Kalte Oker - Jürgen H. Moch - E-Book

Kalte Oker E-Book

Jürgen H. Moch

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Beschreibung

Als Kommissarin in den Harz? Albtraum! Ulrieke Ebeling hatte sich ihren Karrierestart anders vorgestellt. Statt Großstadttrubel wartet ein versoffener, chauvinistischer Chef kurz vor der Pensionierung – und ein mysteriöser Fall, der sie schnell bis an ihre Belastungsgrenze fordert. Warum träumt sie ständig vom Ertrinken? Wo steckt ihre Großtante Auguste? Und woher wusste die schon vor Ulrieke von der Versetzung in den Harz? Was hat es mit Ulriekes Erbe auf sich? Ehe sie es begreift, steckt sie mittendrin in einem Strudel aus Rätseln, Verbrechen und einer schockierenden Erkenntnis über sich selbst, die sie schlichtweg nicht wahrhaben will.

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jürgen H. Moch

Kalte Oker

Ulrieke Ebelings erster Fall

Für meine Frau

Astrid

Impressum

Kalte Oker: Ulrieke Ebelings erster Fall

ISBN 978-3-96901-126-3

ePub Edition

V1.0 (08/2025)

© 2025 by Jürgen H. Moch

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front) © Noemi Möhr | artstation.com/moanmei

Foto Oker © Danilo Hartung

Porträt des Autors © Tim Blankenburg | baumloewe.de

Lektorat:

Sascha Exner

Harzkrimis.de ist ein Imprint von

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 5527/8405-0 · Fax: +49 5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Titelseite

Widmung

Impressum

Vorwort

Prolog

Peinlichste Polizeikommissarin

Der Alte

Augustes Haus

Einbrecher

Es gibt einen Fall

Tee mit Gerda

Die Tote in der Okertalsperre

Gar nicht mehr mein Fall

Die Nachbarn

Scharfer Nachmittag

Die Post geht ab

Die andere Frau

Lange Nachtschicht

Der Einlauf des Jahrhunderts

Kreative Recherche

Mit Kater und Kater

Die falsche Auguste

Das Ferienhaus

Geiseln

Träume

Hinrichtung nach alter Art

Rachegeist

Voll im Arsch

Krankenhaustrubel

Epilog

Danksagungen

Harzmagie

Über den Autor

Vorwort

Die Fälle der Ulrieke Ebeling sind fiktiv. Und sicher ist die normale Polizeiarbeit nicht ganz korrekt wiedergegeben, doch das sehe man mir nach. Ich habe einige nüchterne Vorgehensweisen einer erhöhten Dramatik geopfert. Ich will meinen Lesern ja Spannung und keine Einschlaflektüre liefern.

Natürlich sind die meisten Personen in meinem Buch ebenfalls frei erfunden. Wenn man sich selbst in einer der Figuren wiederfindet, dann mag das sein, weil es eben eine endliche Menge von Grundtypen gibt. Bei den Orten bin ich, soweit ich konnte und durfte, korrekt geblieben, auch wenn ich aus harznostalgischen Gründen Begriffe wie z. B. ›Pape am Markt‹ verwendet habe, obwohl auch dieser markante Name mitsamt des Marktes von einer Kette ge-schluckt wurde. Der erwähnte Paketdienst hat bewusst keinen Namen, schon gar keinen existierenden, und die Mitarbeiter hätten auch aus einem beliebigen anderen Land stammen können. Es liegt mir fern, hier pauschal zu kriminalisieren, allerdings musste ich mich entscheiden.

Es geht hier aber um die Personen und Charaktere an sich. Und natürlich geht es um die Geschichte. Dennoch denke ich, dass das Buch kurzweilig genug ist, damit es ein paar vergnügliche Stunden bereitet.

Prolog

Angst. Absolute Finsternis. Es gab kein Oben und kein Unten. Obwohl ich die Augen aufriss, blieb es dunkel.

Was mich am meisten ängstigte, war, dass ich genau wusste, was kam. Etwas Stinkendes steckte plötzlich in meinem Mund und malträtierte meine Geschmacksnerven, was mich zum Würgen reizte und mich gleichzeitig zu ersticken drohte. Panisch kämpfte ich darum, mich zu befreien, doch es blieb vergebens. Schmerz durchfuhr meinen ganzen Rücken und brannte an Handgelenken und Knöcheln. Von Feuchtigkeit schwerer, kalter Wind zerrte an mir und ließ mich zittern. Plötzlich kippte ich nach vorne und fiel in eine bodenlose Dunkelheit. Der Sturz dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann schlug mein Kopf hart auf und keine Luft drang mehr in meine Lungen. Ein heftiger Druck baute sich in meinen Ohren auf, während eisige Kälte, begleitet von einem Geschmack nach Eisen und Moder, durch Nase und Kehle in meinen Hals drang.

Mit einem Mal jaulte jemand laut und schrill auf, sodass es mir fast meine Trommelfelle zerriss. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass ich es selbst war, die da schrie. Als ich das begriff, wurde ich mit einem Schlag wach. Im schwachen Licht der Straßenlaterne, die vor meinem Fenster stand, formten sich langsam die diffusen Schatten zu den Konturen meines WG-Zimmers um. Ich lag auf dem blanken Linoleumboden vor meinem Hochbett. Mein Kopf dröhnte, als ich verzweifelt versuchte, mich aus meiner Bettdecke zu befreien, in die ich mich komplett eingewickelt hatte. Eine vollgesabberte Ecke des Stoffes klatschte mir bei meinen erfolglosen Versuchen ins Gesicht. Sie war noch warm. Vermutlich hatte ich sie mir selbst in geistiger Umnachtung in den Mund gestopft. Ekelhaft!

Es klopfte laut vom Flur her an meine Tür.

»Rieke, ist alles in Ordnung mit dir?«

Als ich nicht sofort reagierte, riss Yvonne meine Zimmertür auf, schaltete das Licht an und erstarrte in dem Augenblick, als sie mich sah.

