KAI - Antonio Langone - E-Book

KAI E-Book

Antonio Langone

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Beschreibung

Dennis Kenters lebt in einer kleinen Wohnung in Paris und ist ständig pleite. Ein Schuh im Kühlschrank bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Armee und Geheimdienst sind hinter einem geheimnisvollen Chip her, der ausgerechnet mit Dennis' Gitarre verschwunden ist. Sein ruhiges Leben gerät völlig aus den Fugen, als er seine neue Nachbarin kennenlernt. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Dennis' Gitarre und geraten in einen Wettlauf um die Entstehung echter künstlicher Intelligenz. Was geschieht, wenn eine Maschine mit künstlicher Intelligenz plötzlich eigene Gedanken hat? Ist sie dann nicht mehr künstlich? Was dann? Die Geschichte von Dennis, Leyla und KAI dreht sich um die ungelösten Fragen menschlicher Existenz und künstlicher Intelligenz, Liebe und Moral, Macht und Einfluss.

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2024

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ANTONIO LANGONE

KAI

Science-Fiction Roman

Text: © Copyright 2024 by Antonio Langone

Grafikdesign: Larissa und Sven Langone

Verlag: langonet.ch

[email protected]

Druck und Vertrieb:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

1

Es war ein schwüler Sommertag.

Dennis war auf dem Heimweg von der Arbeit. Die Klimaanlage in seinem angerosteten Renault Clio war ausgefallen und er verfluchte alle 5 Minuten den Moment geistiger Umnachtung, als er sich vom schmierigen Autohändler in seiner Strasse zu diesem einmaligen Schnäppchen überreden liess.

Schnäppchen ist gut, diese Kiste hatte ihn bisher nicht nur sämtliche Nerven, sondern auch den letzten Euro gekostet.

Er war wieder Mal blank. Und schwitzte.

Wenn wenigstens der Verkehr fliessen würde. Doch die Karawane aus buntem Blech wälzte sich auf der Autobahn immer langsamer stadtauswärts. Mit heruntergekurbelten Fenstern musste man aber schon mindestens 60 km/h fahren, um wenigsten das Gefühl einer Abkühlung zu bekommen. Beim Autobahnkreuz war Schluss.

Schritttempo. Stau.

Aus jeder Pore seiner Haut traten winzige Schweissperlchen. In seinem Nacken vereinigten sie sich zu Tröpfchen, die von seinem Hemdkragen aufgesogen wurden. Es bildete sich ein feuchter Film, der seinen gesamten Körper überzog. Er spürte förmlich, wie die Drecksluft über der Stadt in den Innenraum des Clios eindrang und die Schmutz- und Russpartikel auf seine feuchten Arme, Gesicht, Haare und Kleider entlud. Ein menschlicher Luftfilter. Seine Wirbelsäule funktionierte jetzt als Kanal, in dem ein Rinnsal aus Schweiss und Dreck in Richtung Steissbein floss.

Er blickte zum Auto nebenan. Dessen Klimaanlage schien wunderbar zu funktionieren. Der Fahrer telefonierte offensichtlich gut gelaunt bei geschlossenen Fenstern. Ohne Klimaanlage wäre er kaum so gut drauf.

Schlechte Laune bei Dennis. Er wischte sich mit dem Daumen die Schweisstropfen von seiner Oberlippe. Gleich morgen wollte er den Wagen in die Garage bringen. Keine Ahnung, wie viel das kosten würde, auf jeden Fall mehr als er im Moment hatte. Aber diese tägliche Qual musste aufhören.

Duschen.

Das war jetzt sein einziger Gedanke. Irgendwann setzte sich die stinkende Lärmkolonne wieder in Bewegung und irgendwann war er auch zu Hause angekommen. Er wohnte in einem Aussenquartier mit alten Häusern, die schon längst auf eine Renovation warteten.

Dennis öffnete die schwere Haustüre aus Holz mit geschnitzten Verzierungen, schleppte sich wie in Trance die Treppen zu seiner Wohnung hoch und schloss die Wohnungstür auf. Dritter Stock, drei Zimmer. Auf dem Weg zum Badezimmer zog er die Schuhe und das Hemd aus. Die Hose, Unterhose und Socken streifte er im Badezimmer ab. Er stieg in die Duschkabine und öffnete den Wasserhahn voll. Zuerst kam es ganz kalt und Dennis stockte für einen kurzen Moment der Atem, doch dann stieg die Temperatur und die Schocktherapie verwandelte sich in einen angenehmen, warmen Sommerregen. Endlich.

Seine Lebensgeister kamen langsam wieder.

Das war vielleicht ein Scheisstag. Nichts als nervige Kundenanfragen, alle wollten was von ihm. Die Hälfte seiner Bürokollegen war in die Ferien abgereist. "Toll, dass du noch dableibst. Du als Single, ohne Kinder, kannst ja nach den Schulferien fahren, da ist es sowieso viel günstiger", schleimten die Familienheinis. Na klar, Superferien, wenn im Herbst schon die halben Hotels geschlossen haben und die Temperaturen wieder gegen Null tendierten. Auf den Bahamas ist es im Winter auch warm, aber nicht, wenn in der Brieftasche Eiszeit ist. Wahrscheinlich würde für ihn höchstens Italien drin liegen.

Und jetzt musste er seine eigene Arbeit und zusätzlich die, seiner Kollegen machen. Exzellente Planung seines Chefs. Als sich Dennis bei ihm beschweren wollte, war auch er in den Urlaub gefahren.

Das warme Wasser überströmte seinen Körper. Er fühle, wie seine zweite Haut aus Schweiss und Dreck sich löste und an ihm hinunterglitt. Dennis warf den Kopf in den Nacken und liess sich das Wasser aus der Brause direkt aufs Gesicht spritzen. Erfrischung. Wieder Mensch. Er stellte die Dusche ab, trat aus der Kabine und begann, sich abzutrocknen.

Seit 6 Monaten arbeitete er nun schon für diese Versicherungsgesellschaft. War o.k., einfach ein Job, um sich über Wasser zu halten. Lange konnte er das aber nicht mehr machen, denn seine Künstlerseele begann, leise zu sterben. Er brauchte Freiheit, Freiraum, um zu leben. Doch jetzt war er wie in Ketten, gefangen in Regeln und Konventionen.

Er schaute in den Spiegel und sah nur unscharfe Umrisse seiner selbst. Der Spiegel war mit einem feuchten Film überzogen. Physik. Es sah aus, als hätte der Spiegel geschwitzt, genauso wie Dennis vorhin im Auto. Er verpasste dem Spiegel eine heisse Dusche mit dem Fön. Nach und nach verschwanden der Schweissfilm und der Spiegel atmete auf. Die Umrisse eines freundlichen Gesichts wurden schärfer und zeichneten nun ein klares Bild. Grüne Augen. Dennis fuhr sich mit der linken Hand durch das feuchte, schwarz glänzende Haar, das etwas zu lang war für das Büro. Aber egal. Sein Chef war weg, und es wäre reine Geldverschwendung gewesen, vorher zum Frisör zu gehen.

Haare wachsen. Geld nicht.

Er stieg in seine Klamotten und schlurfte in die Küche. Hunger.

Auch wenn seine finanzielle Lage nie wirklich rosig war, hatte er es immer fertiggebracht, etwas Anständiges zu essen zu besorgen. Ausserdem war er ein nicht allzu miserabler Koch.

