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Kaltblütig: Während neue Verbrechen die Hamburger Mordkommission in Atem halten, bekommt Wegner es mit seinem bisher schwersten Fall zu tun. Der heißt Kevin, ist vierzehn Jahre alt und seinen zumeist rotzfrechen Altersgenossen sogar noch ein gutes Stück voraus. Was wie eine vernünftige Arbeitsteilung beginnt, zieht von Stunde zu Stunde weitere Kreise. Trotz Gegenwind von höchster Stelle lassen die Kommissare nichts unversucht, um auch dieses Mal die Verantwortlichen hinter Gitter zu bringen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der in einer ausgewachsenen Katastrophe enden könnte … (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Kaltblütig: Wegners letzte Fälle
Hamburg Krimi
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.11
Cover: Titel: Tim T. / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile ausdrücklich jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)
Meine lieben Testleser Birgit, Lia und Nicolas
Bisher aus der Reihe Wegners erste Fälle:
»Eisiger Tod« (Teil 1)»Feuerprobe« (Teil 2)»Blinde Wut« (Teil 3)»Auge um Auge« (Teil 4)»Das Böse« (Teil 5)»Alte Sünden« (Teil 6)»Vergeltung« (Teil 7)»Martin« (Teil 8)»Der Kiez« (Teil 9)»Die Schatzkiste« (Teil 10)Aus der Reihe Wegner & Hauser:
»Mausetot« (Teil 1)»Psycho« (Teil 2)Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
»Der Hurenkiller« (Teil 1)»Der Hurenkiller – das Morden geht weiter …« (Teil 2)»Franz G. - Thriller« (Teil 3)»Blutige Rache« (Teil 4)»ErbRache« (Teil 5)»Blutiger Kiez« (Teil 6)»Mörderisches Verlangen« (Teil 7)»Tödliche Gier« (Teil 8)»Auftrag: Mord« (Teil 9)»Ruhe in Frieden« (Teil 10)Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
»Kaltes Herz« (Teil 1)»Skrupellos« (Teil 2)»Kaltblütig« (Teil 3)»Ende gut, alles gut!« (Teil 4)»Mord: Inklusive« (Teil 5)»Mörder gesucht« (Teil 6)»Auf Messers Schneide« (Teil 7)»Herr Müller« (Teil 8)Aus der Reihe Hannah Lambert ermittelt (Friesenkrimis):
»Ausgerechnet Sylt« (1)»Eiskaltes Sylt« (2)»Mörderisches Sylt« (3)»Stürmisches Sylt« (4)»Schneeweißes Sylt« (5)»Gieriges Sylt« (6)»Turbulentes Sylt« (7)Aus der Reihe Zwischem Mord und Ostsee:
»Nasses Grab« (Teil 1)»Grünes Grab« (Teil 2)Aus der Reihe Auftrag: Mord!:
»Der Schlitzer« (Teil 1)»Deutscher Herbst« (Teil 2)»Silvana« (Teil 3)Unter meinem Pseudonym "Thore Holmberg":
»Marthas Rache« (Schweden-Thriller)»XIII« (Thriller)Ansonsten:
»Zwischen Schutt und Asche« (Nachkriegs-Krimi/Hamburg 1946)»Zwischen Leben und Tod« (Nachkriegs-Krimi/Hamburg 1946)»Blutrausch: E.S.K.E. - Thriller« (Serienstart)»Wiener Blut: E.S.K.E. - Thriller« (Teil 2)»Ansonsten lächelt nur der Tod«
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Während neue Verbrechen die Hamburger Mordkommission in Atem halten, bekommt Wegner es mit seinem bisher schwersten Fall zu tun. Der heißt Kevin, ist vierzehn Jahre alt und seinen zumeist rotzfrechen Altersgenossen sogar noch ein gutes Stück voraus. Was wie eine vernünftige Arbeitsteilung beginnt, zieht von Stunde zu Stunde weitere Kreise. Trotz Gegenwind von höchster Stelle lassen die Kommissare nichts unversucht, um auch dieses Mal die Verantwortlichen hinter Gitter zu bringen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der in einer ausgewachsenen Katastrophe enden könnte …
»Kaltblütig« ist Teil 3 der neuen Serie »Wegners letzte Fälle«
(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
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»Busch, machen Sie Platz, verdammt! Sonst ...«
»Cheffe ... wenn wir das Teil aufmachen, gibt es danach wahrscheinlich kein Zurück mehr.« Detlef Busch stellte sich Wegner direkt in den Weg. Der war drauf und dran, die Türen eines LKW-Kühlaufliegers zu öffnen. Davon standen auf dem riesigen Speditionsgelände, sauber aufgereiht, an die dreihundert Stück. Hier und dort dröhnte eine der Kühlmaschinen und spuckte Qualmwolken in den Nachthimmel.
»Glauben Sie etwa, ich bin ’ne halbe Stunde über diesen Scheißplatz geirrt, um jetzt den Schwanz einzuziehen?« Wegner leuchtete Busch mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Rundherum war es stockfinster. Abgesehen von ein paar Scheinwerfern, die einige Ecken des Geländes bestenfalls in Zwielicht tauchten, herrschte schwärzeste Nacht.
