Kafka, neu sortiert - Cedric Piette - E-Book
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Kafka, neu sortiert E-Book

Cedric Piette

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Beschreibung

Pellworm, Kafka und ein Mord. Als ein Berliner Professor auf der Suche nach einem ruhigen Schreibort für eine Monografie über Franz Kafka, den Griff eines Rollkoffers in der einen, eine Aktentasche in der anderen Hand, den Asphalt des Pellwormer Tiefwasseranlegers betritt, ahnt er nicht, dass dieser Schritt ihn unmittelbar in einen Mordfall verwickeln wird. Ein gemütlicher Nordseekrimi mit einem besonderen Schwerpunkt auf Kafka, dessen Werk und dessen 100. Todestag. Teils humorvoll, teils literarisch, erinnert dieser kurze Krimi an klassische englische Detektivromane.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Vorwort

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Nachwort

 

Cedric Piette

Kafka, neu sortiert.

Oder: Der Mord hinten am Deich

Kriminalroman

 

Die Collage des Covermotivs besteht aus

Anton Mauves Schapen op een dijk, 1870

Porträt von Franz Kafka, 1923

Andreas Achenbachs Hallig, 1909

Franz Kafka mit Hut, 1906-1908.

 

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,

Liegen die friesischen Inseln im Frieden.

Und Zeugen weltenvernichtender Wut,

Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.

Detlev von Liliencron, Trutz, Blanke Hans

 

Wenn einer gestern gemordet hat – und wann könnte aus diesem Gestern jemals auch nur ein vorgestern werden – kann er heute keine Mordgeschichten ertragen. Sie sind ihm alles zugleich: peinlich, langweilig und aufreizend.

Franz Kafka, Brief an Milena Jesenská

Vorwort

Professor Paulke, mein ehemaliger Doktorvater, der mir diese Geschichte im Groben bei einem gemeinsamen Abendessen Anfang Dezember erzählte, lachte sehr, als ich am nächsten Tag bei ihm anrief und mich erkundigte, ob ich seine Erlebnisse auf einer kleinen, nordfriesischen Insel denn literarisieren dürfe. Er gab mir zu verstehen, dass, wie er mich kenne, ich dies ja so oder so täte. Seines Erachtens spräche jedoch nichts gegen eine solche fiktionalisierte Niederschrift. Ich müsse allerdings auf meine Quellen und die richtige Zitierweise achten, denn ich wüsste ja nur zu gut, dass er da sehr kleinlich bei seinen Bewertungen sei. Lachend verabredeten wir uns, um noch einmal detaillierter über jenen Mordfall zu sprechen, in den er, ganz ohne sein Zutun, Monate zuvor verwickelt worden war.

Es sollten viele Treffen und eine äußerst ausführliche Recherche folgen, die mich selbst sogar für zehn Tage auf diese Wattenmeerinsel brachte, aber dies ist nicht meine Geschichte, sondern die seine.

 

Kapitel Eins

Für den leicht möglichen Fall, daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heiße Franz Kafka und bin der Mensch, der Sie zum erstenmal am Abend beim Herrn Direktor Brod in Prag begrüßte,

