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Ein Mutter-Tochter-Wochenende in Stockholm Agneta und Tilda. Eine Mutter und eine Tochter. Die Entfernung zwischen ihnen ist so groß wie die zwischen ihrem nordschwedischen Heimatort Gällivare und Stockholm, wo Tilda seit ein paar Jahren Jura studiert. In der Vergangenheit ist vieles zwischen den beiden vorgefallen, über das sie hätten reden müssen. Seit Tilda in die Stadt gezogen ist, hat sich die Kluft zwischen Mutter und Tochter noch vergrößert. Doch nun muss Agneta ihrer Tochter etwas sagen, das nicht warten kann. Für ein verlängertes Wochenende besucht Agneta Tilda in Stockholm, um endlich reinen Tisch zu machen. Dabei finden Mutter und Tochter heraus, dass sie weitaus mehr verbindet, als sie dachten, und dass es für einen Neuanfang nie zu spät ist … Eine wehmütige und wunderschöne Geschichte über eine Mutter und ihr Kind und die Kraft, die aus dieser Beziehung trotz aller Widrigkeiten erwachsen kann.
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Seitenzahl: 180
Ella-Maria Nutti
Roman
Ein Mutter-Tochter-Wochenende in Stockholm
Agneta und Tilda. Eine Mutter und eine Tochter. Die Entfernung zwischen ihnen ist so groß wie die zwischen ihrem nordschwedischen Heimatort Gällivare und Stockholm, wo Tilda seit ein paar Jahren Jura studiert. In der Vergangenheit ist zwischen den beiden vieles vorgefallen, über das sie hätten reden müssen. Seit Tilda in die Stadt gezogen ist, hat sich die Kluft zwischen Mutter und Tochter noch vergrößert. Doch nun muss Agneta ihrer Tochter etwas sagen, das nicht warten kann. Für ein verlängertes Wochenende besucht sie Tilda in Stockholm, um endlich reinen Tisch zu machen …
Ella-Maria Nutti wurde 1995 im nordschwedischen Gällivare geboren, wo ihr Vater Rentiere züchtete. Sie besuchte eine Schule für kreatives Schreiben und arbeitete als Lehrerin für samische Sprache. Heute lebt sie in Umeå und studiert Psychologie. «Kaffee mit Milch» ist ihr erster Roman.
Wibke Kuhn, geb. 1972, arbeitete nach dem Studium der Skandinavistik und Italianistik zunächst im Verlag. 2004 machte sie sich als Übersetzerin selbstständig und absolvierte daneben ein Zweitstudium der Neogräzistik und Finnougristik. Sie überträgt skandinavische, englische und niederländische Romane und Sachbücher (u. a. Stieg Larsson, Jonas Jonasson und Hendrik Groen) ins Deutsche und lebt in München.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Kaffe med Mjölk» bei Wahlström & Widstrand, Stockholm, Schweden.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Kaffe med mjölk» Copyright © 2022 by Ella-Maria Nutti
Redaktion Monika Heinz-Georgii
Das Zitat auf S. 6 stammt aus: En tunn tråd (dt. Ein dünner Faden). Interpret: Johan Arijoki. Album: Allting kommer att bli bra, 2017 (dt: Alles wird wieder gut)
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung Alamy Stock Photo; Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01600-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Mama
ist doch klar
Du hängst an einem dünnen, dünnen Faden
Sie verlässt dich, um in die Stadt zu gehen
Jetzt erlischst du wieder
Hast dich verirrt zwischen Traum und Wirklichkeit
Denn ich kämpfe darum, nach Hause zu kommen
Wie ein Schneesturm durch die Nacht geht die Liebe
Es ist ein dünner Faden, aber ich glaube, an ihm
Hängt alles
Johan Airijoki, En tunn tråd
Da vorne gehen eine Mutter und eine Tochter. Selbst wenn man nicht gewusst hätte, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, hätte man es ihnen angesehen. Obwohl sich die Tochter fast unmerklich wegdreht und einen halben Schritt vor der Mutter geht, ist es eindeutig. Ihre Gesichter sehen fast gleich aus, kein Make-up dieser Welt könnte diese Ähnlichkeit verdecken. Sie umarmen sich auf dem Bahnsteig. Die Tochter wendet den Kopf ab, während die Mutter sich an sie schmiegt. Der Zug kommt, und die Mutter steigt ein, hält sich am Griff fest und zieht sich hoch. Nachdem sie sich zurechtgesetzt hat, wendet sie den Kopf, um durch das staubige Fenster zu schauen und der Tochter zum Abschied zuwinken zu können. Die Tochter hat sich schon abgewandt und geht davon. Die Mutter sieht nur noch einen Rücken, der eine Treppe hinuntergeht.
