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»Ich glaube nicht an Zufälle. Es ist auch kein Zufall, dass wir beide hier auf der Bank sitzen und Lakritz essen.« Justine ist Anfang dreißig, ihr Leben läuft in perfekten Bahnen: Sie hat einen tollen Job in der Marketingagentur ihrer besten Freundin, mit ihrem Freund Nico lebt sie in einer schicken Altbauwohnung im Frankfurter Westend und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ihr einen Heiratsantrag machen wird. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, stürzt Justines Leben über ihr zusammen. Um sich neu zu orientieren, beginnt sie eine Wanderung über die Alpen. Doch unerfahren, wie sie ist, verläuft sie sich. Sie kann im letzten Moment ein Unglück verhindern und landet in der Sonnenkogelhütte. Dort lernt sie Hüttenwirt Finn, der eigentlich Surfbretter vermietet, und seinen wortkargen Gehilfen Karl kennen. Und ehe Justine sichs versieht, steckt sie mitten in einem Abenteuer, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Ein Roman über Verluste, neue Chancen und das kleine Glück inmitten einer atemberaubenden Landschaft.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Isabell Lahmer
Kaiserschmarrn -
Frühling auf der kleinen Berghütte
Teil 1 der Berghütten-Reihe
Für alle, die die Berge so sehr lieben wie ich!
Über das Buch
Über die Autorin
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Apfelstrudel – Sommer auf der kleinen Berghütte
Nachwort
Finns Kaiserschmarrn – Rezept
»Ich glaube nicht an Zufälle. Es ist auch kein Zufall, dass wir beide hier auf der Bank sitzen und Lakritz essen.«
Justine ist Anfang dreißig, ihr Leben läuft in perfekten Bahnen:
Sie hat einen tollen Job in der Marketingagentur ihrer besten Freundin, mit ihrem Freund Nico lebt sie in einer schicken Altbauwohnung im Frankfurter Westend und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ihr einen Heiratsantrag machen wird.
Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, stürzt Justines Leben über ihr zusammen.
Um sich neu zu orientieren, beginnt sie eine Wanderung über die Alpen. Doch unerfahren, wie sie ist, verläuft sie sich.
Sie kann im letzten Moment ein Unglück verhindern und landet auf der Sonnenkogelhütte. Dort lernt sie Hüttenwirt Finn, der eigentlich Surfbretter vermietet, und seinen wortkargen Gehilfen Karl kennen.
Und ehe Justine sichs versieht, steckt sie mitten in einem Abenteuer, das sie niemals für möglich gehalten hätte.
Ein Roman über Verluste, neue Chancen und das kleine Glück inmitten einer atemberaubenden Landschaft.
Isabell Lahmer ist das Pseudonym der Krimiautorin Melanie Lahmer.
Sie veröffentlichte ihre Bücher sowohl in Verlagen als auch im Selfpublishing.
Die ersten Ideen zu den Geschichten rund um die Sonnenkogelhütte entstanden bei einer der vielen Bergwanderungen in den Alpen.
Justine – Ju – begleitete Melanie gedanklich auf Berghütten, saß mit ihr in Sessel- und Kabinenliften, genoss mit ihr gemeinsam fantastische Weitblicke und grandiose Sonnenuntergänge und aß auch den einen oder anderen Kaiserschmarrn mit ihr.
Höchste Zeit also, Ju endlich den Leserinnen vorzustellen!
Wer mehr über Isabell Lahmer oder die Hüttenreihe wissen möchte, kann Melanie Isabell Lahmer bei Facebook, Instagram oder Threads oder ihre Homepages www.siegerland-Krimis.de und www.isabell-lahmer.de besuchen - oder den neuen Newsletter abonnieren: zum Newsletter.
Kaiserschmarrn – Frühling auf der kleinen Berghütte 3. Auflage Juni 2025 © Melanie Isabell Lahmer Lektorat und Korrektorat: H. Woska Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at Covermotiv © Svitlana Sokolova shutterstock.com
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»Ju! Wo bleibst du? Wir brauchen dich!«
Finns Stimme riss sie aus ihrer kleinen Ruhepause.
Ju öffnete die Augen, räkelte sich, streckte die Arme weit von sich und wackelte mit den Zehen. Ach, wenn sie doch einfach hier liegen bleiben könnte. Nur für ein paar Minuten noch!
Ein lauter Schlag folgte dem Ruf, dann ein Fluchen. Karl.
Seufzend setzte Ju sich auf und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Der Himmel war wolkenlos, die Fernsicht grandios. An Tagen wie diesen konnte man über das gesamte Tal hinwegschauen und nicht nur die Spitzen der Lechtaler Alpen erkennen, sondern auch im Hintergrund das Rätikon. Angeblich sollte man vom Großen Sonnenkogel, dem Hausberg der Sonnenkogelhütte, sogar die Drei Türme in den Dolomiten sehen können. Aber ob das wirklich stimmte, hatte Ju noch nicht herausfinden können. Wenn sie wirklich einmal mehr als zwei Stunden Zeit hatte, ruhte sie sich lieber auf ihrem Bett aus oder nutzte den einzigen Liegestuhl vor der Hütte. An Wandern dachte sie dabei nicht, auch wenn die herrliche Bergkulisse förmlich dazu einlud.