Die Küche war eher klein und schäbig, doch er kam klar damit.

Irgendwie passte das Ding nicht so recht da rein.

Der Kühlschrank war knallrot und stand in der Mitte der ansonsten fast kahlen Wand. Dennis öffnete ihn und nahm eine Dose Bier heraus. Türe zu, Dose auf. Trinken.

Der kühle Schwall der herb-bitteren Flüssigkeit stürzte seine trockene Kehle hinunter. Nach einigen Schlucken setzte er ab, schloss die Augen, atmete tief durch. Das tat gut. Immer noch Hunger. Worauf hatte er heute Lust? Da war doch noch eine Hähnchenkeule von gestern übriggeblieben, oder war sie von vorgestern? Egal. Keine Lust auf Resten.

Ein Teller Pasta mit Oliven und Kapern, getrockneten Tomaten und Parmesan. Darauf hatte er Lust und machte sich gleich daran, die Töpfe und Zutaten bereitzustellen.

Die Nudeln waren schnell al dente und die anderen Zutaten brauchte er nur klein zu schneiden und mit ein wenig Olivenöl unter die Pasta zu mischen. Dazu ein Glas gekühlten Chardonnay.

Er öffnete nochmals den Kühlschrank und erst als er die Flasche am Hals gefasst hatte, sah er es.

Einen Moment lang verharrte er in der Bewegung, nahm die Flasche raus und machte den Kühlschrank zu. Er wusste: wenn das stimmte, was er da eben gesehen hatte, dann war das Ding auch nachher noch da. Lächerlich zu glauben, es sei weg, wenn er den Kühlschrank wieder aufmachte. Und doch wartete er einen Augenblick und öffnete die Tür nochmals.

Er war noch da.

Wie kam dieser Schuh in den Kühlschrank? Es war sein Schuh, das war klar, aber wer zum Teufel hat ihn da hineingetan? Dennis war sich sicher, dass er es nicht getan hatte, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Er nahm den Schuh aus dem Kühlschrank und ging in den Flur, wo in einer Nische, hinter einem grünen Vorhang, seine anderen Schuhe lagen. Nicht sehr ordentlich, aber auf den ersten Blick war zu erkennen, dass alle Schuhe zu Paaren zusammenstanden. Ausser dem, der zum Schuh in Dennis' Hand passte.

Er legte ihn zum anderen und da fiel ihm ein, wer das gewesen sein musste. Am letzten Wochenende waren Pierre und Harry bei ihm gewesen. Dennis hatte sich mit ihnen zum Fussball verabredet; sie hatten bei ihm zu Hause ein paar Bier getrunken, bevor sie mit dem Bus ins Stadion gingen. Auf dem Heimweg musste Pierre nochmals mit rauf, weil er irgendwas liegen gelassen hatte. Da hat er sich bestimmt den Spass mit dem Schuh erlaubt.

Dennis wunderte sich nur ein wenig, wie lange es gedauert hatte, bis er es bemerkt hatte. Er grinste bei sich und schüttelte den Kopf, dann aber machte er sich über seine Pasta her und vergass die ganze Geschichte. Bei Gelegenheit würde er sich bei Pierre revanchieren.

2

Ein paar Tage später begann der Morgen stressig. Er war wieder einmal spät dran und wieder einmal war sein Renault Clio schuld. Nachdem die Klimaanlage den Geist aufgegeben hatte, schien nun die Batterie kaputt zu sein. Auf jeden Fall sprang der Wagen nicht an, nicht einmal ein heiseres Röcheln war aus dem Motorraum zu hören. Es machte nur "klick", wenn Dennis den Zündschlüssel drehte. Tot.

Doch richtig schlimm war, dass sein Chef aus den Ferien zurück war und er schon wieder gedroht hatte, ihn rauszuschmeissen. Er überlegte, wer ihm jetzt noch helfen könnte und kam auf die neue Nachbarin aus der oberen Wohnung. Sie war noch nicht lange eingezogen und Dennis hatte sie noch nicht so oft gesehen. Sie schien eine etwas schüchterne Person zu sein. Sie grüsste zwar höflich, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, mehr hatte sich aber bisher nicht ergeben.

Als sie die Türe aufmachte, nachdem Dennis 3 Mal geläutet hatte, stand sie im Morgenrock da und Dennis fragte sich, was sie wohl für einen Job hätte, wenn sie um diese Zeit noch schlafen konnte, wo er ja selber schon viel zu spät dran war.

"Hi", er schaute kurz auf das Schild über dem Klingelknopf, "Frau Ragani". "Hallo", antwortete sie, ihre Stimme klang heiser und noch verschlafen. Jetzt, da er ihr in die Augen schaute, stellte er fest, dass sie trotz wilder Frisur eigentlich recht hübsch war. Sie hatte dunkle Augen, die ihm offenes Unverständnis entgegenwarfen, aber die kleine Stubsnase und der rote Mund liessen ihr Gesicht insgesamt nett erscheinen. Sie zog den Kragen ihres Morgenmantels etwas enger zusammen und wartete darauf, dass Dennis etwas sagen würde. Er stotterte etwas von wegen Auto kaputt und ob sie helfen könne. Irgendwie.

"Sie wohnen auch hier im Haus, oder?" sagte sie. "Oh, entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt, mein Name ist Dennis Kenters, ja, ich wohne genau unter ihnen, äh, unter ihrer Wohnung…" er wurde verlegen, was ihm selten passierte, wenn er mit Frauen sprach. Aber die Situation war neu für ihn und auf angenehme Art aufregend.

Sie drehte sich um, ging zurück den Korridor entlang und liess ihn in der Türe stehen. Dennis wusste für einen Moment nicht, was er tun sollte. Gehen oder warten, ...

"Kommen Sie rein, oder wollen Sie da draussen stehen bleiben?" rief sie über die Schulter, ohne sich umzudrehen. Dennis wunderte sich kurz, trat dann aber ein und schloss die Türe hinter sich.

"Kaffee?" tönte es von irgendwo. Er stand im Wohnraum, der gleichzeitig Küche und offensichtlich auch Arbeitsraum war.

Er sagte: "Sorry, ich habe eigentlich keine Zeit, ich muss arbeiten gehen und mein Auto..."

"Ich zieh mir nur was an und dann können wir schauen, was wir machen können, aber ohne Kaffee geht gar nichts", sagte sie; ihre Stimme kam aus dem Raum, welches das Schlafzimmer sein musste.

Er blickte sich um und fand gleich die Nespresso-Maschine auf der Küchentheke. "Schwarz oder Gold?" fragte Dennis in Richtung Schlafzimmer. "Schwarz!" Er nahm eine schwarze Kapsel, steckte sie in die Maschine und drückte den Knopf für Espresso. Neben der Maschine lag ein Schlüsselbund mit einem merkwürdigen Anhänger. Es war ein silberner Totenkopf.

"Also was ist los mit Ihrem Auto?" fragte sie, als sie aus dem Schlafzimmer hervorkam und an ihm vorbei ins Badezimmer ging. Sie hatte sich unterdessen eine Jeans angezogen und war gerade daran, ihre weisse Bluse zuzuknöpfen.

"Das Mistding hat mich im Stich gelassen", erwiderte Dennis und startete den zweiten Kaffee. "Wenn ich schon wieder zu spät zur Arbeit komme, kann ich den Job vergessen".

