magd oder Bauersfrau getan hätte. Ediths Plan ging auf. »Niemand lungert hier wie ein Almosenempfänger herum, verstanden?

Zurück zu den Türmen, davor geht rechts ein Pfad ab. Den gehst du immer weiter durch, bis du an der Vorburg rauskommst. Sag Susa, das ist die Bucklige, dass sie dir etwas zu essen geben soll. Und einen Platz zum Schlafen, in Gottes Namen.«

Edith neigte den Kopf, eine Geste, die sie sich bei einer würdevollen Äbtissin abgeschaut hatte. Sie hatte ihr schon mehrfach den nötigen Respekt verschafft. »Dann wünsche ich eine gute Nacht.«

Edith spürte, dass ihr der Diener nachsah, hob den Kopf ein wenig höher, streckte den Rücken gerader und folgte der Beschreibung. Der Pfad, offenbar nur für Fußgänger gedacht, führte zwischen einem kleinen Acker und einem Teich hindurch.

Dann endlich fiel das empfundene Gefühl, beobachtet zu werden, von Edith ab und sie nahm wieder ihre natürliche Haltung ein. Ihre Füße brannten, ihre Beine fühlten sich weich an, was allerdings eher der Aufregung als dem Marsch geschuldet war. Größer als ihre Müdigkeit war ihre Neugierde. Und natürlich hoffte sie, Agnise zwischen den Dienstleuten sitzen zu sehen. Fröhlich, satt und mit einem gerüttelt Maß an schlechtem Gewissen. Ein wunderbar gepflegter Gemüsegarten lenkte Ediths Gedanken auf das, was sie sah. Reihe um Reihe verschiedener Salate, erstes Erbsengrün rankte an Reisigzweigen, in den Boden gesteckte Holzstangen verrieten die Anzucht von kletternden Bohnen. Edith hatte das Gefühl, dass es mit jedem ihrer Schritte dunkler wurde.

Die Vorburg besaß, wie alles an Gripekoven, erstaunliche Ausmaße und vereinigte gleich mehrere Wirtschaftshäuser. Edith ging langsamer und sog den Duft ihrer Umgebung ein.

Ställe gab es, Lagerräume für Heu, Stroh und die unterschiedlichsten Waren, vermutlich Trockenkammern, Waschstube, Zuberhaus, Brauerei, Backhaus, Käserei.

Gemessen an dem Betrieb am Palas war hier kaum etwas los. In einem Gebäude waren noch zwei Läden geöffnet, schwaches Licht fiel in den Hof. Entferntes Hämmern war zu hören und das immer gleiche Klacken eines Webstuhls. Ein großer grauer Hund buddelte in dem Misthaufen, etwas quiekte schrill. Edith wandte den Kopf ab. Der Duft eines deftigen Erbsengerichts wehte über den Platz und von da aus direkt in Ediths leeren Magen. Wann hatte sie zuletzt etwas Warmes gegessen? Vor dem Fieber … liebe Güte. Kein Wunder, dass sie sich flau fühlte. Edith hatte die Küche gefunden. Entlang der Wände standen große, nun leere Tische, daran gerückt schlichte Bänke. Geradeaus hing ein Kessel an einer Kette, die anderen Kochplätze waren leer. Ein paar Kohlestücke glommen in einer Schale, zwei Talglichter erhellten den hinteren Teil des langgezogenen Raums. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Edith, dass sie nicht alleine war. Auf einem Schemel bei dem Kohlebecken saß eine Frau, die sie unter buschigen Augenbrauen hindurch beobachtete. »Willst du zu mir?«

»Falls du Susa bist: ja.«

»Wenn man von mir spricht, wird mein Buckel erwähnt. Ich bin die Einzige hier, die damit gestraft ist. Und was willst du?«

»Am Palas hieß es, ich könnte hier etwas zu essen bekommen. Mein Name ist Edith von Linnich.«

»Das Essen wird nur noch lauwarm sein, es ist ohnehin nur noch ein Rest. Bedien dich. Gehörst du zu Hermann? Es hieß, er hätte ein paar Huren mitgebracht. Einige unserer Edelleute halten schon die Münzen parat. Du kannst dir leicht eine goldene Nase verdienen.«

Edith holte verschnupft ihre Essschale hervor. »Meine Nase gefällt mir, wie sie ist, und ich bin ohne Herr und ohne Mann. Das soll auch so bleiben.«

»Oh. Verzeihung.« Edith meinte, ein wenig Spott in Susas Stimme zu hören, ging aber nicht darauf ein. Susa machte einen wachen Eindruck, wie jemand, der bestens über alles Bescheid wusste. Edith schöpfte Erbsenmus in ihre Schale und setzte sich an den Tisch. Der Brei schmeckte köstlich. Ein wenig süß, mit Zwiebeln, Schloten und Petersilie. Edith bereute schon nach dem ersten Bissen, ihre Schale nur bescheiden gefüllt zu haben.

