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Das Böse hat viele Gesichter. Im Roman "Kaffee, Tee oder Blut?" beschreibt die Autorin eine fantastische Welt, in der sich Vampire und Menschen über eine Mauer aus Hass und Vorurteilen anstarren. Der Roman nimmt den Leser mit auf eine rasante Reise durch ein Märchen mit Biss. Manchmal gruselig, manchmal romantisch, manchmal auch mit Humor taucht der Leser ab in die Welt der Vampire.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kaffee, Tee oder Blut?
WIDMUNG
Kaffee, Tee oder Blut?
MOIRA LEFAY
© 2022 Moira Lefay
2. Auflage, Vorgängerausgabe 2020
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-52270-1
ISBN E-Book: 978-3-347-52274-9
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Eine kleine Geschichte
Da sind Sie ja, werter Zuhörer! Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie sich vielleicht drücken würden. Vor der Geschichte, vor der Wahrheit. Ja, mit der Wahrheit ist das immer so eine Sache, nicht wahr? Sie ist oft verdammt unangenehm und erinnert uns daran, dass wir eine Wahl haben und die falsche getroffen haben. Aber – verzeihen Sie mir die Wortwahl – das ist nur menschlich! Und Sie hätten natürlich auch anders entscheiden können. Sie hätten sich entscheiden können, nicht herzukommen und die Geschichte nicht zu hören. Aber da Sie so mutig waren und aufgetaucht sind, setzen Sie sich ein wenig zu mir. Ja, hier auf den Sarg, keine Sorge, er wird uns beide tragen. Also, zurück zur Wahrheit. Die wurde, was diese Geschichte angeht, sehr lange verdreht. Und viele sehr einflussreiche Menschen haben sich wirklich große Mühe damit gegeben, dass nichts ans Licht kommt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, auch meine Gattung trug dazu bei, ein Geflecht aus Lügen und Vertuschung aufrecht zu erhalten. Meine Gattung lebt auf diesem Planeten fast genau so lange, wie Ihre. Wir Vampire haben uns von Fledermäusen und Menschenaffen entwickelt, eigentlich ähnlich, wie die Menschen. Aber eben mit den Vorteilen, die die Einkreuzung der Fledermäuse mit sich brachte. Nein, fliegen können wir Vampire nicht, aber wir haben ein wirklich ausgezeichnetes Gehör und bessere Augen, als Menschen.
Und vor etwa 6000 Jahren erschienen wir dann erstmals in dieser menschengleichen Form. Und da fing dann auch der Ärger an. Vielleicht war es ja von Anfang an zum Scheitern verurteilt, zwei so feindselige Spezies auf einem Planeten anzusiedeln, aber so war es nun einmal und wir Vampire waren zahlenmäßig weit in der Unterzahl und die Gejagten. Sie lachen? Nun, wenn ein Rudel wilder Löwen Sie jetzt jagen würde, würden Sie dann ruhig hier sitzen bleiben? Vermutlich wäre ich mit meiner Frage nicht einmal am Ende angekommen, da würden Sie bereits das Weite suchen. Und Sie täten Recht daran! Denn obwohl der Mensch, ausgestattet mit Gewehr und Munition, einem Löwen die Stirn bieten könnte, so wären Sie doch ohne Waffen hilflose Beute.
Und so geht es auch Vampiren. Wir können Sie natürlich beißen, vielleicht ein oder zwei Menschen gleichzeitig in Schach halten. Aber wenn Sie im Rudel auftauchen, bis an die Zähne bewaffnet, dann sind wir unterlegen. Und so kam es, dass wir für tausende von Jahren allenfalls als Mythen auftauchten. Sehen Sie hier, eines meiner Lieblingsbücher, die Bibel, auch darin kommen wir vor. Lassen Sie mich es Ihnen zeigen… Ja, hier ist die Stelle: 'Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.' Was Menschen viele Jahre lang für Engel hielten, waren in Wahrheit Vampire. Aber so ist es mit der Wahrheit, sie ist oft merkwürdig und man will sie lieber gar nicht kennen. So ist es einfacher, wegzusehen.
Aber dann erfand man das Internet, Soziale Medien, Handys mit Kamera und allerhand andere Technologien und auf einmal war es nahezu unmöglich für meine Spezies, sich zu verstecken. Dazu kam zu allem Überfluss noch Hollywood mit seinen Vampirgeschichten. Die Menschen wussten auf einmal relativ gut, auf welche Anzeichen sie achten mussten. Und ihr Menschen seid wirklich nicht dumm! Ihr seht viel mehr, als ihr ahnt. Nur wisst ihr es vielleicht nicht immer zu interpretieren oder ihr habt Angst vor der Wahrheit. Aber dies wird die Geschichte von einigen Vertretern beider Spezies, die sich entschieden, die Wahrheit doch zu sehen und die dadurch die Geschichte verändert haben. Aber fangen wir an. Beginnen wir mit zwei Damen, die in engem Briefkontakt stehen. Die eine lebt inzwischen in den USA, die andere in Großbritannien. Hier will ich meine Geschichte beginnen. Also entspannen Sie sich und hören Sie gut zu…
Briefe aus Atoka
„Liebste Haley, ich bin erleichtert, deinen Brief erhalten zu haben und zu hören, dass es dir gut geht. Es ist schön, zu hören, dass ihr ein neues Haus gefunden habt, in dem ihr euch wohlfühlt! Ich kann mir das Leben in St. Ives gut vorstellen! So wie du es in deinem Brief beschreibst, muss es der Himmel auf Erden sein! Vielleicht werde ich dich ja bald besuchen können, wenn die Kriege in Europa endlich beigelegt sind. Noch wäre es wohl doch zu gefährlich und wir haben zu viel durchgemacht, um erneut in Gefahr zu geraten. Aber du wolltest mehr wissen und du sollst alles erfahren. Mein Teil der Geschichte begann erst im Jahre 2020, aber die von Lorcas und seinen Gefährten begann lange davor…“
Lorcas' Reise als Vampir begann in einem kleinen Ort namens Mangalia, in Rumänien, im Jahre 1441…
„Entfacht die Feuer!“ Die Männerstimme hallte über den Friedhof, durch die dunkle Nacht. „Lasst die Teufel herein…“
Stille. Ein Pferd schnaubte und scharrte etwas unruhig im lockeren Boden nahe den Gräbern. Die herumstehenden Männer hielten gebannt den Atem an.