»Verdammt!«
Schon wieder Karl.
Ju stand auf, wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und ging zurück zur Sonnenkogelhütte. Karl stand auf der Leiter, die Basecap verkehrt herum, den Akkuschrauber in der Hand, ein paar Schrauben im Mund. Mit dem rechten Knie drückte er eine Latte gegen die Wand, damit sie nicht herunterfiel. Es sah umständlich aus, aber Karl wusste wohl, was er da tat.
»Was ist los? Kann ich dir helfen?«
Sie sah zu ihm auf, doch Karl schüttelte nur mit dem Kopf und nahm eine der Schrauben, um sie in den Balken zu drehen. Doch der Akkuschrauber gab nur ein verstocktes Schnurren von sich, ehe er stehenblieb.
»Der Akku ist leer. Mistding.«
»Soll ich dir einen Schraubendreher bringen? Welche Größe? Schlitz- oder Kreuzkopf?«
Karl sah von oben zu ihr herunter, die Leiter knarzte.
»Zehner. Kreuzkopf. Der liegt in der Kiste im Schuppen.«
»Ich weiß. Ich hole ihn dir schnell. Bleib du mal da oben und sorge dafür, dass die Latte nicht runterrutscht.«
Ju drehte sich schmunzelnd weg und ging zum Schuppen. Karl war ihr als Küchengehilfe vorgestellt worden. Zuerst hatte sie sich nichts dabei gedacht, denn wenn sie viele Gäste hatten, wurde es für Finn in der Küche wirklich stressig.
Aber schnell war ihr der Verdacht gekommen, dass Karl nicht wegen seiner Kochkünste auf der Hütte war, sondern eher als Handwerker. Das war auch nötig, denn auf der Berghütte gab es eigentlich ständig etwas zu tun. Mal hatte der immerwährende Wind Schindeln vom Dach gerissen, dann wieder war die Wasserleitung verstopft oder ein Stuhlbein abgebrochen.
Finn, der Hüttenwirt, war hauptsächlich in der Küche und mit der Bewirtung der Gäste beschäftigt. Er kochte, buk, rührte in Schüsseln und Töpfen, schnitt Gemüse und Fleisch und stand immer wieder mit dem Probierlöffel mit dem langen blauen Stiel in der Küche und spürte dem Geschmack seiner Speisen nach.
Finn war ein toller Koch, aber das Handwerkliche überließ er besser Karl.
Ju fand den Schraubendreher sofort und ging zurück auf die Rückseite der Hütte, um ihn Karl zu reichen. Der stand noch immer auf der Leiter und versuchte, die Latte an Ort und Stelle zu halten.
»Danke.« Er nahm ihr das Werkzeug ab und begann, die Schraube einzudrehen, ohne Ju weiter zu beachten.
»Finn? Du hast mich gerufen?«, fragte sie in den leeren Gastraum hinein.
»Hier!«
Ohne ein weiteres Wort wies der Hüttenwirt auf die Spülmaschine, auf der sich die schmutzigen Teller und jede Menge Tassen vom Frühstück stapelten.
Finn schenkte sich Kaffee ein und holte eine weitere Tasse aus dem Regal, die er ebenfalls mit Kaffee füllte und Ju reichte. Es war die gelbe Tasse mit dem angeschlagenen Rand. Ihre Tasse.
»Bevor es wieder richtig losgeht.«
Er lächelte, doch es wirkte müde und erschöpft.
»Wie viele Anmeldungen haben wir für heute Abend?«, fragte sie und nahm einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm und schmeckte bitter, aber sie ließ sich nichts anmerken. Finn war ein toller Koch, aber Kaffee kochen konnte er nicht.
»Bisher haben sich neun Leute angemeldet. Eine Familie mit Kind, zwei ältere Ehepaare und zwei Einzelpersonen. Die Familie kommt im Vierbettzimmer unter, die beiden Ehepaare zusammen im zweiten Vierer, die anderen schlafen im Matratzenlager.«
»Also gibt es wie geplant Kaiserschmarrn? Von den Personen her dürfte es ja reichen.«
So langsam hatte Ju heraus, wie man für eine größere Anzahl Menschen kochte. Auch wenn sie anfangs überhaupt keine Ahnung davon gehabt hatte. Eigentlich noch nicht mal vom Kochen, wenn sie ehrlich war.
Finn nickte.
»Heute ist Montag, da rechne ich nicht mit allzu vielen spontanen Gästen. Aber man weiß ja nie.«
»Soll ich dir in der Küche helfen? Oder hast du andere Aufgaben für mich?«
Ju stellte ihre leere Kaffeetasse auf das schmale Bord neben der Kasse und begann, das saubere Geschirr aus der Spülmaschine zu räumen und in den Schränken zu verstauen.