Der Psychologe schiebt Agneta den Karton mit den Papiertaschentüchern hin, als wollte er sie zum Weinen ermutigen. Nie im Leben! Sie überlegt, ob er sie wohl in der Großpackung kauft, und wenn ja, wo er den Rest verwahrt. Ob es einen Papiertaschentuchvorrat im Keller gibt. Auf dem hellgelben Karton sind rote Blümchen. Sein Blick versucht, sich in sie hineinzubohren. Widerwillig hebt sie den Kopf, ihr Nacken schmerzt. Agneta wird noch wahnsinnig von seinen Augen, wie sie sie anschauen mit diesem Du-schaffst-aber-auch-gar-nichts-Blick.
«Das war jetzt schon mehrere Wochen Hausaufgabe, Agneta.»
Er sagt das, als wäre sie ein kleines Kind in der Schule, faltet die Hände über dem Knie und beugt sich vor, dass sein Sessel knarzt. Sein Dialekt ist auch nicht von hier, klingt eher nach Südschweden.
«Ich glaube, das kann ein wichtiger Schritt sein», fährt er fort, doch Agneta will keine Schritte machen. Sie will sich auf den Boden legen und mit den Fingerknöcheln fest auf den Kunststoffteppich schlagen. Alle beißen, die ihr zu nahe kommen.
«Tilda hat das Recht, es zu erfahren. Du kannst das nicht ewig verstecken.»
Er hat ein knabenhaftes Gesicht. Der Bart ist erst spärlich gewachsen, und wahrscheinlich schämt er sich dafür. Sollte er auch.
Agneta schiebt die Schneeschaufel vor sich her. Die Worte des Psychologen klingen ihr immer noch in den Ohren, und sie wünschte, dass der Schnee schwerer wäre und mehr Gedankenkraft fordern würde. Sie hält inne und trocknet sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Mütze juckt, und das Haus ist zu groß. Hätte vielleicht für mehr Kinder gepasst, aber wie es nun mal ist. Jörgen steht mitten im Wohnzimmer und winkt, als er sieht, dass sie ihn sieht. Sie lehnt sich gegen die Schneehexe, und er streckt seinen krummen Daumen in die Höhe. Bewegung tut ihr gut, sagt er immer. Agneta muss sich eingestehen, dass das fürsorglich gemeint ist. Eigentlich sollte es ihre Tochter sein, die sie von dort drinnen beobachtet. Tilda hätte hinter der Fensterscheibe geredet und erwartet, dass Agneta sie hört oder ihre Lippen lesen kann, und Agneta hätte wie immer nichts verstanden, und dann wäre Tilda wütend vom Fenster verschwunden. Tilda weiß nicht, dass Jörgen jetzt bei ihr wohnt, aber andererseits gibt es vieles, was sie nicht weiß. Jörgen senkt die Hand und schiebt sie vermutlich in die Hose. Richtet sich wohl den Schwanz, der gerade ungünstig liegt. Sie redet sich ein, dass sie das süß findet. Der Schweiß klebt unter ihrer Jacke und kühlt sie aus. Sie braucht Wolle ganz nah an der Haut, die den Schweiß aufsaugen und ihn anschließend absondern kann. Das Haus ist schmutzig weiß, und die Garage hat fast dieselbe Farbe, aber wie hätte sie den Unterschied zwischen eierschalen- und sahnefarben sehen sollen, als sie neu streichen musste. Weiß ist weiß. Tilda fand das nicht. Als sie zum ersten Mal nach der Renovierung nach Hause kam, verdrehte sie derart die Augen, dass Agneta schon dachte, sie würden da hinten hängen bleiben. Und Agneta sagte, «na ja, dann hättest du vielleicht nicht ausziehen sollen, wenn du hier Mitspracherecht haben willst», und Tilda raste hoch in ihr Zimmer, das immer noch ihr Zimmer war und ist, gänzlich unberührt. Agnetas Vater hatte das Haus vor Urzeiten gebaut, und als sie dann schwanger wurde, tauschten sie. Ihre Eltern nahmen die Wohnung, und Agneta bekam das Haus. Und jetzt? Agneta wünschte, dass Tilda sich darum kümmern oder mal Interesse zeigen würde, das Haus zu übernehmen. Alles wäre leichter, wenn das Haus in der Familie bleiben würde.