»Ich suche meine Magd. Agnise. Kennst du sie?«

Susa legte den Kopf ein wenig schräg. »Deine Größe, aber schmaler. Siebzehn Jahre, weizenblondes Haar. Kaum Busen und das Gesicht eines Engels?«

»Ja.« Edith lächelte erleichtert und machte sich daran, das letzte Mus aus der Schale zu kratzen. »Ich möchte sie nach Hause holen.«

Susa seufzte. »Du wirst ohne sie zurückkehren müssen.«

»Das soll sie mir selbst sagen. Hat sie sich verliebt? Oder ist sie krank?«

»Sie ist tot. Starb am Fieber.«

- 3 -

Edith hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Tot? Sie konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben. Alles in ihr weigerte sich. Und doch stand sie hier unter dem Nachthimmel, die Luft feucht, die Sterne näher als ein Trost.

Jemand hatte zwei Stöckchen mittels einer Schnur zu einem Kreuz gebunden und es auf den frischen Erdhügel gelegt. Edith sank auf die Knie, die Hände vor den Mund gefaltet, und betete flüsternd.

Dann, mittendrin, vergaß sie den Text. Zu der Furcht gesellte sich bald das bittere Gefühl der Schuld, und Ediths Gedanken kreisten immer wieder um den letzten Moment, den sie mit Agnise verbracht hatten. Da war sie selbst schon krank, hatte sich schwach und übel gefühlt, trotzdem noch gearbeitet. Wie man es eben so machte.

Und wahrscheinlich hatte sie Agnise auf diese Weise umgebracht. Herrgott, was war das für ein Fieber, das eine Frau wieder entließ, einem Mädchen aber das Leben nahm, noch bevor sie erwachsen wurde? Ob es Grit gut ging? Ob sie überhaupt noch lebte? Und Guy? Sein Sohn? Natürlich, rief sich Edith in Erinnerung. Es ging ihnen allen gut, sie hatte sie eben noch gesprochen.

Wenn da nur nicht diese zermalmende Furcht wäre. Oh, Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte! Bitte, lass ihnen nichts zugestoßen sein.

Edith blieb an dem Grab, bis die Vernunft sie zur Rückkehr in die Vorburg zwang. Susa, die erklärt hatte, dass sie schlecht zu Fuß sei, wartete in der Küche. Sie hatte ein frisches Talglicht entzündet. Daneben standen ein Krug und zwei Becher, von denen Susa Edith einen entgegenhielt. »Met. Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung vertragen.«

Edith nickte, stellte den Becher aber vor sich ab. »Hast du einen Schlafplatz für mich?«

»Natürlich. Du hast das Grab gefunden?«

»Ja. Ist sie …« Edith wischte mit dem Handrücken eine Träne fort. Susa hatte sie auch so verstanden. »Es ist alles so passiert, wie es sich für einen Christenmenschen gehört. Ich selbst habe Agnise gewaschen und hergerichtet, und ich habe es so getan, wie ich es für eine Tochter tun würde. Sie ruht eingehüllt in ein Laken, in den Händen ein gesegnetes Sträusschen vom Osterfest. Und Vater Walther hat am Grab zu unserem Allmächtigen gebetet. Er fand schöne und berührende Worte, Edith. Agnise ist in Würde von uns gegangen.«

Edith nippte an dem Honigwein. Unter anderen Umständen hätte sie ihn genossen, schwer, rar und süß, wie er war. Doch jetzt war er einfach nur eine Flüssigkeit, die die Rauheit ihrer Stimme milderte. »Erzählst du mir genau, was passiert ist?«