»Mit dem Abendessen komme ich allein zurecht. Aber du könntest noch mal die Vorräte durchgehen. In den nächsten zwei Wochen soll es sonnig und trocken sein, dann kommen wahrscheinlich mehr Gäste als in dieser Woche. Schreib alles, was fehlt, auf die Liste. Und wenn die voll ist, kannst du die Sachen im Tal bestellen, damit sie rechtzeitig bei uns hier oben sind.«
»Alles klar!«
Die Spülmaschine war leer, jetzt konnte sie das schmutzige Geschirr einräumen. Und anschließend würde sie im Schuppen nach den Vorräten schauen. Hoffentlich hatte Frodo, der dreifarbige Kater, dafür gesorgt, dass sich die Mäuse vom Vorratsschuppen fernhielten. In der Geisweider Hütte, der Nachbarhütte, hatte es in der letzten Saison Mäusebefall gegeben. Zum Glück für die Pächter war die Geisweider Hütte mit dem Auto erreichbar und nicht wie die Sonnenkogelhütte nur zu Fuß. Es war um einiges aufwändiger, die Vorräte mit der Materialseilbahn auf die Hütte zu schaffen als mit dem Auto.
»Justine!«
Valentin schaute kurz in ihr Büro.
»Kannst du mir mal bitte die Vorlage für das Moodboard schicken? Irgendjemand hat das Original auf dem Server bearbeitet. Das Logo ist jetzt oben links und der Orangeton ist verändert.«
Er seufzte theatralisch, dabei wussten sie beide, wer mit »irgendjemand« gemeint war. Benjamin, der Azubi. Er hatte den Job nur bekommen, weil sein Vater ein alter Geschäftspartner von Valentins und Marlenes Vater war. Jedenfalls nicht, weil er so gut mit Designprogrammen umgehen konnte.
»Ja, Moment bitte.«
Justine schloss das Fenster mit ihrem aktuellen Projekt und suchte die gewünschte Datei.
»Ist schon unterwegs!«, rief sie, doch Valentin war schon wieder in seinem Büro verschwunden.
Sie blickte auf die Uhr: gleich viertel nach vier. Wenn sie vor dem Termin am Abend noch ins Fitnessstudio gehen wollte, sollte sie langsam Feierabend machen. Auch wenn sie eigentlich gar keine Lust hatte – weder auf das Geschäftsessen mit Sieglinde von Allenberg, noch auf die langweilige Zeit auf der Yogamatte.
Aber was blieb ihr anderes übrig? Die Kanzlei von Allenberg wäre ein zahlungskräftiger Kunde und ein großer Wurf für die Werbeagentur. Edelpost Marketing würde damit in eine neue Liga aufsteigen. Und es war klar, dass es auch auf sie selbst ankam, ob die erhoffte Zusammenarbeit zustande kommen würde.
Dafür würde sie natürlich gern in das Sushi-Restaurant gehen und sich vorher auf der Yogamatte quälen. Nicht, dass sie außer Form geriet, wie Nico einmal scherzhaft zu ihr gesagt hatte.
Justine stand auf, strich ihren Rock glatt, nahm ihre Handtasche vom schmalen Kleiderständer und ließ die Bürotür mit einem leisen Klicken ins Schloss fallen.
»Valentin? Ich bin dann weg, wir sehen uns heute Abend!«
Niemand antwortete. Aber das hatte sie auch gar nicht erwartet. Wahrscheinlich saß ihr Kollege gerade an einem Moodboard und versuchte, das Logo an der richtigen Stelle zu platzieren.
»Justine!«
Kaum war sie an Marlenes Tür vorbeigegangen, wurde sie auch schon wieder zurückgerufen.
»Ja? Ich wollte eigentlich gerade gehen, noch ein bisschen Yoga machen und mich auf das Essen nachher einstimmen. Ich will mich gut vorbereiten«, erklärte sie ihrer Chefin, die gleichzeitig ihre beste Freundin war.
Marlene überlegte kurz und nickte dann.
»Du hast recht. Der Termin ist wirklich wichtig. Ehrlich gesagt bin ich auch aufgeregt.« Sie lachte nervös. »Aber ich versuche, mich mit Arbeit abzulenken.«
Marlene atmete geräuschvoll aus und strich sich durch die brünetten Haare. Im Büro trug sie ihre Haare meist zu einem strengen Zopf gebunden, aber wenn es darum ging, neue Kunden für Edelpost Marketing zu gewinnen, trug sie ihre lange Mähne offen.
Weil die zu gewinnenden Kunden meistens männlich waren und Marlene wirklich schöne Haare hatte. Zumindest schönere als Justine, die ihre dunklen Haare durch rötliche Highlights aufzupeppen versuchte – was ihrer Meinung nach auch nicht half. Aber was tat man nicht alles, um seriös und interessant zu wirken.