»Heilige Scheiße! Wie siehst du denn aus? Du blutest ja!«

Erst jetzt spürte ich, wie mir etwas Warmes von der Schläfe über die Wange herablief und auf den Boden tropfte. Mit einem Satz sprang sie an meinen Schreibtisch, riss eine Packung Taschentücher auf, kniete sich neben mich und drückte mir gleich mehrere davon auf die Platzwunde.

»Aua! Das tut verdammt weh!«, stöhnte ich.

»Das ist nur, damit es nicht weiterblutet. Mann, das sieht ja schlimm aus. Bleib erst einmal liegen. Ich gehe gleich den Verbandskasten holen. Tut dir sonst noch was weh? Wie hast du es nur geschafft, aus dem Hochbett zu fallen? Das besitzt doch ein hohes Geländer.«

Ich vermochte zunächst nicht, ihr zu antworten. Besorgt musterte mich Yvonne, während sie meinen Kopf vorsichtig auf ihren Schoss bettete. Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen, der Traum hallte in meiner Erinnerung deutlich nach. Er hatte sich so real angefühlt, so unaufhaltsam.

»Rieke?«, fragte sie noch einmal.

»Ja, mir geht es gut. Ich hatte nur einen Alptraum«, gab ich endlich mit träger Stimme zur Antwort.

»Schon wieder? Derselbe wie letztes Mal? Hast du denn nicht die Schlaftabletten genommen, die ich dir gegeben habe?«, hakte Yvonne nach.

»Ja, ja und nein. Ich meine, danke trotzdem, aber es wäre doch eine Schande, mit solch heftiger Chemie vollgepumpt zu meiner Abschlussfeier zu gehen«, widersprach ich entschieden.

»Richtig, deine ist ja morgen, äh, nein es ist schon heute. Wir haben es halb vier«, verbesserte sich Yvonne selbst, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte. Vorsichtig hob sie die Taschentücher an und betrachtete meine Stirn. »Die Blutung hat schon fast aufgehört. Es ist doch nur ein kleiner Riss. Das sah eben noch schlimmer aus. Aber das wird ein richtig sattes Horn geben. Ich hole jetzt den Verbandskasten und was zum Kühlen für dich.«

Yvonne eilte los. Ich hörte, wie sie in die Küche lief und Schränke aufriss. Es polterte heftig und Yvonne fluchte dabei wie ein Marktweib, weil sie den Kasten nicht gleich fand.

»Hat nicht Laura gestern ein Pflaster gesucht? Vielleicht steht der Kasten noch im Bad«, rief ich ihr halblaut hinterher, musste dann aber stöhnen, weil meine Worte in meinem Kopf widerhallten. Türen klappten. Ein lauter Schrei. Dann fiel Lauras Name in einer Reihe von bösen Schimpfworten, von denen ›Messischlampe‹ noch das harmloseste war. Ich schloss daraus, dass sie den Kasten in Lauras Zimmer gefunden hatte.

Ich setzte mich mühsam auf und lehnte mich gegen einen der stabilen Bettpfosten, sodass ich mich in dem großen, messingumrahmten Wandspiegel betrachten konnte. Mein kurzes blondes Haar stand wirr in alle Richtungen ab und auf meinem Gesicht zeigte sich um die kleine Wunde bereits eine dicke Schwellung. Schöner Mist. Ausgerechnet heute, wo ich die Ausbildung als eine der Jahrgangsbesten abschließen würde, musste ich so auflaufen und damit aussehen, als hätten mehrere Leute mich verprügelt.

Yvonne kehrte schließlich mit dem offenen Kasten zurück, der aussah, als hätte ihn jemand ausgekippt und alles achtlos wieder hineingeworfen. Vermutlich hatte Laura auch genau das getan. Sie hatte es nicht so mit der Geduld und mit der Ordnung erst recht nicht. Yvonne fluchte erneut und stellte damit einen neuen Rekord an unschönen Adjektiven auf, die sie für Laura aneinanderreihte.

Meine um mich besorgte beste Freundin Yvonne. Ich hatte sie einfach gern. Sie war zwar mit ihren fünfundzwanzig Jahren knapp drei Jahre älter als ich, aber in der Ausbildung lag sie ein Jahr zurück. Sie hatte eine ganze Weile lang jedes Land in Europa bereist, bis sie sich nach längerem Hin und Her für die Polizei entschieden hatte. Yvonne wohnte mit mir und der unordentlichen, aber lebenslustigen Laura, die zwei Jahrgänge unter mir war und vermutlich wie üblich die ganze Nacht durchfeierte, zusammen in einer preiswerten Altbauwohnung in der Nähe der Polizeiakademie Oldenburg.

An der sollte ich am nächsten Tag, nein an diesem, zur Polizeikommissarin befördert werden. Damit hatte ich mein erstes großes Ziel erreicht. Mich hatte es dennoch enttäuscht, dass ich nicht automatisch beim LKA1 anfangen durfte, wo ich ursprünglich hingewollt hatte. Meine Ausbildung sollte noch etwas länger dauern, was ich aber erst spät – zu spät – begriff. Wenigstens hatte ich nach einer Beratung meine Fachorientierung so vorteilhaft gewählt, dass alles auf diesen nächsten Schritt ausgerichtet war. Eine kleine Hoffnung blieb mir, dass ich doch gleich dem LKA zugeordnet werden könnte, denn denen fehlten Leute, wie man munkelte. Mit etwas Glück konnte ich dann nach zwei weiteren Jahren den Dienstgradwechsel zur Kripo beantragen. Das ging seit ein paar Jahren.

»So, stillhalten!« Mit geübten Fingern klebte Yvonne mir ein Pflaster auf die Stirn und drückte dann einen Kühlbeutel darauf. »Den lässt du so lange auf der Wunde, wie es geht.«

»Danke, Yve. Du bist die Beste.«

Sie grinste schelmisch. »Das weiß ich. Nachher überdecken wir dein Malheur mit Schminke. Es geht ja nicht an, dass du deine Urkunde in diesem Zustand bekommst. Oh Mann, ich wäre so gerne dabei, aber ausgerechnet heute habe ich eine dringende ärztliche Untersuchung wegen meiner Schwindelanfälle, die ich in der letzten Zeit häufiger bekomme. Sag mal, du kommst doch in die Polizeidirektion hier nach Oldenburg, oder? Da wolltest du doch die ganze Zeit schon hin.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es tat leider weh. Offenbar war das Horn nicht meine einzige Blessur. »Das wäre super. Die meisten Kollegen dort kennen mich schon gut.«

Yvonne knuffte mich in die Seite und stand auf. »Ich weiß ganz genau, wen du meinst. Vor allem der schnittige Kriminalhauptkommissar Hajo Koopmann hat es dir angetan, was?«

»Nein, der will gar nichts von mir. Er schätzt halt meine Fähigkeiten«, protestierte ich sofort, wurde jedoch rot dabei.

