Jungs sind auch Mädchen - Simon Rhys Beck - E-Book

Jungs sind auch Mädchen E-Book

Simon Rhys Beck

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Beschreibung

Robbie ist 16 und schwul. Aber das ist nicht sein Problem. Er hat einen tollen Bruder, nette Freunde und verständnisvolle Eltern. Sein Problem ist ? Yan. Der neue Junge in seiner Klasse. Denn wenn Yan in der Nähe ist, hat Robbie Herzrasen und weiche Knie. Zu allem Überfluss traut er sich nicht, Yan anzusprechen, und es passieren eine ganze Menge größere und kleinere Katastrophen. Als Yan schließlich erfährt, wie Robbie für ihn empfindet, verstrickt er ihn in ein merkwürdiges Spiel, in dem offensichtlich nur er die Spielregeln kennt. Und erst als Robbie alles auf eine Karte setzt, versteht er, was mit Yan los ist. Der hat nämlich Angst ...

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Seitenzahl: 217

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Simon Rhys Beck

Jungs sind auch Mädchen

Simon Rhys Beck

Verleger und Autor, geboren im Oktober 1975.

„Ich wohne mit meinen Lieben, zwei- und vierbeinig, im Grenzgebiet zwischen NRW und Niedersachen.

Mehr über meine Arbeit unter www.deadsoft.de“

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, September 2003

Zweite, überarbeitete Auflage Februar 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Coverbild: fotolia.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

Nach einer Idee von daylinart

Kapitelüberschriften aus Songtexten der Band suede

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-551-2

ISBN e-Pub 978-3-86361-552-9

ISBN PDF 978-3-86361-553-6

 

 

Für Micha

 

… weil Vertrauen so wichtig ist.

I modern boys

„Robin, 15, schwul.“ Erwartungsvoll sehe ich meinen älteren Bruder an.

Der zieht die Augenbrauen nach oben. „Bestechend kurz“, sagt er und beginnt zu lachen. „Aber total bescheuert!“

Ich sinke zusammen. Nur noch vier Tage bis zu unserer Klassenfahrt, und ich habe es noch immer nicht geschafft, den neuen Typen in unserer Klasse anzusprechen. Mein Gott, allein bei dem Gedanken an Yan bekomm ich weiche Knie! Als er vor ein paar Tagen die Klasse betreten hat, leicht angeschoben von Frau Hellmann – unserer Klassenlehrerin – ist mir fast das Herz stehen geblieben!

„Robbie – du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen“, holt mich Maltes Stimme in die Realität zurück. „Wieso willst du dich dem Typen überhaupt vorstellen? Der weiß doch sicher schon, wie du heißt ...“

Ich nicke schwach. Natürlich weiß er das. Na ja, wahrscheinlich … „Aber es gibt doch immer so Vorstellungsrunden und Kennenlernspiele bei solchen ... Fahrten ...“

Malte winkt ab. „Du musst ihn einfach anbaggern. Los, wir üben das jetzt mal.“

Ich verdrehe die Augen. Mein Bruder weiß seit über einem Jahr, dass ich nicht auf Mädchen stehe.

Ich habe ihn immer beobachtet, wenn er mit bloßem Oberkörper vor dem Spiegel steht, wenn er aus der Dusche kommt. Malte ist zwei Jahre älter als ich und sieht verdammt gut aus. Anders als ich ist er breitschultrig und muskulös. Und es ist natürlich nicht so, dass ich auf ihn stehe – er ist schließlich mein Bruder! Nur, er sieht so schrecklich gut aus. Na ja, lange Rede, kurzer Sinn ... er hat es natürlich bemerkt. Und irgendwann hat er mich dann peinlicherweise beim Wichsen überrascht. Und ich hatte nicht den Playboy vor mir liegen – sondern ein Bild von einem supersexy Typen mit einem beachtlichen Ständer.

Ich erinnere mich noch sehr genau an Maltes Gesicht, als er mich da auf meinem Bett knien sah. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen, den Mund wie so oft spöttisch verzogen. Vermutlich hatte er mich wohl schon eine Zeitlang beobachtet, bis ich ihn endlich bemerkte. In diesem Augenblick – und der schien echt eine Ewigkeit zu dauern – dachte ich, vor Scham im Boden versinken zu müssen. So etwas Ultrapeinliches war mir noch nie passiert!