Wegners Lichtstrahl aus einer museumsreifen Lampe, die man am ehesten als trübe Funzel bezeichnen konnte, wanderte an der nächsten Reihe von Aufliegern entlang. »Was machen die bloß mit den ganzen Kisten?«
»Im Güterkraftverkehr rollen täglich etwa hunderttausend Stück davon über Europas Straßen. Beladen mit Fleisch, Fisch, Gemüse oder brandneuen Hightech-Geräten, die nur klimatisiert transportiert werden dürfen.«
»Ich sag’s ja, Busch ... Sie hätten Lehrer werden sollen.« Wegner lachte über seinen eigenen Scherz. »Im Prinzip ist es mir völlig egal, ich will nur wissen, was in dieser Kiste steckt.« Wie bestellt, sprang jetzt beim nächsten Auflieger in der Reihe die Kühlmaschine an. Anfänglich tat sich der Dieselmotor noch etwas schwer und ließ die Aufbauten rundherum erzittern. Kurz darauf schnurrte er wie eine Nähmaschine.
»Wir sollten endlich loslegen«, drängelte Wegner. »Hören Sie das?«
»Was denn?«
»Mein Bett ruft!«
Busch lachte kopfschüttelnd. »Vielleicht ist es manchmal gar nicht so falsch, auf die anderen zu hören.«
»Wen meinen Sie ... mein Bett?«
»Natürlich nicht! Aber wir könnten den Wahnsinn hier auch einfach lassen und nach Hause fahren.«
»Sie wollten doch unbedingt weitermachen!« Wegner protestierte noch grimmiger. »Sie haben zwei Morde und zwei Täter ... aber das reicht unserem Gipfelstürmer ja anscheinend nicht mehr.«
»Sie haben recht, Cheffe«, gab Busch mit gequälter Stimme zurück. »Wenn Sie wollen, unterschreibe ich die Kapitulation.«
»Klingt gut! Bei der Gelegenheit können Sie Ihre Eier dann gleich neben die von Bachmeier packen und sie der lieben Frau Graf auf den Schreibtisch legen. So, wie ich Ihre Chefin kenne, freut die sich sogar darüber.« Wegner fuchtelte wütend mit seiner Taschenlampe herum. »Machen Sie gefälligst Platz!« Er schob sich am jungen Kommissar vorbei und griff sofort nach den ersten zwei Türverschlüssen. Die Drehstangen knirschten, aber die Tür wollte sich keinen Millimeter bewegen.
»Das ist der Unterdruck«, klärte Busch seinen früheren Chef in altklugem Ton auf. »Wenn sich die Kiste auf fünfundzwanzig Grad minus abkühlt, dann zieht sie sich zusammen. Das sieht man natürlich nicht, aber man merkt es.«
»Was Sie nicht sagen, Kommissar Klugscheißer!« Wegner zog erneut an den Verschlüssen, musste allerdings auch diesen Versuch schnell für gescheitert erklären. »Statt hier dummes Zeug zu labern, sollten Sie lieber mal mit anpacken. Aber mit Arbeit hat es der junge Herr ja nicht so.«
»Was soll das denn bedeuten?« Auch Busch wedelte mit seiner Taschenlampe herum. Deren Lichtkegel stach wie eine Säule empor, denn es war nicht nur stockfinster, sondern nieselte auch seit einigen Minuten. »Was heißt das, ich hätte es nicht so mit der Arbeit?«
Anstelle einer Antwort deutete Wegner auf das zweite Paar Verschlüsse, welche die linke Tür des Kühlers in Zaum hielten. Detlef Busch langte vorsichtig danach und wollte gerade etwas sagen, als Wegner ihm zuvorkam: »Langsam wundert mich gar nichts mehr! Wenn Sie zupacken, sieht es aus, als würden woanders zwei loslassen.«
Kurz entschlossen hatte Busch die beiden Verschlüsse entsichert und zog mit aller Kraft daran. Und weil Wegner es ihm auf der anderen Seite gleichtat, öffneten sich die Türen endlich mit lautem Schmatzen. Kaum hatten sich die Druckverhältnisse ausgeglichen, schlug den Kommissaren eisige Luft entgegen.
»An der Seite kann man die Türen einhaken«, informierte Wegner seinen jungen Kollegen.
Der linste grinsend um die Ecke, denn die linke Tür war bereits arretiert. »Ein kleines Stück hochziehen und einfach reinschieben – dann klappt’s am besten.« Busch leuchtete in den Auflieger. Die Eiseskälte verwandelte jeden Atemzug in eine ausgewachsene Dampfwolke. »Das Ding ist leer«, stellte er mit frustrierter Stimme fest. Seine Worte hallten auf seltsame Weise in dem riesigen Aufbau wider. »Wer kühlt denn eine leere Kiste?«
Wegner beschäftigte sich mit dem Heck des Aufliegers auf der Suche nach einer Leiter oder einem ähnlichen Hilfsmittel. Ansonsten kam das Hineinklettern – die Ladefläche lag in etwa anderthalb Metern Höhe – einer sportlichen Höchstleistung gleich. Nach kurzem Suchen fand er eine Stahlleiter, die man herausziehen und herunterklappen konnte. Und nur einen Atemzug später stand er bereits auf deren erster Sprosse.
