Kailash Akademie - Jet Corby - E-Book

Kailash Akademie E-Book

Jet Corby

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Beschreibung

Die junge Mellie aus Europa ist in Tibet auf Pilgerreise zum heiligen Berg Kailash. Als das Ziel in Sicht kommt, passiert ein Unfall. Mellie rettet sich zu Fuß an den Manasarova-See. Zwei alte Tibeter sammeln sie auf und geben ihr Essen und Unterkunft. Heimlich wandern sie zusammen um den See, denn die Sicherheitsorgane sind ihnen bereits auf den Fersen. Doch nicht nur die Polizei bereitet Mellie Sorgen. Auch die beiden Einheimischen werden ihr mit jedem Tag unheimlicher. Mellies Ziel bleibt dennoch die Umrundung des hochspirituellen Berges. Lesen Sie die Geschichte einer jungen Frau, die sich die Reise ihres Lebens gewünscht hatte. Das, was sie erlebt, übersteigt am Ende das mit Worten Sagbare. Denn zum Kailash kommt nur, wer eine Einladung der Götter hat.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

1 Infinity Viewer

2 Mellie

3 Traumhaft

4 Seralung

5 Eine andere Realität

6 Manasarova

7 Samsara

8 Padmasambhavas Höhle

9 Der Weg nach Darchen

10 Festgenommen

11 Die Kora beginnt

12 Drirapuk

13 Initiation

14 Auf dem Pass

15 Kailash Academy

16 Nach Hause

1 Infinity Viewer

AMRITA UND YARA BLICKTEN gespannt auf den Infinity Viewer, einen riesigen Monitor, der die gesamte Front des großen Saales der Kailash Academy ausfüllte. Im Bild waren Ausläufer von schneebedeckten Bergen zu sehen, im grün-grauen Tal davor verlief eine Straße. Auf dieser Straße fuhr ein weißes Auto.

»Da kommen sie«, raunte jemand im Saal.

Ein Mann mit Turban erhob sich aus der vordersten Stuhlreihe und ging langsam auf den Bildschirm zu. Mit jedem Schritt, den er machte, zoomte die Kamera näher an das Fahrzeug heran. Hinter der Frontscheibe wurden der Fahrer und ein chinesischer Offizier sichtbar. Der Mann mit dem Turban beugte sich nach vorn, als wolle er noch tiefer ins Fahrzeug blicken. Nun waren zwei Personen auf den Rücksitzen zu erkennen: eine junge Frau mit blonden Haaren und ein dunkelhaariger junger Mann. Die Frau lehnte sich zwischen Fahrer und Beifahrer nach vorne und schien etwas zu fragen.

Der Mann mit dem Turban drehte sich zu den anderen Anwesenden im Saal um und lächelte.

»Das sind sie.«

Amrita faltete die Handflächen vor der Brust und blickte Yara von der Seite an. Die schmunzelte. »Dann wollen wir unsere Schüler gebührend empfangen.«

2 Mellie

UNSER WAGEN FUHR EINE weite Kurve auf dem Friendship-Highway in Westtibet auf eine Anhöhe hinauf. Trotz der dünnen Luft in 4000 Metern Höhe erreichte das SUV mit seinen sechs Litern Hubraum problemlos die Hügelkuppe.

Am Horizont erschien eine Kette weißer Berge. Ich lehnte mich nach vorne, um zwischen Fahrer und Beifahrer besser sehen zu können.

»Kailash?«, fragte ich.

Unser chinesischer Begleitoffizier auf dem Beifahrersitz drehte sich um und nickte. Mahendra, ein junger Hindu, der neben mir auf der Rückbank saß, klatschte vor Freude in die Hände. Das Ziel unserer Reise kam zum ersten Mal in Sicht.

Mein Herz schlug schneller und ein feiner Schauer rieselte über meinen Nacken. Ich, Mellie, aufgewachsen im norddeutschen Flachland, stand kurz davor, einen der heiligsten Berge der Welt zu erreichen. Der Mount Kailash war zwar noch über 30 Kilometer entfernt, aber ich erkannte sofort seine typische Form. Der Berg sah aus, als sei eine riesige Pyramide vom Himmel gefallen, beim Aufprall mittelschwer beschädigt worden und dann über Nacht eingeschneit. Der Fahrer stoppte auf einem kleinen Parkplatz für eine kurze Pause vor der letzten Etappe unserer Anreise. Wir stiegen aus und nutzten die Gelegenheit für ein erstes Foto.

Ich streckte mich und atmete tief durch. »Wir hatten das Land der Götter erreicht.« Diese Worte des Österreichers Heinrich Harrer kamen mir beim Anblick des imposanten Berges wieder in den Sinn. Harrer hatte diese Gegend im Zweiten Weltkrieg zu Fuß erreicht, nach der Flucht aus einem britischen Internierungslager. Sein Buch »Sieben Jahre in Tibet« hatte in mir das Interesse für den Buddhismus geweckt, als ich noch zur Schule gegangen war. Seither brannte in mir eine tiefe Sehnsucht nach entlegenen Regionen der Erde, in denen möglicherweise uraltes Wissen der Menschheit bewahrt und weitergegeben wurde. Irgendwann, so hatte ich mir vorgenommen, würde ich einmal selbst die hochspirituelle Region um den Kailash erforschen. Jetzt, in diesem Moment, begann mein Traum wahr zu werden.

