Kaliber .64: Im Dickicht - Gabriele Wolff - E-Book

Kaliber .64: Im Dickicht E-Book

Gabriele Wolff

3,8

Beschreibung

In die kleinbürgerliche Idylle, die sich Kerstin auf dem brandenburgischen Land geschaffen hat, schleicht sich ein ungutes Gefühl. Während ihr Mann angeblich auf Geschäftsreise ist, erhält sie einen Brief, der sie auffordert, ihn endlich für seine wahre Liebe frei zu geben. Die Nachbarn scheinen sie zu beobachten. Und ihr Mann meldet sich nicht mehr. Eines Tages findet sie ihren Kater übel zugerichtet tot vor ihrer Haustür ... Ein Psychothriller erster Güte.

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Gabriele Wolff, 1955 in Düsseldorf geboren, arbeitet als Oberstaatsanwältin in Neuruppin. Die erfolgreiche Krimiautorin veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen, zuletzt Ein dunkles Gefühl (Haymon Verlag).Das dritte Zimmer erhielt 2004 den Friedrich-Glauser-Preis. Mehr zur Autorin unter www.gabrielewolff.de

Gabriele Wolff

IM DICKICHT

Krimi Nautilus

KALIBER .64

Edition Nautilus

Verlag Lutz SchulenburgSchützenstraße 49 aD-22761 Hamburgwww.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehaltenDie Krimireihe»Kaliber .64« wirdherausgegeben vonVolker Albers© Edition Nautilus 2006Umschlaggestaltung:Maja Bechert, Hamburgwww.majabechert.deOriginalveröffentlichungErstausgabe Januar 2007Print · ISBN 978-3-89401-543-5eBook · ISBN 978-3-86438-017-4 (ePub)

Man hätte ihr eigentlich beim Wachsen zusehen können. Gestern ein zarter Spross mit zwei, drei Blättern, heute schon eine Ranke, die sich gierig der neben ihr stehenden Malve zuneigte. Einmal musste man ihn doch miterleben, diesen Moment, wenn die Zaunwinde spürt, dass da etwas in ihrer Reichweite ist. Etwas, an dem sie sich emporranken kann. Linksherum, das ist ihr Programm, immer linksherum, sich teilen, größer und stärker werden, die Blätter riesig und schattenwerfend, immer höher und weiter hinauswachsen; und wenn sie dann den Nachbarn gefesselt, erwürgt und überwuchert hat, beginnt die zitternde Suche nach Halt erneut. Jedes Jahr der Kampf gegen die Zaunwinde, die sie tatsächlich nur am Zaun selbst duldete. Nein, die sie dort haben wollte. Und noch nie hatte sie diesen magischen Augenblick miterlebt. Aber länger als zehn Minuten konnte Kerstin nicht untätig an ein und derselben Stelle am Rand des Beetes hocken. Nein, wirklich nicht. Wer weiß, wie viele Augen sie bereits beobachteten. Hier, an dieser Stelle, hatte sie den Kampf gegen den Feind schon gewonnen. Da war nur noch eine Sache zu erledigen. Sie beugte sich vor und zog die Ranke weg vom Licht, weg von der Malve und ihren anderen Lieblingen, dem Phlox, den Lilien, dem Fingerhut. Kerstin flocht sie um den Draht des Zaunes. Der Winde war es gleichgültig, ob sie tötete oder dekorierte. Sie folgte ihrem Programm. Morgen schon wäre sie auf dem Weg nach oben, so wie die anderen Windenranken, die Kerstin gestern umgeleitet hatte. Weg von der Rose, auf die Bernd so stolz war. Kerstin betrachtete die roten Kratzer auf ihren Unterarmen. Sehnige, solariumgebräunte Unterarme mit Kratzern, die nicht mehr bluteten. Sie wusste, dass Bernd wieder diesen Satz sagen würde, Ende Juni, Anfang Juli, wenn die Rose büschelweise rot leuchtete und ihre Zweige sich unter der Last der Blüten senkten. ›Die habe ich mal als Bodendecker gekauft, und nun ist sie schon höher als der Zaun!‹, und sie würde wieder überlegen, ob sie ihren Mann zur Abwechslung einmal ernsthaft darauf hinweisen solle, dass sie es sei, Kerstin, die seine Rose hegte und pflegte, von Läusen befreite, vor der Zaunwinde beschützte, sie schnitt, goss, düngte und ihre verwelkten Blüten entfernte … Vermutlich würde sie in wenigen Wochen dasselbe sagen wie immer, irgendeinen Scherz machen über seinen grünen Daumen, der zumindest beim Einkaufen prächtig funktioniere. Woraufhin sie dann beide würden lachen können. Er verstand schon.