Als sie aus dem Badezimmer kam, hatte sie ihre schwarzen langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihr Gesicht hatte einen frischen Teint bekommen. In den Jeans kam ihre schlanke Figur gut zu Geltung und Dennis' Blick blieb an ihrer Bluse hängen, die noch immer halb offen war.

"Und was hat das mit mir zu tun?"

"Naja, ich dachte, sie könnten mich in die Stadt mitnehmen oder mir ihr Auto ausleihen, ich habe es wirklich eilig und wissen Sie, ich würde ihnen auch etwas dafür bezahlen..."

"Wann müssen Sie da sein?"

"Um 8.30 Uhr, aber es wird knapp!"

"Ach was, kommen Sie, trinken wir den Kaffee und dann gehen wir los, wir werden nicht zu spät kommen", sagte sie und nahm einen Schluck aus der Tasse.

Er war wirklich nervös. Sein Boss hatte ihm gesagt, dass er noch einmal zu spät kommen solle, dann würde er ihn endgültig rausschmeissen. So einen unzuverlässigen Chaoten wie ihn könne er in seinem Team nicht dulden, er habe die Schnauze jetzt endgültig voll. Und diese merkwürdige Frau schlürfte in aller Ruhe ihren Kaffee. Er hingegen hatte schon ausgetrunken und machte sich in Richtung Türe auf.

"Wofür steht das L. auf ihrem Namensschild?" fragte er.

"Leyla"

"Leyla, können wir? Ich muss wirklich..."

"OK, ok, ich komme", sagte sie, zog eine Lederjacken an und packte den Totenkopf-Schlüsselbund ein.

Er rannte die Treppe hinunter und musste unten bei der Eingangstüre warten. Er fragte: "Steht ihr Auto draussen, oder in der Tiefgarage?"

"Warten Sie draussen", antwortete sie und ging an ihm vorbei zur Treppe ins Untergeschoss.

Dennis stellte sich bei der Ausfahrt der Tiefgarage hin und zündete sich eine Zigarette an. Nikotin. Schon lange her seit der letzten.

Er musste über sich selbst schmunzeln, da ihn jetzt schon eine Zigarette fast umhaute. Ein paar Züge würden ihn etwas lockerer machen. Er atmete den Rauch tief ein, schloss die Augen und…

"Verdammt, was ist ..."

Ein donnernder Krach wie von zwanzig Motorsägen schoss aus der Tiefgarage, bohrte sich in seine Ohren und knallte ihm die Zigarette aus dem Mund. Mit dem Donner kam eine schwarze Kawasaki Z 1000 aus dem Loch und blieb direkt vor ihm stehen. Auf ihr ritt die Frau, die eben erst im Morgenmantel verschlafen die Tür geöffnet hatte. Sie hielt ihm einen Helm hin und sagte: "Los, aufsteigen!"

Mit seinem Auto braucht Dennis 35 Minuten zur Arbeit. Ohne Stau.

Aber jetzt war es 8:10 Uhr und um diese Zeit war garantiert schon alles zu. Eigentlich müssten sie gar nicht erst losfahren, denn vor 8:30 Uhr konnten sie sowieso nicht dort sein. Das würde sein letzter Arbeitstag sein, sein Boss würde ihn feuern. Trotzdem stieg er auf und zog sich den Helm über. Er war noch damit beschäftigt, die Schnalle zu schliessen, als die Maschine unter ihm aufheulte. Gerade noch konnte er sich an Leyla klammern, denn sonst wäre er rücklings abgeflogen. Die Beschleunigung raubte ihm den Atem.

"Scheisse; sag, dass das nicht wahr ist", dachte er und sah sich schon in einem Spitalbett liegend, mit Schläuchen im Mund, übersät mit Operationsnarben. Oder tot. Dann bräuchte er auch keinen Job mehr.

Innert kürzester Zeit waren sie auf der Autobahn und rasten mit einem Tempo Richtung Stadtmitte, dass Dennis meinte, die Autos, die sie überholten, wären parkiert, dabei fuhren die ja auch mit mindestens 120 km/h. Was Dennis aber wirklich Angst machte, war, dass eigentlich keine der vier Spuren frei war. Dieser Höllenritt fand zwischen den Spuren statt. Zwischen Leben und Tod. Leyla fuhr auf der Linie zwischen der dritten und vierten Spur. Die Autos warfen den Motorenlärm der Kawa zurück, für den kurzen Moment, in dem sie auf gleicher Höhe waren. Wenn die Lücke vor ihnen zu eng wurde, schwenkte Leyla auf die nächste Spur rüber, um dann wieder den Gasgriff voll aufzudrehen. Sie schossen vorbei an Lieferwagen, Taxis, Bussen und all den normalen Autos, die unterwegs waren zu den Büros, Kunden, Baustellen, um der Stadt nach der Nacht neues Leben einzuhauchen.

Der Verkehr wurde dichter und langsamer.

Die Lücken zwischen den fahrenden Autos wurden kleiner und Leyla musste die Spuren hin und er wechseln, um vorwärts zu kommen.

Autos wichen in letzter Sekunde aus, hupten. Slalomfahrt. Dennis schloss die Augen, aber das war schlimmer, als sie offen zu halten. "Bist du verrückt geworden?", schrie Dennis nach vorne.

"Was?"

Dennis war erstaunt, dass Leyla ihn gehört hatte. Der Lärm der Kawa war ohrenbetäubend. "Willst du uns umbringen?"

Der Verkehr war ganz zum Stillstand gekommen. Stau.

Leyla musste auch stehen bleiben, war eingeklemmt zwischen einem alten Opel hinten und einem verbeulten Lieferwagen vorne. Sie liess die Kawa aufheulen, dass der Fahrer in den Rückspiegel schaute und machten eine Handbewegung, dass er ein Stück vorfahren soll.

"Ich dachte, du hast es eilig", rief Leyla nach hinten.

Der Lieferwagen machte tatsächlich etwas Platz und Leyla steuerte die Kawa zwischen den Autos über alle Spuren ganz nach rechts, auf den Pannestreifen.

"Ja, aber …"

"Halt dich fest!"

Leyla gab Gas und Dennis wäre schon wieder fast vom Motorrad gefallen. Sie schossen die kurze Stecke bis zur Ausfahrt auf dem Pannenstreifen und bogen in die Überlandstrasse, die zum Finanzquartier La Défence führte. Hier floss der Verkehr normal und das Geschäftshaus mit Dennis' Arbeitsplatz war schnell erreicht. Dennis kam nicht zu spät, der Job war gerettet. Den ganzen Tag über konnte er an nichts mehr anderes denken. Denken. Tat irgendwie weh.

3

Trotzdem überstand er den Tag, der wie immer langweilig und ereignislos verstrich. Akten suchen, ablegen, registrieren, Anrufe aufgeregter Kunden beantworten. Dennis war fix und fertig als er Feierabend hatte und durch den Haupteingang aus dem Glasturm ins Freie trat. Ja, nicht in die Tiefgarage, sein Auto war ja tot. Heute Bus.

Die Heimfahrt dauerte über eine Stunde. Es war immer noch schwül-heiss, obwohl es schon nach 19.00h war. Ein Geruch nach Schweiss und Metall, scharf und modrig, kroch Dennis' Nase hoch. Natürlich war der Bus überfüllt und Dennis brauchte die ganze Kraft in seinen Armen, um sich am Lederriemen vom fahrenden Himmel festzuhalten.