Und Malte lehnte einfach im Türrahmen und wartete darauf, dass ich irgendwas sagte. Aber ich saß dort mit hochrotem Kopf und konnte mich überhaupt nicht bewegen. Tausend Gedanken schossen durch mein Hirn, es gelang mir, mich wenigstens soweit zu rühren, dass ich meine Hose zuknöpfen konnte. Und schließlich sagte ich nur: „Bitte sag es nicht Ma und Dad.“

Malte hatte leise gelacht. „Du stehst auf Jungs, was?“

Ich versuchte, das Bild hinter meinem Rücken verschwinden zu lassen. Doch Malte war schon an mir vorbei ins Zimmer geschossen und hatte das Bild an sich gerissen.

„Hm, ganz schönes Teil“, bemerkte er grinsend.

Ich dachte noch immer sterben zu müssen, aus lauter Peinlichkeit. Wahrscheinlich rannte er damit jetzt gleich zu unseren Eltern. Der Robbie ist schwul. Schaut mal, was er für Bilder in seinem Zimmer hat. – Robbie? Nein, niemals! – Doch, sicher! Er gafft mich auch immer so an, wenn ich aus der Dusche komme. Voll pervers.

Ich schloss die Augen und befürchtete das Schlimmste. Doch Malte legte meine „Wichsvorlage“ einfach wieder auf mein Bett und strich mir mit der Hand über den Kopf.

„Mach nicht so ein Gesicht, Robbie! Ich wusste das doch schon länger.“

Ich sah ihn überrascht an. „Was?“

„Meinst du, ich bin blind? Dir sind ja fast immer die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn du mich mal nackt gesehen hast.“

Wieder wurde ich knallrot. Seinen eigenen Bruder anzuspannen, war ja wohl das Peinlichste überhaupt. Aber Malte war gar nicht sauer.

„Wann willst du es Ma und Dad sagen?“ Er setzte sich zu mir aufs Bett.

Ich zuckte mit den Schultern. Unsere Eltern sind okay – ein echter Glücksgriff. Aber – wie würden sie auf so etwas reagieren? Die meisten Eltern waren wohl nicht besonders begeistert, wenn ihre Söhne oder Töchter ihnen eröffneten, dass sie vom anderen Ufer waren. Ich hatte mir schon oft vorgestellt, was meine Eltern sagen würden, wenn ich irgendwann – vielleicht so nebenbei beim Mittagessen – zwischen Rotkohl und Klößen oder doch besser beim Nasi Goreng? – einfließen lassen würde „Ach, übrigens, ich bin schwul.“

Vielleicht würden sie mich rausschmeißen? Aber zumindest anschreien ... oder mein Vater würde mir eine kleben – und das hatte er noch nie getan!

„Hey, du hast doch keine Angst, oder?“

Ich starrte auf meine nackten Füße. „Doch“, sagte ich kläglich.

Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Das schaffst du schon, Brüderchen.“ Und damit schien das Thema für ihn erledigt.

„Sag mal, interessierst du dich gar nicht für Mädchen?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte zwar zwei sehr gute Freundinnen – aber noch nie darüber nachgedacht, mal mit einem Mädchen herumzuknutschen.

„Also auch nicht für Nicky?“, hakte er nach.

Nicky war eine meiner beiden Freundinnen. „Nein.“ Und dann dämmerte mir, warum er fragte. „Und ich mach euch auch nicht bekannt!“

Malte lachte und stand auf. „Kannst ja noch mal darüber nachdenken ... Außerdem kenne ich sie ja auch schon.“

Ich schüttelte heftig den Kopf, wusste aber jetzt bereits, dass Nicky von den Socken sein würde. Malte war der absolute Mädchenschwarm auf unserer Schule. Dass er auf sie stand, würde sie echt umhauen!

„Malte?“

Er drehte sich in der Tür noch einmal um.