Brief an Felice Bauer, 20. September 1912

I

Berlin war furchtbar. Dieser Lärm. Diese Hektik. Diese Menschenmassen. In der Wohnung nebenan klingelte es erneut sturm. Bis tief in die Nacht schien die Stadt zu glühen. Es war nicht nur dieser Juli, allerorten rumorte es, seit Monaten. So unruhig war es seit Jahrzehnten doch nicht mehr gewesen, schon gar nicht in diesem Stadtteil. Inzwischen war es unerträglich geworden. Dumpfe Musik und laute Tritte hatten ihn, Professor Peter Paulke, in der letzten Nacht lange wachgehalten. Heute Morgen war er, Sonnenschein und Vogelgezwitscher vor seinem Fenster, entkräftet und übernächtigt aus seinem Bett gestiegen. Als er ein kleiner Junge gewesen war, mehr als ein halbes Jahrhundert war das nun her, hatte es immer geheißen, dass man im Alter weniger Schlaf benötigte. Er gähnte. Gut, aber Vierundsechzig war auch noch kein Alter. Damals als kleiner Junge hatte er darüber sicher ganz anders gedacht. Er konnte sich nicht erinnern. Jahre in Schul- und Universitätsbänken, Jahrzehnte in Bibliotheken und als Dozent in Hörsälen hatten weite weiße Leinentücher des Vergessens über manche seiner Erinnerungen gelegt. Es klingelte noch einmal, diesmal bei ihm. Peter Paulke legte das Buch, das er gehalten, in dem er aber schon seit einer Weile nicht mehr gelesen hatte, beiseite, erhob sich umständlich von seinem Schreibtisch und ging durch den Flur seiner Wohnung zur Gegensprechanlage. Er drückte einen Knopf, hörte einige undeutliche Worte und drückte einen anderen. Erst dann öffnete er auch seine Wohnungstüre.

Fünf Pakete in unterschiedlicher Größe standen, als er die Tür wieder schloss, im Eingangsbereich seiner Wohnung. Später am Tag würden verschiedene Leute aus der Nachbarschaft ihre jeweilige Postsendung entgegennehmen, die meisten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Er nahm die Pakete jedoch nicht ihretwegen entgegen, sondern der Leute wegen, die sie ausfuhren.

Wenn es in der Universität doch nur besser gewesen wäre, dort aber warteten Studierende, die ohne Voranmeldung an seine Bürotür klopften und dringend und sofort das Eine oder Andere mit ihm besprechen mussten. Selbst in der semesterfreien Zeit war es so. Doch schlimmer als alle Anfragen für Referate, Haus- oder Abschlussarbeiten, schlimmer als alle Beratungsgespräche oder gewünschten Empfehlungsschreiben, war das Kollegium. Ein Kollegium, das sich stets in der Universität aufzuhalten und immer auf der Suche nach einem belanglosen Flurgespräch zu sein schien. Ab und an stand es, ganz unvermittelt, in seinem Büro und sprach irgendetwas von Gremien, Forschungsanträgen, Konferenzen und Tagungen. Es war ein vielgesichtiges Monster, dieses Kollegium. Ein Monster, das die Küche verdreckte, in den Büroräumen zu schlafen schien und vor dem es kein Entkommen gab.

Mit einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee gewappnet, auch heute war es wieder ein Ringen um Worte, war es wieder ein Kampf mit den Büchern, begab er sich abermals an seinen Schreibtisch. Ein derart unproduktives Urlaubssemester hatte er noch nie erlebt. Vielleicht wurde er tatsächlich alt, vielleicht wurden aber auch alle um ihn herum zunehmend rücksichtsloser. Oder vielleicht fehlte ihm auch einfach, kein abwegiger Gedanke, vielleicht fehlte ihm auch einfach nur der durchschlagende Einfall für diese Publikation? Vermutlich war es das. Vermutlich waren es seine Nerven – und Berlin war nicht lauter oder hektischer als sonst. Mechanisch schob er sich die eckige Brille mit ihren schwarzen, dünnen Metallbügeln zurecht. Ihn hatte schon ein mulmiges Gefühl befallen, als er den Vertrag unterschrieb. Im Grunde war dieses Buch, wer auch immer sich für diese Idee verantwortlich zeichnete, ein reines Luftgebilde, er hoffte wirklich, dass er es nicht selbst gewesen war, ein verkäuferisches Hirngespinst, eine wissenschaftliche Donquichotterie. Wie sollte es auch anders sein?