»Dann mach doch auch mal Yoga«, antwortete Justine halbherzig. In der Theorie half Yoga dabei, abzuschalten und nach einem stressigen Tag wieder runterzukommen, sich selbst zu spüren. In der Praxis waren die Übungen anstrengend und Justine hatte das Gefühl, nichts davon richtig zu machen. Denn entweder spürte sie während der Übungen gar nichts oder hatte am nächsten Tag Muskelkater aus der Hölle.
Da aber so viele Menschen Yoga machten, musste auch irgendwas dran sein. Sie musste einfach mehr üben.
»Josh, mein Trainer, hat mir auch schon nahegelegt, eine Matte mit ins Büro zu nehmen. Als ob ich mich hier im Büro auf den Boden lege und das krakeelende Huhn mache!«
Marlene lachte lauthals und strich sich erneut durch das offene Haar.
»Ich werde aber auch gleich gehen. Ich mach nur noch schnell die Vorlage fertig.«
Kaum hatte sie sich ihrem Computerbildschirm zugewendet, war sie schon so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie kaum merkte, wie Justine das Büro verließ.
Justine war klar, dass ihre Freundin mal wieder die Zeit vergessen und zu viel arbeiten würde.
Das war wohl auch der Grund, warum Marlene die Chefin war und nicht sie selbst.
Dabei hatten sie die Idee, eine eigene Marketingagentur aufzumachen, eigentlich gemeinsam gehabt.
Sie hatten sich gleich zu Beginn ihres Studiums kennengelernt und waren seitdem beinahe unzertrennlich. Marlene war zielstrebig, arbeitete oft bis an ihre Belastungsgrenze und hatte ihr Studium in Rekordzeit durchgezogen.
Justine war dafür der kreative Kopf, hatte immer wieder neue Ideen und ließ sich von Marlene mitziehen. Ohne ihre beste Freundin hätte sie für ihr Studium wahrscheinlich länger gebraucht, weil sie sich immer wieder in neuen Ideen verlor.
Aber zusammen waren sie fast unschlagbar. Was lag da also näher, als sich nach dem Studium gemeinsam selbstständig zu machen?
Sie hatten es geschafft, innerhalb der ersten drei Jahre gleich zwei Großkunden an Land zu ziehen. Das machte zwar jede Menge Arbeit, sicherte aber dafür ihre Jobs.
Doch je größer die Agentur wurde, desto komplizierter wurde alles. Da kam Marlenes Zwillingsbruder Valentin wie gerufen. Er hatte BWL und Medienrecht studiert und konnte nahtlos einsteigen. Doch mit Valentins Eintritt in die Agentur änderten sich auch die Strukturen, und sie entschieden sich, dass Marlene die Geschäftsführerin wurde und Justine eine – immerhin sehr gut bezahlte – Angestellte.
Manchmal ärgerte sie sich über diesen Deal, im Großen und Ganzen war Justine aber zufrieden damit. Sie wollte lieber kreativ arbeiten und nicht das volle Risiko des Betriebes tragen müssen. Dafür war sie, musste sie sich eingestehen, nicht mutig genug. Dieser Job passte viel besser zu Marlene als zu ihr.
Anfangs waren die neuen Rollen noch etwas ungewohnt gewesen, denn wer hatte schon seine beste Freundin als Chefin? Aber im Laufe der Zeit ruckelte sich alles zurecht und die Agentur begann, die ersten, süßen Früchte abzuwerfen.
Justine fand, dass sie es gar nicht besser hätte treffen können.
Das Essen mit Sieglinde von Allenberg sowie Valentin, Marlene und Justine verlief freundlich, aber verhalten.
Noch war unklar, ob der Vertrag zustande kommen würde.
Marlene hatte sich ins Zeug gelegt, war charmant und höflich, aber auch direkt und zielstrebig gewesen. Die Geschäftsfrau schien auf Marlenes Art anzuspringen, aber was der Abend wirklich gebracht hatte, würde sich erst noch zeigen.
Jetzt aber war Justine einfach nur müde.
Sie knöpfte die Bluse auf, streifte den engen Kostümrock ab und stellte sich kurz unter die warme Dusche.
Danach fühlte sie sich wohlig müde und öffnete die Schlafzimmertür.
Nico lag bereits im Bett. Es war dunkel, und die gleichmäßigen Atemzüge ließen darauf schließen, dass er längst schlief. Justine krabbelte unter ihre Bettdecke und kuschelte sich an Nicos warmen Körper. Er seufzte leise und Justine legte ihren Arm um seinen Körper, fühlte seine Wärme, nahm seinen Geruch in sich auf. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingerspitzen über die feinen Härchen an seinem Bauch, führte ihre Finger langsam zum Bauchnabel und ließ sie dort bewegungslos liegen, als ein erschöpfter Schlaf sie überwältigte.
»Guten Morgen, meine Liebe!«
Marlene empfing sie am nächsten Tag freudestrahlend im Büro.