Nach wie vor war der geheimnisumwobene Berg nicht leicht zu erreichen, auch wegen seiner speziellen Lage im Transhimalaya auf 4500 Metern Höhe und an der Grenze zweier tektonischer Platten. Aufgrund geologischer Spannungen bebt hier regelmäßig die Erde. Straßen und Wege rutschen dann auf Hunderten von Metern Länge in die Tiefe. Die Grenze zwischen Tibet und Nepal bleibt nach einem Beben oft monatelang gesperrt, weil es keine Ausweichrouten gibt. Selbst Jahrzehnte nach Harrers Abenteuer hat die Reise noch Expeditionscharakter, denn wer zum Kailash will, braucht Zelte, Träger und Köche. Zum Glück gibt es Agenturen, die sich auf derartige Unternehmungen spezialisiert haben.

Nach der kurzen Fotopause fuhren wir weiter in Richtung Darchen. Das kleine Städtchen in der Nähe des Berges dient auch heute noch allen Pilgern als Ausgangs- und Endpunkt der Wanderung. Die Umrundung des heiligen Berges wird von den Pilgern als Kora bezeichnet.

Bis zur Stadt musste unser Fahrer noch einige Dutzend Serpentinen erklimmen und auf der anderen Seite wieder herunterfahren. Ich ließ mich tiefer in die Polster sinken und dachte an die Mühen und Rückschläge bei der Vorbereitung meiner Reise.

Vor zwei Monaten hatte ich meinen Job verloren. Das Unternehmen, bei dem ich fünf Jahre angestellt gewesen war, hatte Stellen wegrationalisiert, darunter auch meine. Als studierte Geoinformatikerin hätte ich wohl schnell eine neue Arbeit finden können, aber im Alter von mittlerweile 29 Jahren hatte ich das bohrende Bedürfnis verspürt, eine Zeit lang auszusteigen. Ich musste mir über einige grundlegende Dinge in meinem Leben klar werden. Im letzten Job hatte ich Kabeltrassen für Kommunikationsdienstleister geplant. Das war fachlich interessant gewesen und hatte mir auch ein tolles Einkommen ermöglicht. Aber das Arbeitsumfeld war chaotisch gewesen. Wir waren permanent zu wenig Mitarbeiter und die Kunden änderten immer wieder ihre Vorgaben. Unser Chef war laut und hektisch. Mit der Zeit litt ich unter Muskelverspannungen und Kopfschmerzen. Immer mehr kam in mir die Sorge auf, in einem Burnout zu enden. Mit Frust- und Belohnungskäufen hatte ich nach der Arbeit kurzzeitig meine Stimmung aufhellen können, doch abends lag ich oft in meinem Wohnzimmer auf dem Teppich und fühlte mich ausgelaugt. Mit leerem Blick starrte ich auf meine Besitztümer in der Schrankwand und fragte mich, ob das jetzt alles gewesen war. Mir einen Partner zu suchen und eine Familie zu gründen, stand zwar nach wie vor auf meiner To-do-Liste, aber ein biederes Familienleben allein würde mich nicht erfüllen können. Mein Herz rief nach mehr. Als mein Vorgesetzter schließlich den Wegfall unserer Stellen verkündete, war ich im ersten Moment entsetzt und geschockt, aber schon einen Augenblick später schoss mir ein verführerischer Gedanke in den Kopf: Tibet.

Noch am selben Abend nahm ich Notizblock und Kalender zur Hand und begann mit konkreten Planungen. Eine Reise zum Kailash war nur zwischen April und Oktober möglich, davor und danach herrschte eisiger Winter. Wir hatten Ende Juni, und wenn ich mich mit den Vorbereitungen beeilte, würde sich im September ein Zeitfenster von etwa einem Monat auftun. Ja, das passte!

Plötzlich war ich wie ausgewechselt: Sämtliche Müdigkeit war verflogen und ich fühlte eine kribbelnde, belebende Energie durch Geist und Körper strömen. Schon am nächsten Tag beantragte ich auf der chinesischen Botschaft einen Termin für das Visum. Ein freundlicher schweizerischer Reiseunternehmer mit Firmensitz in Nepal organisierte mir die Reise. Zur mentalen Vorbereitung meditierte ich jeden Morgen und jeden Abend ein paar Minuten – und am Wochenende eine Stunde. Ich lernte sogar einige chinesische Vokabeln. Spätestens als ich mir auch noch Bergstiefel und eine Hardshell-Jacke zulegte, ahnte mein Freundeskreis, dass ich etwas Außergewöhnliches vorhatte. Als eher introvertierter Mensch pflegte ich nur einige wenige Freundschaften, dafür aber gute. Eine Weile hielt ich die Details vor meinem Umfeld noch geheim. Ich wollte die positive Energie nicht durch Gerede zerstreuen. Als ich mein großes Geheimnis eine Woche vor der Abreise endlich lüftete, reichte das Spektrum der Reaktionen von begeisterter Zustimmung über Sorge bis hin zu dezentem Neid. Meine Eltern waren wenig begeistert. Sie hätten es wohl lieber gesehen, wenn ich mich schnell um eine neue Arbeitsstelle bemüht hätte. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Nach Jahren des Träumens war endlich Bewegung in die Angelegenheit gekommen. Es gab ein Abreisedatum im Kalender, und was im Kalender steht, wird auch gemacht. Mit diesem Argument konnte ich immerhin meinen Vater überzeugen – er hatte mir diesen Satz stets eingetrichtert, wenn es um die Themen Disziplin und Erfolg ging. Doch auch wenn er weiterhin dagegen gewesen wäre: Mich konnte jetzt nichts mehr aufhalten.