Dieses verdammte Auto musste er jetzt wirklich einmal auf Vordermann bringen oder irgendwie loswerden. Der Dauerärger schlug ihm auf den Magen, er fühlte sich elend und hätte gleich kotzen können.

Kaputtes Auto, kein Geld, Stress mit dem Boss…

Doch dann schloss er die Augen und er sah sie wieder. Leyla mit der Lederjacke auf der Z 1000. Wie sie ihn am Morgen vor der Firma abgesetzt hatte. Wie sie kurz mit der Hand im schwarzen Handschuh gewinkt hatte. Wie sie mit einem gewaltigen Roaaarrrr davongebraust war und er ihr nachschaute, bis sie im Verkehr verschwand. Er erinnerte sich daran was Frank Le Grange, sein Chef, vor dem Bürogebäude im Vorbeigehen zugerufen hatte: "He Kenters, wollen Sie noch lange da stehen bleiben oder dürfen wir heute damit rechnen, dass Sie pünktlich zur Arbeit erscheinen?"

Dann hörte er: "He Kenters, müssen Sie hier nicht aussteigen? - Hallo!"

"Dennis öffnete die Augen und sah, wie sich die automatischen Türen vor seiner Haltestelle schlossen. Er schaffte es gerade noch, seine Tasche dazwischen zu werfen, damit sie sich wieder öffneten. Er sprang hinaus und der Bus fuhr weiter.

Dennis steckte sich eine Zigarette an und schlenderte die kurze Strecke von der Rue de Pyrénées bis nach Hause.

Er dachte wieder an Leyla.

Er wollte sie sehen, auf jeden Fall wollte er sich gleich bei ihr bedanken und vielleicht auf einen Drink einladen. Als er zu Hause angekommen war, ging er die Treppe hoch, gleich weiter zu ihrer Wohnung über seiner. Doch offensichtlich war sie nicht zu Hause, denn auch nach 5 Mal klingeln tat sich nichts. Dennis hielt ein Ohr an die Türe, aber es war kein Geräusch zu hören. Er kramte in seiner Tasche und fand eine alte Tischrechnung des "Les Nouveaux Sauvages", kritzelte "Danke, Lust auf Essen? Dennis" auf die Rückseite und klemmte sie in im Türspalt ein.

Dann ging er nach unten in seine Wohnung. Er schloss die Tür auf und wollte eintreten, da hörte er Mme. Siebert die Treppen hochkeuchen. Sie hatte zwei schwere Einkaufstaschen zu schleppen. Dennis ging ihr entgegen und half ihr die Taschen hochtragen. Er hatte den Eindruck, dass sie jeden Moment die Augen verdrehen und das Zeitliche segnen würde.

"Danke junger Mann, sehr nett von Ihnen", bedankte sich Mme. Siebert, die auf dem gleichen Stockwerk wohnte wie Dennis.

"Kommen Sie doch einmal rüber auf einen Kaffee, wenn sie mal Zeit haben".

"Klar, mach ich mal", antwortete Dennis artig und dachte weiter: "aber leider bist du nicht ganz meine Altersklasse, Lady". Er ging in seine Wohnung hinüber mit dem Gefühl, für einmal etwas Gutes getan zu haben.

Vom Büro aus hatte er seine Autowerkstatt beauftragt, die lahme Karre abzuholen und daraus wieder ein anständiges Auto zu machen. Der Clio war schon weg von der Strasse, das hatte er gesehen, allerdings wusste er nicht, wann er ihn wieder zurückbekommen würde. "Reparaturen nur gegen Barzahlung" an dieses Schild, das gross in der Garage prangte, erinnerte er sich nur zu gut. Das hiess, dass er Kohle auftreiben musste, denn Klima und Batterie würden locker 1000.- oder mehr kosten. Er könnte seine alte Gitarre verkaufen. Oder beim Chef einen Vorschuss holen. Beides war Scheisse, bzw. unmöglich.

Le Grange würde ihn bloss auslachen: "Vorschuss? Na klar, Kenters, wenn jemand einen Vorschuss verdient hat, dann Sie! Los an die Arbeit! Und Kenters: machen Sie nie mehr solche Witze."

Sollte er doch seine Gitarre verscherbeln? Nein, niemals! Mit dieser Gitarre hatte er schon so viel erlebt, dass er ihr lebenslanges Asyl versprochen hatte. Sie sah schon lange nicht mehr so gut aus wie damals, als sie beide am Open Air La Fabrique in Saint Ouen die tobenden Massen von 500 Leuten völlig im Griff hatten. Die 3 Lieder, die sie auswendig spielen konnten, wurden 3 Mal wiederholt. Dennis konnte bis heute nicht sagen, warum das Publikum immer wieder "Zugabe" rief. Wahrscheinlich zu viel gekifft. Egal.

Seit damals war die rote Fender Stratocaster immer bei ihm. Sie war ja nicht neu, er hatte sie damals von Fernando, einem alternden Rocker erhalten, als Gegenleistung für einen kleinen Gefallen im Grenzbereich der Legalität. Wenn er daran zurückdachte, wie ihn die Flics damals mit dem geschmuggelten Stoff fast geschnappt hatten, wurde ihm ganz mulmig. Gute Saiten, Schlechte Zeiten.

Wie sollte er also schnell Geld auftreiben?

Es half nichts, die Gitarre war so etwa das Einzige in seinem Besitz, das noch einen gewissen Wert hatte. Also packte er die Strato in den Koffer und ging los. Ein paar Blocks weiter, in der Rue des Amandiers, hatte ein Pfandleiher seine Halsabschneider-Bude.

Karimov war im Grunde ein netter Kerl, wenn es aber ums Geschäft ging, dann kannte er keine Gnade. Dennis war hier so eine Art alter Bekannter, schon oft musste er Dinge versetzen, wenn er wieder einmal dringend Moos brauchte.

"Ah, mein Freund Denny. Sag nicht, dass du dieses "Hendrix hat damit am Woodstock Konzert die amerikanische Hymne gespielt" – Wunderinstrument in meine unwürdigen Hände geben willst."

"Ja genau, wie konntest du das ahnen, jetzt bist du nicht nur ein Halsabschneider, sondern dazu noch ein Hellseher. Was sagt denn dein Orakel zu 1000 Kröten?"

"Nicht mal wenn Jimmy damit die russische Hymne gespielt hätte. Für wen hältst du mich? Mutter Teresa ist leider schon gestorben. Business, mein Junge, Business. Deine Rockergeige ist höchstens 200 wert, mehr nicht", sagte Karimov in seinem unnachahmlichen Wodka-Roter Platz-Lenin-Akzent.

"Komm schon, ich hol sie mir wieder, nächste Woche. Wehe du verkaufst sie, aber ich muss die Tausend haben, gib mir wenigstens 800", entgegnete Dennis.

"Ich muss verrückt sein, hier, nimm 500, weil du schon fast zur Familie gehörst." Karimov legte die Scheine auf die Theke und wusste gleich, dass Dennis sie nehmen würde.

"Ich frage mich, wie du nachts gut schlafen kannst, wenn du die Leute so abzockst", murmelte Dennis während er das Geld einpackte und den Koffer mit der Gitarre über den Tresen schob. Nun hatte er das Geld, um mindestens eine Anzahlung zu leisten. Roland von der Garage würde ihm dafür den Wagen wieder flott machen. Also ab zu Roland.