»Ich habe Agnise nicht wirklich kennengelernt. Sie kam eines Mittags zu mir in die Küche, genau wie du vorhin. Es gab Brot und Schmalz und Agnise fragte, ob sie eine Nacht bleiben dürfe. Sie habe etwas zu erledigen, meinte sie. Näheres erwähnte sie nicht, aber es schien ihr nicht ganz leichtzufallen. Ich war einverstanden, gab ihr ein Bett in der Gästekammer. Abends sollte ein kleines Fest stattfinden und jemand hatte sie gebeten, dazuzukommen. Als ich Agnise das nächste Mal sah, war sie schon kalt.«

»Und dazwischen?«

»Hat sie mit den jungen Leuten gefeiert. Sie treffen sich manchmal an der Ruine der alten Burg, sind da unter sich. Sie binden mir nicht gerade auf die Nase, was dort passiert. Was wird’s schon sein? Kichern, ein bisschen Gerangel, Wimpernklimpern der Mädchen, Balzen der Burschen, vielleicht haben sie gesungen, getrunken und getanzt.«

»Wer war dabei?«

»Ich weiß keine Namen.«

»Raimund? Agnise und er hatten etwas füreinander übrig.«

Susa machte große Augen. »Der Knappe? Dass er sich einer Gruppe von Mägden und Knechten anschließt, halte ich für wenig wahrscheinlich. Das würde Heinrich von Coslair kaum dulden. Er ist der Meinung, dass ein Ritter, der ernst genommen werden will, Abstand halten sollte. Raimund ist keiner, der gegen Anordnungen rebelliert. Ich achte auch darauf, dass meine Mägde die Ordnung einhalten. Bei Anbruch der Dunkelheit haben sie in ihren Betten zu liegen, und zwar allein.«

Edith schob den Becher beiseite. Sie hatte das Gefühl, einen klaren Kopf zu brauchen. »Niemand hat mitbekommen, dass Agnise krank war?«

»Denkbar, dass sie einer der Mägde erzählte, dass sie sich nicht wohlfühlte. Andererseits … Agnise kam vom Land.«

»Aus Linnich«, stellte Edith klar.

»Bei dir klingt es, als sei Linnich der Nabel der Welt. Dabei ist es nur ein weit gestreuter Verband aus ein paar verschlafenen Fronhöfen.«

»Es sind achtunddreißig Höfe. Mittlerweile haben sich ein Stellmacher angesiedelt, ein Schreiber, eine Pastetenbäckerin, die Imkerin, ein Schafbauer, zwei Weber, ein Hühnerzüchter und ein Schweinemetzger. Und es gibt meine Herberge. Linnich liegt an einer großen Handelsstraße. Die Herren von Randerath halten im Quartal Gericht und es heißt, dass wir sogar eine Münzerei bekommen. In spätestens sechs Jahren erteilt man uns das Stadtrecht«, verteidigte Edith ihre Heimatstadt. »Willst du sagen, wir sind dort verweichlicht?«

»Na, meinetwegen Linnich. Aber das Leben in einer Burg, die Gelegenheit, Gleichaltrige kennenzulernen, sogar aus Adelskreisen, dazu ein kleines Fest. In diesem Alter, bei dieser Aussicht, hättest du dich da von Schaudern oder Fieber aufhalten lassen?«

»Nein«, gab Edith zu. »Sie ist also mit den anderen zurückgekehrt. Und morgens wurde sie tot in ihrem Bett gefunden?«

»Eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Auch wenn es kein Trost ist: Sie hat nicht gelitten. Du hattest das Mädchen gerne, nicht wahr?«

Edith senkte den Kopf. »Sie war eine Waise und mir wie ein Kind, das ich nie hatte.«

»Aber du hast Familie? Einen Mann?«

»Keinen Mann. Zwei Schwestern, einen Bruder, aber sie leben so weit entfernt, dass wir uns nur selten sehen. Und ich bin Tante einer ganzen Meute von Nichten und Neffen.«

»Na, da bist du mir voraus. Nachdem meine Mutter meine Missgestalt sah, hat sie meinen Vater nicht mehr ins Bett gelassen. So trägt jeder sein Kreuz.«

Das erste der Talglichter erlosch, die anderen beiden flackerten schon bedenklich. Edith erhob sich und schob den Stuhl unter den Tisch. »Es war ein langer Tag.«