„Es hat keine Sinn“, flüsterte ein Mann, der eine Fackel hielt. „Seien Sie still, Ruhe jetzt!“ fauchte der Pfarrer ihn an. Er beugte sich vorsichtig über eines der Gräber. Die Erde war hier noch locker aufgehäuft, es war ein ganz frisches Grab, erst einen Tag alt. Und Pfarrer Andrei glaubte, dass es auch nicht viel älter werden würde, denn der darin begraben worden war, würde sich heute Nacht erheben und jene heimsuchen, die ihm nahe standen und ihm noch einen Gefallen schuldeten.
Das Feuer der Fackeln knisterte, hier und da hörte man das Knacken eines Zweiges unter Füßen, das Schnauben eines Pferdes. Ansonsten Stille. Nichts rührte sich in dem Grab, kein Scharren, kein Klopfen. Nichts deutete auf Pfarrer Andreis Vermutung hin, dass unter dieser Erde ein Wiedergänger begraben lag. Ein Wesen, dass im 18. Jahrhundert unter dem Namen Vampir zur Legende werden würde.
„Pfarrer, sehen Sie doch!“ Einer der Männer hielt seine Fackel näher an den Erdboden, auf dem deutlich ein Fußabdruck zu sehen war. Jemand war barfuß auf dieser Erde entlanggelaufen. Pfarrer Andrei griff nach der Fackel und ließ sie entlang des Erdhügels wandern. Da! Noch ein Fußabdruck! Und dort, noch weitere! Zwei Männer schrien und rannten davon. Auch die übrigen Männer waren zutiefst nervös geworden. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten: der Tote war wiedergekehrt, er war seinem Grab entstiegen. Der Pfarrer kniete nun neben dem Erdhügel und strich ein wenig Erde beiseite.
„Wir müssen ihn ausgraben, wir brauchen Gewissheit! Bringt mir eine Schaufel, ich mache es selbst. Der Herr wird mich beschützen gegenüber der Macht des Bösen.“ Man reichte dem Pfarrer eine Schaufel und er begann zu graben. Sie brauchten fast die halbe Nacht, bis sie endlich den Sarg so freigelegt hatten, dass sie den Deckel zu öffnen vermochten.
Niemand sprach. Einer der Männer hielt einen eisernen Pflock und einen Hammer bereit. Einige bekreuzigten sich. Pfarrer Andrei holte tief Luft und öffnete den Sarg.
„Heilige Maria, Mutter Jesus!“ rief einer der Männer aus, als sie alle entsetzt in den Sarg blickten. Darin lagen Überreste der Mohnsamen und die vier Kerzenstummel, die man an den Ecken des Sarges angebracht hatte, als man den Toten darin gebettet hatte. Ihr Licht sollte der Seele den Weg ins Jenseits weisen und die Mohnsamen sollten den Toten beschäftigen. Während er die Mohnsamen zählen würde, würde er nicht auf Gedanken der Rache kommen. Doch was immer auch schief gelaufen war, der Tote war nicht mehr in seinem Sarg. Der mit einfachem Tuch ausgeschlagene Sarg war leer.
„Haben Sie ihn denn nicht mit Knoblauch ausgerieben, wie ich es Ihnen gesagt hatte?“ Pfarrer Andrei schaute auf einen der Männer. Dieser war damit betraut worden, den Leichnam auf die Beerdigung vorzubereiten. Sein Name war Vladislav, er war fast so bleich, wie die Leiche gewesen war, als er sie zuletzt gesehen hatte: „Aber nein, Herr Pfarrer!“ Er hob die Hände und schüttelte den Kopf, dass seine braunen Locken nur so um den Kopf flogen: „Ich habe alles gemacht, wie Sie es mir aufgetragen hatten. Ich habe an jeder Sargecke eine Kerze entzündet, ich habe das Holz auf der Sarginnenseite mit Knoblauch eingerieben und ich habe Mohnsamen auf den Sargboden gestreut. Ich kann mir das auch nicht erklären!“ „Wir hätten Linsen statt Mohn nehmen sollen. Oder vielleicht war der Deckel nicht fest genug“, warf ein anderer Mann ein. „Ich habe ihn mit genügend Nägeln befestigt. Mehr als bei üblichen Begräbnissen“, wandte Vladislav ein.
„Gut, es bringt nichts, darüber hier zu streiten“, der Pfarrer raufte sich die Haare. „Wir sollten zurück gehen und morgen früh verständigen wir das Dorf bei der Messe und so Gott will, wird dieser Dämon uns nicht heimsuchen.“
Nicht, dass Pfarrer Andrei auch nur einen Augenblick daran geglaubt hätte, dass sie sicher waren. Aber was brachte es schon, Panik zu verbreiten. Panik war ein schlechter Ratgeber. Nun hieß es, alle Vorsichtsmaßnahmen zum Schutze der Dorfbewohner zu ergreifen und auf das Beste zu hoffen.