Am nächsten Tag konnte er wieder mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren, und es war herrlich, dass die Klimaanlage funktionierte. Absolut cool und entspannt kam er dort an und war gut gelaunt. Er erledigte die aufgelaufenen Pendenzen, rief Kunden zurück, die irgendein Problem hatten und hatte sogar Zeit, zwischendurch eine Zigarette zu rauchen und mit den Arbeitskollegen über das Fussballspiel des vergangenen Wochenendes zu diskutieren.

Die gute Laune hielt bis zum Abend an, genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem er zu Hause angekommen war und sich als erstes wieder ein kühles Bier genehmigen wollte.

Es war wie ein Flash-back, als er den Kühlschrank öffnete. Das Bild, das er sah, sprang ihm ins Gesicht. Da war wieder dieser verdammte Schuh! Die Sache mit dem Schuh hatte er unterdessen völlig vergessen. Aber da war er wieder. Ungläubig starrte Dennis in den Kühlschrank, wo zwischen dem Joghurt und dem halbvergammelten Aufschnitt das braune Leder glänzte.

In Mailand hatte er seine Lieblingsschuhe gekauft. Nicht weil sie besonders schön geschnitten waren, sondern weil sie so schön glänzten. Nur für spezielle Anlässe. Hochzeiten oder Vorstellungsgespräche.

"OK. Wie bist du da hineingekommen?" Er nahm den Schuh aus dem Kühlschrank und sah ihn sich genau an. "Besser gesagt WER hat dich da hineingelegt?" Vielleicht würde er einen Hinweis finden, der ihn darauf bringen könnte, wer hinter dieser Aktion steckte. Ein richtiger Spassvogel musste das sein. Nachdenken.

In Gedanken ging er eine Liste aller Personen durch, die in den letzten Tagen in seiner Wohnung waren. Irgendwie musste jemand an seinen Wohnungsschlüssel gekommen sein. Zu diesem Schluss kam Dennis, nachdem er die Türen und Fenster auf offensichtliche Spuren von Gewaltanwendung untersucht hatte. Derjenige, der sich diesen Spass erlaubt hatte, ist hier einfach hereinspaziert, ohne etwas zu verändern, ausser den Schuh in den Kühlschrank zu legen.

Also da war Mme. Siebert. Letzte Woche hatte er ihr mit einer Zwiebel ausgeholfen, denn die hatte sie beim Einkaufen vergessen und es wäre zu mühsam gewesen, extra nochmals in den Supermarkt zu laufen.

"Guter Junge...".

Nein, nicht Mme. Siebert, zu alt, zu ernst, zu trocken. Und dann waren da noch Pierre und Harry. Pierre hatte er schon beim ersten Mal im Verdacht, doch dann hatte er die Angelegenheit vergessen. Hatte Pierre damals nicht nur den Schuh versteckt, sondern auch gleich den Schlüssel mitgehen lassen? Und einen Abdruck davon gemacht, um eine Kopie anzufertigen?

Nein, nicht Pierre, zu faul, zu laut, zu ungeschickt.

Und Harry?

Ihm hätte er es am ehesten zugetraut, aber der war diese Woche in den Ferien. Er konnte es nicht gewesen sein.

Nein nicht Harry, zu weit, zu weg.Dennis setzte sich hin und überlegte.

"Wer könnte das geil finden, wenn meine Schuhe im Kühlschrank liegen? Abgesehen davon, dass dieser Aufbewahrungsort nicht ganz appetitlich ist, was sollte es bedeuten? Soll das Sinn machen? "

Er konnte sich weder vorstellen WER und schon gar nicht WARUM.

War es doch Pierre gewesen? Er musste versuchen, es herauszufinden.

Er rief bei Pierre an. "He Pierre, wie geht's?"

"Gut und dir? Du, ich hab' die Karten noch nicht, ich krieg sie aber bestimmt rechtzeitig vor Freitag", sagte Pierre.

"Ich ruf nicht wegen der Stadionkarten an, ist in Ordnung, wenn die noch nicht da sind, bin im Moment sowieso wieder mal blank."

"Was ist denn sonst los, du wirkst ziemlich aufgeregt."

"Ich hab' ihn gefunden", sagte Dennis.

"Wen hast du gefunden?"

"Tu nicht so, den Schuh, den du im Kühlschrank versteckt hast."

"Was soll ich getan haben? Einen Schuh in deinem Kühlschrank? "Wie sollte ich denn auf sowas kommen?" entgegnete Pierre.

"Komm, gib's zu. Du bist doch hier der Scherzkeks. Ich muss sagen, der Gag ist dir gelungen, aber was wolltest du damit bezwecken?" sagte Dennis. Pierre verstand nur Bahnhof: "Ich weiss nicht, wovon du sprichst. Wenn wirklich ein Schuh in deinem Kühlschrank war, dann ist das wohl schräg, aber ich habe damit nichts zu tun. Bist du sicher, dass du das nicht nur geträumt hast?"

"Ja, ganz sicher. Es ist jetzt schon das zweite Mal passiert. Und es muss jemand gewesen sein, der mit mir hier war oder der einen Schlüssel zur Wohnung hat. Es fehlt nämlich nichts und es gibt auch sonst keine Spuren eines Einbruchs. Das kannst nur du gewesen sein."

"Sorry, da muss ich passen. Du hast sicher blöd aus der Wäsche geguckt, hätte ich gerne gesehen, aber nein, ich war's nicht."

Dennis sagte einen Moment lang nichts mehr.

"Wer kann es sonst gewesen sein? Harry ist in den Ferien und ausser euch beiden war in den letzten zwei Wochen niemand bei mir." brach Dennis die Stille.

"Ach komm, mach daraus keine Affäre, vielleicht bist du ein Schlafwandler oder warst wieder einmal dicht und hast das Ding selber da reingelegt. Was sage ich dir immer: das Zeug, das du rauchst, tut dir nicht gut! Jetzt hast du schon Halluzinationen, wenn du sauber bist. Hör auf damit oder nimm weniger davon!"

Pierre hatte es eigentlich gut gemeint, aber Dennis war jetzt beleidigt: "Weisst du was, du kannst mich mal. Und die Karten kannst du dir sonst wo hineinschieben. Tschüss!"

Jetzt war er gleichweit wie zuvor, nein schlimmer. Er war sauer auf seinen besten Freund, obwohl er ihm glaubte, dass er es nicht gewesen war.

Alles Nachdenken brachte jetzt nichts mehr. Er ging zu Bett.

Ruhe. Los.

4

Am nächsten Tag war alles wieder normal.

Stau am Morgen. Langeweile bei der Arbeit. Stau am Abend. Wenigstens ging die Klimaanlage im Clio wieder. Draussen war es wieder über 30 Grad.

Leyla hatte sich nicht gemeldet und Dennis wollte nachsehen, ob sie die Mitteilung auf dem Zettel im Türspalt gesehen hatte. Der Zettel war weg und von drinnen war Musik zu hören, also war sie da. Er klingelte.

"Hi", sagte sie fröhlich, "ich hatte dich schon erwartet."

"Hallo, äh... Leyla, ich wollte dich fragen, ob du heut' Abend..."

"Essen?" "Mit dir?" Leyla schaute Dennis mit übertrieben zusammengezogenen Augenbrauen an.

"Weil du mich vorgestern fast umgebracht hast...", sagte Dennis.

"Hast du deinen Job noch?" fragte Leyla.

"Ja".

"OK. Ich bin um 20 Uhr fertig."