»Mein Bett steht hier unten.« Susa kletterte von dem Schemel und ging mühsam zu einem Topf, der auf einer Anrichte stand. Sie lupfte den Deckel, holte eine Kerze hervor und entzündete sie an einem Talglicht. »Pass auf, dass sie nicht ausgeht. Hier, dein Bündel. Du musst ein gutes Stück gehen. Es gibt eine Gästekammer. Ich beschreibe dir, wie du dort hinkommst.«

Die Kammer erwies sich als schlichter quadratischer Raum, in dem drei Betten standen. Edith war die einzige Besucherin. Sie entschied sich für das Bett gegenüber der Tür, holte einen Hocker, auf den sie das Licht stellte, und war froh, einen Riegel hinter sich zuschieben zu können und nicht länger reden zu müssen. Es gab weitere Fragen, viele sogar, aber sie hatte das Gefühl, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin keine neuen Antworten aufnehmen konnte. Die frische Genesung, der weite Marsch, die Erlebnisse des Tages und die Trauer vermischten sich und Edith fiel in einen unruhigen Schlaf. Dennoch erwachte sie, kaum dass es hell war. Sie ließ sich Zeit und derweilen sie ihren Zopf flocht, überdachte sie noch einmal die Unterhaltung mit Susa. Obwohl es Edith ein bisschen niederträchtig vorkam, blieben ihre Überlegungen am Geld hängen. Hatte Agnise noch Gelegenheit gehabt, die Schuld einzutreiben, das Siegel gegen die Münzen zu tauschen? Darüber hatte Susa kein Wort verloren. Wahrscheinlich, weil sie nichts darüber wusste. Es würde zu Agnise passen, dass sie sich diskret verhalten hatte. So, wie sie es in der Herberge auch hielten. Man tat, was zu tun war, ohne Fanfaren und Getrommel.

Oder hatte Susa die Münzen in Agnises Kleidung gefunden und sie behalten? Natürlich stünde ihr ein Lohn zu, aber gerecht sollte er sein. Neun Mark und vier Groschen waren ein kleines Vermögen. Nun gut, sie würde Susa fragen. Es war auch nicht auszuschließen, dass die Münzen im Grab des Mädchens lagen. Verflixtes Geld. Verflixte Wursträuber.

Der Morgen war frisch und die Luft noch frei von dem Rauch der Feuer. Die Wehrmauern waren mit Wachen besetzt.

Der Hof der Vorburg wirkte seltsam verlassen. Bestimmt saßen alle Dienstfreien beim Frühmahl, es wäre die richtige Zeit. Und auch sie hätte nichts gegen ein paar Löffel Getreidebrei einzuwenden gehabt. Ob Gripekoven wohl zwei Küchen besaß? Eine hier, die andere im Palas, um die Edelleute zu versorgen?

Es gab kein Frühmahl und die Küche war bis auf Susa leer. Das Feuer unter dem Kessel war nicht richtig in Gang, graue Rauchschwaden schlugen Edith entgegen. Susas Augen waren gerötet, ihr Atem ging stoßweise, aber sie saß am Tisch und siebte Mehl. Als sie Edith sah, kam nur noch ein Krächzen über ihre Lippen. Ohne langes Federlesen nahm Edith den Schürhaken und zog das Feuerholz auseinander. Ein Blick genügte: »Das ist viel zu nass!«

Susa wedelte sich mit der Schürze Luft zu und deutete auf einen Steinkrug. Darin war Wasser. Sie nahm einen guten Schluck und nach einem Räuspern gehorchte ihr ihre Stimme wieder. »Ich hoffte, dass es trotzdem funktioniert. Das abgelagerte Brennholz und die Kohlen brauchen sie an der Wehrmauer. Es gibt noch Holz, aber das ist hinter der Kapelle gestapelt und ich bin alleine hier.«

»Wo sind die anderen Mägde?«

»Fort. Wir sind noch zu sechst, ich habe die anderen in den Palas geschickt. Kochen, für die Herren. Wenn die Mägde drüben fertig sind, kommen sie mir helfen. Und von den Handwerkerfrauen wird sicher die eine oder andere auch gleich hereinschauen.«

Edith nahm eine der Schürzen, die an Haken hingen, und band sie sich um. »Sag mir, was noch zu tun ist.«