»Wollen Sie das wirklich, Cheffe?« Buschs letzter Versuch, Wegner doch noch von einer unüberlegten Wahnsinnstat abzuhalten. »So, wie’s aussieht, ist das Ding ohnehin leer. Vielleicht belassen wir es dabei. Manchmal kann es auch besser sein, einfach wegzuschauen. Was meinen Sie?«
Wegner nahm schon die nächsten Sprossen. Seine Art, eine Antwort zu geben.
»Ich rufe lieber Verstärkung.« Detlef Busch hatte sein Handy herausgeholt, zögerte jetzt aber doch.
»Verstärkung ... um einen leeren Kühlauflieger zu durchsuchen, oder was?« Wegner war auf der Ladefläche angekommen und schaute kopfschüttelnd zu seinem Kollegen hinunter. Als er fortfuhr, klang er nicht nur genervt, sondern wütend: »Hier drinnen stinkt es wie der Topf mit Hühnersuppe, den ich zwei Wochen lang im Backofen vergessen habe. Also steigen Sie entweder auch hier hoch oder stehen wenigstens vernünftig Schmiere.« Er hielt Busch eine Hand entgegen. »Was ist jetzt ... wollen Sie mit mir suchen oder unten bleiben? Bei Ihnen komme ich mir manchmal wie ein Kindergärtner vor!«
Detlef Busch verzichtete auf jeglichen Protest und schuf stattdessen Tatsachen. Keine fünf Atemzüge später stand er neben Wegner und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den – zumindest auf den ersten Blick – leeren Laderaum wandern. Sein nächstes Fazit fiel entsprechend nüchtern aus: »Das Ding ist wirklich leer. Hier ist nix.«
Auch Wegner hatte sich umgedreht. Der Strahl seiner Lampe wanderte an den Wänden des Kühlaufliegers entlang. »Und was ist das da hinten?« Der Lichtkegel tanzte an einer Wand, die sich quer zur Fahrtrichtung erhob. Daran waren, etwa mittig, zwei riesige Ventilatoren zu finden.
»Sieht wie ’ne Trennwand aus«, stellte Busch fest und machte einen Schritt nach vorne. »Also kann man die Kiste unterteilen.«
Wegner hatte seinen Kollegen überholt und eine stabile Schlaufe in der Hand, mit der man das Ungetüm augenscheinlich öffnen konnte. Nach einem kräftigen Ruck bewegte sich die Trennwand, fuhr allerdings nur bis zur Hälfte empor. »Das Scheißding klemmt!«, keuchte er nach zwei weiteren erfolglosen Versuchen.
»Macht nichts, Cheffe. Lassen Sie mich das mal machen – auch wenn ich es mit Arbeit ja nicht so habe.« Detlef Busch ging in die Knie und leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Raum hinter der Wand. Als sein Kopf zurückkehrte, war sogar im Halbdunkel zu erkennen, wie sich sein Gesicht spontan von jeglicher Farbe verabschiedete.
»Was ist dahinter?«, moserte Wegner sofort. »Reden Sie, verdammt!«
Anstelle einer Antwort raste Busch zum hinteren Ende der Ladefläche. Dort entleerte er seinen Mageninhalt. Und weil Wegner von seinem Kollegen offensichtlich keine vernünftige Antwort zu erwarten hatte, ging er jetzt selbst in die Knie.
Hinter der Trennwand bot sich ihm ein unbeschreiblicher Anblick. Nach etlichen Jahren in der Mordkommission war er sich so gut wie sicher, mittlerweile wohl die meisten schrecklichen Abarten gesehen zu haben, zu denen Menschen fähig waren. Dieses Bild allerdings, im Licht seiner trüben Funzel noch um einiges erschreckender, übertraf alles bisher Dagewesene.
Wolfgang Harms alias Warhammer saß an seinem Schreibtisch. Der Computerfreak hackte genervt auf einer Tastatur herum und gab dabei Grunzlaute von sich. Direkt neben ihm stand der Grund für sein aktuelles Dilemma: Der hörte auf den Namen Kevin, war vierzehn Jahre alt und lästiger als eine Scheißhausfliege.
»Haste auch den neuesten Teil von ›Need For Speed‹ für die PS4?«, moserte der Junge. Nach nicht mal einer Viertelstunde schien ihm die Vorgängerversion nicht mehr zu gefallen. »Das alte Ding ist doch öde!«
Warhammer schüttelte nur den Kopf.
»Warum denn nicht?«
Der Computerfreak stöhnte ein weiteres Mal genervt. Sein rechter Zeigefinger schwebte einige Zentimeter über der Tastatur und raste jetzt in Richtung Enter-Taste hinab. »Übermorgen hab ich ihn«, presste er mürrisch heraus.
»Übermorgen erst?«
Warhammers Kopf drehte sich im Zeitlupentempo. Sein Blick fand den des Jungen. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte nicht Informatik, sondern lautlose Tötungstechniken studiert. Er wollte eben zu einer neuen Standpauke ausholen, als einer seiner Monitore einen Warnton von sich gab.
»Können wir das Ding nicht morgen bei Media Markt holen?«, legte Kevin gleich nach. »Bis übermorgen will ich nicht ...«
»Schnauze!« Warhammer hatte eine weitere Tastatur unter seinem Schreibtisch herausgezogen und bearbeitete die in schwindelerregendem Tempo. »Verdammter Mist!«
»Was is’n los? Hast dir ’nen Porno geladen und jetzt haben sie dich am Sack?« Kevin klang, als hätte er bereits umfangreiche Erfahrungen rund um die erotischen Highlights des Internets gesammelt.