„Danke.“

Erstaunt zog er die Augenbrauen nach oben. Dann grinste er. „Wofür?“

II there’s something in the air that you breath

„Robbie? Sag mal, wo bist du mit deinen Gedanken?“ Malte knufft mich in die Seite.

„Autsch!“

Er sieht mich erwartungsvoll an. „Wie würdest du ihn angraben? – Stell’ dir vor, ich sei Yan ...“

Ich mustere ihn abschätzend. „Schwer vorstellbar.“

Yan ist ein dünner, schlaksiger, dunkelhaariger Typ. Wohingegen ich Malte eher als blondes, immer grinsendes Honigkuchenpferd, Marke Surfer, beschreiben würde.

„Weiß eh nicht, was du an ihm findest ...“

Ich schenke meinem Bruder einen düsteren Blick, setze mich dann aber zu ihm und sage mit gekünsteltem Augenaufschlag und schnurrender Stimme: „Na Süßer, du bist mir ja sofort aufgefallen ...“

Malte starrt mich an, dann bricht er in ein wieherndes Gelächter aus.

„Du bist vielleicht ne Schwuchtel!“

Ich lache ebenfalls. So kann ich Yan jedenfalls nicht anbaggern. Es sei denn, ich will eine Witznummer daraus machen.

Als Malte sich wieder ein wenig beruhigt hat, sieht er mich an. „Jetzt ernsthaft, du musst den Typen doch irgendwie ansprechen. Weiß er denn, dass du schwul bist?“

Ich schüttele den Kopf. So ein ganz „großes“ Coming-out hatte ich noch gar nicht gehabt. Bin ich auch gar nicht scharf drauf! Nur Janine und Nicky wissen es ... und es ist mir schwer genug gefallen, ihnen davon zu erzählen. Aber Janine hatte sich in mich verliebt und da musste ich es ihr ja sagen. Und sie hat es nach dem ersten Schock erstaunlich gut weggesteckt.

„Mann, schätze, eure Klassenfahrt wird dann so eine richtig verklemmte Sache ... zumindest für dich.“

„Ja, mach mir ruhig Mut“, knurre ich.

Malte sieht auf seine Armbanduhr. „Du, ich muss los. Sollte noch vorher mit dem Hund rausgehen ...“ Er steht auf. „Warum fragst du ihn eigentlich nicht, ob er mal Bock hat, mit dir ins Kino zu gehen oder so?“

Ich starre ihn entsetzt an. „Das sieht ja voll nach einem Date aus!“

Malte zuckt mit den Schultern und zieht sich sein Sweatshirt an, das er ordentlich über die Stuhllehne gehängt hatte. „Ist es doch auch ...“

 

Mein Leben ist zurzeit ein einziges Chaos. Manchmal hab ich den Eindruck, alles geht drunter und drüber, die verdammten Hormone gehen mit einem durch und ständig passieren peinliche Sachen.

Wenn man dann auch noch bemerkt, dass man nicht so ist wie andere, anders eben, oder andersherum, ist es noch viel verrückter. Ich habe das eine oder andere Mal wirklich an meinem Verstand gezweifelt. Obwohl es doch alles so klar war. Und es war ja auch okay so ... na ja, bis auf den Sportunterricht – vor allem das Schwimmen – der treibt mich regelmäßig an den Rand des Wahnsinns. Mit den Typen aus meiner Klasse zu duschen, bedeutet ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung für mich – wobei glücklicherweise nicht allzu viele gutaussehende Jungs dabei sind. Allerdings habe ich dafür keine Probleme mit Mädels. Wenigstens ein Vorteil ... Ich bekomm keine Bombe, wenn mich ein Mädchen anspricht. Damit kann ich locker umgehen. Aber meine Knie zittern, wenn Yan sich mir – versehentlich – auf fünf Meter nähert. Mein Gott ... Yan ... dieser Typ ...

 

Frau Hellmann hatte ihn an diesem Tag X in den Klassenraum geschoben. Und er hatte uns alle eher feindselig gemustert. Abschätzend irgendwie – und nicht besonders zurückhaltend.