»Soso, welche genau meinst du denn?«

Yvonne begleitete ihre Frage mit einer sehr obszönen Handgeste. Ich warf mein Kissen nach ihr, verfehlte sie jedoch. Sie lachte und wandte sich zur Küche.

»Dachte ich es mir doch. Ich mache uns erst einmal einen starken Ostfriesentee. Es lohnt sich jetzt sowieso nicht mehr, sich wieder schlafen zu legen.«

Peinlichste Polizeikommissarin

Den ganzen Weg zum großen Saal der Polizeiakademie brummte mein Schädel so stark, dass ich immer wieder stehenbleiben musste, um nicht umzukippen. Was war nur los mit mir? Der Sturz war hart gewesen, aber ich hatte schon viel schlimmere Verletzungen deutlich besser überstanden. Es fühlte sich an, als wenn mein Gehirn in Wasser schwamm und bei jedem meiner Schritte wild in meinem Schädel hin und her schwappte. Inzwischen meldeten sich die Bilder meines dämlichen Traumes sogar tagsüber zurück. Und alles wurde von einem Kribbeln begleitet, als wären Hunderte von Ameisen unter meiner Kleidung unterwegs. Wenn es sich nicht um meine Abschlussfeier gehandelt hätte, wäre ich einfach auf der Couch liegengeblieben. Mein Hochbett würde ich in den nächsten Tagen wie die Pest meiden. Das war mir angesichts dieses Horrortraumes und dem daraus folgenden Absturz, bei dem ich mir den Hals hätte brechen können, zu unsicher.

Yvonne hatte sich rührend um mich gekümmert und ihren ganzen Schminkkoffer ausgepackt, um meine Blessuren zu überdecken, während ich jede Menge Wasser mit mehreren Aspirin getrunken hatte. Doch das Horn konnte sie nicht verschwinden lassen. Meine Ausgangsuniform anzuziehen, hätte ich ebenfalls ohne meine beste Freundin nicht geschafft. Sie saß sehr eng, weil ich während meiner Ausbildung einiges an Muskeln zugelegt hatte. Mit geschlossenem Kragenknopf keimten erneut Erstickungsgefühle auf. Was für ein Scheißtag! Ausgerechnet heute!

An der Treppe, die hoch ins Gebäude führte, traf ich meine ersten Kollegen, die ebenfalls an diesem Tag mit mir zusammen die Akademie abschlossen.

Jemand fragte: »Na, Rieke, schon gespannt, wohin du kommst?«

Statt zu antworten, hielt ich mich an der Granitkugel fest, die das untere Ende des steinernen Treppengeländers zierte.

»Lass unsere Streberin. Rieke hat sicher schon ausgiebig mit ihren WG-Kameradinnen vorgefeiert. Sie darf so sicher wie das Amen in der Kirche hier in Oldenburg bleiben. Die Jahrgangsbesten kommen doch immer dahin, wohin sie wollen«, brummelte Patrick.

Seine tiefe Bassstimme erkannte ich selbst in meinem desolaten Zustand. Er hatte die Prüfungen nur mit mehreren zugedrückten Augen der Lehrer geschafft. Und ich war mir nicht sicher, ob ihm dabei nicht noch jemand Schützenhilfe geleistet hatte. Das hinderte Patrick aber nicht daran, aufzutreten, als wenn er alles mit links absolviert hätte. Ich wusste es besser. Und er wusste, dass ich es wusste. Natürlich missfiel ihm das.

So sehr er seinen Neid auf mich auch versuchte zu verbergen, er tropfte zwischen seinen gönnerhaften Worten hindurch wie Rübensirup durch einen brüchigen Toast. Doch im Moment konnte ich nichts antworten. Meine sonst so gefürchtete Schlagfertigkeit ließ mich im Stich. Stattdessen kämpfte ich darum, das dämliche Schwappen unter meiner Schädeldecke zu bändigen.

Als ich mich wieder soweit gefangen hatte, um weitergehen zu können, befand sich niemand anderes mehr auf der Treppe. Natürlich kam ich nun auch noch zu spät.

Die Zeremonie hatte bereits angefangen, wie man an der einsetzenden Musik vernehmen konnte. Zum wiederholten Male drängte sich die Frage auf, ob das wirklich sein musste? Mühsam schleppte ich mich die Stufen hoch und betrat die Vorhalle. Diese hatte sich komplett geleert, aber die Tür zum Saal stand noch offen. Ich schnaufte heftig durch, verdrängte das Kribbeln, so gut ich es eben vermochte, und eilte darauf zu. Der Saal war fast komplett gefüllt. Ich schluckte beim Anblick der Menschenmassen. Es mussten Hunderte sein. Suchend blickte ich mich nach einem Platz um. Zunächst schien es hoffnungslos. Irgendwann beugte sich ein Gast weit nach vorne, um jemanden vor ihm etwas ins Ohr zu flüstern, und gab so den Blick auf einen unbesetzten Stuhl frei. Entschuldigungen murmelnd drängte ich mich durch die Reihen und ließ mich auf den freien Platz, der halb hinter einer der Säulen verborgen lag, fallen. Umso besser. So konnte mich nicht jeder sehen. Währenddessen spielte plötzlich das Polizeiorchester einen zackigen Marsch, der sich für mich anfühlte, als würden in meinem Schädel tausend kleine Zwerge Sackhüpfen spielen und einer nach dem anderen explodieren.