Justine sah ihre Freundin erstaunt an.
»So gut gelaunt am frühen Morgen?«
»Früher Morgen?« Marlene lachte und zog Justine in die kleine Teeküche am Ende des Flurs. »Ich bin schon seit halb sieben hier und habe ein paar Projekte skizziert. Ich konnte nicht schlafen. Du weißt schon, das schwere Essen gestern Abend. Ich vertrage späte Mahlzeiten einfach nicht mehr.«
Marlene seufzte und strich sich über die Hüfte, auf der kein bisschen Speck saß.
»Du hast doch sowieso kaum etwas zu dir genommen«, erinnerte Justine sie an die wenigen Sushi-Häppchen, die den halben Abend auf Marlenes Teller gelegen hatten.
»Erst nachdem Valentin was gesagt hat, hast du überhaupt davon gegessen.«
»Ach«, wiegelte Marlene mit einer Handbewegung ab. »Ich habe mich voll auf das Gespräch mit Frau von Allenberg konzentriert, da verspüre ich einfach keinen Hunger.«
Sie füllte den Wasserkocher und stellte ihn an, dann nahm sie eine Tasse aus dem Schrank über der schwarzen Arbeitsplatte, auf dem die große Kaffeemaschine, zwei Induktionsplatten und die obligatorische Mikrowelle standen.
»Du auch?«
Ohne Justines Antwort abzuwarten, stellte sie eine zweite Tasse auf die Arbeitsplatte und füllte schwarzen Tee in zwei kleine Teesiebe, die sie über die Ränder der Tassen legte und mit dem mittlerweile kochenden Wasser aufgoss.
»Hast du denn schon von Frau von Allenberg gehört?«, wollte Justine wissen. »Dafür ist es doch eigentlich noch zu früh, oder?«
Marlene lachte. »Sie wird uns jetzt noch ein paar Tage zappeln lassen, aber ich gehe davon aus, dass sie sich spätestens am Montag meldet. Und zwar mit einer Zusage.«
Sie nahm die Teesiebe von den Tassen und legte sie in die Spüle aus Granit. Heißer Dampf stieg aus den Teetassen empor.
»Ich muss jetzt noch das Farbmuster für die Kampagne des neuen Griechen an der Alten Oper erstellen. Du weißt schon, der mit der Anwartschaft auf einen Stern.«
Und ehe Justine reagieren konnte, war Marlene auch schon wieder verschwunden. Sie nahm den heißen Tee und sah ihrer Freundin hinterher. Irgendwie war sie in letzter Zeit so unverbindlich geworden. Vor allem, wenn es ums Essen ging. Dabei war Essen früher immer ein wichtiges Thema für Marlene gewesen. Wie oft hatten sie zusammen in Justines WG-Küche gesessen und gemeinsam gekocht! Chili, asiatisches Gemüse, manchmal auch einfach nur eine große Schüssel Salat. Marlene war ein Genussmensch gewesen.
Heute hingegen war sie eine toughe Geschäftsfrau mit makellosem Äußeren.
Justine nahm ihre Tasse und ging zu ihrem Büro.
Wieder einmal dachte sie beinahe wehmütig an die alten Zeiten zurück, als sie einander noch näher gewesen waren.
Justine hatte fast den ganzen Vormittag damit verbracht, Azubi Benjamin die Grundfunktionen des Dashboards nahezubringen.
Es war mühsam, denn der Neunzehnjährige sah sich schon als Juniorchef zwischen Marlene und Valentin sitzen, dabei hatte er den Ausbildungsplatz nur über Beziehungen bekommen. An künstlerischem Talent oder besonderer Auffassungsgabe hatte es jedenfalls nicht gelegen, das war Justine schon in den ersten drei Wochen klar geworden.
Nur leider war sie diejenige, die sich hauptsächlich um den selbstbewussten Jungspund kümmern musste.
»Ich kann doch einfach die Dateien aus dem Pool implementieren«, erklärte er und sah Justine an. »Dann spare ich mir locker eine halbe Stunde Arbeit.«
»Das kannst du machen. Aber ohne Dokumentation wird das nichts. Und du weißt, dass wir hier nichts ohne gescheite Dokumentation machen. Entweder reißt dir dann Valentin den Kopf ab oder Marlene. Du kannst es dir aussuchen«, erklärte sie und versuchte, nicht genervt zu klingen. Doch das kam bei dem Azubi wahrscheinlich gar nicht an.
»Och, von Marlene würde ich mir gerne den Kopf abreißen lassen«, erklärte er mit einem angedeuteten Zwinkern.
»Von Valentin nicht?«
Justine sah ihn offen an, deshalb entging ihr auch nicht, wie sich Benjamins Gesicht verzog.