Ihre Lungen pfeifen widerstrebend, sie halten die Luft zurück. Sie sinkt mit dem einen Fuß im Schnee ein. Mit den Armen kann sie sich nicht befreien, und bevor sie sich’s versieht, schreit sie auf wie eine Wahnsinnige. Es hat noch nicht richtig gefroren. Sie wackelt mit dem Fuß, doch der sitzt fest. Ihr Körper zittert vor Anstrengung, und sie holt noch einmal Luft, diesmal etwas ruhiger. Der nasse Schneematsch dringt durch ihre Thermohose. Als sie sich endlich befreit hat, setzt sie sich neben das Loch, das ihr Körper im Schnee hinterlassen hat. Ganz unten sieht sie den Ast, der ihren Fuß festgehalten hatte. Es ist noch nicht mal richtig Winter.
Eine Tochter steht in der Dusche. Sie war anderthalb Stunden joggen. Ihr hellblondes Haar legt sich ihr aufs Gesicht, jedes Mal, wenn das Wasser über sie läuft. Ihr Hund liegt vor der Dusche und schläft. Seine kurzen grau gesprenkelten Beine hat er nach vorne und hinten gerade ausgestreckt, als wollte er sich dehnen. Als ein Knall von der Toilette kommt, schlägt er seine hellblauen Augen auf. Der Tochter ist die Shampooflasche runtergefallen. Es ist ein teures Shampoo für über zweihundert Kronen. Der Duschstrahl kommt nur schwach von oben, er muss ja für ganz Stockholm reichen. Sie sitzt jetzt auf weißen Bodenfliesen. Wenn sie putzt, schrubbt sie die Fugen mit der Zahnbürste sauber. Das Wasser spült ihr Make-up fort. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die schon immer da war, ist plötzlich glasklar. Ihr zarter Körper zittert, aber man kann nicht sehen, ob sie weint, denn alles Wasser, das ihr vom Gesicht rinnt, sieht gleich aus.
Die Tochter kommt aus der Dusche und hat nur das dunkelblaue, dicke Handtuch um. Sie legt sich aufs Sofa. Scrollt auf dem Handy herum, das sie sich übers Gesicht hält. Sieht Bilder von Klassenkameradinnen mit teuren Handtaschen. Weingläser, mit denen sie sich zuprosten, obwohl erst Dienstag ist. Ein Himmel. Und da. Ein Bild mit einem Schneehaufen und darin ein Kind. Als es auf dem Display erscheint, legt die Tochter das Handy aus der Hand. Sie nimmt eine karierte Schlafanzughose aus dem Kleiderschrank, in dem alles schön ordentlich zusammengelegt und aufgehängt ist. Im Vergleich zum Rest der Wohnung, wo das meiste so gut wie unberührt wirkt, sieht die Hose alt aus. Sie ist Hunderte von Malen gewaschen worden. Der Stoff ist ganz weich.
