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Regine lebt lange schon in einem versteckten Winkel Englands und ist überzeugt davon, mit ihrer Vergangenheit und Familie in Deutschland endgültig abgeschlossen zu haben. Doch dann kommt der Anruf, dass ihre Nichte Julia tot aufgefunden wurde. Julias Freundin Karen glaubt nicht an Selbstmord und bittet Regine um Hilfe. Schweren Herzens reist Regine nach München und sieht sich mit schockierenden Ereignissen und Alpträumen ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Warum musste Julia sterben? Wovor fürchtet sich ihre Mitbewohnerin Karen? Allmählich wird Regine immer tiefer in Julias tragische Lebensgeschichte hineingezogen. Bis sie endlich begreift, dass Julia nur Teil eines mörderischen Plans war, in dem sie von Anfang an keine Chance hatte.
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Seitenzahl: 200
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Elsa Mason
Kalte Schatten
Ein Psychothriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kalte Schatten
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EPILOG
Impressum
Impressum neobooks
Umschlaggestaltung und Satz Carl-Peter Fehringer
Copyright © November 2013 S. Elsa Mason
28. Januar 2012
REGINE
Die Gäste, die hier im Februar auftauchen, kommen wegen der Robben. Ausgerechnet zu einer Jahreszeit, wenn der Wind direkt vom Nordpol über uns hinwegbläst, bekommen die Robben ihre Babys. Zu Hunderten liegen sie am Strand, eine steingraue Masse, die sich beim Näherkommen als Ansammlung wuchtiger Körper entpuppt.
Gestern traf eine Familie mit zwei Teenagern bei uns ein, allesamt Brillenträger, groß und stämmig gebaut. Ich höre sie schon um sieben mit ihren schweren Stiefeln die Treppen herunterpoltern, als sie ihren Rottweiler ausführen. Zuerst hatte ich geglaubt, die Teenager seien ein junges Ehepaar; beinahe hätte ich ihnen das Doppelzimmer statt das mit den Einzelbetten gegeben. Sie lachten sich kaputt und klärten mich auf. Nur die Mutter spricht, laut und ständig. Die Tochter lächelt gequält durch ihre Zahnspange, Vater und Sohn tauschen Blicke aus und schweigen. Wie ich beim Servieren des Frühstücks erfahre, ist der junge Mann ein wahres mathematisches Genie seines Jahrgangs in der Schule. Dafür scheinen seine Emotionen tief im Innern vergraben zu sein.
Neben mir ertönt ein Aufschnarchen, dann wälzt Jo sich auf die andere Seite. Ein Hauch von Weindunst dringt in meine Nase. Er ist spät ins Bett gekommen letzte Nacht, ich werde ihn schlafen lassen. Wenn er einen frühen Termin hat, sollte er sich endlich einmal selbst einen Wecker stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er verschläft, aber das ist schließlich nicht meine Sache.
Ich setze mich auf und lausche. Draußen verklingen die Schritte und Stimmen der Gäste, dann herrscht Stille, als sei die Welt in Watte gehüllt. Noch bevor ich hinausschaue, weiß ich, dass es geschneit hat. Rasch ziehe ich mich an und schleiche auf Socken hinunter in die Küche.
Zwei schwarze Wirbelwinde stürzen winselnd auf mich zu. Ihre Körper sind warm und geschmeidig vom Liegen vor dem großen Gasherd, der Seele meiner Küche. Ich hocke mich an die Wand und lasse sie um Körperkontakt mit mir buhlen. Meist gewinnt Poppy, weil ihre Tochter Ruby zu rücksichtsvoll ist und sich fortdrängen lässt.
Ein englisches Frühstück läuft zu einer riesigen Mahlzeit auf, wenn Gäste wie die derzeitigen sämtliche Beilagen auf der Liste ankreuzen. Mir ist unbegreiflich, wie manche Leute solche Mengen an Würstchen, gebratenem Speck, Spiegelei auf gebratenem Toastbrot, gebackenen Bohnen, Champignons und Tomaten am Morgen verspeisen können, ohne dass ihr Magen rebelliert. Ich schiebe alles in den Ofen und mache mir eine Tasse grünen Tee.