Warhammers Rechte wanderte zu seinem Smartphone. Noch zögerte er. In erster Linie, weil er nicht wusste, wen er anrufen sollte.
»Geschieht einem wie dir ganz recht«, stellte Kevin grinsend fest. »Wer sich so viel Müll aus dem Netz zieht, darf sich nicht wundern.«
»Halt die Fresse!« Warhammer deutete auf seinen Sessel, die einzige gepolsterte Sitzgelegenheit in seinem Chaos. »Schieb deinen Arsch da rein und halt dein verdammtes Maul!« Sein Daumen wischte über das Display seines Smartphones. Nach dem zweiten Klingeln war eine Verbindung hergestellt.
»Ja?«
»Ich glaube, wir haben ein Problem.«
***
Selbst Wegner rang immer noch nach Atem. Mittlerweile stand er neben Busch am Ende der Ladefläche und schaute auf das Pflaster hinunter. »Hatten Sie heute Mittag schon wieder Currywurst?«
Busch schüttelte wortlos den Kopf.
Wegner deutete auf Buschs Mageninhalt, der im Lichtkegel seiner Taschenlampe leicht rot leuchtete. »Sieht aber so aus.«
Noch bevor der junge Kommissar etwas antworten konnte, tauchten am anderen Ende des Speditionsgeländes zwei Scheinwerferpaare auf. Die hielten vor einem mächtigen geschlossenen Rolltor. Aus einem der Fahrzeuge stieg ein Mann aus, offensichtlich ein riesiger Kerl. Der stand schon vor dem kleinen Pförtnerhäuschen und diskutierte mit den beiden Wachleuten darin.
»Die Lampe aus!«, zischte Wegner.
Busch tat, wie befohlen. »Wer kann das sein?«
»Ich schätze mal, das sind unsere russischen Freunde. Und die suchen das, was wir auch suchen.«
»Glaube nicht, dass die Wachleute solche Typen reinlassen«, stellte Busch fest. Seine Stimme klang allerdings eher nach Hoffnung als nach klarem Wissen.
»Wer weiß, vielleicht hat einer von den Idioten sogar die Russen informiert.« Wegner lachte verbittert. »Wäre ansonsten schon ein komischer Zufall. Oder glauben Sie etwa ...?« Er verstummte. Vor dem Pförtnerhäuschen überschlugen sich die Ereignisse. Ein Schuss war zu hören, kurz darauf ein weiterer.
»Das war’s wohl mit Ihren Wachleuten«, stellte Wegner nüchtern fest.
»Aber wenigstens ist das Tor noch verschlossen. Die scheinen das Ding nicht aufzubekommen.«
Mittlerweile standen vier ausgewachsene Kerle davor. Immer lauteres Fluchen war zu hören. Ein weiterer Mann kam hinzu und fuchtelte mit einer langen Stange herum, vermutlich einem Brecheisen.
»Das sind keine Typen, die sich von einem geschlossenen Tor aufhalten lassen«, sagte Wegner.
»Wenn das der Fall ist, dann sieht es nicht gut für uns aus, Cheffe.« Busch klang, als hätte man seine Worte durch einen Gartenschlauch gepresst. »Haben Sie Ihre Waffe dabei?«
Die Antwort darauf war anfangs nur ein müdes Kopfschütteln. »Liegt in meinem Schreibtisch. Sicher und trocken – man weiß ja nie ...«
»Klasse!« Busch zog seine eigene Dienstwaffe, eine Walther P99, und hielt die seinem früheren Chef entgegen.
»Und Sie?« Wegner brachte sogar ein Grinsen zustande. »Wollen Sie es wieder mit Ihren legendären Karatekünsten probieren?«
»Da hab ich was Besseres.« Busch zog einen länglichen Gegenstand aus seiner Jackentasche und drehte daran herum.
»Was ist das?«, wollte Wegner wissen. Er warf einen Blick in Richtung Rolltor, das noch immer geschlossen war. »Sagen Sie schon ... dauert nicht mehr lange und wir bekommen Besuch!«
»Das ist eine weitere Taschenlampe«, erklärte Busch mit der Stimme eines Lehrers. »Sogar die Navy Seals behaupten, ihnen wäre das Teil manchmal lieber als eine Schusswaffe.«
»Klar! Und wenn das Ding was taugt, kann ich wenigstens sehen, wie Sie abgeknallt werden.« Wegner stieg kopfschüttelnd die kleine Leiter hinunter, bis er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. »Falls Sie da oben bleiben wollen, hängen Sie sich am besten gleich neben die anderen Leichen.« Wegner deutete auf die Trennwand, wobei er wohl eher das unbeschreibliche Grauen dahinter meinte.
»Heißt das, ich soll ...?«
»Natürlich! Kommen Sie endlich runter, ansonsten stehen Sie da oben wie ’ne Zielscheibe rum.«
Die beiden Kommissare hatten sich gerade hinter einem anderen Kühlauflieger verschanzt, als sich ein Stück entfernt das Rolltor langsam öffnete.