„Hey, ihr Volk!“ – das sagt die Hellmann immer – „Hört mal einen Moment zu!“ – Oh, ich war schon ganz Ohr – „Das ist Yan Karmann. Seine Eltern sind gerade erst aus Frankfurt hergezogen.“

Sie sah Yan aufmunternd an. „Willst du dich vielleicht noch vorstellen? Oder noch irgendwas sagen?“

Er lächelte spröde. „Hi.“

Einige lachten.

In meinem Kopf entstand ein unentwirrbares Gedankenknäuel. Ich musste ihn kennenlernen. MUSSTE. Aber Frau Hellmann hatte sich schon jemanden ausgeguckt, der sich um Yan kümmern sollte – und das war nicht ich. Nein, das war Benjamin Haan, unser Sport-Ass.

Benjamin und mich verband ... nichts. Aber so was von nichts. Ich verfluchte mich. Warum war ich nicht einer von Bennys Gefolgsleuten? Dann hätte ich Yan jetzt „ganz nebenbei“ kennenlernen können.

Aber nein ... Robbie (also ich) war der Typ mit dem komischen Klamottengeschmack, der „eigenartige“ Musik hörte. Die Band, die ich geil fand – SUEDE –, konnten die meisten Leute in meiner Klasse nicht einmal richtig aussprechen! Und solche Typen (wie ich) waren nicht in Bennys Gruppe. Ich wurde zwar nicht als Letzter in die Basketballmannschaft gewählt – aber meist als Vorletzter. Und – ich glaube, Benny verachtete mich. Aber was wusste Frau Hellmann schon davon?!

Ich überlegte also fieberhaft – während ich hinter Yan saß und einen atemberaubenden Ausblick auf seinen schlanken Hals, seine kurzen dunklen Haare und seinen schmalen Rücken hatte – wie ich an ihn herankommen konnte.

Er war unerreichbar. Er war göttlich. Er war ...

„Hey du, hast du mal ein Blatt Papier für mich?“

Ich starrte ihn an, als wäre er gerade aus einem UFO gestiegen. „Häh? Was?“

Er hatte faszinierend braune Augen, so dunkelbraune, große Augen und lange schwarze Wimpern.

„Papier, Mann! Hast du einen Zettel für mich?“

Ich griff mit zitternden Händen nach meinem Collegeblock und riss einen Zettel für ihn ab.

„Hier, bitte.“

Er nahm das Blatt und schenkte mir einen befremdeten Blick. Shit, er hielt mich für einen Idioten.

Das war sozusagen unser erster Kontakt – und seit diesem Augenblick gehe ich ihm aus dem Weg. Das heißt, ich schmachte ihn aus der Entfernung an. Und das ist verdammt hart.

III when the rain falls ...

„Sag mal, Robbie – was ist los mit dir?“ Janine passt mich am Eingang der Schule ab.

„Nichts, wieso?“

Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Du bist seit einiger Zeit etwas ... ähm ... abwesend. Außerdem siehst du aus wie ein Gespenst! Hast du was?“

Ich kratze mir ein wenig verlegen am Kopf. „Ja, nein ...“

„Also, was nun?“

„Ich ... also, ich glaube, es ... liegt an dieser Klassenfahrt am Wochenende ...“

„Du meinst dieses Projektwochenende?“ Janine sieht verblüfft aus, dann beginnt sie zu kichern. „Sag mal, sonst bist du doch auch nicht so ... verklemmt!“

Der Gong rettet mich vor weiteren Fragen und Vermutungen. Also an dem Thema unseres Projektwochenendes – das ist nämlich Sexualität – liegt es wohl nicht, dass ich so nervös bin. Ich hab mir über dieses Thema sicher schon mehr Gedanken gemacht, als die anderen Leute aus meiner Klasse. Ich habe nächtelang wach gelegen und gegrübelt, ob ich vielleicht nicht normal bin. Oder ob das vielleicht jeder Junge in meinem Alter durchmacht. Bis ich mich endlich mit dem Unvermeidbaren abgefunden habe. Ich bin nun mal homosexuell. Da gibt es nichts zu beschönigen ... Wobei es, genau betrachtet, sehr schön ist! Wenn auch manchmal ein wenig kompliziert ...