Unweit des Friedhofes setzte sich ein blondgelockter Jüngling zu einer dunkelhaarigen Frau auf die Friedhofsmauer: „Draghina, ich danke dir“, flüsterte er und erwiderte ihr scheues Lächeln. Sie schnippte ein paar Mohnsamen von seinem Hemd: „Sie werden bald kommen und dich suchen, Liebster.“ Bedauern schwang in ihrer süßen Stimme mit. „Du musst fliehen.“ „Ich werde noch eine Nacht bleiben“, der Jüngling strich ihr zärtlich über die Wange. „Nein, bitte, geh! Geh, bevor sie dich pfählen!“ Der junge Mann rutschte von der Mauer: „Ich hole dich nach, sobald ich einen sicheren Ort gefunden habe und dann fangen wir von vorne an“, versicherte er der Frau, die ihn mit panischem Blick ansah: „Ich werde zurecht kommen. Ich überlebe ihre Dummheiten seit fast hundert Jahren. Aber dich werden sie suchen, du bist nicht sicher. Geh nun, Lorcas. Geh und behalte mich in guter Erinnerung. Ich werde nie aufhören, dich zu lieben, mein schöner Lorcas! Und zu wissen, dass du Frieden hast, wird mir genug sein.“ Er hauchte einen Kuss auf ihre vollen Lippen, bevor er in die Dunkelheit entschwand.
Viele Jahre gingen ins Land und im Jahr 2020, in einem kleinen Dorf nahe Pula, in Kroatien, ahnte eine junge Frau mit Haar in der Farbe von rostigem Kupfer und grünbraunen Augen noch nicht, welches Abenteuer sie bald erwartete…
„Haben Sie die Rezepte fertig gemacht, Zara?“ Der schlanke Mann mit schon leicht schütterem, aber akurat zurückgekämmten Haar beugte sich durch die Tür ins Hinterzimmer der Apotheke, wo eine junge Frau Ende 20 hektisch unter einem Schreibtisch herumkrabbelte und gerade den Mülleimer inspektionierte. „Ich bin sicher, ich habe die Stühle für einen Zweck angeschafft!“ kam die kühle Stimme des Mannes. Zara ergriff die Tischplatte und zog sich hoch, bis sie wieder auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Ihre schulterlangen Haare standen in wilden Strähnen um ihren Kopf: „Entschuldigen Sie, Herr Babic, ich versuche wirklich, sie zu finden.“ Der Apothekenbesitzer zeigte seinen Frust und seine Wut über das Unvermögen seiner Angestellten deutlich mit seinem Blick und einer abwertenden Geste: „Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie wie ein Kleinkind über den Teppich krabbeln.“ „Nein, das weiß ich doch“, stammelte Zara und wurde wütend, weil sie merkte, wie ihr Gesicht errötete. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Einmal im Leben wollte sie diesem Arschloch taff gegenübertreten, aber ihre Wangen begannen bereits zu glühen, als hätte sie stundenlang in der kroatischen Sonne gestanden. Egal, was Zara auch tat, seit sie diesen Job vor einem Jahr angenommen hatte, hatte sie das Gefühl, es ihrem Chef nie recht machen zu können! Ständig schienen Sachen schief zu gehen, wenn es darauf ankam. Manchmal verdächtigte sie Jenni, ihre Arbeitskollegin, aber warum sollte sie Dinge verschwinden lassen, wie jetzt die Rezeptbestellungen für den Abend? Was hätte sie davon? „Wird das heute noch was?“ riss die schneidende Stimme ihres Chefs sie aus ihren Gedanken. „Ich habe sie hier her, auf den Tisch gelegt“, die Stimme des jungen Rotschopfs klang langsam verzweifelt, Tränen erstickten die letzten Silben fast. „Ich will hoffen, ich habe sie in 5 Minuten vorne an der Theke!“ Mit diesen Worten drehte ihr Chef sich um, nicht ohne vorher noch einmal seine Augen zu verdrehen, um zu demonstrieren, was er von unzuverlässigen Angestellten hielt. Zara sackte am Tisch zusammen, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und begann leise zu schluchzen. Wieder einmal stellte sie sich vor, wie sie in der Lotterie gewann und Herrn Babic die Kündigung mit dem Lächeln eines Siegers auf die Theke knallen würde: „Viel Erfolg, mit nur noch einer Angestellten, Herr Babić, ich bin raus!“ Und dann würde sie hinaustreten auf den sonnigen Gehsteig und das Gesicht in die Sonne drehen… Sie seufzte tief. Aber leider brauchte sie das Geld dringend und konnte es sich nicht leisten, dass ihr Chef ihr zuvor kam und sie rauswarf. Darum begann sie erneut, den Schreibtisch abzusuchen. Sie hatte den ganzen Morgen an den Rezepten gesessen, alle Tablettenpackungen in das Rezept gewickelt und dann mit einem Gummiband zusammengebunden. Die Stapel hatte sie, nach den Abholuhrzeiten sortiert, rechts auf den Schreibtisch gelegt. Wie konnten 14 Rezepte einfach so verschwinden? Im Hauptraum der Apotheke erklang das kleine Glöckchen, als ein Kunde eintrat. „…ja, natürlich, sehr gerne“, hörte Zara die süße Stimme von Jenni sagen und kurz darauf trat ein Mädchen mit hellbraunem Zopf und einem Gesicht voller Sommersprossen ins Hinterzimmer: „Ist das Rezept für Frau Jović fertig?“ Nein und das weißt du ganz genau, denn du hast alle Rezepte versteckt, du blöde Kuh! Das waren die Worte, die Zara sagen wollte, aber heraus kam nur ein klägliches: „Ich finde sie nicht.“ Jenni warf die Arme genervt in die Luft: „Na super! Sie braucht die Tabletten aber dringend. Jetzt! Wo ist Herr Babic? Weiß er, dass die Rezepte nicht fertig sind?