»Wollten Sie nicht Verstärkung rufen?«, fragte Wegner. Er klang keineswegs ängstlich, sondern vielmehr resigniert. »Vielleicht sollten Sie loslegen, sonst ...«
Busch hob die Hand. Ein paar Sekunden zuvor hatte er die Nummer der Einsatzleitstelle gewählt. Endlich meldete sich jemand am anderen Ende. Mit kurzen Worten und Halbsätzen erklärte der junge Kommissar seinem Kollegen die Sachlage, während sich ein Stück entfernt die beiden Scheinwerferpaare wieder in Bewegung setzten. Die Tatsache, dass eines davon direkt auf ihn und Wegner zusteuerte, verhieß kaum etwas Gutes.
»Ist in Ordnung, danke!« Busch hatte das Gespräch beendet.
»Sie haben ja nicht mal richtig erklärt, wo wir sind«, motzte Wegner gleich los.
»Brauchte ich auch nicht, Cheffe ... unsere Kavallerie ist bereits im Anmarsch.«
»Und das haben wir vermutlich ...«
»... Warhammer zu verdanken! Er hat wohl Bachmeier angerufen und Bachmeier wiederum hat ...«
»Schnauze!«, zischte Wegner kaum hörbar. Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden. »Wir können nur hoffen und beten, dass die Kollegen bald hier sind.« Er deutete mit Blicken unter den Aufliegern hindurch. Keine zwanzig Meter entfernt war eines der Scheinwerferpaare gerade zum Stehen gekommen. Einen Moment später waren vier Paar Stiefel zu sehen, die in sämtliche Himmelsrichtungen ausschwärmten. Eines davon näherte sich den Kommissaren bedrohlich. Im trüben Licht der Platzbeleuchtung waren ansonsten nur eine kakifarbene Hose und ein Oberschenkelholster zu erkennen, in dem eine riesige Pistole steckte. Plötzlich erklang ein metallisches Ratschen. Dabei handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um das Geräusch, das beim Durchladen einer Maschinenpistole entsteht.
»Klasse.« Wegner deutete ein Kichern an. »Die Kerle kommen mit Artillerie und wir haben ’ne Pistole und ’ne Taschenlampe.« Er machte eine Pause, um sämtliche Luft auf einmal herauszupressen und danach gleich wieder tief einzuatmen. »Die Chancen standen auch schon mal besser.«
Nachdem Warhammer den Jungen ein weiteres Mal grob angepflaumt hatte, war der tatsächlich in den Sessel verschwunden. Mittlerweile gehörte seine volle Aufmerksamkeit seinem Smartphone, einem brandneuen Luxusteil.
Warhammers Blicke huschten zwischen seinen unzähligen Monitoren hin und her. Er hatte sich schon am frühen Abend, lange bevor Busch und Wegner das Gelände der Spedition betreten hatten, in die Sicherheitsanlage des Unternehmens eingeklinkt. Die letzten Bilder der Torkamera erinnerten an einen Actionfilm und endeten mit dem Tod von zwei – vermutlich – ahnungslosen Wachleuten. Den Rollmechanismus des Tors hatte er einige Zeit blockieren können, bis sich die Kerle mit roher Gewalt Zutritt verschafft hatten. Ein Kamerabild nach dem anderen huschte über die Bildschirme. Verdammt! Er hatte keinen Schimmer, wo sich Busch und Wegner in diesem Moment aufhielten. Blieb nur zu hoffen, dass bald die angekündigte Verstärkung eintreffen würde. Ansonsten ...
Auf einem der Monitore zeigte sich neues Leben. Hier lieferte eine Kamera Bilder, die fast den gesamten Platz umfassten. Ein SUV stand vor dem Bürogebäude. Aus dem zweiten waren gerade vier Kerle gesprungen, die im Laufschritt zwischen den zahllosen Aufliegern herumrasten. Unaufhörlich wanderten Warhammers Augen von einem Bildschirm zum nächsten. Und noch immer zögerte er. Es kostete ihn nicht mehr als einen Knopfdruck, um die komplette Platzbeleuchtung auszuschalten. Aber falls diese Typen auch über Infrarot-Sichtgeräte verfügten, würde sich diese Idee als gründlicher Schuss nach hinten erweisen. Wenn nicht, dann hätten Wegner und Busch vielleicht noch einen winzigen Vorteil – sprich: Zeit –, denn jede zusätzliche Sekunde ließ ihre Retter näher kommen.
Ausschalten?
Anlassen?
Warhammer fluchte innerlich. Warum, verdammt, musste jede Medaille immer zwei Seiten haben?
***
»Vielleicht erklären Sie mir langsam mal, was Ihre Wunderlampe alles so draufhat, Kollege Aladin.« Wegner atmete ein weiteres Mal erleichtert aus. Kurz zuvor war einer der Kerle fast auf ihrer Höhe angekommen, dann jedoch abgebogen und in die entgegengesetzte Richtung marschiert, um eine weitere Reihe Auflieger genauer in Augenschein zu nehmen.
»Die macht auch nur Licht, Cheffe«, flüsterte Busch.