Als Agneta reinkommt, zieht sich Jörgen gerade die Winterstiefel an.
«Ich hab Pizza bestellt», sagt er, während er nach der billigen Mütze greift, mit der er aussieht wie der letzte Heuler, weil das Giftgrün überhaupt nicht zu seinem Hautton passt. Die dunkelblaue, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hat, liegt unangetastet auf der Garderobe. Ist halt nicht so bequem und eingetragen. Klar gibt es Pizza, wenn du mit Essenkochen dran bist, sagt Agneta nicht. Er hatte wahrscheinlich einen langen Tag auf der Arbeit. Alle Zutaten für Bolognese-Soße und Eintopf und Fleischbrühe stehen eingekauft und säuberlich eingeräumt im schneeweißen Kühlschrank. Lebensmittel für Hunderte von Kronen – die Pizza muss er eben bezahlen. Er gibt ihr ein Küsschen auf die Stirn und knallt die Tür zu. Agneta geht ins Haus. Zieht ihren Pulli aus, ganz vorsichtig, damit er nicht an die schmerzenden Stellen kommt. Sie schaut auf ihre Brüste herunter, die wie verschrumpelte Weintrauben im ehemals weißen BH liegen. Jörgen lässt das Auto an, obwohl es zu Fuß zur Pizzeria höchstens zehn Minuten sind. Sie geht ins Badezimmer. Wünschte, der Fußboden würde sie durch ihre dünnen Socken wärmen. Das sollte eigentlich das nächste Projekt werden nach dem neuen Kühlschrank und der neuen Gefriertruhe. Eine Fußbodenheizung. Sie ist nicht dazu gekommen. Ihre feuchte Haut zieht sich zusammen, und sie steht schon mit einem Fuß in der Dusche, als sie es wieder bereut. Sie kriegt immer so schwer Luft in diesem ganzen Wasserdampf.
Jörgen schleudert seine Stiefel von den Füßen und reicht ihr die Pizzakartons. Er hat nicht gefragt, was für einen Belag sie wollte, sie nimmt ja doch immer denselben wie er, obwohl die Champignons so eklig sind. Die roten Kartons wärmen ihre steifen Finger. Seine Stiefel landen neben der Türmatte und werden nasse Flecken hinterlassen, in die sie später hineintappen wird. Aber Jörgen ist schon okay. Wenn man ihn mit anderen vergleicht. Sie kramt geräuschvoll Besteck und Gläser hervor. Nimmt die Milchtüte aus dem Kühlschrank. Anders konnte sich nie beherrschen und tief durchatmen oder bis zehn zählen, wie man es irgendwann lernen muss. Die andere Wange hinhalten, das war ein Ausdruck, den er noch nie gehört hatte. Agneta selbst hielt ständig die andere Wange hin. Hielt die eine und dann die andere hin, immer im Wechsel, bis beide ganz blau geschlagen waren und ihr beim Lächeln wehtaten. Ein steifes Lächeln, das sowohl innerlich wie äußerlich wehtat. Aber er war ja der Vater. Und Tilda schlug er schließlich nie. Dann kam Tilda in das Alter, in dem man anfängt, sich zu erinnern. Da stahl Agneta sich den Hausschlüssel zurück, den sie ihm gegeben hatte, legte seine Sachen auf die Vortreppe und versteckte sich für eine Woche bei Anneli. Agneta hätte nicht schlafen können mit der Angst, wütende Männerfäuste gegen die Tür hämmern zu hören. Tilda war noch klein, für sie war es wohl eher ein Abenteuer, woanders zu übernachten. Jörgen zählt immer bis zehn, und sie streiten auch nicht. Er passt sich Agneta einfach an, als wäre er aus Gummi.