“ „Sie sind ja fertig, aber ich finde sie nicht mehr“, wehrte Zara sich kraftlos. Warum würde Jenni so etwas tun? Um sie los zu werden? Aber dann würde mehr Arbeit an ihr hängen bleiben. Konnte das ihr Ziel sein? Jenni rümpfte die Nase und ging wieder nach vorne. Zara lehnte sich gegen die kühle Wand und lauschte. Auf einmal riss sie die Augen weit auf, als sie Jenni sagen hörte: „…ach, da ist die Packung ja, Frau Jović! Alles in bester Ordnung. Das hätten wir. Dann alles Gute für Ihren Mann!“ Dann ertönte das Glöckchen, als die Kundin die Apotheke verließ. „Du verdammtes Miststück, du hast sie versteckt!“ Zara trat hinter die Theke und funkelte Jenni an. Doch in dem Moment kam ihr Chef auch nach vorne in den Verkaufsraum und Jenni war schneller: „Herr Babic, ich habe die Rezepte gefunden. Alles ist wieder in Ordnung gebracht.“ „Sehr gut, danke Jenni“, der Chef würdigte Zara keines Blickes. Verdammte Jenni! Eines Tages… Aber Zara wusste genau, dass sie es nie schaffen würde, diesem Miststück etwas nachzuweisen. Und ihr Chef würde ihr ohnehin nie glauben. So verlief dieser Arbeitstag ähnlich, wie die meisten: Jenni tänzelte herum, wie eine verdammte Fee, heimste Lob und Freude von Chef und Kunden ein, während Zara versuchte, vor Wut niemanden zu erwürgen und nebenbei ihren Job so gut es ging zu erledigen. Als der Abend endlich gekommen war, eilte sie so schnell es ging nach Hause. Die kühlende Abendluft hauchte ihr neue Lebenskraft ein. Sie achtete kaum auf den Weg, ihre Füße kannten jeden Stein auf dem Pfad, der aus den Gassen der Stadt führte und dann in eine Ebene, die vor allem von Feldern dominiert wurde, führte, auf das kleine Dorf zu, in dem sie und ihre Familie lebten. Zaras Vater besaß einen kleinen Hof mit Ziegen, aber das meiste Geld verdiente Zara. Der Mond war fast voll und tauchte den Weg in fahles Licht, nachdem die Sonne untergegangen war. Zara erreichte die Scheune des Hofs und bemerkte die offene Tür. Ihr Vater wurde langsam älter. Natürlich war es nicht so schlimm, wenn er vergaß, die Tür zu schließen, denn die Ziegen waren in ihrem Stall eingeschlossen und konnten nicht frei in der Scheune umherlaufen. Aber der Wind konnte die Tür gegen die Stallwand schlagen und das Geräusch würde Zara um den Schlaf bringen. Sie verschloss die Holztür sorgfältig, bevor sie sich zum Haupthaus begab. Durch das Küchenfenster konnte sie ihre Familie sehen: ihren Vater, bereits ergraut und etwas rundlich. Er hatte die gleichen etwas schrägen, mandelförmigen Augen mit der grünbraunen Farbe, wie sie; ihre Tante und deren Söhne, sie lebten hier bei ihnen, seit ihr Onkel, der Bruder ihres Vaters, verstorben war und Kater Cäsar, der auf dem Fenstersims saß und das Zubereiten des Abendessens gnädig beaufsichtigte. Zara war froh, dass sie bei ihrer Familie schnell Ablenkung von ihrem stressigen Arbeitsalltag fand. Als sie das Haus betrat, hörte sie ihren Vater laut lachen und ihre Tante mit einstimmen. Zara lächelte.
Zur selben Zeit, in Dubrovnik…
Die beiden Männer machten Gebrauch von ihren Tasern. Der Gefangene sackte zusammen und sie schafften es endlich, ihn in eine der Zellen zu zerren. „Vorsicht, der da ist ein Kämpfer!“ warnte einer der Männer den Arzt, der ihnen bedeutete, den Gefangenen auf eine der Liegen zu heben. „Das sind sie alle. Am Anfang.“ Der Arzt zog sich Gummihandschuhe an und zog eine Spritze auf: „Danke, meine Herren, das wäre alles!“ Die beiden Männer hatten es eilig, den Raum zu verlassen. Sie konnten nicht einmal genau sagen, warum, aber es gruselte sie, in der Nähe dieser Bestien zu sein, selbst wenn sie betäubt und in Ketten gelegt waren. Es blieben Bestien!
„Der große Lorcas, endlich lernen wir uns auch mal kennen“, der Arzt grinste den halbbetäubten Mann an, während er ihm Ketten anlegte. Lorcas schlug seine himmelblauen Augen auf und blickte orientierungslos umher. Direkt über ihm hing eine Lampe, deren grelles Licht ihn schmerzte. Er blickte zur Seite. Da waren Gitterstäbe, dahinter kalte Wände. Und Körper! In Ketten an die Wände gefesselte Körper von Männern und Frauen und ihm wurde langsam klar, welches Schicksal ihm blühte. „Ich habe viel Geld…“, seine Stimme, sanft wie eine Sommerbrise, klang schwach und leise. „Dein dreckiges Geld interessiert mich nicht, Monster“, äzte ihn der Arzt an, als er die Nadel der Spritze am Hals des Mannes einführte. Lorcas spannte sich an und versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, aber die Hand des Arztes an seinem Kopf war wie ein Schraubstock. „Warum?“ flüsterte Lorcas und schloss die Augen, als ihm von dem gespritzten Mittel übel wurde und alles sich zu drehen begann. „Weil es mir Spaß macht, euch zu töten, so wie ihr einst meine Frau und meine Tochter Silvana getötet habt“, Lorcas nahm die Worte des Arztes kaum noch wahr, als er tiefer und tiefer in die Ohnmacht sank. Es war ein barmherziger Schlaf, aus dem er immer wieder herausgerissen wurde. Mal durch das Schreien der Mitgefangenen, mal durch eine Spritze, die ihm neues Gift durch die Adern jagte. Zeit und Raum wurden immer unwirklicher, doch es wollte einfach nicht enden. Die wenigen Momente, in denen Lorcas die Kraft aufbrachte, seine Augen zu öffnen, sah er nichts außer Körpern und kahlen Wänden. „Lorcas…Liebster…bitte sei nicht tot! Bitte, oh Gott, mach, dass er noch lebt!