Ein Buch das pünktlich zum einhundertsten Todestag die gesamte Kafkaforschung auf den Kopf stellen sollte. Als wäre in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht unentwegt etwas über Prags bekanntesten deutschsprachigen Autoren veröffentlicht worden. Er seufzte. Wenn die von der Gestapo 1933 bei Dora Diamant beschlagnahmten Briefe und Schriftstücke, die unauffindbar im Bundesarchiv verschwanden, entdeckt worden wären, dann vielleicht. Die Süddeutsche Zeitung hatte vor Jahren hierüber medienwirksam berichtet. Dem war allerdings nicht so. Im Grunde war alles schon irgendwo formuliert worden, deswegen war nichts zu schreiben sicherer. Mit jedem Wort, das unter so einer haltlosen Prämisse entstand, stieg die Chance die eigene Reputation unwiederbringlich zu beschädigen. Jedes geschriebene Wort barg unvorhersehbare Fallstricke. In einem Brief Kafkas an die vier Jahre jüngere Felice Bauer hieß es, allzu richtig, wie er fand: Die falschen Sätze umlauern meine Feder. Er hätte den Vertrag nicht unterschreiben und noch weniger den Eindruck erwecken dürfen, dass ein Großteil bereits verfasst sei. Laut der Ankündigung des Verlags sollte das Buch im Juni erscheinen. Im November war die Abgabe. Das waren nur noch vier Monate. Ein Kapitel hatte er geschrieben. Vor knapp einem Jahr. Mehr hatte seine Lektorin nicht gelesen, mehr gab es allerdings auch nicht. Sie war von ihm überzeugt, er mittlerweile davon, dass es Regressforderungen geben würde. Es gab noch nicht einmal eine Gliederung und im Oktober begannen wieder Vorlesungen und Seminare.

Das Telefon läutete. In der haltlosen Hoffnung es würde von allein enden, wartete er erst, bevor er nach dem siebten Mal doch abnahm. Jemand von der Verwaltung sprach von fehlenden Unterschriften, die bis morgen benötigt würden. Man habe ihm eine E-Mail geschickt, die unterschriebenen Unterlagen müssten morgen aber im Original vorliegen.

Als er wieder an seinem Schreibtisch saß, stellte Peter Paulke fest, dass sein Kaffee inzwischen kalt geworden war. Seufzend griff er nach einem Sammelband mit Kurzgeschichten Kafkas. Fast zeitgleich ertönte lautes und drucklufthämmerndes Baugetöse in der Düsseldorfer Straße. Er sah zum Fenster. Es war geschlossen. Die Baugeräusche waren dennoch, man riss den Fahrdamm auf, laut zu hören.

II

Nordstrand war nun fast gänzlich aus seinem Blickfeld entschwunden und der Dieselgeruch des Schiffes, der beim Ablegen noch deutlich zu riechen gewesen war, hatte sich in den Böen salzig frischer Meeresluft verloren. Peter Paulke saß auf einer der vielen eierschalenfarbenen und unbequemen Plastikbänke des grün metallenen Fährdecks. Neben ihm befanden sich Feriengäste, die meisten von ihnen entweder mit einem Getränk oder einem Stieleis in der Hand, während sich ein Deck unter ihnen zahlreiche Autos, ein Traktor und eine Handvoll Fahrräder neben- und hintereinander reihten. Im Gegensatz zu ihm und einigen anderen Personen, die ebenso wie er auf den Bänken saßen, vereinzelt miteinander plauderten, standen die meisten der Reisenden an der Reling. Kinder zogen sich, auf Zehenspitzen stehend, an ihr empor und sahen über sie hinunter auf die Wellen der Nordsee sowie auf die dort auf den Sandbänken liegenden und anscheinend träge in der Sonne dösenden Seehunde. Den Gesprächen, die zu ihm hinübergeweht wurden, konnte Peter Paulke entnehmen, dass sich dort auch einige Jungtiere befanden. Ein paar Telefone und ein Fotoapparat wurden aus verschiedenen Taschen hervorgekramt.