»Valentin macht das bestimmt genauso gut wie Marlene. Oder hattest du da eine bestimmte Art von Rüge im Kopf?« Benjamin zuckte zusammen und brummte unwirsch. Er beugte sich über die Tastatur, als würde er voller Konzentration auf den Bildschirm starren. Dabei konnte er nur schwer verbergen, dass Justine ins Schwarze getroffen hatte. Marlene war mindestens zwei Nummern zu groß für den Jungen, und auch Valentin würde sich hüten, sich ihm irgendwie zu nähern. Justine hatte zwar beobachtet, dass er dem neuen Kollegen ein paar Mal hinterhergeschaut hatte, aber spätestens, seit Benjamin sein wahres Gesicht als Nachwuchs-Womanizer zeigte, war Valentins Geduldsfaden merklich dünner geworden.
Benjamin war groß und sportlich und hatte ein hübsches Gesicht. Damit konnte er vielleicht Gleichaltrige beeindrucken, aber für eine Frau wie Marlene fehlte ihm einfach alles: Charme, Gewandtheit und, ja, auch eine gewisse Coolness. Auch wenn Benjamin sich selbst garantiert ziemlich cool fand. Was ihn wiederum sehr uncool machte, aber das musste er noch lernen.
»Ich hab Hunger und mach jetzt eine Pause.«
Justine erhob sich und sah auf ihre Armbanduhr.
»Um halb zwei machen wir hier weiter. Bis dahin habe ich noch einiges auf meinem eigenen Schreibtisch liegen. Autosalon Schröder zum Beispiel.«
Benjamin brummte wieder etwas, sah ihr aber nicht hinterher. Justine war froh, dass sie nicht in sein Beuteschema passte. Oder dass sie von Anfang an klar gemacht hatte, dass sie vergeben war. »Ich bin sozusagen verlobt«, hatte sie ihm schon innerhalb der ersten Woche mitgeteilt. Hinter ihrem Rücken hatte sie mit dem Daumen über den leeren Ringfinger gestrichen, aber das hatte niemand gesehen.
Irgendwann würde ihr Nico einen Heiratsantrag machen, da war sie sich ganz sicher. Sie hatten sich vor zehn Monaten die Wohnung im Westend gekauft – ein Altbau mit hohen stuckverzierten Decken und neuem Parkett, vier Zimmer, eine Wohnküche und ein Bad mit großer Badewanne. Sie hatten nie direkt darüber gesprochen, aber die Wohnung war wie gemacht für eine Familie mit einem oder zwei Kindern.
Während der Entscheidungsphase vor dem Kauf hatte Justine auch das nähere Umfeld in Augenschein genommen: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium – alles war fußläufig oder zumindest mit dem Fahrrad zu erreichen. Die Grundschule hatte wegen ihres Konzepts – zweisprachig Deutsch und Englisch – einen guten Ruf und auch der Kindergarten rühmte sich mit alternativen Konzepten.
Die perfekte Umgebung für das Kind zweier erfolgreicher Akademiker.
Justine lächelte bei dem Gedanken daran und stellte sich mal wieder eine Situation vor, in der Nico ihr einen Heiratsantrag machen würde. Vielleicht bei einem guten Essen, zum Beispiel bei dem Griechen an der Alten Oper? Oder auf einem Wochenendtrip nach Paris oder Rom – auf dem Eiffelturm oder der Spanischen Treppe, vielleicht auch einfach auf dem zerwühlten Hotelbett?
Ihr wurde warm ums Herz, wie immer, wenn sie an ihre Zukunft dachte.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, den Joghurt zu löffeln, den sie sich mitgebracht hatte.
Heute würde sie etwas früher Schluss machen als gestern. Später wollten Nico und sie ins Kino gehen und endlich mal wieder einen schönen Abend zu zweit verbringen. Zuerst essen gehen, dann ins Kino – und wer weiß, wie der Abend dann noch verlaufen würde. Justine freute sich, denn früher waren sie oft ins Kino gegangen. Seit sie jedoch beide an ihren Karrieren arbeiteten, blieb die Beziehung manches Mal auf der Strecke.
»Hey, Schatz!«
Nicos Stimme klang durchs Handy leicht verrauscht.
»Ich hab leider eine schlechte Nachricht. Mein Chef hat mich dazu verdonnert, heute Abend mit den Gästen aus Korea noch in die Stadt zu gehen. Ein bisschen Sightseeing, der Römer, Sachsenhausen, Äbbelwoi. Du weißt schon.«
Er seufzte. »Dabei habe ich überhaupt keine Lust, ich hatte mich schon so aufs Kino gefreut. Endlich mal wieder was mit dir unternehmen. Aber ich hatte keine Chance. Marcel muss auf seine Kinder aufpassen, weil seine Frau zum Elternabend geht, und Lisa kann mit ihrem verstauchten Knöchel ...« Er machte eine kurze Pause. Wartete, dass Justine etwas sagte.