»Du solltest nach Hause gehen, wirklich, das meine ich ernst.«

»Werde ich, aber da ist noch etwas, was ich nicht verstehe. Vielleicht kannst du es mir erklären. Derweilen ich zuhöre, kann ich arbeiten.«

»Dann fülle den Kessel mit Wasser. Sicher geht es um Agnise. Aber ich habe dir schon alles gesagt.«

»Hatte sie Geld bei sich?«

»Nein.«

»Was ist aus ihren Sachen geworden? Kleidung, Tasche, Schuhe, Gurt?«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich weiß es nicht. Als Agnise zu mir gebracht wurde, trug sie nur ihr Unterkleid und das hat sie mit ins Grab genommen. Kein Obergewand, keinen Gurt.«

Edith pustete vorsichtig in das Feuer. Als sie zufrieden war, stellte sie den Schürhaken beiseite. »Hat sie wie ich in der Gästekammer übernachtet?«

Susa stellte das Mehlsieb beiseite. »Ach, Edith, ich weiß, dass es schwer ist, den plötzlichen Tod eines jungen Menschen zu akzeptieren. Hör auf, dich zu quälen. Das bringt Agnise nicht zurück. Jetzt ist alles noch frisch, aber eines Tages wird die Trauer zu einer guten Erinnerung. Danke Gott für die Jahre, die ihr hattet.«

Edith blieb an dem Feuer stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich stelle einfache Fragen. Warum weichst du mir aus?«

Susa öffnete den Mund, erstarrte jedoch, ohne ein Wort hervorzubringen. Edith sah sich bestätigt: Susa verheimlichte etwas. Es entstand eine unbehagliche Stille.

Durchbrochen wurde sie von einem gepeinigten Schrei.

- 4 -

Edith stürzte an Susa vorbei auf den Hof. Bis auf einen dunkelhaarigen Jungen war er menschenleer. Der Bursche stand hilflos vor dem grauen Hund. Er war es, der so furchtbar schrie. Die Vorderpfoten hatte der Hund steif gespreizt, den Rücken gekrümmt. Das offene Maul entblößte Fangzähne, von denen Blut und Speichel troffen. Das gequälte Winseln des Hundes fuhr Edith bis ins Mark.

Der Junge, Edith schätzte ihn auf zwölf oder dreizehn, kniete sich vor den Hund. Von dessen Augen war nur noch das Weiße zu sehen. »Turgh! Was hast du? Stirb nicht, stirb mir nicht!«

Die Stimme des Jungen überschlug sich verzweifelt. Er versuchte, den Hund zu streicheln, doch der wimmerte und tappte ein paar Schritte rückwärts. Das Tier zitterte.

Vorsichtig ging Edith näher heran. »Hat er etwas gefressen?«

Der Bursche sah sie durch einen Tränenschleier an. »Ich weiß nicht. Er stirbt und ich kann nichts tun.«

»Doch!«, fuhr Edith ihn barsch an. Sie brauchte seine ganze Aufmerksamkeit. Mit einer raschen Bewegung stellte sie sich über den Hund und klemmte ihn zwischen ihre Knie, gleichzeitig schob sie beide Ärmel hoch. »Halte sein Maul geöffnet. Richtig fest, hörst du?«

»Ich …«

»Herrgott, Junge! Mach schon!« Ediths Fauchen drang zu dem Jungen durch. Seine Hände bebten, aber er packte die Hundeschnauze und den Kiefer und ließ auch nicht los, als sich der Hund herauszuwinden versuchte.

»Gut so.« Edith beugte sich vor und versuchte, einen Blick in das Hundemaul zu erhaschen. »Weiter, reiß das Maul richtig auf. Und sprich mit ihm.« Es war pures Glück, dass sie sofort ihren Verdacht bestätigt sah. Sie tat, was zu tun war. Ein paar Lidschläge später war es geschafft. Edith hielt dem Burschen einen blutverschmierten, fingerlangen Splitter hin.