Gerade rinnt ihm geschmolzener Käse aus dem Mundwinkel, der sich in seinem Bart festsetzt. Sie beugt sich vor und wischt ihn mit dem Daumen weg. Im Fernsehen läuft Eishockey, Luleå Hockey gegen HV71. Der Puck knallt immer wieder hart gegen die Bande. Der Fernseher gehört Jörgen und nimmt fast die ganze Wand ein. Jörgen merkt gar nicht, dass Agneta sein Gesicht berührt. Er wendet sich wieder seiner Pizza zu und den Champignons, die nach Dose schmecken. Dass er trotzdem bleibt. Immerhin etwas.
Agneta macht den Reißverschluss an ihrer Daunenjacke bis oben hin zu. Hebt den Kopf, um sich nicht das Doppelkinn einzuklemmen, das früher mal Fett war und jetzt nur noch Haut ist. Wie so ein Huhn mit diesem ganzen Geschlacker. Sie zieht die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. Die Terrasse riecht nach nassem Holz. Eigentlich sollte sie ja nicht, das weiß sie, aber sie hält das Feuerzeug an die Zigarette und inhaliert so tief, wie sie sich traut. Rauchen ist ein bisschen wie Meditieren. Einatmen, die Luft schmecken und dann ausatmen, zuschauen, wie der Rauch sich langsam kringelt und verfliegt. Tilda hatte immer nur verächtliche Blicke für ihre Zigaretten. Als ob Agneta eine Wahl gehabt hätte. Und selbst wenn sie eine gehabt hätte, hätte sie sich wahrscheinlich trotzdem fürs Rauchen entschieden, wenn auch vielleicht eher aus Trotz. Natürlich weiß sie, dass sie aufhören sollte. Sie fummelt an der Zigarette herum, bis graue Ascheflocken zu Boden segeln. Aber wie soll das gehen? Wenn man seit seinem fünfzehnten Lebensjahr geraucht hat und Zigaretten gerade dann braucht, wenn es einem am schlechtesten geht? Kann man sie etwa zwingen, das einzige Gefühl von Ruhe aufzugeben, das ihr noch geblieben ist? Obwohl es schon dunkel ist, lassen sich die Baumwipfel am Horizont immer noch vom Himmel unterscheiden. Es sind noch keine Sterne zu sehen. Den Rosenbusch hat sie zurückgeschnitten, kurz bevor sie ihre Diagnose bekam. Es ist nicht sicher, ob sie ihn noch einmal blühen sieht, das war eine auf die Zukunft ausgerichtete Tat. Das Erdbeerbeet hat sie auch gejätet, an einem mückenreichen Sommerabend, an dem der Himmel hellrosa war. Sie dachte sich, hier sollen wieder Erdbeeren wachsen, damit wir nicht immer teure im Laden kaufen müssen und stattdessen unsere eigenen Beeren zum Eis essen können. Vielleicht kommt Tilda ja noch in den Genuss der Erdbeeren und Rosen. Falls sie sie überreden kann, alles hier zu übernehmen. Jedes Mal, wenn sie versucht hatte, das Haus zur Sprache zu bringen, hatte Tilda nur geschnaubt und die Augen verdreht. Der Drang zu erzählen verschlägt Agneta den Atem. Sie dankt Gott beziehungsweise eher sich selbst, dass sie ihr Handy zum Laden drinnen gelassen hat. Hier gibt es nichts zu erzählen. Noch nicht. Sie nimmt einen weiteren Zug. Pult ein Stück abblätternde Farbe vom Geländer vor ihr und klopft die Asche ihrer Zigarette in ein ausgedientes Marmeladenglas.
Auf dem Wohnzimmertisch einer Tochter liegen Zeitungen, die nicht Zeitungen heißen, sondern Zeitschriften. Sie greift nach etwas, was auf den ersten Blick so aussieht wie ein Wollknäuel, sich dann aber auswickelt zu einem Webstück. Ein längliches Plastikteil, und davon gehen Fäden ab, die am Ende zu einem flachen Band zusammenlaufen. Hauptsächlich rot, aber auch ein bisschen gelb. Mit geübten Händen zieht sie ein Weberschiffchen durch die Fäden, hin und her, und das Band wird länger. Weben tut sie nur heimlich. Sie atmet jetzt langsamer. Ihre Großmutter hatte ständig gewebt. Stundenlang saßen sie nebeneinander auf ihren Sesseln mit ihren an der Klinke befestigten Webarbeiten. Über diese Großmutter wird nur noch in der Vergangenheit gesprochen, denn sie ist tot.