"Aber ich fahre!" sagte Dennis bevor er sich zum Gehen umdrehte.

Leyla lächelte ihm hinterher.

Sie fuhren in die Stadt. Das "La PLAGE parisienne" ist ein feines Restaurant, direkt an der Seine, beim Port de Javel Haut, wo die Ausfahrtsschiffe anlegen, nicht weit vom Eiffelturm. Die Karte war eigentlich über Dennis' Budget, Leyla sollte nicht denken, er sei geizig. Die Atmosphäre war angenehm und das Essen gut. Sie sassen draussen an einem kleinen, runden Tisch, vorne an der Strasse flanierten junge Leute vorbei. Leyla hatte Fisch mit Zitronenreis. Sie ass langsam, in kleinen Bissen und sah zu, wie Dennis sein Hacksteak mit Kartoffelgratin verputzte. Er sprach die ganze Zeit während des Essens.

Er erzählte von seiner Jugend auf dem Land, wo er bei seinen Grosseltern aufgewachsen war. Dort, in der Camargue, wo die Kornfelder nie aufhörten, wo er mit seinen Freunden kleine Krebse in den Bewässerungsgräben jagte. Lavendel und Rosmarin. Seine Eltern hatte er früh verloren, ein Autounfall.

Damals hatte er angefangen zu malen. Seine Freunde spielten Fussball auf dem staubigen Platz und er malte sie. Als er 15 war, musste er zu einem Onkel in die Stadt ziehen, damit er das Lyzeum besuchen konnte. Von ihm erhielt er seine erste Gitarre, auf der er Songs aus dem Radio nachspielte. Für Unterricht reichte das Geld nicht. Beatles und Bob Marley, Chris Rea und Mark Knopfler. Eigentlich wollte er Kunst studieren. Er war fasziniert von Botticelli, Michelangelo, Van Gogh und Klimt. Doch die Schule schmiss er im vierten Semester.

"Als ich 18 wurde, hielt ich es nicht mehr aus in der klein-klein Welt meines Onkels. Ich nahm jeden Job an, der sich mir bot, um Farben und Leinwand zu kaufen. Ich arbeitete als Tankwart, Maurer, Gärtner, schleppte Schweinehälften in der Grossmetzgerei und verkaufte Fisch in den Markthallen. Nachts war ich Hotelportier und Taxifahrer, tagsüber malte ich die Landschaften und Menschen meiner Jugendzeit auf dem Land. Doch niemand wollte meine Bilder. Ich malte die Leute wie sie sind, von der Arbeit gezeichnet, mit gebeugten Rücken und furchigem Gesicht, von der Sonne des Südens gegerbt".

Dennis hatte aufgehört zu essen und zu sprechen, sein Blick ging ins Leere. Leyla hatte aufmerksam zugehört.

"Hast du je ein Bild verkauft?" fragte sie.

"Nein, nie".

"Früher oder später musste ich erkennen, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich holte meinen Schulabschluss nach und jetzt bin ich was ich bin. Ein Versicherungs-Gnom hinter dem Schreibtisch. Tastatur statt Pinsel, Konten statt Leinwand. Irgendwie komme ich durch, aber...", Dennis schüttelte leicht den Kopf, "...das ist nicht ...".

Leyla hatte schon lange aufgehört zu essen. Sie hielt die Gabel senkrecht auf den Teller gesetzt und fragte: "was nicht?"

"Das ist nicht was ich wirklich tun möchte. Ich spiele ein Leben, das ich nicht bin. Es ist so spannend ist wie der Busfahrplan von St. Emile".

5

Es war spät geworden. Leyla war auf seltsame Art berührt von Dennis' Geschichte und wollte mehr wissen. Er bezahlte die Rechnung und zündete sich eine Zigarette an.

Leyla trug ein blaues Trägerkleid. Sie warf sich ein leichtes Strickjäckchen über die Schultern, da es etwas kühler geworden war. Ihre Haare trug sie offen, nur durch die Sonnenbrille zusammengehalten, die sie nach oben geschoben hatte. Sie schlenderten die Strasse runter, wo Dennis seinen Wagen parkiert hatte. "Ich hab' dich bestimmt gelangweilt mit meinem Geplapper. Leyla – dein Name duftet nach Tausendundeiner Nacht. Komm, erzähl von dir."

"Tausendundeine Nacht. Kennst du denn die Geschichte?"

"Du meinst Ali Baba und so..."

"OK. Du hast keine Ahnung. Wenn du zuhörst, werde ich sie dir erzählen. Die Geschichte von Tausendundeiner Nacht geht so:

Ein Sultan, der von seiner Frau, die er so sehr liebte, betrogen wurde, war dermassen wütend, dass er sie kurzerhand umbringen liess. Er dachte, dass keine Frau treu sein könne und liess sich von da an jede Nacht eine Jungfrau bringen, die er am nächsten Morgen töten liess. Das ging eine Zeit lang so weiter, bis die Tochter des Kalifen sich freiwillig meldete, um die Nacht mit dem Sultan zu verbringen. In jener Nacht, als sie beim Sultan war, erzählte sie ihm eine Geschichte, die so spannend war, dass sie am Morgen verschont wurde, da der Sultan wissen wollte, wie sie weiterging. So kam sie die nächste Nacht wieder und erzählte die Geschichte weiter. So ging es Nacht für Nacht und Sheherazade, so hiess das Mädchen, erzählte immer neue Geschichten, die am nächsten Morgen so spannend waren, dass sie der Sultan wieder bat, in der nächsten Nacht weiter zu erzählen. Nach Tausendundeiner Nacht hatte Sheherazade dem Sultan 3 Kinder geschenkt und der Sultan liess sie am Leben."

"Und Ali Baba?"

"Ali Baba und die vierzig Räuber ist nur eine von vielen Geschichten, die Sheherazade erzählt hatte, Sindbad der Seefahrer, das Ebenholzpferd, Khalifah, der Fischer von Bagdad, das sind alles Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Viele davon haben eine tiefere Bedeutung", sagte Leyla.

"Woher weisst du das alles?" fragte Dennis.

"Meine Mutter hat mir die Geschichten erzählt, als ich klein war.

Ich bin in Kairo aufgewachsen. Meine Mutter war damals Hotelangestellte, mein Vater ein französischer Ingenieur. Er half mit, das grosse Staudamm-Kraftwerk zu bauen. Als der Staudamm fertig wurde, verschwand mein Vater, so wie die Baumaschinen verschwanden. Ich kann mich kaum an ihn erinnern, ich war noch klein. Ich weiss nur noch, dass er mich kleine Maus nannte.

Meine Mutter musste uns beide alleine durchbringen. Das war nicht einfach in einem Land, wo die Frau ohne Mann nichts wert ist. Wir konnten bei Verwandten auf dem Land wohnen. Das Leben war hart, ich musste mithelfen, wo ich konnte und durfte nicht zur Schule gehen. Meine Tante besorgte mir heimlich alte Bücher, mit ihr habe ich lesen und schreiben gelernt. Als die Situation immer schlimmer wurde und wir nicht mehr dortbleiben konnten, hat meine Mutter aus Verzweiflung einen älteren Mann geheiratet, der uns wenigstens nicht hungern liess, aber er behandelte uns schlecht. Jene Zeit war die schlimmste meines Lebens. Irgendwann sind wir vor ihm geflohen. Aber ein paar Tage später hat er uns gefunden und wieder zurückgebracht. In jener Nacht schlug er meine Mutter, bis sie beinahe bewusstlos war. Ich wollte sie schützen und warf mich vor sie, aber er schlug auch mich und warf mich beiseite. Er sperrte mich in ein Zimmer und später hörte ich Stimmen von mehreren Männern. Am Morgen war meine Mutter nicht mehr da. Die Männer hatten sie weggebracht. Ich war verzweifelt und schrie, doch ich wurde wieder eingesperrt, ich weiss nicht wie lange, aber ich wusste, dass mein Leben nichts mehr wert war, wenn ich es nicht schaffen würde, aus jener Hölle zu fliehen.