»Ja, schon gut«, antwortete sie, obwohl es alles andere als gut war. Schon wieder war Nico abends unterwegs, schon wieder hatte sein Chef ihm kurzfristig einen Termin aufgebrummt. »Ich weiß ja, wofür es ist.«
Aber tat sie das wirklich? Nico war ehrgeizig, wollte schnell weit aufsteigen, hatte deswegen nach seiner Ausbildung als Bankkaufmann direkt Bachelor und Master hintendran gehängt. Bisher ging seine Rechnung auf. Er war seiner Schweizer Bank treu geblieben und wurde von seinem Chef auch reichlich dafür belohnt. Er sah etwas Besonderes in Nico, das merkte man immer wieder.
»Danke, du bist ein Schatz!« Nico klang erleichtert.
Es hatte auch Zeiten gegeben, in denen sie sich wegen Nicos hohen beruflichen Einsatzes oft gestritten hatten. Justine fühlte sich auch heute noch manchmal zurückgesetzt, aber sie hatte ihre freie Zeit schnell mit Hobbys und Freundschaften ausgefüllt. Irgendwann würde es bei Nico auch wieder besser werden.
Viele Gespräche waren nötig gewesen, um Verständnis füreinander aufzubringen, aber der Kauf der Wohnung hatte Justine besänftigt. Sie hatten sich an dem Abend, nachdem sie den Kaufvertrag unterschrieben und darauf mit einer Flasche Veuve Cliquot angestoßen hatten, so heftig geliebt wie seit ihren Anfangstagen nicht mehr. Da war ihr klar geworden, dass sie jetzt endgültig erwachsen waren, ein selbstständiges Leben führten und ihnen zur Erfüllung ihrer Wünsche nun fast alle Türen offen standen. Sie mussten nur diese anstrengende Phase Anfang Dreißig überstehen, dann würde es besser.
Und danach war auch noch genug Zeit für Kinder. Aber dafür mussten sie sich eben zuerst einen stabilen Unterbau schaffen, wie Nico immer wieder betonte.
»Natürlich bin ich ein Schatz!«, erwiderte Justine, während in ihrem Gehirn die Alternativen für den Abend durchratterten: Alleine ins Kino gehen? Nein, sie würden den Film eben an einem anderen Abend anschauen. Etwas Leckeres kochen und es sich zu Hause auf der Couch bequem machen? Wäre eine Möglichkeit. In die Sauna gehen und anschließend einen Film streamen? Wenn es draußen so warm war wie heute, ging sie nicht gern in die Sauna.
»Danke! Und den Kinobesuch holen wir auf jeden Fall nach!«
Nico schickte ihr einen Kuss durchs Telefon und legte auf.
Justine ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. Sie hatte sich so auf den gemeinsamen Abend mit Nico gefreut. Und schon wieder funkte sein Chef dazwischen. Ja, auch wenn sie wusste, wofür Nico sich so einsetzte und auch weit über die normalen Arbeitszeiten hinaus arbeitete – es gab Momente, da schmerzte es sie. Dann fühlte sie sich wieder zurückgesetzt und nicht wertgeschätzt. Fast wie damals während des Studiums, als ihr Tim, in den sie so heftig verliebt gewesen war, einen Korb gegeben hatte. Das hatte sie ziemlich gekränkt. Andererseits: Nur deswegen hatte sie Nico kennengelernt. Wie hieß es so schön? Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich dafür eine andere. Und in ihrem Fall war die neue Tür definitiv besser als die alte. Tim hatte, soweit sie wusste, nicht einmal sein Lehramtsstudium beendet.
Justine nahm sich ein paar Weintrauben aus der Schale neben ihrer Tastatur. Nervennahrung.
Dann würde sie eben Marlene fragen. Vielleicht hatte ihre Freundin ja Zeit für ein oder zwei Cocktails und Tapas. Das hatten sie schon lange nicht mehr gemacht.
Justine ging zu Marlenes Büro, doch die telefonierte gerade und wandte der offenen Tür den Rücken zu. Sie stand am Fenster und blickte zur Skyline von Frankfurt, auf die hohen Bürohäuser im Bankenviertel, auf den Messeturm und den irgendwo dazwischen schlängelnden Main.
Marlenes Silhouette war gertenschlank, wohlgeformt, die langen brünetten Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten. Er galt schon fast als ihr Markenzeichen. Wenn man sie von Außen betrachtete, hatte Marlene alles, was man kaum zu träumen wagte: Sie war klug, beruflich sehr erfolgreich, ehrgeizig, konnte sich einen komfortablen Lebensstil leisten und sah beinahe perfekt aus.
Doch wo Licht war, war auch Schatten. Justine wusste, dass sich Marlene keine Fehler erlaubte, dass sie sich beim Essen stark kontrollierte, dass sie jeden Morgen schon vor der Arbeit joggen ging. Das war nicht mehr die Marlene, mit der sie sich während des Studiums angefreundet hatte, mit der sie abends durch Sachsenhausen gezogen war und die in einer schmuddeligen WG mit drei Jungs gewohnt hatte. Die Studentin Marlene konnte abends feiern und morgens trotzdem Prüfungen absolvieren oder Referate halten.