“ Die Stimme schien von weit her zu kommen. Ich bilde mir das nur ein, sagte Lorcas sich selbst und weigerte sich, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Da erwartete ihn nur neuer Schmerz. Er ließ seine Augen geschlossen, als kühle Hände sein Gesicht zärtlich umschlossen. „Lorcas…bitte…“, die Stimme klang nun näher, weniger gedämpft. „Ich bin es, Draghina…“, die Stimme erstickte in Tränen. Ein mattes Lächeln zeichnete sich auf dem engelsgleichen Gesicht des Mannes ab. Draghina hatte seinen Kopf in ihren Schoss gezogen und strich ihm liebevoll die goldenen Locken aus der Stirn. Ihr erleichtertes Aufatmen ließ Lorcas seine Augen öffnen. Er brauchte einen Moment, um sich auf das Gesicht über ihm zu konzentrieren, doch dann erkannte er sie und sie erwiderte sein Lächeln: „Liebster, was tust du nur hier? Wie konnten sie dich fangen?“ Tränen tropften auf das Gesicht des Mannes. Er fühlte sich schwach, doch hob er eine Hand und legte sie auf die Wange der Frau, die leise zu schluchzen begann: „Dich darf es nicht treffen.“ „Es ist in Ordnung, ich hatte ein gutes Leben. Es ist in Ordnung.“ Sie schüttelte stur den Kopf: „Nein, du musst hier raus. Bitte!“ Ihre Tränen schmeckten salzig. Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln, seine Finger strichen ihr sanft durchs Haar. Wenn der Tod so gnädig war, ihm seine große Liebe noch einmal zu schenken, dann war es gut so. Vielleicht war es ein fairer Preis, den er für sein unvorsichtiges Umherstreifen nahe der Hauptstadt bezahlte. Er war der Regierung lange genug entkommen. Eigentlich war er es müde, sich zu verstecken und ständig mit der Angst zu leben, dass sie eines Tages an seine Tür klopfen würden. Und seine Hoffnung, dass die Jagd eines Tages aufhören würde, hatte er schon lange verloren. Begonnen hatte dieser Vernichtungskrieg 1998 im fernen Nordamerika…
Der Redaktionsraum der Washington Post war ein einziges Chaos: einige Reporter rannten hin und her, andere tippten hastig Texte an ihren Computern oder ließen ihre Texte von anderen Kollegen gegenlesen. In einem Raum hinter einer Glaswand saß Mr Blueston, der Chefredakteur der Washington Post. Er überflog eilig einen Artikel, den eine nervös wirkende junge Frau ihm gereicht hatte: „Das ist gut… Das ist wirklich gut…“ „Also drucken wir es?“ Der Mann blickte niedergeschlagen auf: „Daisy, das können wir nicht bringen. Das ist zu politisch, das bringt uns riesen Ärger.“ „Sie haben mir beigebracht, dass man aufrütteln muss! Und das hier ist Genozid! Das ist…“ „Das ist Mord an Monstern, das wird momentan niemand unterstützen. Auch nicht, was in Denver passiert ist.“ „Was ist mit den Fotos?“ Daisy zeigte auf einige aufgefächtert auf dem Schreibtisch liegenden Fotos, welche ein brennendes Farmhaus zeigten und vermeintlich Menschen, die, in Flammen stehend, ihr Heil in der Flucht aus dem Gebäude suchten. Am Boden lagen einige Tote, nieder geschossen. Von den Bundesagenten, die allerdings nicht auf den Fotos zu erkennen waren. „Das können wir nicht machen, es tut mir wirklich leid. Das sind die Guten, die können wir nicht angreifen“, es tat Mr Blueston aufrichtig leid, denn auch er hasste die Jagd auf die Vampire und was in Denver passiert war, war in der Tat grauenvoll und an Widerwärtigkeit kaum noch zu überbieten. Aber Fakt war, dass die Regierung die Jagd auf ihre Agenda gesetzt hatte und die Öffentlichkeit sah darin einen beschützenden Eingriff der Politik. Immerhin hatte es dutzende Angriffe auf Menschen gegeben in den letzten zehn Jahren. Und nachdem man endlich dahinter gekommen war, wer hinter den Morden steckte, nämlich Vampire, hatte die Regierung nicht gezögert und ein großes Programm zur Vernichtung der Vampire beschlossen, welches umgehend umgesetzt worden war. Seit wenigen Monaten wurden Vampire gejagd und zur Strecke gebracht, ohne Rücksicht auf Verluste und in Denver hatte man gleich eine ganze Gemeinde entdeckt, die sich auf einer Farm versteckt hatte. Der Zugriff war bei Tag erfolgt. Die Gejagten waren im Schlaf überrascht worden. Ihr Haus im Flammen und umringt von Scharfschützen, hatte es keine Überlebenden gegeben. Unter den Toten hatten die Regierungsagenten zu ihrer Überraschung auch Kinder gefunden, was allerdings vertuscht worden war. Doch Daisy war vor Ort gewesen, sie hatte die Leichen gesehen und fotografiert. Ein blondes Mädchen, dem Aussehen nach keine sechs Jahre alt, ihren Teddy an sich gedrückt, in einer Lache aus Blut liegend. Daisy sah ihr Gesicht seit diesem Tag fast jede Nacht in ihren Träumen. Ihres und das der anderen Ermordeten. Doch in den Zeitungen und den Fernsehnachrichten hatte man nur von Männern gesprochen, die erschossen worden waren, als sie die Agenten anzugreifen versucht hatten. Die Wahrheit hätte nicht extremer verdreht worden sein!