Vor zwei Tagen, noch bevor er gestern in der Verwaltung gewesen war, war ihm der Umlegekragen geplatzt. Kurzentschlossen war er aus dem Haus gestürmt, hatte das Reisebüro eine Querstraße weiter aufgesucht und noch bevor er wusste, was er genau tat, für die kommenden knapp drei Monate ein Hotelzimmer gebucht. Am liebsten hätte er sich, so sein Impuls, in einer einsamen Almhütte verschanzt. Doch einsame Almhütten seien gerade, wie man ihm bedauernd mitteilte, entweder ausgebucht oder nicht geöffnet. Ein Wort folgte auf ein anderes und ehe er sich versah, ging es für ihn, diese Insel hätte keine Strände und wäre anders als Rügen, Sylt oder Norderney selbst im Sommer menschenverlassen, in Richtung Nordsee.

Mitten zwischen den Halligen im Wattenmeer sei diese Insel gelegen, hatte es geheißen. Er hatte an Schiffbrüchige und an entlegene Gestade gedacht, an Robinson Crusoe, an die Waldeinsamkeit der Romantik und an Berlin. Er war darauf aus gewesen, der Stadt abhanden zu kommen, heidi zu gehen, und hatte sich sodann in einem ICE nach Hamburg wiedergefunden. Einem ICE, in dem schon fast alle Sitzplätze belegt gewesen waren. Kurz nachdem der Zug Spandau hinter sich zurückgelassen hatte, hatten alte Hände bereits begonnen kleine Sektflaschen zu entkorken und ein Fahrgast nach Frankfurt feststellen müssen, dass er im falschen Zug saß. Er hatte darüber lautstark geklagt, während die Schaffnerin ihm unbewegt eine neue Verbindung ab Hamburg suchte.

Alsbald war neben Peter Paulke heiter, Schluck für Schluck munterer, über Bekannte und Verwandte getratscht worden. Er hatte indes angestrengt versucht, das Gesagte nicht zu hören und dabei inständig gehofft, dass er diese unvermittelt angetretene Urlaubsreise nicht bereuen würde. Es war doch ein ziemlich kostspieliges Unterfangen, das er da betrieb. Der Aufenthalt mit all den anfallenden Kosten würde vermutlich weit mehr als drei, vier volle Monatsgehälter vertilgen und ob letztlich das gewünschte Ergebnis eintrat, war nicht abzusehen. Denn selbstverständlich dachte er gar nicht daran dort wirklich Entspannung zu suchen, sondern wollte stattdessen in der erhofften Einsamkeit jener nordfriesischen Insel – ein Paket mit den wichtigsten Fachbüchern hatte er bei der Post aufgegeben – weiter an der Monografie über Franz Kafka schreiben. Die Anreise jedenfalls würde sicher bald vorüber sein.

Als er in Husum, Theodor Storms grauer Stadt am Meer, aus dem verspäteten IC aus- und in einen vor dem Bahnhofsgebäude haltenden Linienbus nach Nordstrand einstieg, hatte sich die Fahrgastanzahl schon merklich reduziert. Was in der Zwischenzeit jedoch zugenommen hatte, war sein Hungergefühl und eine schier endlose Busfahrt durch kleine Dorfstraßen, an Feldern und an grünen, schafbedeckten Deichen vorbei, verstärkte dieses Empfinden ungemein.

Von seinem Magen geleitet, fand er an Bord der Fähre einen Imbiss mit einer kleinen Speiseauswahl, der seinem Eindruck nach allerdings überwiegend Getränke verkaufte. Kobaltblau bepolsterte Stühle und Bänke füllten gemeinsam mit einer Vielzahl von hellen Pressspanntischen und einer Kinderspielecke zwei Räume, die ihn an eine Kantine denken ließen. Nach kurzem Zögern – er wusste nicht, wie ihm die Überfahrt bekommen würde, vor Jahrzehnten war er zuletzt mit einem Schiff gefahren, er wollte dem Hunger allerdings etwas entgegensetzen – hatte er sich für ein Fischbrötchen und eine Portion Pommes Frites entschieden. Letztere wurden zu seiner Überraschung und der seiner Geschmacksnerven in einer kleinen Pappschachtel in der Mikrowelle erwärmt. Peter Paulke aß schließlich, er hatte sich hinaus auf eine der Plastikbänke auf dem windigen Oberdeck gesetzt, das Fischbrötchen ganz und nur manche der Pommes Frites.