Im September flog ich über Istanbul zunächst in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu. Dort traf ich meinen Mitreisenden – Mahendra, ein Hindu aus New Delhi, mit dem ich mich problemlos auf Englisch austauschen konnte. Die Region um den Kailash ist für mehrere Religionen ein zentrales Heiligtum. Nach hinduistischer Auffassung war Mount Kailash einst der Sitz des unsterblichen Lord Shiva und seiner Geliebten Parvati. Nach buddhistischer Auffassung residierte dort die vielarmige Gottheit Chakrasamvara mit Partnerin Vajrayogini. Aber auch Anhänger der Bön-Religion und der Glaubensgemeinschaft der Jains pilgern zum Kailash.

Mahendra und ich waren die einzigen Teilnehmer auf dieser Tour, was wegen des Expeditionscharakters und des großen Aufwandes nicht ungewöhnlich war. Im Büro unseres nepalesischen Reiseveranstalters erledigten wir gemeinsam die letzten Formalitäten für die Einreise nach China und halfen uns gegenseitig beim Ausfüllen der Unterlagen. Mahendra fühlte sich für mich sofort auf unaufdringliche Weise vertraut an. Ich mochte seine leise, bedachte Art, zu sprechen, und er ließ mir immer genug Raum, ohne dass ich den Eindruck hatte, ihm egal zu sein. Ich war froh, ihn bei dieser Reise an meiner Seite zu wissen.

Mit Sichuan Airlines flogen wir von Kathmandu weiter nach Lhasa. Der Landeanflug auf die tibetische Hauptstadt war atemberaubend. Ich kannte die Alpen in Europa, aber der Himalaya war eine andere Liga. Still und etwas beklommen schaute ich auf die sechstausend Meter hohen Berge, die dicht neben unserem Flieger vorbeizogen. Zum ersten Mal spürte ich leise Zweifel, ob ich mich mit der Expedition nicht übernommen hatte.

Zur Anpassung an die dünne Luft – die tibetische Hauptstadt Lhasa liegt 3600 Meter hoch – verbrachten wir zunächst einige Tage in der Stadt. Sie wirkte auf mich überraschend modern und bewahrte dennoch im Altstadtkern den Charme des alten Tibet, wie ihn die Reisenden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben hatten. Der Trubel in den Gassen, die Klänge aus den Klöstern und der allgegenwärtige Geruch von Weihrauch überdeckten bald meine Zweifel bezüglich der Expedition. Ich war schon seit meinem 21. Lebensjahr praktizierende Buddhistin – hier befand ich mich am richtigen Ort, und manchmal kam es mir so vor, als gäbe es eine geheime Verbindung zwischen mir und der Stadt. Während Mahendra sich eher für die modernen Einkaufscenter interessierte, besuchte ich den Palast des Dalai Lama und den Jokhang-Tempel. In Letzterem gab es eine berühmte große Buddhastatue aus der Zeit, als tibetische Könige noch chinesische Prinzessinnen heirateten. Außerdem konnte ich hier zahllose kleinere Statuen der verschiedensten Buddhas und Bodhisattvas besichtigen.

Beim Rundgang erregte eine feuerrote Vajrayogini-Figur meine Aufmerksamkeit. Sie war zwar nur aus Ton, aber sehr detailliert und liebevoll bemalt. Ich fand die Gelegenheit günstig, mich ihr kurz vorzustellen; immerhin war Vajrayogini die Hausherrin am Kailash. Doch mit ihrer tantrischen Praxis hatte ich bisher keine Berührungspunkte gehabt und kannte ihr Mantra nicht. Deshalb wartete ich eine Weile, bis ich allein im Raum war, und begrüßte sie dann mit meinen eigenen Worten: »Ehrwürdige Vajrayogini, ich bin Mellie. Ich verneige mich vor dir und möchte den Kailash besuchen. Möge meine Reise erfolgreich sein und ohne Hindernisse verlaufen.« Feierlich zündete ich ein Räucherstäbchen an. Als ich zum Abschied einen letzten Blick auf die Figur warf, glaubte ich, ein schelmisches Grinsen auf ihrem Gesicht zu sehen. Ich nahm das als ein Zeichen, dass ich willkommen sein würde.

Nach drei Tagen der Akklimatisation begann unsere 1200 Kilometer lange Fahrt auf den tibetischen Highways. Schon früh am Morgen luden wir unsere Rucksäcke in den Kofferraum eines 4x4 SUV chinesischer Marke. Neben dem Fahrer stellte sich uns ein weiterer Mann vor: unser Begleitoffizier. Das Tourismusministerium hatte uns für die gesamte Reise einen Beamten zugeteilt, der für unsere Sicherheit zuständig sein würde. Als erste Amtshandlung kassierte er die Reisepässe ein. Ich fand das befremdlich und fragte mich, ob er wirklich uns vor Gefahren in China schützen oder eher den chinesischen Staat vor uns schützen sollte. Doch bald schon begriff ich den Sinn seiner Aktion. Alle paar hundert Kilometer musste der Offizier die Pässe auf Polizeistationen vorlegen, damit unsere Weiterfahrt genehmigt werden konnte.