Anneli klingelt nicht, aber Agneta hört, dass sie gekommen sein muss, als die Tür zuknallt. Anneli ist eine der wenigen, die die Tür gleich beim ersten Versuch zukriegen, aber sie hat ja auch schon von Kindesbeinen an den richtigen Kniff einüben können. Agneta verlässt das Eishockeyspiel und geht hinaus, um ihre Freundin zu begrüßen. Sie umarmen sich fest. Anneli hat nie mitleidige Augen. Ihre kurzen Haare sind ungefärbt und ringeln sich an den Schläfen. Die grauen Strähnen werden nicht versteckt und auch nicht kommentiert. Sie trägt eine weite Jeans und ein Funktionsunterhemd. Ein teures, blau gemustertes.
Als sie es Anneli erzählte, weinte sie nicht. Sie saßen sich wie immer gegenüber, so wie jetzt gerade, jede mit ihrer Tasse Kaffee vor sich, und die Worte kamen einfach so aus dem Nichts. Tränen tropften in Annelis schwarzen Kaffee, doch Agnetas Augen waren trocken. Die Worte waren zwar aus ihrem Mund gekommen, aber ihr Gehirn hatte sie noch nicht verarbeitet. Annelis Hand drückte ihre so fest, dass Spuren blieben. Du bist die Erste, die es erfährt, hatte Agneta gesagt, und Anneli hatte geschluchzt, laut geweint, bevor sie hervorbrachte: Aber was ist denn mit Tilda? Als ob Agneta jemals an etwas anderes dächte.
Anneli trinkt nicht aus ihrer Kaffeetasse. Das weiße Porzellan ist zerkratzt, nachdem es ein paarmal zu oft in der Spülmaschine gewesen ist. Sie hält die Tasse einfach nur mit beiden Händen fest. Es ist lange her, dass Agneta zu Hause bei Anneli war. Seit sie von ihrer Krankheit erfahren hat, haben sie sich immer hier getroffen, an ihrem Kiefernholztisch, der mal wieder eine neue Lackierung vertragen könnte. Mit der Tapete, die unten an den Leisten mitgenommen aussieht, weil Kinderhände daran gerissen haben. Es ist schwer zu ertragen, wie viel Leben Annelis Haus ausstrahlt. Und dann die Renovierung in der Küche, die deutlich macht, dass sie hier noch lange wohnen wird. An Annelis kräftigen Fingern sitzt immer noch Fett. Um ihren Ehering wölbt sich die Haut über und unter dem Gold heraus, wenn sie an ihrer Tasse herumfummelt. Agneta erinnert sich an die Hochzeit, wie sie mit aller Kraft gegen ihre Missgunst ankämpfen musste. Wie ein Mann Anneli so zärtlich ansah, als wäre sie das Zerbrechlichste und zugleich Stärkste auf der Welt. Das Wichtigste.
Nein, lieber ist sie hier zu Hause. Wo alles an den Tod erinnert, sodass sie nicht überrascht werden kann. Agneta wagt kaum, ihrer Freundin ins Gesicht zu schauen, sondern hält den Blick fest auf ihre Hände gesenkt. Der alte Holzstuhl knarrt, als sie sich bewegt. Auf dem Tisch hat sich ein Abdruck gebildet: das Wort DEUTSCH. Tilda hatte beim Hausaufgabenmachen schlechte Laune gehabt, und durchs Papier hatte sich die Spitze ihres Stifts ins Holz gegraben. Die Farbe landete nur auf dem Papier, doch der Abdruck blieb für immer. Als ob Anneli ihre Gedanken lesen könnte, hebt sie jetzt eine Hand und legt sie auf die von Agneta.