„Es tut mir wirklich leid.“ Ihr Chef seufzte. Als Daisy sich zum Gehen wandte, erhob sich Mr Blueston von seinem Eichenschreibtisch: „Lassen Sie die Bilder und den Bericht da. Er kommt in mein persönliches Archiv. Mehr kann ich erstmal nicht tun.“
„Danke“, Daisy drehte sich um und lächelte. „Sie sind wie wir, denke ich. Sie haben Gefühle.“
„Gut möglich“, Mr Blueston schenkte der jungen Journalistin ein Lächeln. „Und darum ist es gut, dass es Journalisten wie Sie gibt, die nachforschen und unbequeme Fragen stellen. Und eines Tages werden Sie damit an die Öffentlichkeit gehen können und Sie werden einen Unterschied machen.“
„Das hoffe ich“, Daisy kehrte in das Großraumbüro zurück. Da draußen waren Wesen, die erbarmungslos gejagd und getötet wurden und während sie hier ihrer Arbeit nachging, rannten andere vielleicht gerade jetzt um ihr Leben.
„…Und so, liebe Haley, fing eigentlich alles an. Mit den neuen Gesetzen, die im Frühjahr 1998 verabschiedet wurden, begann die US Regierung, Vampire systematisch zu jagen und zu töten. Im darauf folgenden Winter begann man, Lager, die offiziell als Militärübungsplätze deklariert wurden, zu bauen. So durfte kein Zivilist dort hinein, kein Journalist konnte heimlich Fotos schießen von den Foltern, die dort Tag für Tag an den Vampiren vorgenommen wurden. Keine vier Jahre später wurden die ersten Lager in Europa gebaut und ab 2003 war man so eng miteinander vernetzt, dass es kein Entkommen mehr für die Gejagten gab. Offiziell wurde die Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU als medizinische Forschungsarbeit ausgegeben. Und irgendwie war sie das ja auch. Allerdings forschte man, indem man die gefangenen Vampire systematisch auseinander nahm, Organ für Organ, Knochen für Knochen, um herauszufinden, warum sie heilten und wie man ihre Biologie für Medikamente nutzen konnte. Dass man nebenbei auch noch Monster von der Strasse holte, war allen Beteiligten nur Recht. Ach, liebste Haley, du kannst dir meine Scham nicht vorstellen, die ich empfinde, weil ich all dies nicht geahnt habe und unsere Apotheke die Medikamente auch noch verkaufte. In Liebe. Deine Zara“
Zara blickte auf die Briefzeilen und strich gedankenverloren mit ihren Fingern über das Papier.
Spanische Hochzeit
Im Jahre 1590 wusste man in Spanien noch nicht sehr viel von der Existenz von Vampiren. In der gerade aufblühenden Stadt Madrid hatte man gerade ganz andere Sorgen…
„Was hast du mit der scheiß Krawatte vor, willst du dich erwürgen, damit dir die Hochzeit erspart bleibt?“ Alberto trat ins Schlafzimmer seines jüngeren Bruders, der vor einem großen Spiegel verzweifelt versuchte, eine seidene Krawatte zu binden. „Komm, lass mich mal, wir haben nicht den ganzen verdammten Tag, Sastré“, Alberto grinste und rettete die Krawatte davor, zu einem gordischen Knoten zu werden. Sastré lächelte dankbar: „Verfluchte Hochzeit, müssen wir da hin? Ich hasse es, solche Klamotten zu tragen.“ „Du siehst doch gut aus, hör auf rumzuheulen. Wo ist das Geschenk? Wir müssen los“, Alberto verließ das Zimmer und suchte nach dem Paket, welches in seidenem Geschenkpapier auf dem Küchentisch lag. An Alberto sah der festliche Umhang aus, als würde er nie etwas anderes tragen. Zur Feier des Tages hatte der hochgewachsene Spanier sogar seine Haare etwas schneiden lassen und seinen Vollbart kürzen lassen. Das gab ihm das Aussehen eines Gentleman, obwohl er im Alltag eher den obersten Hemdknopf offen ließ. Sein dunkelbraunes Haar war an den Schläfen bereits angegraut und auch sein leicht angegrauter Bart verriet, dass er nicht mehr so jung war, wie sein Bruder. Der 41jährige Arzt arbeitete im Kloster und seit ihre Eltern gestorben waren lebten er und sein zwölf Jahre jüngerer Bruder alleine in dem etwas zu großen Anwesen. Es gab viel zu viele Zimmer, die nicht genutzt wurden und leer standen. Manchmal wünschte sich Alberto, er könnte Sastré davon überzeugen, fortzuziehen. Er trat vor die Tür in die heiße spanische Nachmittagssonne und schob sich etwas Kautabak in den Mund: „Verdammter Hurensohn, komm endlich!“ Die Kutsche wurde vorgefahren. Ihr Diener saß auf dem Kutschbock, vorgespannt waren zwei braune Stuten. Alberto nickte dem Diener zu: „Wird ein langer Abend werden, Sie müssen nicht bleiben. Bringen Sie uns nur hin und seien Sie um Mitternacht wieder da.“ Sastré tauchte endlich im Eingang auf, noch immer etwas verärgert an seinem Umhang rumfummelnd. „Sehr wohl, mein Herr“, der Diener nickte eifrig. „Steig ein“, Alberto nahm in der Kutsche Platz, welche losfuhr, kaum dass Sastré die Tür zugeschlagen hatte. Es war ein holpriger Weg, denn ihr Ziel lag in den Bergen. Ein schönes Anwesen, Alberto war schon einmal dort gewesen. Die Tochter eines Freundes heiratete. „Der alte José hatte wohl eher einen anderen Ehemann im Kopf“, Sastré lachte. „Naja, bei der biestigen Tochter kann er froh sein, dass sich überhaupt ein geeigneter Kandidat fand“, Alberto zuckte die Schultern. „Immerhin hat er einen Laden, es könnte schlimmer sein. Gerüchten zufolge hatte sie schon ein Auge auf einen Seemann geworfen.“
„Ja, der käme dem alten José gerade recht“, Sastré lachte amüsiert. „Ich hätte mich ja geopfert, aber seine Tochter ist wirklich nicht leicht zu zähmen.“ „Schlepp mir so eine bloß nicht an“, sagte Alberto nur knapp. Die Kutsche machte einen Ruck. „Neto, versuchen Sie doch bitte, die Kutsche heil ans Ziel zu bringen. Wenn Sie vielleicht nur jedes dritte Schlagloch nähmen…“, rief Alberto und klopfte mit seinem Gehstock gegen die Wand, hinter der der Kutschbock war. „Sehr wohl, mein Herr“, kam die Antwort etwas gequält. Die Straße war wirklich fürchterlich. „Man müsste doch meinen, es gäbe genug Reichtümer in den neuen Kolonien, um den heimischen Straßenbau zu finanzieren, aber offenbar irre ich.“
Ein weiterer heftiger Ruck ließ Alberto die rechte Hand an die Schläfe legen und ächzen.