Lustlos schleiche ich Richtung Klassenraum. In der ersten Stunde haben wir Englisch, und wir schreiben einen Test. Englisch ist normalerweise mein Fach – doch an diesem Tag bekomme ich nichts auf die Reihe. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren, denn ich muss ständig zu Yan rüberschauen. Der trägt heute nämlich eine verboten enge Hose und ein mindestens ebenso enges Shirt. Sein bloßer Anblick macht mich verrückt! Hilfe!

Als ich den Testzettel abgebe und Herr Wright einen kurzen Blick darauf wirft, sieht er mich mit gerunzelter Stirn an. „Alles okay mit dir, Robin?“

Ich nicke und weiß sofort, dass ich den Test völlig versiebt habe. So ein Mist!

In der ersten Pause bin ich so durcheinander, dass ich auf dem Weg in die Raucherecke mit Herrn Wiltow, unserem Direx, zusammenstoße. Natürlich habe ich die Kippe schon im Mundwinkel. Shit, was passiert wohl heute noch alles?

„Robin!“

Ich murmele eine Entschuldigung, doch als ich mich an ihm vorbeidrücken will, hält er mich fest.

„Hier geblieben. Ich glaube, dass du in der Raucherecke nichts verloren hast, und deine Zigaretten kannst du auch gleich abgeben.“ Er sieht mich streng an.

Scheiße.

„Aber ich will nur kurz zu meinen Bruder ...“, wende ich ein.

„Klar, du wolltest deinem Bruder nur die Zigaretten vorbeibringen, was? Märchenstunde ist nicht mein Fach, Robin.“ Wiltow lässt sich von mir die ganze Schachtel Luckies aushändigen.

„Und überhaupt – wenn ihr raucht in eurem Alter, dann solltet ihr das nicht schon morgens tun. Von einem Anruf bei deinen Eltern werde ich heute mal absehen! Die kennen das Problem ja schon.“

Wie gnädig.

„Danke.“ Ich trolle mich in die andere Richtung davon. An der Ecke wartet Nicky auf mich.

„Sag mal, bist du dem Wiltow in die Arme gelaufen?“

„Ja. – Und meine Kippen hat er auch gleich einkassiert!“

„Du solltest eh nicht rauchen, Robbie. Bist doch sowieso schon so dürr“, bemerkt Nicky herzlos. Sie kann wirklich sehr mitfühlend sein. „Aber du musst ja deinem großen Vorbild nacheifern ...“

„Hm?“

„Na, diesem Brett Anderson – dem Sänger von suede!“

Ich runzele die Stirn. Brett Anderson? Nacheifern? Was will sie denn jetzt?

„So’n Quatsch. Der ist ja auch viel älter als ich …“ Auf so einen Blödsinn habe ich jetzt keine Lust. Ich schiebe die Hände in die Taschen meines Kapuzenshirts. „Ich muss mal mit dir reden ...“

„Jederzeit, Robbie – was gibt’s denn?“ Sie sieht mich neugierig an. „Wenn du so ein Gesicht machst, wird es eine Herzensangelegenheit sein, was?“

Ich nicke irritiert. Kann man mir das schon ansehen? Na bestens!

„Können wir uns heute Nachmittag im ALEX treffen?“

„Klar. Aber sag mir doch wenigstens, um wen es geht!“

Ich spürte, wie mein Herz einen Sprung macht. „Nee, sag ich dir dann ...“

Nicky mustert mich intensiv. „Mann, du machst ja ein richtiges Geheimnis daraus.“

„Mmh ...“

Mit einem ironischen Lächeln im Gesicht klopft sie mir auf die Schulter. „Ich muss unbedingt noch zu Malte. Wir treffen uns dann aber auf jeden Fall heute Nachmittag, ja?“

„Ja.“ Ich sehe ihr nach, wie sie vorsichtig um die Ecke schaut und dann Richtung Raucherecke davon rauscht.