«Hast du schon mit Tilda gesprochen?»
«Alle nerven mich damit», sagt Agneta und zieht ihre Hand unter der von Anneli weg. Sie nimmt einen großen Schluck.
«Dir muss doch klar sein, warum.»
Ihr Magen knurrt vom Koffein. Immerhin ist sie seit vorhin gewachsen: Im Sprechzimmer des Psychologen war sie noch drei, jetzt fühlt sie sich wie dreizehn. Sie will nicht. Es gibt keinen besseren Grund als den, dass alles in ihr NEIN schreit. Sie will nicht hören, wie sich Tildas Stimme verändert. Das Weinen am anderen Ende der Telefonleitung. Oder noch schlimmer: das Nicht-Weinen.
«Du kannst das hier nicht länger verbergen, Agneta. Sie wird es dir bald ansehen.» Annelis Worte sind hart, aber Agneta antwortet immer noch nicht. Sie nimmt noch einen Schluck, der ihre Gedärme rebellieren lässt, denn sie vertragen den Kaffee einfach nicht mehr. Sie hingegen verträgt die Ermahnungen nicht, die von allen Seiten auf sie einprasseln, so als ob sie das hier nicht allein entscheiden dürfte. Sie ist immerhin erwachsen.
«Ich will erst, dass unser Verhältnis wieder gut wird», sagt Agneta, aber sie ist nicht sicher, ob Anneli sie hört. Sie steht auf, schiebt ihre Füße in die Pantoffeln und sucht in ihrer Daunenjacke nach der Zigarettenschachtel, während sie die Haustür aufmacht. Anneli bleibt noch ein paar Sekunden am Küchentisch sitzen, doch Agneta hört das Scharren ihres Stuhls, gerade als sie sich ihre Zigarette ansteckt. Anneli stellt sich einfach auf Strümpfen neben sie auf die Veranda. Obwohl sie vom Schnee freigeschaufelt wurde, muss sie durch und durch kalt sein.
«Darf ich?» Anneli deutet mit einem Nicken auf die Schachtel, obwohl sie eigentlich gar nicht raucht. Gula Blend. Extralang. Jetzt kann man die Umrisse der Bäume nicht mehr vorm Himmel erkennen.
«Ich verstehe, dass es schwer ist», beginnt Anneli, als sie ihren ersten Zug nimmt, obwohl sie es definitiv nicht verstehen kann. Agnetas Zigarette ist bereits zu einem Drittel abgebrannt. Anneli führt ihre Zigarette langsam zum Mund. «Aber du kannst das jetzt wirklich nicht mehr länger rauszögern.»
Agneta drückt ihre Zigarette aus. Würde sich am liebsten sofort die nächste nehmen, aber sie hält sich zurück. Anneli würde sie garantiert anschauen mit diesem Willst-du-wirklich-Blick. Das ist außer der Sache mit Tildas Ahnungslosigkeit das Einzige, womit ihr alle in den Ohren liegen. Einmal kam Tilda weinend vom Hort und erklärte, sie sagen, dass du sterben wirst, und Agneta hatte gefragt, was sie denn eigentlich meinte. Man hatte ihr gesagt, dass Raucher sterben, und Agneta brauchte fast eine ganze Stunde, um sie zu beruhigen. Musste versprechen, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie steht schweigend neben Anneli, die ab und zu husten muss, weil sie der Rauch in den Lungen kitzelt, die das nicht gewöhnt sind.
«Ich werde immer für Tilda da sein, okay?», sagt Anneli und zieht noch einmal kräftig an ihrer Zigarette. Agneta verlagert ihr Gewicht auf den anderen Fuß. Sie hat das Gefühl, dass das eins ihrer Probleme ist: dass Anneli bleiben und immer da sein wird. Agneta hätte auch viel lieber Anneli als Mutter gehabt als sich selbst.
Agneta putzt sich