»Wollen Sie mich verarschen?« Wegners Jackenkragen machte schabende Geräusche. Das deutete auf ein energisches Kopfschütteln und eine überfällige Rasur hin. »Was machen dann diese Navy Seals mit der Funzel? Sich gegenseitig erschrecken, oder was?«
»Das Teil wirkt wie eine Blendgranate. Wenn man direkt hineinschaut, braucht man hinterher bis zu drei Minuten, um seine Orientierung wiederzufinden. Die Cops in den Staaten schwören auch auf das Ding.«
»Klar! Sonst entkommt ihnen am Ende noch ein Schwarzer in der Dunkelheit.« Auch wenn es in diesem Moment überhaupt nicht passte, lachte Wegner schon wieder. Plötzlich deutete er nach links. Dort stürmte eine zweite Gruppe Männer aus dem Verwaltungsgebäude der Spedition. »Jetzt wird’s haarig ... die Typen sind mit den Büros anscheinend fertig.« Tatsächlich näherten sich drei weitere Stiefelpaare den Auflieger-Reihen. Von nun an war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Kommissaren über den Weg liefen, selbst wenn es sich dabei um einen Zufall handelte.
»Können Sie mir sagen, wie wir hier lebendig rauskommen sollen?« Busch klang verzweifelt. »Bei mir war es letztes Mal schon knapp, aber ...«
»Sie leuchten, ich schieße!« Wegner hörte sich deutlich entschlossener an. »Falls ich getroffen werde, schnappen Sie sich Ihre Waffe und machen alleine weiter.«
»Und wenn ...« Busch verstummte von einer Sekunde zur anderen. Rundherum waren die Platzscheinwerfer verloschen. Plötzlich lag das gesamte Gelände in völliger Dunkelheit.
»Sind das schon unsere Kollegen?«, flüsterte Wegner.
»Schätze eher, dass wir das Warhammer zu verdanken haben.« Busch presste ein freudloses Lachen heraus. »Unsere Kavallerie kommt wohl nicht ohne blaues Licht und Tamtam.«
***
Nachdem Warhammer die Platzbeleuchtung abgeschaltet hatte, war auch er blind. Die Bilder der Sicherheitskameras präsentierten nur noch das übliche digitale Schneegestöber. Aber es gab noch eine weitere Möglichkeit, die Kommissare in ihrer fast aussichtslosen Situation zu unterstützen. Der Computerfreak hatte sich in das Temperatur-Kontrollsystem der Kühlerflotte gehackt und starrte auf einen Monitor, der die aktuellen Werte anzeigte. Die meisten Auflieger standen teilweise oder vollständig beladen herum. Spätestens am nächsten Morgen würde man den größten Teil davon wieder aufsatteln und an ihren nächsten Bestimmungsort ziehen. Mehrere Sensoren im Inneren dieser gigantischen Kühlschränke sorgten für Temperaturen, die sich durchgehend im gewünschten Bereich bewegten. Aber dieser Bereich ließ sich beeinflussen. Warhammer brauchte nur zwei Befehle, um jedem Kühlgerät die Information zu geben, dass es im Laderaum viel zu warm war. Höchste Zeit also, um für eine Erfrischung zu sorgen.
***
»Was ist denn jetzt los?«, zischte Wegner und lauschte in die Dunkelheit. Nacheinander war an fast jedem zweiten Auflieger die Kühlmaschine angesprungen. Ein Diesel nach dem anderen erwachte zu neuem Leben. Ein dröhnendes Konzert, das alles andere bei Weitem übertönte.
»Das war mit Sicherheit auch Warhammer«, stellte Busch etwas lauter fest. »Der versucht alles, um uns ...«
»Maul halten!«, fauchte Wegner. Er packte seinen Kollegen am Arm und drehte ihn um fast hundertachtzig Grad, bis dessen Körper völlig erstarrte. Direkt vor den Kommissaren war der flackernde Strahl einer Taschenlampe auf dem Pflaster zu erkennen. Kurz darauf war der verschwunden. Ein lautes Fluchen folgte. Offensichtlich hatte ein anderer Mann Probleme mit seiner Lichtquelle. Wegner wartete noch einen Moment, brachte die Walther P99 in Anschlag und quetschte dann Buschs Oberarm ein weiteres Mal zusammen. Das sollte hoffentlich als Startschuss ausreichen.
Wie ein Stroboskoplicht flammten fünf kurze Lichtblitze hintereinander auf. Schon nach dem ersten hatte Wegner die Pistole ein Stück nach rechts ausgerichtet. Beim zweiten zog er den Abzug, um beim dritten festzustellen, dass dieser Schuss sein Ziel verfehlt hatte. Das lag an der Schocksicherung, die beim ersten Auslösen überwunden werden musste. Dieser Umstand hatte nicht selten zur Folge, dass die Waffe erst beim zweiten Schuss einigermaßen sicher in der Hand lag. Beim vierten Lichtblitz landete Wegner einen Volltreffer. Beim fünften Aufflammen war zu erkennen, dass das Projektil den Hals des Angreifers durchschlagen hatte.
»Wir müssen weiter«, zischte Wegner und zog an Buschs Jacke. »Jetzt wissen die Typen in etwa, wo wir sind.« Tatsächlich waren bereits die Lichtkegel anderer Taschenlampen zu erkennen, die sich rasant näherten.
»Cheffe, ich könnte dem Kerl seine Waffe ...«
»Maul halten!«
Die Kommissare schoben sich an zwei weiteren Auflieger-Reihen vorbei. Vom Nachbargrundstück, einem ebenso riesigen Lagerkomplex, fiel hier und dort ein wenig Licht auf den hinteren Teil des Speditionsgeländes. Von links waren schwere Schritte zu hören, geradeaus schien die Luft rein zu sein. Noch.