„Nachher gehen wir zu den Robben“, erkläre ich den Hunden, die mich aufmerksam betrachten und die Ohren aufstellen. Mit schnellen Blicken zum Kühlschrank teilen sie mir mit, dass sie zuerst ihr Frühstück erwarten, bestehend aus Joghurt und Haferflocken, garniert mit Glukosamintabletten und einem Schuss Mineralienessenz, weil sie schon ältere Damen sind. Jo scherzt oft, die beiden würden ihn sicher überleben bei all der Fürsorge, die ich ihnen zukommen lasse. Jedenfalls trinken sie weniger Alkohol als er.
Manchmal erinnere ich mich. An die Funken, die wie ein Feuerwerk zwischen uns aufschossen. An sein tiefes Lachen, das mich ansteckte und eine Gänsehaut über meinen Körper trieb. Dann vermisse ich uns, obwohl er nun zum Greifen nah ist, Teil meines Alltags, meines Lebens. Ich weiß nicht, was mit uns geschehen ist. Warum ich ihm so oft ausweiche. Und warum er manchmal so erschöpft erscheint.
An mir kann es doch nicht liegen, oder? Auch wenn er mich manchmal wie eine Fremde anschaut, als würde er sich plötzlich fragen, wie um Gottes Willen er hierher geraten ist, in dieses zugige alte Haus am Meer, zu dieser unbekannten Frau jenseits ihrer besten Jahre, in dieses fremde Land. Unser Zusammenleben scheint uns eher zu trennen. Je größer die räumliche Nähe, desto mehr entfernen wir uns voneinander, und ich scheine nichts dagegen tun zu können. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Ein Leben mit ihm war immer genau das gewesen, wonach ich mich sehnte.
Er betritt die Küche, als ich schon längst den Frühstücksraum aufgeräumt habe, und sinkt auf seinen Stuhl am Tisch. Ab und zu hilft er mir beim Bewirten der Gäste, lässt Funken seines alten Charmes aufblitzen und bringt sie mit seinen reizenden Fehlern im Englischen zum Lachen. Heute aber, das sehe ich gleich, ist ein schlechter Morgen.
„Ich habe verschlafen“, brummt er, ohne aufzublicken. Vergeblich versuchen die Hunde, ihn durch Anstupsen mit den Schnauzen zum Streicheln zu bewegen. In sich zusammengesunken starrt er vor sich hin und schiebt sie fort. Ich stelle eine Tasse Tee mit einem Schuss Milch vor ihn auf den Tisch.
„Toast oder Müsli?“
„Die warten bestimmt schon auf mich. Warum hast du mich nicht geweckt“, entgegnet er mürrisch und streckt blindlings eine Hand nach mir aus. Ich weiche ihr aus und fülle stattdessen die Spülmaschine.
„Sprichst du nicht mehr mit mir?“ fragt er.
Diesmal kreuzen sich unsere Blicke. Sein graues Haar steht ungekämmt in alle Richtungen, dunkle Tränensäcke und um den Mund eingegrabene Falten beherrschen das unrasierte Gesicht. Das alles glättet sich im Lauf des Tages. Aber der Morgen zeigt die Wahrheit, ungeschönt und unbarmherzig. Ich sollte vielleicht eine weniger grelle Birne in die Hängelampe über dem Tisch einschrauben, auch für mich.
Als das Telefon klingelt, nehme ich ab, obwohl ich weiß, dass es für ihn ist.
„Moment, hier ist er.“ Ich reiche ihm den Hörer.
„Ja, tut mir leid“, sagt er. „Der schwarze Schwan? Keine Panik. Ich bin gleich drüben.“
Er steht auf, gibt mir den Hörer zurück, leert wie üblich die Tasse mit dem kochendheißenTee in einem Zug und greift zur Wachsjacke, die an der Tür hängt.
„Soll ich dir nicht noch eben ein Brot schmieren?“ frage ich.
Er schüttelt den Kopf und wirft sich die Jacke über. Als das Telefon erneut klingelt, ist er schneller als ich.
„Was gibt’s denn noch?“ murmelt er in die Sprechmuschel. Dann verändert sich sein Gesicht, er runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen und hält den Hörer vom Gesicht weg, als habe er sich das Ohr verbrannt.