 

Der Rest des Schultages verläuft ähnlich chaotisch. Ich werde mehrmals von Lehrern angesprochen und habe gar keine Ahnung, um was es geht. Kein Wunder, ich beobachte ja auch die ganze Zeit Yan! Natürlich ganz unauffällig.

Benjamin und sein Kumpel Arne beginnen schon, sich über mich lustig zu machen, was mir schrecklich unangenehm ist. Sie tendierten ohnehin dazu, mich zu quälen, was unter anderem wohl daran liegt, dass ich mir die Haare färbe und klamottenmäßig einen völlig anderen Stil habe (wenn man bei den beiden überhaupt von Stil sprechen kann).

„Hey, von Heydt, wo bist du mit deinen Gedanken?“ – „Hast du ’nen Samenstau, oder was?“ – „Hat wahrscheinlich zu viel gewichst und jetzt tut ihm der Dödel weh!“

Klar, sie haben die Lacher auf ihrer Seite. Und ich bete, dass dieser Tag schnell vorbei ist. Zu meinem Glück fährt keiner von Bennys Clique in meinem Bus mit.

Allerdings regnet es Bindfäden, als ich mich auf den Heimweg mache. Und der recht kurze Weg von der Bushaltestelle bis zu unserem Haus reicht, dass ich total nass werde. Und so komme ich zu Hause an: tropfnass und deprimiert – um ehrlich zu sein, ich könnte heulen. Nicht einmal die Tatsache, dass unser Hund Ziggy mich fröhlich begrüßt, kann mich aufheitern. Ich tätschele ihm abwesend den riesigen schwarzen Kopf

Und ich bin froh, dass meine Eltern nicht da sind – nur Malte. Und der sieht natürlich sofort, wie mies meine Stimmung ist. Nur ... sein forschender Blick bringt mich heute echt auf die Palme! Ganz schlechter Zeitpunkt für investigatives Nachfragen.

„Hey, Robbie, was ist los?“

„Lass mich bloß in Ruhe“, fauche ich ihn gleich an. Meinen Rucksack werfe ich in die Ecke, und dann will ich nach oben, um mir trockene Klamotten anzuziehen.

Malte folgt mir natürlich. So was kann er grundsätzlich nicht einfach auf sich beruhen lassen.

Ich reiße ein Handtuch aus meinem Schrank, was zur Folge hat, dass der restliche Stapel auch herauskippt.

Malte schüttelt den Kopf. „Bist du nicht ganz dicht?“

Ich sage nichts, ziehe mir den Pullover und die Hose aus und trockne mich ab.

„Jetzt sag schon, was passiert ist“, drängt mein Bruder mich.

„Ich bin nass geworden!“, schreie ich ihn an.

Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn. „Hat wohl dein Hirn rausgespült, der Regen, was?“

Mir tut es schon leid, dass ich ihn so anbrülle, denn er kann ja nun wirklich nichts für meine miese Laune. Aber im Moment kann ich auch nicht über meinen Schatten springen. Doch Malte lässt sowieso nicht locker.

„Bist wohl immer noch nicht weiter in Sachen Yan, häh?“

Ich lasse mich auf mein Bett fallen. „Nein, bin ich nicht.“

„Und das macht dich so fertig?“

Ich vergrabe mich unter meiner Decke. „Lass mich in Ruhe, Malte, ja?“

Das akzeptiert er endlich. Ich höre, wie sich meine Zimmertür schließt. Mann, ich bin echt fertig ... Das ist alles so ätzend! Ich kann mich auf gar nichts konzentrieren; meine Gedanken sind immer bei Yan – egal, was ich mache. Ich fühle mich schrecklich; nur wenn er in meiner Nähe ist, gehe ich wie auf Wolken. Aber dann schaffe ich es auch nicht, ihn anzusprechen. Was hätte ich auch sagen sollen? Das ist doch kein Zustand!

Das ist alles zum Heulen! Warum ist das Leben nur so grausam? Warum kann nicht alles einfach sein? Und – warum zum Teufel verliebe ich mich in einen Jungen?