Gegen die Etikette fummelte ich meinen Kragenknopf auf, um mehr Luft zu bekommen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann konnte ich wieder frei durchschnaufen. Eine Wohltat.

Endlich endete das preußische Getröte nach weiteren zwei Stücken und dankbar dämmerte ich halb weg. Meine Übermüdung tat ihr Übriges, sodass kaum etwas von der weiteren Veranstaltung bis in mein Hirn vordrang.

Irgendjemand redete. Klatschen. Dann sabbelte noch jemand mit einer nervtötenden Stimme. Klatschen.

Eine Fanfare erklang und ließ mich hochschrecken.

Polizeipräsident Thiele trat in diesem Augenblick unter erneutem Geklatsche nach vorne, stellte sich hinter das Pult, neben dem auf beiden Seiten große Blumenvasen standen, wie ich jetzt erst bemerkte. In den Vasen steckten große Liliensträuße. Welcher Geschichtslegastheniker bestellte denn dutzendweise die royale Blume Frankreichs bei einer Abschlussveranstaltung der deutschen Polizei? Mein Blick fraß sich an den Blumen und diesem blöden Gedanken fest, während Thiele, wie könnte es auch anders sein, eine Rede begann. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment, dass alles endlich aufhören würde. Thieles leiernde Stimme lullte mich alsbald ein, wie es schon früher im Unterricht fast allen meinen Kameraden ergangen war. Prompt dämmerte ich wieder weg, bis ein Name aufgerufen wurde, doch mit dem einsetzenden Applaus, riss meine Wahrnehmung wieder ab. Ich fühlte mich zurückversetzt in meine Klasse. Polizei- und Ordnungsrecht. Todlangweiliger Stoff. Thieles emotionsloser Vortragsstil hatte regelmäßig sein Auditorium in das Reich der Träume geschickt. Patrick hatte irgendwann einmal vorgeschlagen, dass sie Thiele am besten zum SEK versetzen sollten, wo er mit Geiselnehmern verhandeln könne. »Die absolute Geheimwaffe! Der würde alle Kriminellen in den Tiefschlaf labern!«

Entgegen meiner Mitschüler hatte ich stets dagegen angekämpft und war dank meines Massenkonsums taurinhaltiger Getränke und eisernem Willen nie im Unterricht eingeschlafen.

»… Ebeling!«

Hatte da jemand gelacht? Nein, das war sicher nur Einbildung. Doch, es lachte jemand. Irgendwer tippte mir auf die Schulter und ich schrak nun gänzlich zusammen.

»Anwesend!«, brüllte ich reflexartig und sprang auf.

Das Gelächter schwoll weiter an und mir wurde in dem Moment klar, dass man über mich lachte.

»Ich sehe, dass ich Sie kurz vor ihrer Versetzung an ihre erste Dienststelle doch noch drangekriegt habe«, schmunzelte mein ranghöchster Ausbilder. »Sie hätten mir meine Quote von einhundert Prozent eingeschlafener Schüler um ein Haar ruiniert. Aber mit dem heutigen Nickerchen haben Sie mir gezeigt, dass auch unsere Musterschülerin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch ist. Kommen Sie nach vorne, Ebeling. Hier gibt es eine wunderschöne Urkunde für Sie.«

Ich musste glühen wie eine Tomate, als ich mehr nach vorne taumelte als ging, während der Saal hinter mir tuschelte und kicherte. Doch der Peinlichkeit Ende lag noch in weiter Ferne. Als ich die viel zu vielen Stufen zur Bühne hochstieg, meldeten sich die Kopfschmerzen zurück. Das Wasserhirn fing erneut an zu schwappen. Die winzigen Zwerge machten sich bereit für die nächste Runde Sackhüpfen. Bei dem grausigen Gedanken daran verlor ich das Gleichgewicht und stolperte mit rudernden Armen nach vorne. Reflexartig hielt ich mich an der ersten Sache fest, die erreichbar war. Eine der Riesenvasen. Sie kippte zur Seite. Verdammt! So prallte ich ungebremst gegen das Pult und warf es um. Ich landete hart auf der Schulter. Die zweite Vase riss es ebenfalls mit und ihre Lilienflut ergoss sich mit dem Wasser die Stufen hinunter. Zuerst setzten einige Aufschreie ein, dann folgte wieherndes Gelächter. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich vor Scham im Boden versunken. Wir befanden uns doch auf einer Bühne. Wo blieb der verfluchte Vorhang?

Arme packten zu und zogen mich wieder auf die Beine.

»Rieke, alles gut mit dir? Bist du krank?« Es handelte sich um Patrick.

Ich konnte nicht antworten. Für mich klang seine Stimme so weit entfernt.

Andere Leute retteten die pflanzlichen Symbole französischer Aristokratie und jemand stellte schließlich das Pult wieder auf. Ehrlich gesagt, bekam ich davon nicht viel mit. Jemand schob mich in die Reihe und hielt mich weiter am Arm fest, damit ich nicht noch einmal umfiel. Als sich irgendwann der Saal wieder beruhigt hatte, wurden wir einzeln aufgerufen, mussten nach vorne treten, bekamen unseren neuen Rang, die Urkunde und die Zuweisung zu unserer ersten Dienststelle. Sie gingen diesmal nach Alter absteigend vor. Also war ich die Vorletzte. Nur Timo Hennigsen hatte ein paar Tage später nach mir Geburtstag. Ich hielt meinen Blick gesenkt und klatschte artig mit allen anderen mit, wenn jemand aufgerufen wurde. Patrick trat nach vorne und so wurde ich meiner Stütze beraubt, aber es ging mir inzwischen wieder gut genug, dass ich alleine stehen konnte. Die Minuten zogen sich dahin.

Thiele räusperte sich laut. »Und nun unsere Jahrgangsbeste, die bereits einen unvergesslichen Auftritt hingelegt hat. Sie hat vermutlich ein wenig vorgefeiert, aber wer kann ihr das bei den Noten schon verdenken. Man muss schon lange suchen, um eine Zwei zu finden. Ich rufe auf: Polizeikommissarin Ulrieke Ebeling.«

Erneut setzte Gelächter ein, doch der Applaus tönte ebenso laut. Ich tat ein paar wacklige Schritte nach vorne neben das Pult und hielt gehörigen Abstand zu der Vase links davon, deren Blumen jetzt eher traurig die Köpfe hängen ließen. Die riesige Pfütze, die das Wasser auf den Stufen verursacht hatte, konnte man noch deutlich erkennen.