„Ja, da sind Sie richtig verbunden. Hier ist sie“, sagt er auf Deutsch und hält mir den Hörer entgegen. Er beobachtet mich scharf, als ich das Gespräch übernehme. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen.
„Hier Regine Bonewitz“, melde ich mich. „Mit wem spreche ich?“
Es ist lange her, seit ich den letzten Anruf aus Deutschland bekommen habe. Wer sollte mich auch anrufen? Mein Leben ist hier, in Norfolk, seit vielen Jahren schon. Ich habe alle Brücken abgebrochen, wie man so sagt. Oder andere haben sie für mich abgebrochen. Das schmerzt schon lange nicht mehr, mir geht es jetzt besser als je zuvor.
„Ich bin die Mitbewohnerin Ihrer Nichte Julia.“
Die Frauenstimme klingt kratzig und rau, erinnert mich an ein deftiges bayerisches Fleischgericht. Ich tausche einen Blick mit Jo, der fragend die Brauen hebt, und gebe ihm mit erhobener Hand zu verstehen, einen Moment zu warten, bevor er geht.
„Karen Glashauser“, sie hustet kurz, dann spricht sie weiter. „Entschuldigung, dass ich so einfach bei Ihnen anrufe, aber leider kann ich Ihre Schwester, also Julias Mutter, nicht erreichen.“
Ich schweige angespannt und warte. Jo tritt zu mir und versucht zu lauschen.
„Hallo?“, tönt es aus dem Hörer. „Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, um was es geht.“
Bewusst abweisend klingt meine Stimme, womit ich diese Frau auf Distanz halten will. Was fällt ihr ein, hier einzudringen, mich in die Enge zu drängen, hier in meiner Schutzhöhle in einem versteckten Winkel Englands am Rand der Welt?
Sie verfällt plötzlich in stärkeres Bayerisch, und ich merke auch ihr die Spannung an.
„Etwas Furchtbares ist passiert. Man hat Julia gefunden. Gestern früh. Julia ... ist tot. Sie hat eine Überdosis geschluckt und ist erfroren, an der Isar. Ein Spaziergänger mit Hund hat sie gefunden.“
Mir ist, als habe mir jemand einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Ich begreife gar nichts. Die Anruferin verstummt, nur unterdrückte Schluchzer dringen nun aus dem Hörer. Mit offenem Mund schüttele ich den Kopf und blicke zu Jo hoch. Der hat nichts mitbekommen und schaut mich fragend an. Ich senke den Hörer einen Moment lang und presse ihn gegen meine Brust, als könnte das die Wucht weiterer Worte dämpfen. Dann nehme ich ihn wieder auf. Das Schluchzen verebbt allmählich.
„Sind Sie sicher, dass es sich um Julia handelt?“, frage ich schließlich. Der Raum beginnt sich ein wenig um mich zu drehen. Ich kneife die Augen zusammen, um einen klareren Kopf zu bekommen. Jo drängt sich jetzt dicht an mich, um mitzuhorchen. Seine Nähe ist erstickend. Ich schiebe ihn fort und sinke langsam auf den wackeligen Schemel unter dem Wandtelefon.
„Ganz sicher. Sie hatte ihre Brieftasche mit ihrem Ausweis dabei. Deshalb ist die Polizei dann ja auch hierher gekommen. Ich musste sie gestern identifizieren“, sagt die Frau leise. „Eindeutig Selbstmord, meint die Polizei.“
Ich seufze. Meine Schwester Mona, Julias Mutter, hat seit ihrer Jugend an Depressionen gelitten. Ob sich so etwas vererbt?
„Aber ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat“, fährt die Frau fort. „Es ging ihr gut, da bin ich mir sicher. Sie wollte am nächsten Wochenende sogar mit Freunden in Skiurlaub fahren. Julia war Feuer und Flamme. Ich bin vor drei Tagen noch mit ihr einkaufen gegangen. Sie hat sich komplett neu eingedeckt, neue Skier, neue Schuhe, einen richtig coolen Skianzug ... Klingt das für Sie etwa nach Selbstmordgedanken? Nein, ich bin mir ganz sicher, dass jemand sie getötet hat.“
Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. Jo sitzt mit angespannter Miene am Küchentisch und fordert mich durch Gesten auf, ihn in die Neuigkeiten einzuweihen. In meinem Kopf herrscht Schneegestöber, Gedanken wirbeln durcheinander.