Der Highway war auf weiten Teilen der Strecke hervorragend ausgebaut. Mahendra und ich staunten immer wieder über die gewaltigen Brücken und Tunnel, Serpentinen und Pässe. Durch meine Erfahrungen als Geoinformatikerin ahnte ich, was für eine große Ingenieurleistung der Bau einer Autobahn durch den Himalaya gewesen war. Leider nagte das Wetter mit seinen extremen Temperaturen, Stürmen und Niederschlägen an den Fahrbahnen. Unser Fahrer kämpfte mit den Folgen von Erdrutschen, Unterspülungen und Überflutungen. Oft blockierten Steine in der Größe von Melonen die Straße und mussten mühsam umfahren werden. Am schlimmsten aber waren die gewaltigen Schlaglöcher. Mahendra und ich wurden jedes Mal mit Wucht auf- und abgeschleudert. Meine erste Beule am Kopf ließ nicht lange auf sich warten. Schnell lernte ich, dass ich mich am besten ganz tief in die Sitzpolster sinken ließ, damit mein Kopf im Ernstfall genug Abstand zum Dach zu hatte. Entsprechend mühsam ging es auf dem Highway vorwärts, Kurve um Kurve in schier endlosen Serpentinen bergauf und bergab.

Doch jetzt, nach vier langen und anstrengenden Tagen, hatten wir endlich die Region rund um den Kailash erreicht. Gebannt starrte ich durch die staubige Windschutzscheibe. Auf der linken Seite tauchte in einiger Entfernung die gewaltige blaue Fläche eines Sees auf.

»Ist das der Manasarova-See?«, fragte ich unsere chinesischen Führer.

»Shi«, »Sicher«, antwortete der Offizier.

Mahendra und ich blickten uns an wie zwei Kinder auf der Fahrt zum Spielzeugladen. Eine unbeschreibliche Freude erfasste mich. Ich war genau an dem Ort, den Harrer in seinem Buch über Tibet beschrieben hatte und von dem ich seitdem immer wieder geträumt hatte.

Der Manasarova-See war für Pilger spirituell ebenso bedeutsam, wie der Kailash selbst. Die alten Schriften der hier vertretenen Religionen waren sich einig, dass der Berg für das männliche, herausragende, aktive Element im Universum stand. Der See hingegen symbolisierte das weibliche, bergende, intuitive Element. Beide gehörten zusammen wie Ying und Yang. In ihrem Wesen seien sie grundverschieden, so erklärten die Schriften, doch jeder gäbe dem anderen, was diesem fehlte. Zusammen war Vollkommenheit erreichbar, wenn auch immer nur für Momente.

Vor uns tauchte eine Gruppe Landarbeiter auf. Unser Fahrer hupte, um sie auf uns aufmerksam zu machen. Rasch eilten die Männer an den Straßenrand. In ihren grauen Arbeitskitteln sahen sie ziemlich heruntergekommen aus. Einer von ihnen trug einen Turban. Ihr Anblick erweckte in mir eine seltsame Mischung aus Mitleid und Scham. Diese armen Kerle mussten gerade zu ihrer staubigen Arbeit laufen, womöglich über etliche Kilometer, während ich als europäische Touristin im weißen SUV an ihnen vorbeirauschte. Womit hatte ich das verdient? Womit hatten sie das verdient? Als wir die Männer überholten, grinsten sie uns jedoch gut gelaunt an. Der Begleitoffizier runzelte die Stirn und sah ihnen nach.

Ich schaute wieder hinüber zum Manasarova-See. In der Nachmittagssonne leuchtete er an einigen Stellen tatsächlich so türkisfarben, wie ich es auf vielen Fotos im Internet gesehen hatte. Unsere Reiseplanung sah vor, dass wir vor der eigentlichen Kailash-Umrundung zunächst um den See laufen würden. Der Pilgerweg sollte etwa 100 Kilometer lang sein und direkt am Wasser verlaufen. Ich konnte es kaum erwarten und schloss mit einem zufriedenen Seufzen meine Augen, um die Vorfreude still zu genießen.

Ein lauter Knall riss mich aus meinen Gedanken. Hart schlug mein Kopf gegen die Seitenscheibe. Unser Wagen zog stark nach rechts. Der Fahrer fluchte und steuerte gegen, doch wir gerieten gefährlich ins Schlingern. Kurz darauf spürte ich einen dumpfen Aufprall und mir wurde schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, herrschte gespenstische Ruhe. Der Motor war aus und unser SUV stand unnatürlich schräg am Straßenrand. Mein Kopf dröhnte, und ich brauchte einige Momente, um wieder klar sehen zu können. Der Begleitoffizier rüttelte den Fahrer an der Schulter und rief etwas, doch der rührte sich nicht. Offenbar war er wie ich ohnmächtig geworden und noch nicht wieder zu sich gekommen. Das chinesische Navi jaulte immer wieder einen Satz, den ich nicht verstand.

»Was ist passiert?«, krächzte ich.

»Ein Unfall«, antwortete Mahendra gefasst. Vorsichtig half er mir dabei, mich von der Fensterscheibe zu lösen. Mit zitternden Fingern rieb ich mir die Stirn, denn ich war beim Aufprall mit dem Gesicht gegen die Kopfstütze des Fahrersitzes geknallt. Es tat nicht besonders weh, aber der Schreck saß mir tief in den Knochen.