Doch glücklicherweise verhinderte Thiele, mich in die aufkeimenden Gedanken an Wasser zu verlieren, denn er setzte mit geradezu gönnerhafter Stimme hinzu: »Polizeikommissarin Ebeling hat die K-Klasse mit einer Spitzennote beendet und wird mit dem heutigen Tag dem LKA unterstellt.«

Glücksgefühle wallten in mir auf. Mein Unterbewusstsein blendete mir wie automatisch Hajo Koopmanns charmantes Gesicht vor mein geistiges Auge. Seine vollen, kastanienbraunen Haare und die Grübchen, die sich bei ihm immer zeigten, wenn er lächelte. Mein Herz begann dabei heftig zu pochen. Adrenalin schoss durch meine Adern. Hier kam das große Glück. Yvonne würde ausflippen, wenn sie davon hörte.

Und dann zerplatzte das Bild mit dem nächsten Satz von Thiele wie eine Seifenblase.

»Sie wird ihre erste Stelle bei einem erfahrenen Außenermittler der Kriminalpolizei antreten, der vom beschaulichen Polizeikommissariat Oberharz in Clausthal-Zellerfeld aus operiert.«

Die Worte versetzten mir einen Schlag, als hätte mich eine Peitsche erwischt.

»Was?«, entfuhr es mir und meine Stimme klang dabei schrill und mindestens eine Oktave zu hoch.

»Ihre erste Dienststelle wird das lauschige Polizeikommissariat im schönen Oberharz sein, meine Liebe«, erklärte Thiele, dessen Stimme deutlich über die Lautsprecher in den Saal schallte. Er schien zu denken, dass er mit einer hysterischen Frau redete. Nun ja, vielleicht hatte er nicht so ganz unrecht.

»Aber, aber …« Ich brach ab und schluckte. »Ich sollte doch nach Oldenburg kommen. Da muss eine Verwechslung vorliegen.« Wimmerte ich etwa? Ich hatte noch nie gewimmert. Und doch wurde mir bewusst, dass es sich genau in diesem Augenblick so anhören musste. Vor über vierhundert versammelten Gästen!

Thiele sah inzwischen richtig genervt aus, als er sich zu mir vorbeugte und zischte: »Nein, lesen Sie selbst und benehmen Sie sich endlich so, wie es sich für Ihren neuen Dienstrang gebührt. Nehmen Sie Ihre verdammte Urkunde und halten endlich die Klappe.«

Totenstille herrschte im Saal. Thieles Stimme hatte man überall verstehen können. Ich wäre am liebsten gestorben, als er mir die Urkunde und meine Dienststellenzuweisung grob in die Hand drückte. Jemand, vermutlich war es Patrick, brüllte »Applaus!« und fing laut an zu klatschen.

Ich verdrückte mich eiligst nach hinten, während Timo aufgerufen wurde, und floh noch vor dem Sektempfang durch die Hintertür aus dem Saal. Als Beste vor allen zum Gespött der ganzen Akademie geworden zu sein, schürte meine Panik. Nur noch weg von hier, diesem Ort der Schande und den grinsenden Menschenmassen!

Stille Tränen rannen mir über die Wangen, bis ich die Straße erreichte und von dort trotz erneut einsetzender Kopfschmerzen, so schnell ich es vermochte, losrannte.

In den vertrauten Wänden meiner WG angekommen, sackte ich auf dem Boden zusammen und heulte mir die Seele aus dem Leib.

Wie konnte das nur sein? Hatte sich die ganze Welt gegen mich verschworen? Wäre ich doch nur in meinem dämlichen Traum ertrunken!

Yvonne fand mich Stunden später in meinem desolaten Zustand. Sie war genauso am Ende und berichtete mir, dass sie nicht mehr bei der Ausbildung mitmachen dürfe, weil man bei ihr eine seltene Krankheit festgestellt habe, die ihren Gleichgewichtssinn störe und die Schwindelanfälle auslöse. Untauglich! Damit war ihre Zukunft als Polizistin dahin. Die nächste Nachricht, die nächste Katastrophe! Eine Flasche billiger Cognac aus Lauras Beständen half uns schließlich durch den Kummer, bis wir an Ort und Stelle einschliefen.

Der Alte

Missmutig starrte ich aus dem Zugfenster der Regionalbahn auf die vorbeirauschende Landschaft und erinnerte mich mit Grausen an meine Blamage und alles, was danach passiert war.

In der Nacht nach der Urkundenverleihung hatte mich wieder der dämliche Albtraum heimgesucht, wovon ich pochende Kopfschmerzen bekommen hatte. Wie ich es am nächsten Morgen an den Küchentisch zum Frühstück geschafft hatte, würde mir für immer ein Rätsel bleiben. Übermüdet war mir der altmodische Brief an mich entgangen, bis Laura ihn mir schließlich demonstrativ unter die Nase gehalten hatte.

Der Brief.

Ich griff in die Seitentasche meines Rucksacks, zog ihn heraus und las ihn wohl zum zwanzigsten Mal. Er stammte von meiner Großtante Auguste Ebeling, an die ich mich nur noch düster von irgendeiner der lästigen Familienfeiern vergangener Tage erinnern konnte. Ich musste damals acht oder so gewesen sein. Sie hatte sich auf diesem letzten gemeinsamen Treffen heftig mit meiner Mutter gestritten, woraufhin diese den Kontakt zu ihr ganz abgebrochen hatte. Worum es damals ging, hatte man mir nie gesagt. Seitdem hatte ich kein Sterbenswörtchen mehr von Auguste gehört.