Aber diesen Lebensstil konnte man sich natürlich nicht mehr erlauben, wenn man eine erfolgreiche Werbeagentur leitete und große Kunden wie Sieglinde von Allenberg begeistern wollte.
In diesem Leben hatten Männer keinen Platz mehr, und Marlene mied das Thema, wenn Justine sie darauf ansprach. »Ach, wenn ich alt bin, kann ich mir immer noch einen passenden Mann suchen«, hatte sie einmal lachend erklärt. »Der will dann hoffentlich keine Kinder, keine Heirat und kein Reihenhaus.«
So war Marlene. Entweder ganz oder gar nicht.
Justine merkte, dass sie noch immer im Türrahmen stand und ihre Freundin anstarrte.
Nein, sie würde Marlene nicht fragen, ob sie mit ihr in die Tapas-Bar gehen würde. Sie würde ohnehin nur an einem Häppchen knabbern und am Wasser nippen. Das war nicht das, was Justine heute Abend brauchte.
Dann ging sie eben ins Fitnessstudio, da war sie in dieser Woche sowieso noch nicht gewesen und es wurde Zeit, mal wieder richtig ins Schwitzen zu kommen.
Justine wachte am nächsten Morgen kurz vor dem Weckerklingeln auf, weil ihr übel war. Sie wälzte sich von links nach rechts und wusste gar nicht, wie sie liegen sollte. Nico neben ihr brummte etwas, schaltete dann aber das Licht ein.
»Was ist?«
Er sah sie schlaftrunken an. Seine dunklen Haare standen wirr vom Kopf ab, auf Kinn und Wangen lag ein leichter Schatten, die Stimme war belegt.
»Ich weiß nicht, mir ist total übel«, presste Justine hervor und hielt sich den Bauch. »Ich gehe besser ins Bad, bevor hier noch ein Unglück geschieht«, versuchte sie es mit einem Scherz, aber Nico lachte nicht, sondern sah sie nur besorgt an.
»Kann ich irgendwas tun? Soll ich dir einen Tee kochen?«
Justine nickte und eilte ins Bad. Die Übelkeit war zwar noch da, aber nicht so stark, dass sie sich übergeben müsste. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und schöpfte Wasser mit beiden Händen ab, um sich das Gesicht zu waschen. Als sie den Kopf hob und dabei in den Spiegel sah, erschrak sie. Sie sah bleich aus, die Augen wirkten unnatürlich dunkel.
Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke und sie stand stocksteif vor dem Waschbecken. Was, wenn sie schwanger war? Ihr Gesicht wurde heiß und kalt zugleich, ihr Herz begann heftig zu schlagen. Konnte das sein?
In der vergangenen Woche hatten sie mehrmals miteinander geschlafen, öfter sogar als in der Zeit davor. Aber sie hatte doch die Spirale zur Verhütung – war die womöglich nicht mehr sicher? Was sollte sie jetzt tun? Was musste sie jetzt tun?
»Justine?«
Es klopfte an der Badezimmertür. Nico.
»Ist alles klar bei dir?«
»Ja, alles okay! Ich komme gleich!«
Hauptsache, Nico kam nicht rein. Nicht jetzt.
»Ich hab dir einen Kamillentee gemacht, die Tasse steht auf dem Esstisch!«
»Danke!«
Langsam klarten Justines Gedanken wieder auf. Bloß nicht verrückt machen! Und vor allem: erst einmal einen Schwangerschaftstest machen. Wie blöd, dass sie keinen dahatte! Das musste sie unbedingt ändern. Sobald Nico ihr einen Heiratsantrag machte, würde sie die Spirale entfernen lassen. Das hatte sie sich schon vor langer Zeit zurechtgelegt. Aber sollte jetzt alles anders kommen als geplant?
»Ruhig, Justine«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.
Sie würde Nico noch nichts verraten, sondern zuerst morgen früh einen Schwangerschaftstest machen. Dann konnte sie ihm entweder zur Vaterschaft gratulieren oder den Test unbemerkt unten an der Straße in der Tonne entsorgen, als wäre nichts geschehen. Kinder waren schon seit einigen Monaten kein Thema mehr zwischen ihnen gewesen, sie wusste nicht, wie Nico reagieren würde. Deshalb wollte sie sich lieber darauf vorbereiten und nicht jetzt schon mit ihrem Verdacht herausplatzen.
Wie er wohl reagieren würde? Würde er ihr dann einen Antrag machen?
Justine stellte sich unter die Dusche, ließ das warme Wasser auf ihren Körper prasseln und streckte ihr Gesicht in den Rainshower-Strahl. Die Übelkeit war abgeschwächt und nur noch wahrnehmbar, wenn sie genau in sich hineinhorchte.
Ob die Schwangerschaftsübelkeit wohl lange bleiben würde? In verschiedenen Foren hatte sie gelesen, dass die Übelkeit bei vielen Frauen nach dem dritten Monat verschwand.