Als sie ankamen, war die Party bereits im Gange. Vor einem hübschen Steinhaus hatte man eine große Fläche mit Schleifen und Blumengirlanden geschmückt und Musiker spielten zum Tanz. Um die Tanzfläche herum fanden sich Tische, an denen die Gäste saßen und sich unterhielten. Ein Buffet war unweit der Tische aufgebaut, Rauch vom Ofen wehte träge über die Köpfe der Menschen. Das Brautpaar tanzte, umringt von Freunden und Familie. Die Brüder bahnten sich ihren Weg zu ihnen. Die Braut, ein Mädchen von 14 Jahren, fast zu mager und mit strähnigem Haar, umarmte Alberto einige Sekunden zu lange. Er nickte ihr höflich zu, als er sich aus ihrer Umarmung sanft befreite. Dieser eine Abend damals und schon klammert sie, dachte er genervt, versteckte seine wahren Gefühle jedoch hinter einem strahlenden Lächeln, bevor er Richtung Buffet floh. „Sieht eher aus, als wärst du ihr Favorit gewesen“, flötete Sastré amüsiert. „Halt dein Maul und iss was“, Alberto schob ihm einen Teller mit Pasteten rüber. Verdammte scheiß Hochzeit! Helena, die Braut, hatte in der Tat bei seinem letzten Besuch hier, versucht, ihm schöne Augen zu machen. Aber so reizvoll eine Frau im Hause auch sein mochte, hatte Alberto doch etwas andere Vorstellungen davon, wie eine Frau sein musste, um ihn um den Verstand zu bringen.
„Setzen wir uns doch zu den Nadinis“, schlug Sastré vor. Sie fanden den Pastor und seine Schwester etwas abseits der Tanzfläche, an einem ruhigeren Tisch, so weit wie möglich von den Musikern entfernt: „Pastor Nadini, wie schön, Sie und Ihre Schwester wieder zu sehen. Dürfen wir uns zu Ihnen gesellen?“
Der Pastor war ein älterer Herr mit üppigem Bauch und einem freundlichen, runden Gesicht. Er lächelte und machte einen einladende Geste. Sastré und Alberto nahmen Platz. Seine Schwester hatte ein langes Gesicht, noch längere Zähne und eine knochige Figur. Ihr Gesichtsausdruck war eigentlich immer etwas übellaunig, aber in Wahrheit war sie ganz umgänglich. Sie litt allerdings an schmerzenden Knochen, weshalb sie selten lachte.
Alberto war schnell in eine angeregte Unterhaltung mit Pastor Nadini vertieft, während Sastré eine junge Frau einige Tische weiter entdeckt hatte und ungeniert mit ihr flirtete. Das junge Mädchen sah immer wieder kichernd zu Boden, blickte dann aber wieder herüber.
„Nun forder sie schon auf, du Tunichtgut“, Alberto schüttelte den Kopf. „Ah, die Wonnen der Jugend“, sinnierte der Pastor. „Amen“, fügte Alberto sarkastisch an.
„Ich hörte, die schöne Helena hatte auch ein Auge auf Sie geworfen, mein Lieber.“
Alberto nahm einen Schluck aus seinem Bierhumpen: „Hören Sie mir bloß damit auf, Pastor!“
Pastor Nadini lachte amüsiert.
„Nein, die Frau, die mich überzeugt, mein Junggesellendasein aufzugeben, die muss noch geboren werden“, Alberto nahm einen weiteren Schluck Bier.
„Machen Sie aber nicht zu lange, ich werde auch nicht jünger“, neckte ihn der Pastor.
Die Feier wurde eigentlich ganz nett. Alberto blieb am Tisch des Pastors sitzen, bis dieser sich erhob und kundtat, dass er und seine Schwester nun die Heimreise antreten würden.
Alberto gesellte sich zu Sastré, der neben der Tanzfläche stand: „Wo ist deine Eroberung?“ „Irgendwo da hinten, ich war gelangweilt“, Sastré zuckte die Schultern.
In dem Moment gesellten sich zwei junge Frauen zu ihnen. Eine der beiden legte kess ihre Hand auf Albertos Schulter: „Ganz alleine auf einer Hochzeit zu sein bringt Unglück.“
„Ist das so?“ Alberto zog eine Augenbraue hoch. Die Frau hatte hüftlanges Haar, welches ihr in leichten Wellen über den Rücken fiel. Die andere hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten, in den sie Blumen eingewebt hatte. Sie lächelte Alberto ebenfalls herausfordernd an: „Ja, das ist in der Tat so“, sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. Sastré fühlte sich etwas ignoriert und ließ seinen Bruder stehen, um sich mehr Bier zu holen.
„Tanz mit uns“, sagte die erste nun wieder. Ich heiße Marianna, das ist meine Freundin Lucía.“
Alberto ließ sich von den beiden auf die Tanzfläche ziehen. Offenbar waren die beiden nicht eifersüchtig aufeinander, als sie abwechselnd ihren Charme auf den Arzt losließen.
Aber nach einigen Liedern wurden sie es müde, zu tanzen.