Und plötzlich tauchte da dieser Brief auf, direkt an mich adressiert, in dem sie mich zu meinem Abschluss beglückwünschte. Noch irritierender war, dass sie bereits zu wissen schien, dass ich nach Clausthal kommen würde. Großzügig bot sie mir kostenlos das Gästezimmer in ihrem Haus an. Ein alter, leicht angerosteter Schlüssel befand sich aufgeklebt unter ihrer schwungvollen Unterschrift. Das absolut Merkwürdigste blieb für mich allerdings die Tatsache, dass der Brief vor der Verkündung meiner ersten Stelle abgeschickt worden war. Ich würde meine Tante zur Rede stellen, wie sie vor allen anderen diese Information erhalten hatte. Dennoch würde ich ihr Angebot annehmen. Als junge Polizeikommissarin verdiente man nicht wirklich gut. Da kam mir jede Kosteneinsparung gerade recht. Ich hatte versucht, ihre Telefonnummer herauszubekommen, um mich anzukündigen, aber sie schien keine zu besitzen.

Da ich bereits am Montag meine Stelle antreten sollte, hatte ich in aller Eile das Nötigste gepackt. Beim Abschied von Laura und Yvonne waren noch einmal viele Tränen geflossen. Mein Herz klammerte sich seitdem an das leidenschaftliche Versprechen, bald schon wieder zu Besuch zu kommen.

Ein eigenes Auto besaß ich immer noch nicht, denn das lag jenseits meiner finanziellen Möglichkeiten. Also blieb nur die Deutsche Bahn als Option. Die Züge fuhren laut Plan regelmäßig genug, um es auf diese Weise an einem der kommenden Wochenenden in die Tat umzusetzen.

Ich hatte eine Mail an meine neue Dienststelle mit meinen Reise- und Kontaktdaten abgeschickt und mich widerstrebend auf den Weg gemacht. Trödelnd, als wenn es damit aufgehalten werden könnte. Am Hauptbahnhof hatte ich meinen Zug beinahe noch verpasst, aber der hatte Verspätung. Wenn auf eines bei der Bahn Verlass war, dann darauf.

Beim Umsteigen am Hauptbahnhof von Hannover, wäre ich um ein Haar Patrick in die Arme gelaufen, doch ich versteckte mich schnell hinter einer Trennwand der Raucherecke. Er musste im selben Zug gesessen haben. Er stieg anscheinend hier ganz aus und lief mit federnden Schritten die Treppen hinunter. Ausgerechnet er musste eine Stelle direkt in der niedersächsischen Hauptstadt erhalten haben. Neid begleitete mich in die Regionalbahn, die zehn Minuten später auf dem gegenüberliegenden Gleis bereitgestellt wurde.

Wir fuhren gerade durch einen Ort, der Baddeckenstedt hieß und im Wesentlichen aus einer alten, stillgelegten Zuckerfabrik zu bestehen schien. Das Wetter, das sich bis Hannover noch von seiner schönen Seite gezeigt hatte, zog sich immer mehr zu. Dunkle Wolken am Himmel über dem Harz, der langsam in Sicht kam, verrieten mir, dass es bald regnen würde. Ein kurzes Piepen ließ mich zusammenfahren. Ich steckte den Brief eilig wieder weg, den ich erneut hervorgekramt hatte, und zog mein Handy heraus. Eine SMS von meiner neuen Dienststelle verkündete: »KHK Heinecke holt Sie in Goslar ab. Willkommen im Harz!«

Das KHK stand für Kriminalhauptkommissar. Beim Namen schaute ich zweimal hin. Heinecke. Irgendwo war mir der Name schon einmal untergekommen, aber im Moment fiel mir nicht ein, woher ich den kannte. Dann würde ich meinen neuen Vorgesetzten gleich kennenlernen. Auch nicht verkehrt. Es gab Dutzende von Fragen, die eine Antwort verlangten. Allen voran, warum er nicht ordentlich in einer LKA-Dienststelle arbeitete, sondern abgeschieden im Oberharz. So etwas sollte es überhaupt nicht geben. Wer war dieser Heinecke nur?

Um nicht dauernd in die wolkenverhangene Landschaft zu starren, blickte ich mich im Waggon der Regionalbahn um. Es saßen noch insgesamt fünf Menschen in meinem Abteil. Ein älteres Ehepaar, eine etwa dreißigjährige mollige Frau mit einem dieser neuen stylischen Kinderwagen, ein junger Mann in einem Heavy Metal T-Shirt, wohl ein Student, wie sich vermuten ließ, und eine mittelalte Frau in einem gewachsten Regenmantel, die mir bislang noch gar nicht aufgefallen war. Sie musste wohl erst kürzlich zugestiegen sein. Die Frau starrte mich unentwegt an, wie mir nicht entging. Als ich sie direkt anblickte, drehte sie den Kopf schnell weg. Mir fiel auf, dass die Frau die Stirn gerunzelt hatte und mich kaum, dass ich wieder wegsah, erneut musterte. Glücklicherweise tauchte der Fahrkartenkontrolleur auf und lenkte sie ab. Ich nutzte die Gelegenheit und wechselte das Abteil. Die Frau war mir unangenehm.

Eine Viertelstunde später hielt der Zug in Goslar. Als ich ausstieg, begann es wie auf Kommando aus Eimern zu schütten. Auf dem Bahnsteig sah man nur wenige Menschen, die eilig aus- und einstiegen, aber nirgendwo wartete jemand. Ich schulterte meinen Rucksack, ging dann durch den alten Bahnhof und blieb unter dem Vordach stehen. Das Gebäude war innen modernisiert worden, doch der schöne Stil des 19. Jahrhunderts mit dem Natursandstein und den romanisch gehaltenen Fensterbögen wirkte immer noch sehr schön. Vage konnte ich mich aus meinen Kindertagen an ihn erinnern. Goslar machte von hier aus gesehen insgesamt einen netten Eindruck, auch wenn das Wetter momentan nicht mitspielte. Die mollige Frau mit Kinderwagen, die ebenfalls im Zug gewesen war, zog einen Regenschirm hervor und machte sich zu Fuß mit ihrem schlafenden Kind auf in die Innenstadt. Ich sah ihr eine Weile nach, bis das diesige Wetter ihre Konturen verwischte. Eine Kirchturmuhr schlug fünf Uhr. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich fror. Obwohl ich noch unter dem Vordach stand, hatte sich jede Menge Feuchtigkeit auf meiner Jacke gesammelt und tropfte nun auf meine Jeans. Es schien geradezu, als wenn die Regentropfen extra einen Bogen beschrieben, um mich zu treffen. Ich trat einen Schritt zurück.