„Ich habe Ihnen vorhin eine Email mit dem Zeitungsausschnitt aus dem Münchner Tageblatt von heute früh zugesandt. In dem sie über Julias Tod berichten. Sie ... Sie sind meine einzige Hoffnung.“
„Hoffnung? Wofür?“ frage ich verwirrt. Viel werde ich jetzt nicht mehr aufnehmen können. Was will diese Frau von mir? Warum ruft sie ausgerechnet mich an?
„Woher ... haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?“, frage ich, und im selben Moment fällt es mir ein. Natürlich. Anonymität oder Privatsphäre sind im Zeitalter von Google und Facebook Fremdwörter geworden. Wahrscheinlich erscheint mein Name bei den Suchergebnissen gleich unter mehreren Rubriken. Als Besitzerin eines Bed & Breakfasts in Norfolk, als Editorin des Werkes der Botanikerin Mira Goldsmith. Ich bin auch als freiberufliche Übersetzerin in einigen Foren eingetragen. Abgesehen davon, ist sie ja auch nicht die Erste, die mich so aufgestöbert hat. Hätte ich doch bloß meinen Namen geändert. In England ist das gar nicht so schwierig. Leider habe ich nie geheiratet, was ebenfalls dieses Problem gelöst hätte.
Mona Winterfels. Meiner Schwester ist das gelungen, sie hat sich einen schönen Namen ergattert. Prompt erscheint jetzt ihr rundes Gesicht vor mir, ihr spöttisch verzogener Mund, und in meinen Ohren zetert ihre hämische Stimme. Ich spüre, wie eine Hitzewelle mich überflutet.
„Mit Google kein Problem“, bestätigt die Frau. Ihre Stimme klingt auf einmal sachlicher, fast energisch. „Sie sind ja nicht gerade schwer zu finden. Im Gegensatz zu Julias Mutter oder Vater. Der Vater ist wie vom Erdboden verschluckt, und die Mutter verkriecht sich in einem buddhistischen Kloster in Frankreich. Ist im Moment unansprechbar. Ein Schweigeretreat, wie es heißt.“
Mona ist in einem Kloster? Beinahe muss ich lachen. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Eine fiesere Nonne als sie kann ich mir kaum vorstellen. Jo schaut ungeduldig auf die Wanduhr und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er erhebt sich, schlingt den verfilzten Schal um den Hals und öffnet die Tür zur Halle. Ein scharfer Luftzug schießt herein. Ich bedecke mit der Hand den Lautsprecher.
„Jo, warte bitte. Es geht um Julia... Angeblich Selbstmord. Sie ist tot“, sage ich.
Sein Körper erstarrt mitten in der Bewegung. Dann dreht er sich langsam zu mir um. Sein Gesicht ist plötzlich um einige Schattierungen bleicher geworden.
„Hallo? Sind Sie noch da?“, fragt die Anruferin. Ich bejahe.
„Ich rufe an, weil ich Sie hier wirklich dringend brauche. Sie müssen kommen. Hier läuft etwas verdammt falsch, aber ich allein kann das nicht klären. Von wegen Selbstmord!“
„Ist das Klären nicht Aufgabe der Polizei?“ entgegne ich. “Wenn doch alles auf Selbstmord hindeutet...“.
Jo steht immer noch wie angewurzelt an der Tür.
„Es steht weitaus mehr auf dem Spiel als nur die Aufklärung von Julias Tod, glauben Sie mir. Ich kann Ihnen jetzt am Telefon nicht mehr sagen, es ist alles fürchterlich kompliziert und verfahren. Wenn Sie herkommen und wir uns unterhalten können, werden Sie mich besser verstehen.“
Sie hat Angst, das spüre ich plötzlich. Sie braucht mich, weil sie etwas weiß, das sie der Polizei nicht sagen kann oder will. Mein Herz hämmert vor Aufregung und Furcht. Alles in mir sträubt sich. Aber vielleicht hat sie Recht. Vielleicht bin ich es Julia einfach schuldig.