Der Offizier öffnete seine Tür und stieg aus. Instinktiv wollten wir auch aussteigen, doch er bedeutete uns mit einer Geste, sitzen zu bleiben. Irritiert beobachteten wir durch die Seitenscheibe, wie er seine Jacke aufknöpfte und eine Pistole herauszog. Das Adrenalin schoss mir in die Adern. Mir war bisher nicht bewusst gewesen, dass der Mann eine Waffe trug. War da draußen etwas, das uns gefährlich werden konnte? Wie in einem Westernmovie erkletterte er den Hügel neben der Fahrbahn. Mit geduckten Schultern suchte er die Gegend ab, als lägen irgendwo die Indianer auf der Lauer. Auf der anderen Seite des Hügels stieg er wieder hinunter und verschwand aus unserem Sichtfeld. Mahendra und ich waren sprachlos. Was war hier los?

Langsam kam unser Fahrer wieder zu Bewusstsein. Er brabbelte etwas auf Chinesisch und hantierte fahrig am Türgriff herum. Die Tür klemmte, doch mit einem kräftigen Ruck seiner Schulter gelang es ihm, sie aufzustoßen. Mahendra versuchte es ebenfalls; die Tür zu seiner Seite ließ sich ohne Probleme öffnen. Die beiden stiegen aus. Meine Tür klemmte und sie öffnete sich auch nicht, als ich mich dagegen warf. Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn unser Wagen beim Unfall Feuer gefangen hätte. Schnell krabbelte ich auf Mahendras Seite aus dem Fahrzeug.

Draußen kniete der Fahrer neben dem linken Vorderrad auf der Straße. Der Reifen war platt und das Rad stand seltsam schief zur Seite. Mahendra zeigte auf einen großen Stein am Fahrbahnrand und meinte, wir wären beim Schleudern daran hängengeblieben, worauf der Reifen von der Felge gedrückt wurde. Der Schaden sah nicht nach einer schnellen Reparatur aus. Suchend schaute ich mich um. Der Kailash war jetzt zur Hälfte in Wolken getaucht. In Fahrtrichtung kam uns in einiger Entfernung am Straßenrand eine Bäuerin entgegengelaufen. Der Offizier war immer noch nicht zu sehen. Der kalte Wind ließ mich frösteln. Wir befanden uns auf einer Höhe von über 4000 Metern – nicht gerade der beste Ort für eine Panne. Mit steifen Schritten ging ich zur Heckklappe, öffnete sie und zog meine dicke Jacke heraus, um mich darin zu vergraben. Mahendra und der Fahrer planten, jetzt das Ersatzrad aufzuziehen. Sie hofften, dass ein anderes Fahrzeug uns bis zur nächsten Ortschaft abschleppen würde. Ich konnte nicht viel helfen und machte mit meinem Smartphone Aufnahmen von Kailash, Manasarova und dem kaputten Rad.

Etwa 200 Meter hinter uns näherten sich die Landarbeiter, die wir vorhin überholt hatten.

»Maybe they can help us«, rief ich Mahendra und dem Fahrer zu. Sie drehten sich um. Als der Fahrer die Männer entdeckte, glitt ihm der Schraubenschlüssel aus der Hand. Wie in Zeitlupe erhob er sich und murmelte etwas auf Chinesisch. Ich verstand nicht, was er meinte, aber irgendetwas beunruhigte ihn zutiefst.

»Run!«, krächzte er und ruderte mit den Armen, als wollte er Hühner verscheuchen.

Wir starrten ihn an wie die Götzen. Als er sah, dass wir nicht reagierten, sprang er in den Straßengraben und kletterte auf der anderen Seite wieder nach oben. Dort drehte er sich noch einmal um und rief »Run!«. Dann lief er davon, in Richtung des Hügels, wo der Offizier verschwunden war.

»Die können uns doch hier nicht allein lassen!«, wandte ich mich entrüstet zu Mahendra. Er schüttelte stumm den Kopf, erhob sich und ging zur Heckklappe, um sich seine Jacke anzuziehen. Erneut blickte ich mich um. Angst hatte ich keine, doch ich fragte mich, wie wir zwei nun nach Darchen kommen sollten.

Die Landarbeitergruppe war noch etwa fünfzig Meter von der Unfallstelle entfernt. Auf der anderen Straßenseite hatte uns die tibetische Bäuerin fast erreicht. Sie winkte mit der Hand und rief etwas. Ob sie mich meinte? Fragend hielt ich mir die Hand vor die Brust. Sie nickte. Ich ging über die Straße auf sie zu. Hoffentlich verstand sie Englisch. Doch bevor ich die Frau erreichte, drehte sie sich weg und lief davon. Verwirrt blieb ich stehen. Als ich anhielt, stoppte auch die Frau. Sie sah mich an, gestikulierte hektisch und rief etwas, das klang wie »Come!«. Wollte sie etwa, dass ich ihr hinterherlaufe? Was für ein Unsinn. Wir brauchten dringend Hilfe, um nach Darchen zu kommen. Ich drehte mich zurück zum Fahrzeug, um nach Mahendra zu sehen - und traute meinen Augen nicht. Die Landarbeiter hatten das SUV erreicht und einige von ihnen hatten Gewehre gezückt. Wie konnte es sein, dass ich ihre Waffen vorhin nicht gesehen hatte? Zwei von ihnen zogen Mahendra am Arm zum Straßenrand, die anderen rannten bereits mit unserem Gepäck davon. Mir sträubten sich die Haare. »Stopp!«, schrie ich entsetzt und wollte Mahendra zu Hilfe eilen. Doch jemand packte mich von hinten am Handgelenk und zerrte mich von der Unfallstelle weg.