Wo blieb mein Vorgesetzter?

Ich musterte die Autos, die vor dem Gebäude standen, aber es befand sich kein Streifenwagen darunter. Sicherlich würde der Kriminalhauptkommissar einen Zivilwagen fahren. Nur welcher mochte es wohl sein? Eine Weile wartete ich noch, dann nahm die Ungeduld überhand. Ich zog erneut mein Handy hervor und wählte die neue Dienststellennummer.

»Polizeikommissariat Oberharz«, meldete sich eine männliche Stimme.

»Hier spricht Polizeikommissarin Ulrieke Ebeling. Sie haben mir eine SMS geschickt, dass Kriminalhauptkommissar Heinecke mich in Goslar abholen würde. Er ist nicht da, und wenn es noch länger so weiterregnet, sollte er besser ein Schlauchboot mitbringen. Soll ich den Bus nehmen?«

»Lassen Sie das mit dem Linienbus, der braucht hier hoch eine halbe Ewigkeit. Heinecke wird sicher bald da sein. Er ist schon vor über einer halben Stunde losgefahren. Warten Sie doch im Celtic Inn. Das müsste offen haben. Da ist es trocken.«

Die Kneipe, die mit im Bahnhofsgebäude lag, war nicht zu übersehen. Ich dankte dem unbekannten Kollegen für den Tipp und legte auf.

Als ich den Schankraum betrat, herrschte noch nicht viel Betrieb. Drei Gäste saßen an einem Tisch in der Ecke und studierten die Getränkekarte. Ein Musiker war damit beschäftigt, seine Boxen auf einem winzigen Podest, das wohl eine Bühne sein sollte, aufzubauen. Ein schmieriger älterer Mann mit dicker Jacke hockte mittig an der kurzen, dunkelbraunen Theke und trank Bier.

Schließlich entschied ich mich, wenigstens eine Tasse Tee zu bestellen, und setzte mich auf einen der beiden freien Plätze an der Bar. Der smarte Barkeeper kam zu mir herüber und lächelte mich interessiert an. »Moin. Was darf es sein, junge Dame?«

»Auch Moin. Haben Sie Ostfriesentee?«, fragte ich.

»Ich habe englischen Tee.«

Das klang akzeptabel. Also bestellte ich. »Eine Tasse und etwas Milch dazu bitte.«

»Mit oder ohne Schuss?«, fragte er und wies auf das ausführliche Spirituosensortiment hinter sich.

»Ohne!«

»Kommt sofort.« Schon war er verschwunden.

»Du bist nicht von hier, Püppchen, oder?« Begleitet von einem intensiven Geruch nach Alkohol und kaltem Tabakrauch wehte diese Feststellung von der Seite zu mir herüber. Als ich mich zu dem Mann neben mir auf dem Barhocker umwandte, hob er gerade wieder sein Glas und trank einen weiteren Schluck. Aus der Nähe betrachtet wirkte der untersetzte Mann verbraucht. Der Alkoholkonsum war ihm deutlich anzusehen und an den gelben Fingernägeln konnte man den Kettenraucher erkennen. Die kurzgeschorenen Haare ergrauten an den Schläfen und der ungepflegte Dreitagebart wurde bereits weiß. Er wirkte wie siebzig, mochte aber vielleicht zehn bis zwanzig Jahre jünger sein. Bei den Lastern, die er zu haben schien, konnte man sich da schnell täuschen.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, entgegnete ich scharf. Mich hatte schon seit Jahren niemand mehr Püppchen genannt. Was fiel dem schmierigen Kerl nur ein?

»Hab dich nicht so. Du bist allein, ich bin allein und der Abend ist noch jung«, kam es zur Antwort.

Ich rutschte auf meinem Stuhl so weit wie möglich von dem Mann weg und blickte erst auf meine Armbanduhr, die bereits 17:32 Uhr anzeigte, und dann hinaus auf den Vorplatz. Hoffentlich würde Heinecke bald eintreffen. Mein Tee kam.

»Dann nehme ich noch ein Kilkenny«, hörte ich den alten Mann neben mir sagen. Während der Barkeeper nach einem neuen Glas griff, beugte sich der Alte über den Tresen. Entgegen meinem Willen sah ich aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Ich konnte nicht anders.

Er hielt dem Typen hinter dem Tresen einen Geldschein hin und grinste hinterhältig. »Ich wette mit dir um diese hundert Euro, dass mich die heiße Zuckerschnecke da gleich begleiten wird. Sie ist garantiert schon ganz scharf darauf.«

Ich verschluckte mich fast an meinem Tee. Wo war ich hier gelandet? Die abfälligen Sprüche entstammten ja dem finstersten Mittelalter. Der Barkeeper spähte zu mir herüber und schenkte mir ein abschätzendes Lächeln, als er dem Mann sein nächstes Bier hinstellte.

»Die Sahneschnitte? Nie im Leben, Alter.«

»Hundert Euro!«

Sie gaben sich die Hände.

»Die Wette halte ich.«

Jetzt reichte es mir. War ich etwa ein Stück Vieh, das auf dem Markt verschachert werden sollte? Ich zog meinen neuen Ausweis und hielt ihn den beiden hin.

»Ich bin Kommissarin bei der Polizei. Und Sie beide werden sich jetzt bei mir entschuldigen oder ich kriege Sie dran wegen Beleidigung«, fuhr ich sie an.

Inzwischen verfolgten die anderen drei Gäste und der Musiker unser kleines Schauspiel mit großem Interesse. Ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken. Der Barkeeper hob sofort abwehrend die Hände und trat eilig einen Schritt zurück.

»Sorry, ich wollte Sie nicht beleidigen. Das sollte vielmehr ein Kompliment sein. Sie sehen echt heiß aus. Ich meine …« Er schluckte heftig und tauchte nun ganz hinter der Bar ab.