»Der steckte im Gaumen. Dein Hund hat einen Hühnerknochen zerbissen. Das mag hundertmal gut gehen, aber einmal eben nicht.«

Der Bursche rappelte sich auf, eine Hand auf den Kopf des Hundes gelegt. Mit der anderen wischte er verlegen die Tränen fort. Dann presste er eine Hand auf seinen Brustkorb und verbeugte sich tief. »Ich bin Lusim, das ist Turgh. Ihr habt meinen Freund gerettet. Wir stehen in Eurer Schuld.«

Edith neigte den Kopf und antwortete ebenso ernst: »Danke, Lusim, Freund Turghs. Mein Name ist Edith.«

Lusim hob den Kopf. In ein, zwei Jahren, da war sich Edith sicher, würde dieses Gesicht dutzendweise Mädchenherzen höher schlagen lassen. »Frau Edith, Ihr habt ein Leben bei mir gut. Das schwöre ich bei meiner Ehre.«

Mittlerweile hatte sich Susa zu ihnen gesellt. Sie bedachte Lusim und seinen Hund mit einem finsteren Blick. »Red nicht so einen geschwollenen Blödsinn, du Tunichtgut. Und halte deine Töle aus meiner Küche heraus.«

Lusim schob das Kinn vor. »Mein Hund ließe sich nicht mal in Eure Küche prügeln.«

Susa rümpfte geringschätzig die Nase. »Ja, das glaube ich. Die Töle hat mehr Anstand als du.«

»Ich habe Anstand vor anständigen Menschen«, zischte Lusim zurück. Susa blähte die Nasenflügel. Offenbar ging der Feindseligkeit der beiden eine lange Historie voraus. Edith war nicht gewillt, sich mit hineinziehen zu lassen. Sie wischte mit der Schürze über ihren Arm, an dem noch Blut und Speichel klebten. Ein brennender Schmerz ließ sie zusammenzucken. Susa bemerkte es. »Ein Kratzer, aber Verwundungen durch Tierzähne können zu üblen Entzündungen führen. Besser, du beugst mit einem Kamillewickel vor. Es ist noch früh im Jahr, aber am Mühlendamm habe ich ein paar Blüten gesehen. Lusim, mach dich nützlich und zeige Frau Edith, wo sie sie findet. Und nimm die Beine in die Hand, Frau Edith hat nicht ewig Zeit. Ich bin in der Küche.« Die Bucklige warf Lusim noch einen grimmigen Blick zu, den er inbrünstig erwiderte. Kaum dass Susa ihnen den Rücken zuwandte, schien er erwachsener zu werden. Mit einem Lächeln zauste Lusim den Kopf seines Hundes und Turgh erwiderte die Liebkosung mit einem treuen Blick. Nichts mehr verriet, dass Junge und Hund eben noch heftige Torturen durchlitten hatten. »Würdet Ihr auch die Kamille vom Friedhof nehmen? Die Pflanzen dort sind schon viel weiter. Wenn Ihr Bedenken habt, gehen wir natürlich zum Mühlendamm.«

»Der Friedhof ist in Ordnung«, sagte Edith nach kurzer Überlegung.

»Aber dort ist ein frisches Grab, das solltet Ihr wissen.«

»Ich kenne die, die darin liegt. Agnise war ein warmherziges, frommes Mädchen. Sie wird ganz sicher ihren Seelenfrieden gefunden haben.«

Lusim schob mit dem Fuß einen Kiesel von einer Seite auf die andere. »Ich kann das nicht glauben. Nicht, solange ihr Mörder frei umhergeht.«

Edith stockte der Atem. Hatte sie richtig gehört? »Mörder? Bist du sicher?«

»So sicher, wie Turgh mein Hund ist. Agnise wurde erschlagen. Zwischen der Ruine und der Fischerkate. Der Teichknecht hat sie gefunden. Der blutige Stein lag ja noch neben ihrem Kopf, fragt ihn und er wird es Euch bestätigen. Vom Friedhof ist es nicht weit bis zu seiner Hütte. Das heißt, falls er überhaupt daheim ist.«

»Sehen wir nach. Jetzt.« Edith versicherte sich, dass sie aus Susas Sichtweite waren. Erst einmal wollte sie so viel wie möglich herausfinden. Und dann würde sie Susa zur Rede stellen.

Der Weg führte entlang eines Ackers, der gerade von Landknechten bearbeitet wurde. Der Ochsenführer war nicht zimperlich mit dem Schlagstock, zog den beiden Tieren immer wieder eins über, obwohl sie beständig gingen und den Pflug durch die Krume zogen. Ein blutiger Striemen verlief über das Fell des braunen Ochsen.

Wenn die Tiere wüssten, wie stark sie sind, würdest du deine Rohheit bitter bereuen, dachte Edith verächtlich.