Ich quäle mich wieder aus dem Bett, um eine CD in den CD-Player zu legen. Strangelove – time for the rest of your life. Dann lege ich mich wieder hin, schließe die Augen für einen Moment und versuche, an gar nichts zu denken. Das ist sicher besser. Und irgendwie schlafe ich darüber wohl ein.

IV anything is possible

Als ich wieder aufwache, sitzt Yan an meinem Bett. Ich bin so erschrocken, dass mir zunächst die Worte fehlen.

„Hey, Robbie.“

Ich schlucke nervös.

„Hallo“, krächze ich schließlich. Das ist ja der Wahnsinn! Yan ist zu mir gekommen! Und er sieht so süß aus – ich zerschmelze fast vor Sehnsucht bei seinem Anblick. Er trägt die gleichen Klamotten wie in der Schule. So perfekt.

„Warum bist du hier?“

„Ich wollte dich besuchen“, sagt er sanft. „Die Typen in unserer Klasse waren heute so ätzend zu dir.“

Ich nicke benommen. „Stimmt.“ Und du bist der Grund, denke ich ein wenig wirr.

„Und wie geht’s dir jetzt?“

Mein Gott, wie soll es mir schon gehen? Es ist der absolute, reine, unverfälschte Wahnsinn, dass er jetzt hier neben mir sitzt.

„G... gut“, stottere ich aufgeregt. „Besser. Viel besser!“

Er streckt die Hand nach mir aus – in Zeitlupentempo. Ich verfolge seine Bewegung wie in Trance. Gleich wird er mich berühren, gleich werde ich seine warme Hand auf meiner Haut spüren. Ich komme ihm entgegen, kann es nicht mehr erwarten ...

Da reißt mich Maltes Stimme aus meinem wunderschönen Traum.

„Robbie? Kommst du wenigstens zum Kaffee runter?“

Ich schrecke auf. Bin einen Moment lang desorientiert. Und als ich raffe, dass ich das alles nur geträumt hab, werde ich wütend. Scheiß Kaffee! Ich hätte mich lieber Yan hingegeben – wenn auch nur im Traum.

„Robbie?“

Mühsam unterdrücke ich meine aufkeimende Wut und brülle barsch: „Ich komm’ ja schon!“

Und dann fällt mir ein, dass ich mich um 17.00 Uhr mit Nicky verabredet hab. Hastig sehe ich auf meinen Radiowecker – es ist erst kurz nach drei. Ich stehe langsam auf und strecke mich ein wenig. Mein Ständer ist auch nicht mehr der Rede wert – nach dem „Schock“ brauchte ich mich darum nicht mehr zu kümmern.

Meine Eltern sind auch wieder da, als ich unser Wohnzimmer betrete – sie haben im Moment beide Urlaub. Aber sie haben sich entschlossen, nicht zu verreisen. Es gibt soviel in unserem Haus zu tun – und der Garten muss winterfest gemacht werden. Na ja, was Eltern halt so an uninteressanten Dingen veranstalten ...

Ein wenig argwöhnisch mustern sie mich.

„Willst du auch einen Cappuccino und ein Stück Kuchen?“, fragt meine Mutter.

Ich nicke, und mir fällt auf, dass ich wirklich ziemlichen Hunger habe. Denn immerhin habe ich ja das Mittagessen ausfallen lassen!

Mein Vater schubst Ziggy vom Sofa und rutscht zur Seite, so dass ich Platz habe.

„Seit wann machst du einen Mittagsschlaf?“

Ich höre gleich an seiner Stimme, dass er mich aufziehen will. Und darauf habe ich ja gar keine Lust! Doch Malte kommt mir zuvor mit einer Antwort.

„Robbie ist verliebt!“, platzt er heraus und freut sich diebisch.

Meiner Mutter fällt vor Schreck der Kuchen vom Tortenheber, und es ist nur der Geistesgegenwart meines Vaters zu verdanken, dass das Stück statt auf dem Teppich, auf seinem Teller landet. Das ist eine Stärke meines Dads – sein „Rundumblick“.

Ich jedenfalls habe im Augenblick keinen „Rundumblick“ – ich starre nur Malte an und das auch nicht besonders freundlich.

Malte grinst.