Jemand in meinem Rücken kicherte mit vorgehaltener Hand.

Der alte Mann hingegen nahm sein Bierglas, prostete mir zweideutig zu und trank es in einem einzigen Zug aus. Ich kam mir ziemlich blöd vor, weil ich ihm immer noch meinen Ausweis hinhielt, dieser allerdings komplett ignoriert wurde.

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, fragte der Alte den Barkeeper, der wieder zögerlich auftauchte. »Was bin ich dir schuldig für das Bier und den Tee da?«

»Ich kann schon für mich selber zahlen«, warf ich giftig ein, bevor ich mich im selben Moment gleich wieder darüber ärgerte.

»16,50 für die drei Bier und 2,90 für den Tee, macht 19,40«, rechnete der Mann im Kopf zusammen.

»Gut, dann gib mir 75 Euro. Der Rest ist Trinkgeld.«

»He, Sie haben die Wette aber nicht gewonnen«, begehrte der Barkeeper auf.

»Doch, das habe ich!«, entgegnete der Alte entschieden und quittierte seine Aussage mit einem langen Rülpser, der ganz von unten kam. Während ich noch angewidert das Gesicht verzog, sagte er zu mir gewandt: »Wir gehen, Püppchen.«

»Mit Ihnen gehe ich nirgendwohin. Ich warne Sie zum letzten Mal«, versuchte ich es noch einmal.

Der Mann seufzte.

»Na, dann halt auf die harte Tour.«

Er wurde ganz schnell, als er plötzlich unter seinen Trenchcoat griff. Zu spät spannte ich mich an, als ich meinen taktischen Fehler erkannte. Wenn er jetzt eine Waffe gezogen hätte, wäre ich chancenlos gewesen. Ich saß zu weit weg.

Verdammt.

Aber statt einer Waffe förderte er etwas Klobiges aus abgewetztem speckigen Leder zutage und warf es mir zu. Es klatschte auf den Tresen und klappte dabei auf. Mit einem überlegenen Grinsen hielt er die offene Hand dem Barkeeper hin, sah aber mich an.

»Schluss mit Ausweiswedeln. Du bist zu spät, Ebeling. Ich sitze mir hier schon viel zu lange den Arsch platt. Nimm dein Gepäck und komm mit. Und du, mein Junge, schuldest mir 75 Euro.«

Ich starrte auf den Dienstausweis von Kriminalhauptkommissar Ingo Heinecke und rang um meine Fassung. Es gab keinen Zweifel. Ich war noch keine verdammte Stunde im Harz und mein Vorgesetzter hatte mich schon verarscht. Da kam man sich vor wie eine dämliche Anfängerin. Das konnte ja nur böse enden mit dem alten Sack.

Kurz darauf saßen wir in seinem betagten Mercedes, der aufdringlich nach Zigarettenrauch stank, dass es auch der Vanilleduftbaum am Rückspiegel nicht überdecken konnte. Der Aschenbecher quoll vor Kippen nur so über und aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund rollte die ganze Fahrt hoch nach Clausthal auf dem Rücksitz eine Flasche Doornkaat hin und her, während der Regen nur so auf die Frontscheibe prasselte. Der Tee in meinem Magen rebellierte von den intensiven Ausdünstungen. Still kämpfte ich den aufkommenden Würgereiz nieder und atmete verstärkt durch den Mund, bis sich meine Geruchsnerven etwas angepasst hatten.

Heinecke schwieg zunächst, grunzte nur zuweilen und gab vereinzelte Rülpser von sich. Bei der Biermenge, die er seine Kehle hinuntergeschüttet hatte, war Letzteres auch kein Wunder.

Wir ließen das Ortsschild von Goslar schnell hinter uns. Es ging zügig immer weiter bergauf. Die Straße wurde von hohen Fichten eingerahmt, die zu beiden Seiten an den Hängen wuchsen. Ihr dunkles Grün schluckte das spärliche Restlicht und blockte die Sicht auf die Bergflanken. Mein Blick schwirrte unstet hin und her auf der Suche nach etwas Beruhigendem.

»Gute Fahrt gehabt?«, fragte Heinecke auf einmal im Plauderton, als er eine scharfe Rechtskurve nahm und zu einem vor uns fahrenden Kombi mit Cloppenburger Nummernschild aufschloss.

Ich antwortete nicht auf seine Frage, mit der er versuchte, Smalltalk zu machen. »Das in der Bar war gerade nicht fair«, sagte ich stattdessen.

Schnauben.

»Mädel, du bist ein Bulle. Wenn du fair gewollt hättest, dann wärst du was anderes geworden. Willkommen im Leben. Jetzt ist die Akademiescheiße vorbei.«

»Wieso müssen wir eigentlich nach Clausthal-Zellerfeld? Ist die Kripo nicht in Goslar stationiert?«, platzten die ersten Fragen aus mir heraus. Im Grunde wollte ich gar nicht so biestig klingen, doch Heinecke erzeugte in mir eine Grundstimmung, dass ich nicht anders konnte. Diese merkwürdige Frage nach dem Warum hatte mich sowieso seit meiner Ernennung immer wieder gedanklich beschäftigt. Da konnte ich sie auch gleich jetzt stellen.

Heinecke gluckste. »Der Oberharz, mein Püppchen, ist ein unglaubliches Privileg. So hoch hinaus kommt man beim LKA in ganz Niedersachsen sonst nicht. Wir arbeiten wie Gott aus den Wolken heraus!«

Was für eine theatralische Antwort. Die erklärte gar nichts und klang nach purer Angeberei. Mehr würde ich aber vermutlich von Heinecke nicht erfahren. Ich nahm mir vor, alleine dahinter zu kommen.

In der nächsten Kurve setzte er neugierig nach: »Hast du schon ein Quartier?«

»Ja, ich habe für die erste Zeit ein einfaches Gästezimmer gemietet.« Ich musste ihm ja nicht verraten, dass ich bei meiner Großtante schlief. Er würde mir das sicher sofort als Schwäche auslegen.

»Gut, ist besser so. Wenn du es nicht bringst, dann verlierst du wenigstens nicht gleich einen Haufen Geld.«