Nach ein paar Tagen brachten sie meine Mutter wieder ins Haus und wir bereiteten uns heimlich auf die Flucht vor. Eines Nachts sind wir dann geflohen, sind bis nach Casablanca gekommen, aufs Schiff, aber Mutter ist zurückgeblieben. Ich konnte alles hinter mir lassen und Verwandte und Freunde haben mir geholfen, nach Paris zu kommen. Seitdem bin ich nie wieder in mein Land zurückgekehrt. Aber ich weiss, dass ich noch einmal dahin gehen werde, es gibt noch etwas, das auf mich wartet."

Sie waren beim Clio angelangt und stiegen ein. Während der Fahrt nach Hause hatte Dennis die ganze Zeit geschwiegen, er war betroffen von Leylas Geschichte. Dennis parkte den Wagen wie üblich am Strassenrand. Im Treppenhaus, vor Dennis' Tür blieben sie stehen.

"Danke für den schönen Abend", sagte Dennis und nahm Leylas Hand.

Leyla hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und ging rasch nach oben. Dennis blieb noch einen Augenblick stehen, bis er sie in ihre Wohnung gehen hörte und flüsterte: "Gute Nacht, meine kleine arabische Maus".

Er ging nochmals raus und zündete sich eine Zigarette an.

Wenig später sass er auf dem Sofa und zappte durch alle Sportkanäle bis er einen anständigen Fussballmatch der vergangenen Woche fand, den er live verpasst hatte und den er gerne noch sehen wollte. Eigentlich sah er sich sonst nie alte Spiele an, aber Leyla und ihre Geschichte waren noch in seinem Kopf. Es tat ihm leid, dass sie so eine miese Kindheit hatte, ihre Geschichte hatte ihn berührt, aber was meinte sie mit "...es gibt noch etwas, das auf mich wartet?". Wollte sie zu ihrem Stiefvater zurück? Ihre Mutter suchen? Das wäre doch viel zu gefährlich, und sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebte.

"Sorry, ich habe genug eigene Probleme", sagte er vor sich hin, als er aufstand, um in die Küche zu gehen, "...du bist zwar eine süsse, kleine Maus, aber…"

Dennis war in der Küche angelangt und hatte den Kühlschrank aufgemacht, um ein Bier herauszunehmen, als der Schuh wieder da war.

"Scheisse, verdammt," rief Dennis aus, nahm den Schuh und warf ihn quer durch die Küche in den Korridor und knallte mit einem Fusstritt die Kühlschranktüre zu. Er konnte es nicht fassen. Wieder dieser Schuh. Schlechte Laune.

6

Karimov, der Pfandleiher nahm einen grossen Schluck Wodka und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Er sass ganz hinten im Halbdunkel seiner Werkstatt. Sein Tisch sah aus wie ein Boxring, rund herum hunderte von Geräten, Maschinen, Instrumente, Ersatzteile, die von den Regalen herunterschauten.

Die Tischlampe war die einzige Lichtquelle im Raum und es lag eine Schicht aus Zigarettenqualm und aufgewirbeltem Staub über der Arena. Auf dem Tisch lag eine rote Gitarre. Karimov beugte sich zu ihr runter, mit dem Kopf ganz nahe an die Saiten, so als ob etwas zu hören sei. Er strich mit seinen dicken, schmierigen Fingern den geschwungenen Formen der Fender Stratocaster entlang. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er griff zum Schraubenzieher.

Er löste die 9 Schrauben der weissen Abdeckung. Um sie ganz abzunehmen, hätte er die Saiten entfernen müssen, aber das war nicht notwendig für das, was er vorhatte. Vorsichtig hob er die Abdeckung an und schob ein kleines, schwarzes, mit Klebstoff beschichtetes Plättchen hinein. Mit einem Messer drückte er das Plättchen an die Unterseite der Abdeckung und verschraubte alles wieder. Er nahm ein seidenes Tuch und wischte damit die Gitarre liebevoll ab. Dann stand er auf, packte die Gitarre am Hals und reckte beide Hände in die Höhe, wie ein Champion, der gerade seinen Gegner k.o. geschlagen hat.

7

Dennis war schlecht gelaunt schlafen gegangen und auch am Morgen danach beschäftigte ihn der Schuh noch immer. Langsam hatte er echt genug davon. Er wollte wissen, wer dahintersteckte und beschloss, etwas zu unternehmen; wusste aber nicht was. Überlegen.

"Ok. Jemand will mich in den Wahnsinn treiben. Das wird jetzt so lange weitergehen, bis ich den Kühlschrank mitsamt den Schuhen aus dem Fenster schmeisse, unten auf der Strasse womöglich jemandem auf den Kopf. Wenn mich dann die Flics fragen, warum ich das getan hätte, würde ich mit ernsthafter Miene sagen: ‚Ich habe es satt, dass meine Schuhe in den Kühlschrank wandern.' Die würden mich für verrückt halten. Bin ich es am Ende selber? Im Schlaf? Bin ich ein Schlafwandler? "

Dennis erinnerte sich an einige Geschichten aus seiner Kindheit, die seine Eltern immer wieder gerne erzählten, wenn sie Besuch hatten. "Einmal, da war Dennis 6 Jahre alt, als er im Schlaf herumgeisterte und schliesslich in den Kleiderschrank pisste. Und einmal war er verschwunden, als ich ihn am Morgen wecken wollte. Wir mussten ihn im ganzen Haus suchen und fanden ihn schliesslich friedlich schlafend unter der Treppe, neben Prince, unserem Hund."

Dennis schämte sich jedes Mal, wenn die Geschichten erzählt wurden, aber grösser als die Scham war die Wut, weil er sich an keine Episode erinnern konnte, obwohl alle davon sprachen und über ihn lachten.

"Nein, das ergibt keinen Sinn. Wenn ich heute noch schlafwandeln würde, hätte ich bestimmt schon haufenweise andere Hinweise darauf. Es muss jemand anderer gewesen sein. Aber wer? Jemand, der meinen Schlüssel hat. Aber was zum Teufel soll das Ganze?"

Er wollte Gewissheit haben, wusste aber nicht wie er weiterkommen sollte.

Nach der Arbeit ging er nicht direkt nach Hause, sondern nahm sich ein wenig Zeit, um nachzudenken. Das Bistro L'olivier de l'arche war nicht weit von seinem Büro entfernt, auf der Terrasse de l'arche.

Er nahm draussen Platz, bestellte sich einen Café und einen Pastis und begann die Tageszeitung zu lesen, die ein anderer Gast auf dem Nebentisch hatte liegen lassen. Ab und zu hob er den Kopf und beobachtete die Szenerie auf dem Platz und der gegenüberliegenden Strassenseite. Dort war einer jener Läden, die einfach alles hatten, was einen Einschaltknopf hatte. Fernseher, Musikanlagen, DVD-Recorder, Kameras, Computer, Kabel, Drucker.