»Da!« Busch war herumgewirbelt und deutete auf einen Lichtkegel, der zwischen den beiden nächstgelegenen Aufliegern tanzte. Klar war, dass der Kerl, in dessen Hand die Lampe steckte, immer näher kam.
Wegners Kopf flog hin und her. Jetzt zeigte er nach unten. Dort hing ein Reserverad-Korb, in dem ein riesiger Reifen geduldig auf seinen Einsatz wartete. Busch hatte sofort verstanden, ging zu Boden und rollte sich darunter. Wegner verschanzte sich derweil links davon und hielt die Pistole mit beiden Händen umklammert. Zuerst wollte er warten, bis er den Angreifer in voller Lebensgröße vor sich hatte. Als er nun aber dessen Füße und Unterschenkel im schwachen Licht erkennen konnte, meldete sich der Cowboy in ihm. Zwei Schüsse später lag ein weiterer Kerl in Kampfmontur am Boden. Ein dritter Schuss machte vermutlich auch dessen Zukunftspläne überflüssig.
»Wenn unsere Kavallerie nicht gleich hier aufschlägt, müssen die Kollegen am Ende nur noch alles zusammenfegen. Schnappen Sie sich die Kanone von dem Typen, Busch!«
Wie bestellt, waren in der Ferne Martinshörner zu hören. Von beiden Seiten näherten sich blaue Lichtblitze, die in erster Linie eines verhießen: Rettung!
Vor dem Bürogebäude heulte ein Motor auf. Türen klappten. Kurz darauf war das Quietschen von Reifen zu hören.
Detlef Busch hatte sich unter dem Reserverad-Korb herausgerollt und stand wieder auf seinen Füßen. Als er sich jetzt ein Stück herunterbeugte, um seine Hose von Staub und Sand zu befreien, hatte Wegner das Gefühl, als wäre sein Herz stehen geblieben.
»Die wollen sich aus dem Staub machen, Cheffe.« Busch lachte. Hätte er gewusst, wer oder was hinter ihm wartete, wäre ihm das Lachen sicher schnell vergangen.
Wegner riss die Pistole hoch und richtete sie auf den Kerl in schwarzer Kampfmontur. Aber es war zu spät. Viel zu spät!
Zweieinhalb Tage zuvor, Dezernat Nichtstun
»Mahlzeit, Cheffe!«
Wegner überlegte kurz, ob er überhaupt den Kopf heben sollte, tat es am Ende aber doch. Nachdem sein Verstand die visuellen Informationen verarbeitet hatte, wünschte er sich allerdings, er hätte es lieber gelassen. Und er war schon wieder halb in seiner Zeitung verschwunden, als sein Mund wie von allein die logische Frage herausquetschte: »Wer ist der Bengel?«
»Das ist Kevin!«, flötete Busch munter zurück.
»Und weiter ... Costner oder was?«
»Petersen, Kevin Petersen.«
Wegners Zeitung wanderte eine Etage tiefer. Seine Stimme spiegelte in erster Linie Ernüchterung wider. »Okay ... dann sagen Sie mir lieber, was er hier will.«
Busch warf einen hilfesuchenden Blick in Richtung Rainer Maria Grimm. Der inoffizielle Guru im Polizeidienst schien jedoch in irgendeiner Zwischenwelt zu verweilen. Bis hierhin war nicht mal erkennbar, ob er auch nur ansatzweise etwas von seiner Umwelt wahrnahm.
»Kevin ist der Sohn meiner Nachbarin«, fuhr Busch unverändert munter fort. Er legte dem Jungen einen Arm um die Schulter, doch der entzog sich sofort dieser unerwünschten Zuwendung. Deshalb klang der junge Kommissar jetzt schon etwas weniger euphorisch: »Die Frau liegt im Krankenhaus – wahrscheinlich für längere Zeit ...«
»Und wo ist der Vater?«, fragte Wegner mit gerümpfter Nase. »Oder sind Sie etwa für den Prachtburschen verantwortlich?«
»Dann hätte ich aber sehr früh angefangen, Cheffe.« Buschs Gesicht verriet, dass er rechnete. »So ... mit zwölf oder dreizehn.«
»Das ist heute auch nichts Besonderes mehr«, gab Wegner gelangweilt zurück. »Also ... was hat es mit dem Bengel auf sich?«
Zum ersten Mal wirkte Buschs Miene gequält. Er warf einen Blick auf Kevin. Das Ergebnis war ein vorsichtiges Kopfschütteln. »Können wir das vielleicht unter vier Augen besprechen?«
»Ich hab’s geahnt!« Trotz seines Protests erhob sich Wegner mühsam und schlurfte in Richtung Tür. Kurze Zeit später standen die beiden Kommissare davor und musterten sich zunächst gegenseitig schweigend. Am Ende war es wieder Wegner, der zum dritten Mal auf eine Antwort bestand: »Was ist mit dem Bengel und was soll er hier?«
»Ich kümmere mich um ihn«, gab Busch widerwillig zu. »Aber nur solange seine Mutter im Krankenhaus liegt.«
»Und?« Wegner gestikulierte ungeduldig. »So wie ich Sie kenne, ist die Geschichte doch längst noch nicht zu Ende, oder?«
»Bachmeier hat mir verboten, Kevin mit ins Büro der Mordkommission zu nehmen.«
»Warum?«
»Er hat gleich am ersten Tag in den Akten rumgewühlt und ...«
»Habt ihr neuerdings was zu verbergen?«, unterbrach Wegner in ketzerischem Ton.