»Komm mit, Dummkopf!«, schimpfte die Alte.

Ich erschrak. Sie hatte auf Englisch ganz klar ,Dummkopf' zu mir gesagt. Bevor ich mich beschweren konnte, hatte sie mich schon zum Straßenrand gezogen. Sie war etwas kleiner als ich, schubste mich aber erstaunlich kraftvoll die Böschung hinunter. Darauf war ich nicht gefasst und stolperte. Unten zog sie mich wieder auf die Beine und rannte mit mir ein Stück im Straßengraben. Wir waren kaum 20 Meter vorangekommen, da fielen hinter uns Schüsse.

»Sie töten Mahendra!«, rief ich in Panik.

»Nicht umsehen!«, erwiderte die Frau harsch.

Doch ich konnte nicht anders, ich musste mich umdrehen. Dabei stolperte ich über einen großen Stein im Straßengraben und schlug der Länge nach hin. Ein stechender Schmerz zuckte durch mein Bein. »Gott, hoffentlich ist nichts gebrochen«, stieß ich hervor. Das nächste Krankenhaus war dreihundert Kilometer entfernt.

»Dummkopf«, schimpfte die Alte noch einmal.

Ich wollte mich auf den Rücken drehen und mein Knie betasten. Doch plötzlich wurde es finster um mich herum. Sie hatte eine Decke über mich geworfen. Die raue Wolle roch penetrant nach Ziegenschweiß.

»Hilfe!«, brüllte ich und strampelte die Decke beiseite.

»Halt’s Maul!« Die Frau trat mit den Füßen nach mir. »Reiß dich zusammen, wenn du leben willst.«

Oben auf der Straße fielen wieder Schüsse. Jetzt bekam ich die nackte Angst, die Räuber könnten auch mich erschießen. Ich hörte auf, mich zu wehren. Die Frau schlug die Decke über mir zusammen und setzte sich auf mich. Ich japste nach Luft. So viel Gewicht konnte die zierliche Frau eigentlich gar nicht haben ....

Mühsam atmend versuchte ich, meine Wahrnehmungen der letzten Minuten zu sortieren. Eben noch hatten wir im Wagen den ersten Anblick des Manasarova gefeiert. Jetzt lag ich im Straßengraben und eine störrische Alte versteckte mich unter einer Viehdecke. Mahendra war vielleicht schon tot. Das alles musste ein böser Traum sein. Doch eine ganz reale Erscheinung zeigte mir, dass es kein Traum war: Mein Knie wurde feucht. Erschrocken tastete ich mit der Hand mein Bein ab. Hatte ich etwa eine größere Verletzung? Zu meiner großen Erleichterung fühlte sich alles intakt an. Ich dankte den Göttern des Kailash, dass ich keinen Beinbruch hatte. Soweit das Gewicht der Frau es zuließ, ließ ich meine Hände nun über meine Jackentaschen wandern. Portemonnaie und Smartphone waren noch da. Aber der Reisepass nicht. Den hatte der chinesische Offizier – und der war inzwischen vermutlich über alle Berge.

Der Druck über mir ließ nach. Die Frau hob eine Seite der Decke an und schaute grinsend zu mir herab. Ihre langen schwarzen Haare streiften mein Gesicht.

»Everything good?«

»No!«, raunzte ich sie an. Nach ihren Fußtritten und Beleidigungen hätte ich ihr am liebsten einen kräftigen Stoß versetzt. Doch ich riss mich zusammen. Womöglich hatte sie mir tatsächlich gerade das Leben gerettet. Jetzt zog sie die Decke ganz weg. Ich sah an mir herab und erkannte den Grund für mein feuchtes Hosenbein. Der Boden im Straßengraben war mit Eis bedeckt, das eingebrochen war. Umständlich krabbelte ich aus der Pfütze und setzte mich ins Trockene. Benommen inspizierte ich mein Bein. Das Knie war nass und dreckig und meine Hose hatte an der Stelle ein kleines Loch. Doch darunter befand sich nur eine Schürfwunde. Von Mahendra und den Landarbeitern war nichts mehr zu sehen. Ich konnte nur noch unser SUV erkennen, das schief und verlassen am Rande der Straße stand. War es wenigstens ein gutes Zeichen, dass keine Leiche auf der Fahrbahn lag? Hatten sie Mahendra entführt, aber am Leben gelassen? Ich wollte aufstehen und zum Unfallort laufen.

»Bleib!« Die Frau legte mir die Hand auf die Schulter und drückte mich wieder nach unten. »Zu gefährlich.«

Resigniert blieb ich sitzen. Alles war still, nur die Windböen strichen mit einem beständigen Rauschen über die Straße. Die Frau musterte mich neugierig von Kopf bis Fuß. Möglicherweise war sie noch gar nicht so alt, wie ich sie anfangs eingeschätzt hatte, aber ich konnte mich irren. Bergbewohner haben wegen der intensiven Sonne eine robuste Lederhaut. Die schwarzen Haare der Frau waren dick und glatt und an der Seite gescheitelt. Untypisch war die Nase. Für eine Asiatin hatte sie einen ordentlichen Zinken, wie ein römischer Kaiser. Dafür verrieten ihre geschlitzten Augen unzweifelhaft asiatische Gene. Ihre Kleidung war klassisch tibetisch. Sie trug eine rote Strickjacke aus schwerer Wolle; darunter lugte an Hals und Ärmeln eine edle blaue Seidenbluse hervor. Um das Handgelenk trug sie eine Gebetskette, Mala genannt. Ihre Beine verbargen sich unter einem langen schwarzen Rock. Darüber hatte sie eine bunt gestreifte Schürze gebunden, die aussah, als hätte sie die selbstgenäht. Alles in allem war das zu hochwertige Kleidung für eine einfache Bäuerin. Was nur hatte sie hier verloren? Nachdem wir uns ausgiebig gemustert hatten und uns immer noch nichts zu sagen wussten, stand sie auf und legte die graue Decke zusammen.