III

Blauer Himmel war nicht zu leugnen. Im weitläufigen Garten des Hotels Hotel Deichkrone stand Peter Paulke, korrigierte den Sitz seiner Brille und besah sich die ausladenden, bienenbrummenden Rosensträucher.

Nachdem die Fahrzeuge die Fähre verlassen hatten, hatte er, seinen störrischen Rollkoffer hinter sich herziehend, die Aktentasche unter dem Arm, in der Gesellschaft der übrigen Feriengäste den Pellwormer Tiefwasseranleger betreten. Eine bei einem parkenden Kleintransporter wartende junge Frau mit einer sommerlichen Kurzhaarfrisur hatte ihn winkend begrüßt, während die restlichen Reisenden in einen am Anleger wartenden Bus stiegen. Die Automobile waren zu diesem Zeitpunkt schon außer Sicht gewesen. Sie, die Winkende, sie hätte eine Studentin zu Beginn ihres Studiums sein können, nahm sein Gepäck entgegen. Auf den Fotografien, wozu das Internet nicht alles gut war, die dort seines Wissens zu finden waren, war er zwar gut ein Jahrzehnt jünger, trug Jackett und Bart, jetzt waren es ein schlichtes Hemd und ein Panamastrohhut, doch gut erkennbar war er augenscheinlich dennoch. Damit begonnen Hüte zu tragen, hatte er vor geraumer Zeit, um den zunehmenden Haarausfall am Hinterkopf zu verdecken. Was er, würde er danach gefragt werden, aber keinesfalls zugegeben hätte. Eitelkeit war zwar ansonsten seine Sache nicht, doch hüten tat er sich.

Die juliheiße Nachmittagssonne fiel auf die kräftigen roten Rosenblüten und die zarten, noch heranreifenden Knospen, auf Hummeln und Bienen. Sie fiel auch auf die letzten weißen Blüten eines üppigen Holunderstrauchs, der nahe am backsteinernen Hotelgebäude stand und der hier, wie Peter Paulke in den kommenden Wochen noch erfahren sollte, Flieder genannt wurde. Hinter dem dreistöckigen, reetgedeckten Haus lag die weidlich hohe grasbewachsene Hügelkette, die als schützender Außendeich die gesamte Insel einfasste. Hier und da waren Schafe zu erkennen und etwas entfernt, oben auf dem Deich, eine wohl hölzerne Parkbank.

Im Reisebüro war von einem Nordseeblick gesprochen worden, alles, was Peter Paulke jedoch aus seinem kleinen, einfenstrigen Einzelzimmer im obersten Stockwerk des Hauses hatte sehen können, waren inselwärts weite grüne Grasflächen und meerwärts der hohe Deichkamm gewesen, oder anders formuliert, die grüne Krone des Deiches. Er hatte schmunzeln müssen, während er den Inhalt seines Gepäcks auf Schrank und Schreibtisch verteilte. Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran, hatte Kafka in einem Brief an sie im Januar 1913 geschrieben, ich bin sogar als großer Lacher bekannt, doch war ich in dieser Hinsicht früher viel närrischer als jetzt.