„Also gut“, sage ich. “Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, auch die von Ihrem Handy. Ich rufe Sie bald zurück.“
Nachdem ich die Nummern notiert habe, lege ich auf. Jo steht neben mir und starrt mich an.
„Ich fürchte, ich muss vielleicht nach München fahren“, sage ich.
Er nickt, als hätte er das bereits geahnt. Ich erkläre ihm in wenigen Worten, was ich gerade erfahren habe. Er legt seine Arme um mich, und ein paar Augenblicke lang klammere ich mich an ihn. Seine Jacke duftet nach frischem Holz und Harz, wohl noch von gestern, als er Berge von Brennholz gesägt hat.
Der wahre Schrecken der Neuigkeit hat mich noch nicht wirklich erreicht. Ich habe Julia vor langer Zeit aus den Augen verloren, und dem Kind von damals muss sie längst entwachsen sein. Julia gehört zu den Altlasten, die ich vor über zehn Jahren entsorgt habe.
Jo löst sich vorsichtig aus der Umarmung.
„Tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich los“, sagt er sanft. „Kann ich dich allein lassen?“
Zeitungsnachricht Münchner Tageblatt, 28. Januar 2012
Tote an Isar gefunden
Wie die Polizei meldet, hat ein Spaziergänger mit seinem Hund gestern früh gegen 8.30h die Leiche einer jungen Frau am Isarufer in der Nähe von Geretsried gefunden. Bei der Toten handelt es sich offiziellen Angaben zufolge um die 25-jährige Kunststudentin Julia Winterfels, die seit dem 25. Januar vermisst wurde. Die Leiche weist offenbar keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung auf. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass sie an Unterkühlung gestorben ist. Die Frau scheint auch eine Überdosis an Beruhigungsmitteln eingenommen zu haben. Der Polizei zufolge handelt es sich vermutlich um Selbstmord.
Es ist noch nicht ganz geklärt, wie es zum Tod der Frau kommen konnte. Julia Winterfels hat sich zeitweise in Psychotherapie befunden. Nach einem Selbstmordversuch vor 2 Jahren wurde sie in einer psychiatrischen Klinik zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung aufgenommen. Auf Grund dieser Vorgeschichte und der Indizien schließt die Polizei ein Gewaltverbrechen weitgehend aus.
Julia Winterfels spielte Cello in dem bekannten Münchner Szene-Ensemble “Alpentango“. Dessen Gründer, der Kontrabassist Michael Constantinescu, ein enger Freund der Musikerin, sagte dem ‘Tageblatt’: „Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich umgebracht haben soll. Gerade in letzter Zeit ging es ihr wirklich blendend.“
Der Leiter der psychiatrischen Klinik, Prof. Dr. H. Roth, der Frau Winterfels vor zwei Jahren behandelt hatte, zeigte sich ebenfalls betroffen von ihrem Tod. Er erklärte gegenüber dem ‘Tageblatt’: „Julias Tod kommt für die Mitarbeiter unserer Klinik, die sie kannten, sehr überraschend. Man muss allerdings leider sagen, dass an Depression Erkrankte paradoxerweise oft gerade dann, wenn es ihnen wieder besser geht, den Mut und die Kraft finden, sich umzubringen.“
Die Krankengymnastin Karen G., Mitbewohnerin von Julia Winterfels, identifizierte die Tote. Weder Winterfels’ Mutter noch Vater konnten bisher erreicht werden. Die Eltern sind seit Jahren geschieden.
Sollten Sie sachdienliche Hinweise zur endgültigen Abklärung des Todes der jungen Frau geben können, werden Sie gebeten, sich mit einer Polizeidienststelle in München in Verbindung zu setzen.
Ich drucke den Zeitungsbericht aus und betrachte lange das dort eingefügte Foto von Julia. Ihr Gesicht ist noch so kindlich und weich, aber die schwermütigen Augen und das aufgesetzte Lächeln erzählen eine andere Geschichte. Wie einen Schutzschild umklammert sie ihr Cello.
Mona ist also unerreichbar. Das ist mal wieder typisch für meine Schwester. Sie hat sich schon immer erfolgreich vor Verantwortung gedrückt. Dafür trägt unsere Mutter die Schuld. Die arme Kleine, wie sehr musste sie unter ihrer garstigen großen Schwester leiden. Wenn unsere Eltern gewusst hätten ... Aber ich stand auf verlorenem Posten. Mir traute man alles Boshafte zu, und Mona war die Unschuld in Person.