»Let’s go!«

»Wohin?«, fragte ich irritiert.

Sie warf sich die Decke über die Schulter und zeigte mit dem Arm in Richtung See.

»Ich geh doch hier nicht einfach weg! So ein Unsinn.«

»Du solltest freundlich zu mir sein«, erwiderte sie bestimmt. »Ich habe dich gerade davor bewahrt, zwischen die Fronten zu geraten.«

»Was für Fronten? Ich warte lieber, bis die Polizei kommt!« Stur verschränkte ich die Arme.

»Ich würde das nicht tun.«

»Warum nicht?«

Sie schwieg einen Moment und sah kalt auf mich herab. »Das ist nicht dein Krieg«, sagte sie schließlich.

»Was redest du da?«

»Lass uns woanders darüber sprechen. Du musst hier verschwinden.«

»Was soll ich denn machen? Mein Pass ist weg, mein Gepäck wahrscheinlich auch ...« Ich ging davon aus, dass die Landarbeiter es mitgenommen hatten.

Sie winkte ab. »Es ist nicht weg. Es dient jetzt jemand anderem.«

»Bist du verrückt? Was willst du eigentlich von mir?«

»DU bist verrückt! Aber das kriegen wir geheilt.« Sie grinste frech.

Sprachlos starrte ich sie an. Verstand sie denn gar nicht, was hier gerade geschehen war?

Mit unlesbarer Miene drehte sie sich um und marschierte los, querfeldein über die Weide in Richtung Manasarova.

Einmal forderte sie mich noch mit der Hand auf, ihr zu folgen, doch ich ließ sie laufen und rieb mir erschöpft die Augen. Ich musste jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren und unseren Begleitoffizier ausfindig machen. Der konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Ich rappelte mich auf und lief zum Unfallort, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Unser gesamtes Gepäck war weg. Sogar das Handschuhfach hatten die Männer geplündert. Unser 4x4 stand so traurig und verlassen da wie das Körbchen eines kürzlich verstorbenen Hundes. Nachdem mir klar wurde, dass hier nichts mehr zu holen war, machte ich mich auf die Suche nach dem Offizier oder dem Fahrer. Ich hatte Angst, den toten Mahendra irgendwo zu entdecken. Doch auch oben vom Hügel aus war niemand zu sehen. Hinter diesem Hügel lag ein anderer Hügel. Und hinter dem noch ein anderer. Immer weiter, bis in der Ferne die hohen Berge begannen.

Doch nach einigen Sekunden entdeckte ich in der Ferne ein dunkles Fahrzeug, das unsere Straße entlang kam. Meine Stimmung hellte sich auf. Eilig rannte ich den Hügel herunter. In dieser entlegenen Gegend kam nur aller paar Stunden mal ein Auto vorbei. Ich durfte es auf keinen Fall verpassen. Mit pochendem Herzen erreichte ich die Straße und stellte mich vor unser SUV an den Straßenrand. Als das dunkle Fahrzeug um die Kurve kam, erkannte ich, dass es ein Militärtransporter war. Bingo, viel besser konnte ich es gar nicht treffen. Sicher würden sie anhalten und mich direkt zur nächsten Dienststelle bringen. Zwar sprach ich kein Chinesisch, aber irgendwie würde die Kommunikation schon klappen. Der Transporter näherte sich der Unfallstelle und der Fahrer verringerte die Geschwindigkeit. Mit Schrittgeschwindigkeit rollte der Transporter an mir vorbei. Aus dem Inneren beäugten Uniformierte neugierig das havarierte SUV. Doch dann beschleunigte der Transporter wieder und rauschte davon. Fassungslos starrte ich dem Fahrzeug hinterher, bis es hinter den Hügeln verschwunden war. Die Wirbelschleppe aus warmen Dieselabgasen umspülte mich eine Weile, dann setzte der kalte Wind wieder ein.

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte ich. Tief in meinem Inneren stieg die bittere Erkenntnis auf, mutterseelenallein zu sein. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb sechs. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Ratlos krabbelte ich auf meinen Sitz im SUV. Das weiche Leder schenkte mir wenigstens etwas Geborgenheit. Eigentlich müsste ich den Reiseveranstalter in Kathmandu anrufen, dachte ich. Oder die Botschaft in Beijing. Doch die Telefonnummern standen auf einem Zettel, den ich mir für Notfälle zusammengestellt und ausgedruckt hatte. Ich hatte ihn sogar extra in Folie eingeschweißt und in die Fronttasche meines Rucksacks gesteckt. Aber der Rucksack war weg und ich hatte nicht daran gedacht, mir die Nummern vorsorglich im Handy einzuspeichern oder abzufotografieren. Doch selbst wenn ich das getan hätte - für mein Smartphone gab es hier kein Netz. Die Verbindung zu europäischen Providern funktionierte nur in großen Städten. Wir waren hier ganz weit draußen. Selbst chinesische Netze funktionierten auf dem Hochplateau nur in der Nähe von Ortschaften. WiFi wäre eine Alternative, aber auch das gab es nur in Hotels. Ohne Verbindung war mein Smartphone nutzlos.