Die junge Frau, die am Fähranleger auf ihn gewartet hatte, sie hieß Nele Edlefsen, war die zwanzigjährige Tochter des Ehepaars, das das Hotel besaß und betrieb. Sie wollte, wie er bereits auf der Fahrt zum Hotel erfuhr, das Gepäck war mit zwei Handgriffen sicher im Laderaum verstaut, ab Oktober entweder in Hamburg oder in Berlin studieren. Bis vor einem Jahr war sie in Husum auf dem Gymnasium gewesen. Dass sie aber nun weiterhin hier auf der Insel war, hatte sie ihrem Vater zu verdanken, meinte sie leicht verbittert. Dieser lehnte ihren Entschluss eines Kunststudiums ab, habe sich schließlich aber hadernd bereit erklärt, sie zu unterstützen, wenn sie zuvor für ein Jahr im Hotel arbeitete. Sie habe eingewilligt, seitdem aber trotzdem häufig gehört, dass sie doch besser etwas Richtiges machen solle. Momentan seien neben dem Koch nur noch drei in Teilzeit angestellte Aushilfskräfte im Hotel angestellt. Weit weniger Leute als in vergangenen Jahren, aber der aktuelle Personalmangel in der Touristikbranche zeige sich auch bei ihnen. Im August sei das Jahr vorüber und eine Zulassung aus Hamburg bereits eingetroffen. Eine Antwort aus Berlin stehe noch aus. Peter Paulke konnte fühlen, während sie erzählte, wie es ihr förmlich unter den Füßen brannte und wie ein Verlangen sie fortzog von jener kleinen Insel und aus ihrer gegenwärtigen Situation.

Sie fuhren nicht direkt zum Hotel, wie er angenommen hatte, sondern zu einem kleinen Supermarkt. Am Hafen vorbei führte sie ihr Weg in eine ganz andere Richtung, was Peter Paulke, frisch auf Pellworm angekommen, selbstverständlich nicht wusste. Nele Edlefsen erklärte, dass sie noch eine Bestellung abholen müsse, vorhin allerdings zu spät losgefahren sei. Die Frage, ob er noch etwas bräuchte, verneinte Peter Paulke und wartete für einige Minuten, auf dem Beifahrersitz zurückbleibend, auf sie. Er beobachtete währenddessen die scheinbare Zierlichkeit und Ruhe, die selbst auf diesem Supermarktparkplatz allem zu Grunde lag.

Ihre Mutter hatte nur zu berichten gewusst, dass er ein Buch über einen Schriftsteller schreiben wolle, meinte Nele Edlefsen, als sie wieder am Lenkrad saß. Sie fuhren an der Nordermühle vorüber und sodann den Schardeich entlang. Ihr Großvater war der Überzeugung gewesen, dass es sich um Detlev von Liliencron handeln müsse, rekapitulierte sie, denn wenn es Theodor Storm wäre, so seine Argumentation, wäre der Professor doch wohl in Husum geblieben. Peter Paulke hatte ihr geantwortet, dass es eine Monografie zu Franz Kafka werden solle und er nicht für seine Recherche angereist war, sondern lediglich, weil er ein möglichst ruhiges Schreibrefugium benötige. Nele Edlefsen ihrerseits hatte hierauf entsetzt aufgestöhnt und erklärt, dass das dann noch etwas werden könne, denn ihr Großvater hätte sicher gestern Abend beim Kartenspiel seine Version verbreitet und bestimmt denke nun die halbe Insel, dass er ein großer von-Liliencron-Forscher sei.

Peter Paulke sah zum Ende des Gartens und erblickte dort, von ihm zuvor nicht bemerkt, einen Mann, der gewiss zehn, vielleicht eher fünfzehn Jahre älter als er selbst war, am Rand der gepflegten Rasenfläche stand und dort mit einer Gartenschere von einem Rosenstrauch verwelkende Blüten entfernte. Aus der Ferne beobachtete er die Gewohnheit der Hände bei jedem Schnitt, aber auch, als der Mann sich nach einer herabgefallenen Blüte bückte, die Steifheit des Alters.

---ENDE DER LESEPROBE---