Der Winter hatte viel zu lange gedauert. Und jetzt, Mitte Mai, der immer noch kalt und regnerisch gewesen war, hatte die Zaunwinde das Drahtgeflecht des Zauns erst bis zur halben Höhe erobert, lückenhaft und nicht sehr überzeugt von ihrem späteren Sieg. Da war noch kein Schimmer von der blickdichten grünen Wand mit den schönen weißen Blütenkelchen, die Kerstin kaum erwarten konnte. Auch die beiden Weinstöcke ließen sie im Stich, wuchsen, wie sie wollten, nicht in die Breite, sondern in die Höhe. Am Schlimmsten war die rätselhaft kahle Stelle am Zaun neben der Terrasse. Überall im Beet schoss die Winde hoch, bereit zur Attacke, nur dort nicht, wo Cindy im Nachbargarten ihren Liegestuhl aufzustellen pflegte. Dabei wurde sie gar nicht braun. Weißer Babyspeck von Blondies wird zuerst rosa und dann rot. Ein unappetitlicher Anblick. Bernd musste unbedingt ein paar Efeupflanzen aus dem Gartenmarkt mitbringen. Sie könnte ihm ja verschweigen, wohin genau sie sie pflanzen wollte. Im vorletzten Jahr waren an dieser Stelle von drüben ein paar wilde Wicken in ihren Garten hineingewachsen, hatten sich durch das Drahtgeflecht gezwängt und wunderbar rosa-violett geblüht. Die hatte die kleine Cindy im letzten Jahr gekappt. Bestimmt. Ihre Eltern waren zwar verdammte Preußen, wie alle hier in diesem brandenburgischen Provinzstädtchen, aber die Wicken wurzelten im Niemandsland zwischen den beiden Backsteinreihen, die die natürliche Grenze bildeten. Die Wicken entweihten den gepflasterten Hof der Werbelows mit seinen winzigen Beeten und den hässlichen Plastiktöpfen mit Stiefmütterchen, Studentenblumen und fleißigen Lieschen doch in keiner Weise! Gegen den Löwenzahn, der dort in dem Zwischenraum jenseits des Drahtgeflechts wuchs, hatten sie schließlich auch nichts unternommen. Allerdings verpestete der mit seinen federleichten Samen, die sogar das grüne Bollwerk überwanden, auch nur Kerstins Rasen; die Werbelows hatten ihren eigenen ja wohlweislich unter pflegeleichten Asphaltplatten begraben …

Kerstin stand auf und zertrat zwei Schnecken, die gerade auf die Primel in der ersten Reihe zukrochen. Zwei mit Häuschen. Es knackte zwar widerlich, ein Geräusch, das ihr durch Mark und Bein ging; aber lieber dieses kurze, kleine Geräusch als die Schleimspur auf der Handfläche, wenn sie sie zur Biotonne trug oder zum Regenwasserbehälter, in dem sie oben schwammen und um ihr Leben kämpften, jedenfalls sah es so aus. Oder an den Seitenwänden der Tonne hochkrochen und sich an der Innenseite des Deckels festkrallten und kopulierten. Als ob es für so was niemals zu spät sei … Sie konnte die Schnecken nicht schonen, jetzt nicht mehr, denn auch das seit Jahren leerstehende Nachbarhaus auf der anderen Seite war seit wenigen Wochen wieder bewohnt. Der Dschungel, der das Kopfsteinpflaster des Hofes bedeckt hatte, war gerodet worden. Das Schneckenparadies jenseits der hohen Mauer gab es nicht mehr. Kerstin wühlte in der fetten, schwarzen Erde. Die war das Beste an diesem Grundstück fern der Heimat. Nicht Brandenburger Sand, sondern fruchtbarste Erde hatte unter dem alten Kopfsteinpflaster geduldig auf den Tag gewartet, an dem sie wieder Sonne und Luft trinken konnte. Kerstin zerkrümelte eine Handvoll Erde über den toten Schnecken. Asche zu Asche, Staub zu –

»Junge Frau, träumt sie schon wieder?« Der Alte schaute aus seinem Küchenfenster im zweiten Stock über die Mauer hinweg. An diese altmodische Form der Anrede würde sie sich wohl nie gewöhnen …

»Nein, eigentlich nicht, ich habe nur ein wenig gejätet …« Hoffentlich hatte er ihr rituelles Schneckenbegräbnis nicht gesehen. Er würde sie für verrückt erklären. Andererseits hatte er nach wenigen Minuten, so waren die Leute hier, direkt, neugierig, unverfroren, herausbekommen, dass sie aus dem Westen kam und Großstädterin war. Das erklärte einiges.

»Ihr Michael kommt gerade um die Ecke. Und Ihr Max sitzt bei uns auf dem Hof und weiß nicht, wie er nach Hause kommen soll.« Er wusste wirklich alles. Sie dagegen hatte bereits seinen Namen vergessen. Vielleicht wusste er sogar, wann ihr Bernd um die Ecke kommen würde? Sie zwang sich zur Ruhe.

»Ja, danke, ich komme gleich!«