Busch schüttelte energisch den Kopf und fuhr nach einem schweren Atemzug fort: »Die Sache alleine wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen. Aber am Nachmittag hat er sich dann über Bachmeiers Computer in irgendein Spiele-Netzwerk eingewählt.«
»Und das war nicht nach Eugens Geschmack, richtig?«
»Seit wann nennen Sie meinen neuen Chef beim Vornamen?«, erkundigte sich Busch mit gerunzelter Stirn.
»Gar nicht, klang nur lustig.« Wegner atmete schwer. »Aber jetzt verraten Sie mir endlich, warum Sie den Bengel – oder von mir aus auch Kevin – mit hierher schleppen.«
Busch zögerte noch eine Weile und begann erst mit leiser Stimme, als ein anderer vor ihm schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen stieg. »Ich hab gedacht, er könnte – also, unter Umständen ... ich meine, hier bei Ihnen ...«
»Vergessen Sie’s, Busch!« Wegner hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf. Stattdessen wirbelte er herum und schob die Bürotür vor sich auf. Ein paar Schritte weiter blieb er wie angewurzelt stehen. Als sein junger Kollege neben ihm angekommen war, schauten die beiden Männer verwundert auf eine Szenerie, die sich zu ihren Füßen abspielte. Dort hockte Kevin neben Rex’ Korb. Der Hund hatte sich auf den Rücken gedreht und grunzte wie ein ausgewachsenes Hausschwein, so sehr genoss er die Zuwendungen. Die Kommissare betrachteten noch eine Weile das seltsame Schauspiel, bis Wegner sich aus seiner Starre löste. Kurz darauf fiel er in seinen Bürostuhl und entließ den Atem geräuschvoll. Für seine nächsten Worte würde er sich wahrscheinlich schon sehr bald selbst verfluchen: »Was bedeutet denn dieses ›Kümmern‹ genau?«
»Es geht nur um die Zeit von morgens halb acht bis abends um sieben.« Von neuer Hoffnung erfüllt, jubilierte Busch förmlich. »Abends können Sie ihn bei seiner Tante abliefern, die arbeitet in einer Imbissbude auf der Veddel. Wie gesagt, es geht nur um die Tage.«
»Nur?« Wegners Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Das sind fast zwölf Stunden täglich. Was sollen wir denn die ganze Zeit mit dem Bengel anstellen?«
»Wovon redet ihr?« Grimms verschlafene Stimme unterbrach diesen Disput.
Wegner deutete wortlos in Kevins Richtung. Der kuschelte noch immer mit Rex herum und schien von seiner Umwelt gar nichts mehr mitzubekommen.
»Wer ist der Junge und was macht er hier?«, fragte Grimm. Sein singsangartiger Tonfall, garniert von einem milden Lächeln, setzte dem Wahnsinn noch die Krone auf.
Wegner schaute seinen Kollegen kopfschüttelnd an, verzichtete aber vorsichtshalber auf einen der üblichen Kommentare. Hier ging es um Fakten: »Wir kümmern uns um den Bengel, bis seine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wird.« Wegners Stimme schaffte es, Busch ein breites Grinsen ins Gesicht zu zaubern. »Kann ja nicht so schwer sein ...«
»Dir ist aber schon klar, dass ich ab morgen Urlaub habe«, erwähnte Grimm in beiläufigem Ton. »Besser gesagt: Ab heute Abend!«
Wegner schaute Busch an, zeigte dabei allerdings mit einem Finger auf den Guru. »Hat er gerade irgendwas von Urlaub gefaselt?«
Busch nickte widerwillig.
»Und sollte man seinen Kollegen nicht rechtzeitig über solche Pläne informieren?«, erkundigte sich Wegner in empörtem Ton. »Früher hat man solche Sachen mal abgesprochen!«
Grimm stemmte sich hoch. Im nächsten Moment wühlte er – zwischen Zeitungen, Kreuzworträtseln und Brotdosen – auf Wegners Schreibtisch herum. Sein Gesicht hellte sich merklich auf, als er fand, wonach er gesucht hatte. »Hab ich dir vor über vier Wochen hingelegt.« Er tippte mit dem Finger auf einen Zettel, der mit Kaffeeflecken übersät war. »Von Mitte bis Ende Oktober ... da steht es, schwarz auf weiß.«
»Ich erinnere mich noch an Zeiten ...«, schwärmte Wegner eine ganze Weile später künstlich, »... in denen man sich noch auf seine Kollegen verlassen konnte.« Er warf einen ungnädigen Blick über die Schreibtische, doch der schien an Grimm abzuprallen. »Gut ist nur, dass der Junge ab morgen seinen eigenen Stuhl hat. Und falls unser Ersatz-Jesus nicht aus dem Urlaub zurückkommt, kann der Bengel gleich seinen Posten übernehmen. Schlechter machen kann er es auf jeden Fall nicht.«