Als er die Werbebotschaften für Haarentfernung, Billigreisen und die Stellen- und Todesanzeigen gelesen hatte, trank er aus und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Als er am Schaufenster des Elektronik-Shops entlang ging, sah er sich selber in einem der ausgestellten Fernseh- Flachbildschirmen. Er drehte sich um und schaute nach oben, wo die Videokamera installiert war. Lächeln.

"Genau so ein Ding brauche ich..."

Eine Stunde später kam er zu Hause an, mit einer Web-Cam in einer Plastiktüte. Vom Feinsten, das hatte zumindest der Nerd im Elektronik-Shop behauptet. Mit Mini-Sender und USB-Schnittstelle. Software für HD-Recording. Einen Computer wollten sie ihm im Laden gleich auch noch andrehen, aber den hatte er schon.

Die Kamera platzierte Dennis genau gegenüber dem Kühlschrank, gut versteckt zwischen Jamie Oliver und Pfeffermühle im Regal. Einschalten. Rote LED. Jetzt PC an, Software installieren und Doppelklick.

Ab in die Küche. Kühlschrank auf, umdrehen.

Und Lächeln.

Zurück ins Arbeitszimmer. Stopp. Wiedergabe von Anfang.

Yes. Auf dem Bildschirm erschien zuerst Schneesturm in grau/schwarz.

Dann ein klares Bild des roten Kühlschranks. Dennis, der in die Küche kommt. Sein Grinsen.

Die nächsten Tage vergingen immer gleich.

Aufwachen. Zum Kühlschrank. Kein Schuh.

Arbeit. Nach Hause. Zum Kühlschrank. Kein Schuh. Kamera checken.

Dennis wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Schliesslich wollte er ja nicht, dass der Schuh wieder im Kühlschrank war, aber wenn er schon eine Kamera installiert hatte, wollte er etwas auf den Aufnahmen sehen. Doch alles was er sah, war der rote Kühlschrank und sich selbst. Wie er ein Bier holte, wie er die halbvergammelte Pizza rausholte. Wie er Bier hineinstellte. Wie er Tomaten und Parmesan hineinstellte.

Nichts passierte.

Nichts.

So kroch ein Tag nach dem anderen in Dennis' Leben. Und wieder raus.

Alles, was ihn interessierte, war dieser verdammte Kühlschrank, der verdammte Schuh und diese verdammte Kamera. Es kam ihm vor, als hätte jemand die Pause-Taste in seinem Leben gedrückt. Oder die Repeat-Taste.

Es ging einfach nicht weiter.

Aufstehen. Nichts. Arbeiten. Nach Hause. Kamera checken. Nichts.

Nichts, nichts.

Er hatte irgendwann begonnen, faxen zu machen, wenn er zum Kühlschrank ging. Grimassen schneiden. Zunge rausstrecken. Ohren, Augen, Nase verdrehen. So war wenigstens das Kamerachecken nicht so langweilig. Manchmal musste er sogar richtig lachen. Ha, ha... ha.

Dann begann er sich selber Mitteilungen zu schreiben, die er via Überwachungskamera am nächsten Tag auf seinem PC las. Das machte schon mehr Spass. Am Anfang war es nur ein "Hallo" auf einem Blatt Papier, das er vor sich hielt und dazu ein breites Grinsen. Dann schreib er Dinge wie: "Ich bin der Kühlschrank-Checker" oder "Kannst du mich sehen?" – und am nächsten Tag: "Ich dich auch!". Alles wurde aufgenommen und er checkte alles. Jeden Tag. Es war wie eine Challenge, jeden Tag einen schlaueren Spruch zu schreiben als am Tag zuvor.

So ging es immer weiter. Nach einigen Tagen hatte er genug Material zusammen, um einen kurzen Trickfilm zu schneiden. "Schreib mir!" – "Was soll ich dir schreiben?" – "Schreib mir was du willst, ich lese es doch nicht!" – "Ich wusste nicht, dass du lesen kannst" – "He, nicht frech werden!" – "Ach, halt die Klappe!" – "Ich habe doch gar nichts gesagt".

Mit der Zeit wurde aber auch das zu langweilig. Er verlor das Interesse an diesem Spiel und ausserdem war in und um den Kühlschrank alles immer wie es war.

Obwohl es zu Beginn einiges Vergnügen bereitete, wurde ihm bewusst, wie er immer einsamer wurde. Er muss es beenden.

Er hörte auf, die Kamera zu checken.

8

Am Ende des Monats kam der Gehaltscheck.

Zur Bank. Geld.

Das war ein gutes Gefühl. Es war nicht einfach Geld. Es war der Schlüssel zu seiner geliebten Strat. Von der Bank ging er auf direktem Weg zu Karimov.

"Salut, mon Copain. Dir hab' ich meine Liebste anvertraut. Du sollst es nicht bereuen, wenn du gut auf sie aufgepasst hast. Hier, 500 Mäuse und 50 oben drauf. Ich habe gute Laune und möchte, dass du zufrieden bist. Hol sie nach vorne, komm, ich kann es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Du weisst schon, die rote Stratocaster", drängte Dennis ungeduldig.

"Ah, mein Freund Denny, wie geht's?" schleimte Karimov, "Komm, trink mit mir!" und schenkten ihm ein Glas Tequila ein.

Dennis sah ihn ungläubig an. Karimov bietet ihm etwas zu trinken an…

Das hatte er noch nie erlebt – und wie nett er war.

"Seit wann trinkt denn ein Russe Tequila?" fragte Dennis höhnisch.

"Das ist eine alte Geschichte, die du nicht hören willst."

"Dann hast du also früher Wodka gesoffen?"

"Nein, trink!"

"Gib mir lieber meine Gitarre her", sagte Dennis, "ich bin nicht gekommen, um mit dir zu saufen."

"Du wirst doch deinem alten Freund Karimov eine kleine Freude machen, oder? Alleine macht es keinen Spass." Karimov streckte ihm das volle Glas hin und schaute ihn über den Rand seiner verstaubten Brille eindringlich an. Widerwillig nahm Dennis das Glas und stiess mit Karimov an, der sein Glas gleich in einem Zug hinunterspülte. Dennis nahm einen grossen Schluck, aber das ganze Glas konnte er nicht leeren. Wie Feuer rann die Flüssigkeit seine Kehle hinunter. Es fühle sich an, als hätte er einen heissen, dornigen Stein verschluckt.

"Verdammt, Karimov! Was zum Teufel ist das für ein Zeug?" hustete Dennis und die Tränen schossen ihm in die Augen.

Karimovs grimmige Visage verzog sich zu einem breiten Grinsen.

"Warte ein bisschen", flüsterte Karimov ruhig.

Kaum hatte er das gesagt, wich das Brennen in Dennis' Kehle und Magen einem Wohlgefühl von Taubheit und Wärme. "Hm, viel besser! Aber das ist kein normaler Tequila, oder?"

"Das ist die Hausmarke meiner Tante Jelena. Die trinkt auch keinen Wodka mehr, jetzt weisst du auch warum."

"Also, kommen wir zum Geschäft. Hol meine Gitarre, ich hab' noch zu tun", sagte Dennis und kippte den Rest des Tequila hinunter.

"Weisst du wie alt meine Tante Jelena ist? 87 Jahre und immer noch gut drauf. Das macht der Tequila", entgegnete Karimov.