In mich zusammengesunken starrte ich aus dem Fenster. Die Frau war nur noch ein ferner, dunkler Punkt auf der gelben Weide. Sollte ich ihr hinterherrennen? Eigentlich blieben mir nur zwei Handlungsoptionen. Entweder ich wartete auf das nächste Fahrzeug oder ich vertraute mich der Tibeterin an. Das nächste Auto kam vielleicht erst morgen. Über Nacht brauchte ich Schutz vor Wind und Kälte. Im SUV zu schlafen war gefährlich. Unser Wagen stand mit dem Hinterteil auf der Fahrbahn. Ohne Beleuchtung bei Dunkelheit war das kein Ort, an dem man ruhig schlafen konnte.

Bei der Tibeterin würde ich zumindest über die Nacht unterkommen. Und morgen konnte ich in Ruhe versuchen, die Polizei zu erreichen.

Ich kletterte aus dem Wagen und zog die Reißverschlüsse meiner Jackentaschen zu, damit nichts herausfallen konnte. Dann rannte ich los. Zum Glück ging es über weite Strecken leicht bergab. Ich war zwar keine Leistungssportlerin, hatte aber immer über eine gute Kondition verfügt. Doch die dünne Luft hier machte mir zu schaffen und bald spürte ich eine erste Ermattung. Außerdem scheuerte mein wundes Knie an der Hose und ich bekam Durst. Gern wäre ich stehengeblieben, um zu Atem zu kommen. Doch ich hatte Angst, die Frau in der einbrechenden Dunkelheit endgültig aus den Augen zu verlieren.

So sehr ich mich auch beeilte, der Abstand zu ihr schien nicht viel kleiner zu werden. Wie konnte die Alte mich so einfach abhängen? Schließlich wurden meine Schritte so schwer und das Laufen so mühsam, dass ich in ein Loch trat und der Länge nach hinschlug. Nach einer Schrecksekunde drehte mich auf den Rücken und streckte mein Fußgelenk. Zum Glück hatte ich mich nicht verletzt. Ich sah auf die Uhr. 18.12 Uhr. Hoch über mir zog ein großer Vogel eine weite Schleife in der Abendsonne. War das ein Geier? Am Kailash gab es Schneegeier. Schaute er schon, wie lange ich es noch machte? Entschlossen raffte ich mich auf. Der Geier würde mich nicht holen, und wenn ich ihn im Kampf erwürgen müsste. Sobald ich wieder stand, segelte der Vogel in Richtung See davon.

Die Frau war jetzt ganz verschwunden, aber in der Wiese war ein Trampelpfad erkennbar; ihm konnte ich folgen. Mich beunruhigte, dass die Dämmerung tatsächlich hereinbrach. Für solche Fälle hatte ich eine Stirnlampe eingepackt, doch die befand sich in meinem Rucksack und der ,diente jetzt jemand anderem'. Zur Not hatte ich noch mein Smartphone als Lampe, aber das würde ich nur einschalten, wenn es wirklich notwendig war. Hier draußen gab es keine Ladestationen und es musste unbedingt noch ausreichend Akku haben, wenn ich wieder Zugang zum Netz bekommen sollte.

Hinter einer kleinen Felsgruppe führte der Pfad ein paar Meter steil bergab, zu einer Wiese, auf der ein kleines Zelt aufgebaut war. Daneben saß eine Person, die über einer hellblauen Flamme etwas kochte. Das musste die alte Tibeterin sein. Einige Hundert Meter weiter schimmerte der Manasarova-See im letzten Abendlicht. Erlöst atmete ich aus – ich würde sie erreichen, bevor es dunkel geworden war.

»Du musst Hunger haben«, sagte die Frau, als sie mich bemerkte. Sie hielt mir einen Teller mit kleinen Teigrollen hin. Erschöpft ließ ich mich neben ihr auf den Boden sinken.

»Durst!«, brachte ich mühsam hervor. Das viele Laufen hatte meine Kehle ausgetrocknet. Wortlos stellte sie den Teller auf die Wiese und zog eine halbvolle PET-Flasche aus ihrem Rucksack. Das chinesische Etikett konnte ich nicht lesen, aber der Inhalt schmeckte nach Zitronenlimonade. Gierig trank ich die Flasche leer.

Sie lächelte nur und packte die Flasche wieder ein. Aus einer Teigrolle formte sie zwischen ihren Händen kleine Kugeln und brutzelte daraus in einer Mini-Pfanne kleine Pfannkuchen.

»Wie heißt du?«, fragte sie, als ich wieder etwas zu Atem gekommen war.

»Mellie. Und du?«

»Yara. – Bist du ein Kailash-Pilger?«

»Ja.«

Sie forderte mich auf, von den Pfannkuchen zu essen. Entgegen meiner Erwartung schmeckten sie nicht süß, sondern leicht salzig. Ich erzählte ihr von dem Armeetransporter, der einfach an mir vorbeigerast war. Gelassen sagte sie, ich könne froh sein, dass die Männer vorbeigefahren seien, erklärte jedoch nicht, warum sie das dachte. Ich war zu müde, sie danach zu fragen.



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