Und unser Vater sagt: „Echt? Na dann ...“

Für ihn scheint das Thema damit erledigt. Doch für meine Ma natürlich nicht; sie ist sowieso diejenige, die mein Coming-out viel schlechter wegsteckt. Wobei ich wirklich sagen muss, dass meine Eltern erstaunlich locker darauf reagiert haben.

 

Ich hatte es ihnen ein paar Tage, nachdem Malte mich beim Wichsen überrascht hatte, „gebeichtet“. Auf einen sensationellen Auftritt hatte ich verzichtet; keine Klöße, kein Rotkohl – und auch keine Chinapfanne; ich war einfach abends zu ihnen gegangen, hatte mich zu ihnen gesetzt und verkündet, dass ich nicht auf Mädchen stehe. Mein Unterkiefer hatte sich ein „Wettzittern“ mit meinen Knien geliefert. Aber im großen und ganzen fand ich, war ich ganz cool rübergekommen.

Und meine Eltern? Na ja, wie ich schon sagte, mein Dad steckte das ganz locker weg, aber meine Mutter hatte mich erschrocken angesehen. Ich glaube, sie hoffte einen Moment lang, dass sie träumte. Dann sammelte sie sich ein wenig.

„So“, sagte sie leise. „Du meinst also, dass du ... schwul bist?“

Ich sah, dass es ihr schwer fiel, das Wort auszusprechen.

Ich nickte. Wartete, dass irgend etwas Schreckliches passierte. Mein Gott, es musste doch irgendwas passieren! Sie konnten diese Eröffnung doch nicht einfach so hinnehmen ... Aber sie konnten. Sie taten es zumindest einfach. Das war mein Coming-out. Ziemlich unspektakulär, oder?

 

Jetzt sieht mich meine Mutter skeptisch an. „Du bist verliebt?“

Und noch bevor ich irgendein Wort sagen kann, krakeelt Malte dazwischen: „Ja! In Yan, den neuen Typen aus seiner Klasse!“

Mich überkommt das Bedürfnis, meinem geliebten Bruder eine reinzuhauen. Doch das tue ich natürlich nicht. Ich sitze nur da, irgendwie gelähmt.

Meine Mutter schluckt. Kommt mir zumindest so vor. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.

Mein Vater sagt: „So so, Yan ...“ Und isst seelenruhig sein Stück Kuchen weiter. Woher nimmt er nur diese Gelassenheit?

„Ja ... Yan heißt er.“ Meine Stimme zittert, und ich versuche, mich auf meinen Kuchen und meinen Cappuccino zu konzentrieren. Doch das misslingt völlig. Und da meine Eltern schweigen und auch Malte für einen Augenblick den Mund hält, ist auf einmal eine Spannung in der Luft, die ich nicht aushalte. Ich springe auf, als hätte mich eine Sofafeder nach oben geschossen.

„Entschuldigt mich!“ Mit diesem doch eher altmodischen Ausruf renne ich aus dem Wohnzimmer.

Mein Herz rast, als ich mich in meinem Zimmer auf den Schreibtischstuhl fallen lasse. Werde ich verrückt? Warum kann ich es nicht einmal aushalten, dass meine Familie über Yan spricht? Oder gerade nicht spricht? Ich bin total wirr.

Langsam lasse ich meinen Kopf auf den Schreibtisch sinken. Das Holz ist kühl an meiner Stirn. Doch meine Gedanken werden dadurch nicht klarer. Nichts wird klarer. Es dauert nicht lange, bis Malte an die Tür klopft, und ohne eine Antwort abzuwarten, hereinkommt.

Er stellt den Cappuccino und den Kuchen vor meiner Nase auf den Schreibtisch. „Sorry, Mann. Wusste nicht, dass du so empfindlich darauf reagierst.“

Meine Augen füllen sich mit Tränen und deswegen lasse ich meinen Kopf, wo er ist. Jetzt auch noch brüllen, geht gar nicht.

„Schon okay“, sage ich leise und hoffe, dass Malte einfach abhaut. Und wenigstens dieses eine Mal habe ich Glück. Malte streichelt kurz über meinen Rücken und verlässt mein Zimmer.