„Gehen wir doch etwas spazieren“, schlug Lucía vor. „Wo ist denn der junge Mann, der vorhin bei Ihnen war, Alberto?“
Alberto sah sich um, entdeckte seinen Bruder in der Nähe und winkte ihn herüber.
Sastré folgte der Einladung neugierig: „Hallo, die Damen“, grüßte er, bereits deutlich betrunken.
„Du siehst aus, als täte dir ein kleiner Spazier gang auch gut. Du liebe Güte, bist du hochgewachsen“, Marianna hakte Sastré unter und nahm ihn einfach mit.
„Komm mit uns, wir zeigen dir unseren Lieblingsplatz unten bei dem kleinen Wäldchen“, hauchte sie Sastré ins Ohr. „Wir werden viel Spaß mit dir und deinem Freund hier haben“, flüsterte sie. „Alberto ist mein Bruder“, lallte Sastré. „Umso besser“, flötete Lucía. Alberto, von zu vielen Drinks auch bereits jenseits von Gut und Böse angekommen, legte seinen Arm um Marianna.
Die Frauen führten sie weiter und weiter weg von der Musik und dem Gelächter der Feier, bis an den Rand eines kleinen Wäldchens. Marianna stieß Alberto neckisch an und zwang ihn, sich auf einen großen Stein zu setzen. Kaum, dass er saß, machte sie es sich rittlings auf seinem Schoß bequem. Mit gurrender Stimme flüsterte sie ihm ins Ohr: „Diese Nacht wirst du nicht vergessen.“
Sastré und Lucía hatten es sich unter einem Baum bequem gemacht. „Willst du mich denn nicht küssen?“ lockte Lucía ihn und ließ ihre Zunge entlang seines Halses fahren.
„Wer von euch ist der bessere Liebhaber?“ Marianna küsste Albertos Wange, dann seine Nase, dann seine Lippen. „Vielleicht will ich euch beide heute Nacht haben.“
Lucía, die die Worte gehört hatte, schien davon nicht gestört, während sie Sastré langsam seines Hemdes entledigte.
Es war vor allem dem Alkohol zuzuschreiben, dass keiner der Brüder die Gefahr kommen sah. Alle Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, gingen unter in der Leidenschaft, mit der sie die Frauen unter dem Sternenhimmel jener Sommernacht liebten.
Am nächsten Morgen erwachten sie unter den selben Bäumen. Jedoch war keine Spur von Lucía und Marianna zu sehen. Alberto setzte sich stöhnend auf und fasste sich an den Hals. Sein Kopf brummte, als sei er mit einem Stier zusammengestoßen. „Was zur Hölle…“, er tastete vorsichtig seinen Hals und betrachtete dann seine Finger. Blut. Er blutete. Er blickte zu seinem Bruder, der sich soeben hochrappelte: „Sastré, dein Hals“, stammelte er entsetzt. Sein Bruder hatte eine klaffende Wunde am Hals, als habe ein wildes Tier ihn dort angefallen. Sein Hemd war besudelt und auch der Waldboden um ihn war getränkt in Blut. Ein kurzer Blick auf sein eigenes Hemd brachte zutage, dass auch Alberto stark bluten musste.
„Wo sind wir?“ Alberto sah sich um und versuchte fieberhaft, sich an Einzelheiten des gestrigen Abends zu erinnern.
„Wo sind denn die Weibsbilder?“ Auch Sastré sah sich um und machte einen Versuch, aufzustehen. Nach einigem Schwanken kam er auf die Beine.
„Vielleicht flohen sie vor dem Tier, dass uns anfiel“, mutmaßte Alberto.
„Wir sollten zusehen, dass wir nach Hause kommen. Wenn man uns so sieht, wird man noch denken, wir hätten die beiden ermordet. Wir machen keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck“, Alberto erhob sich ebenfalls, wankte einen Moment und sah sich um. Dann schlug er den Pfad entlang des Waldsaumes ein, darauf bedacht, sich von dem Haus und Menschen fernzuhalten. Er konnte nicht einmal sagen, warum er diese Entscheidung traf. Es war instinktiv. Etwas sagte ihm, dass es keine gute Idee war, einen Menschen um Hilfe zu bitten. „Ich hoffe, du bist nüchtern genug, es wird ein weiter Weg nach Hause!“ Er sah sich um. Sastré folgte ihm, seine Schritte nicht sehr sicher und hin und wieder leicht nach rechts und dann wieder nach links schwankend.
„Wird schon gehen“, murmelte Sastré und verfehlte knapp einen stabilen Baumstamm.
Sie brauchten mehrere Stunden, bis sie es zu ihrem Haus, welches etwas außerhalb von Madrid lag, geschafft hatten. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und beide Brüder stöhnten erleichtert auf, als sie ins kühle Dunkel ihres Hauses stolperten.
Das Laufen hatte zwar den Kater vertrieben, aber die Sonne schien sie irgendwie zu ermüden. Vielleicht war es aber auch einfach der Blutverlust.
„Ich schlage vor, wir waschen uns und dann verbinde ich uns die Wunden“, Alberto zog sein Hemd auf dem Weg zur Treppe aus. Eine steinerne Treppe führte vom Flur hinauf in den ersten Stock. Das Haus verfügte über zwei Badezimmer, eines war den Gästen und dem Hausmädchen vorbehalten, das andere den Brüdern. Jeder der beiden verschwand nun in einem der Bäder und sie kamen erst nach einer Stunde wieder zum Vorschein. Alberto trug einen weichen Baumwollhausanzug mit blauen Streifen. Er hielt ein sauberes Handtuch vorsichtig auf seine Wunde gedrückt, als er die Treppe hinunter ging und eine Tür zu seiner linken öffnete. Hinter ihr verbargen sich seine Praxisräume, denn wenn er nicht im Kloster arbeitete, empfing er auch hier hin und wieder priviligiertere Patienten. Ins Kloster gingen die Armen, wenn sie krank oder