Das Ticket online zu buchen ist schnell erledigt. Von Norwich fliege ich über Amsterdam nach München, dann muss ich nicht erst zum Flughafen nach London fahren. Ich staune über mich selbst, nachdem ich doch in den letzten Jahren jeden Gedanken an München gemieden habe. Sofort rufe ich Karen Glashauser auf ihrem Handy an.
„Morgen Abend gegen acht Uhr werde ich in München sein.“
„Gott sei Dank. Haben Sie etwas zu schreiben? Ich muss Ihnen ja noch die Adresse geben.“
Julias Wohnung befindet sich in Schwabing. Ich versuche sie mir auszumalen, sie mit Erinnerungen an mein damaliges Appartment auszustatten.
Aus unserem Küchenradio tönt gerade der Wetterbericht, der Sprecher klingt panisch. Schneefall ist in England immer von der Vorahnung einer Katastrophe begleitet. Ein einziger Zentimeter Schnee, und die Autokolonnen schleichen in Zeitlupe über die Landstraßen. Zwei Zentimeter, und aller Verkehr kommt zum Erliegen. Natürlich besitzt kein Mensch Winterreifen, so etwas gilt als kontinentale Notmaßnahme, die hierzulande unnötig ist. Ein paar Minusgrade werden bereits als arktisch eingestuft, so verwöhnt sind die Leute hier. Das erklärt auch, warum viele alte Häuser wie unseres nur einfach verglaste Fenster besitzen, was immerhin, zusammen mit den verformten Holzrahmen, für eine gesunde Luftzufuhr sorgt. Und hieraus ergibt sich auch der Vorteil, dass wir uns kaum je eine Erkältung einhandeln, abgehärtet, wie wir nun sind.
Wie kalt wird es in München sein? Es herrscht klirrender Frost von Minus fünfzehn Grad, erfahre ich im Internet. Nicht schwierig, bei diesen Temperaturen draußen zu erfrieren. Was für ein Tod mag das sein? Auf alle Fälle weniger radikal, als sich vor einen Zug zu werfen. Was wird Julia gespürt haben, als sie starb? Was hat sie dazu getrieben, Tabletten zu schlucken und sich an die Isar zu legen, um zu sterben? Ich fröstele, als ich versuche, sie mir vorzustellen, am Ufer des Flusses, eine bleiche, starre Eisprinzessin.
In Gedanken versunken räume ich die Gästezimmer auf. Besonders Tochter und Sohn haben ein Chaos hinterlassen, auf den Betten ein Wust von Kleidungsstücken, nassen Handtüchern und Unterwäsche. Aus den Steckdosen hängen iPad-Kabel, unter einem Bett liegen Kopfhörer und eine Musikzeitschrift, unter dem anderen eine halbe Tafel Schokolade und eine fettige Papiertüte mit zwei Doughnuts. Die Eltern haben zumindest symbolisch ihr Bett gemacht, das heißt, die Überdecke spontan darüber geworfen. Ich seufze und häufe das gesamte Bettzeug auf einen Sessel, um das Bett wieder ordentlich herrichten zu können.
Diese Seite meines Broterwerbs gefällt mir nicht besonders. Am wenigsten, Bad und Toiletten zu reinigen. Aber immer noch besser, als eine Klasse von Dreizehnjährigen unter Kontrolle zu halten. Wann immer mir Zweifel an meiner jetzigen Einkunftsquelle oder an meinem Leben kommen, hilft es, mir meine Jahre als Lehrerin an einem Münchner Gymnasium in Erinnerung zu rufen. Das Bed & Breakfast deckt jedenfalls die Unkosten des Hauses. Und nicht zuletzt entfällt das endlose und vor allem sinnlose Korrigieren von Deutschaufsätzen, mit dem ich mir zahllose Wochenenden und Ferien gründlich vermiest habe.
***
Der Lieblingsspruch meines Vaters “Blut ist dicker als Wasser“ kommt mir in den Sinn, als ich mit den beiden Hunden durch Schneematsch vorbei am unserem Lieblingspub, dem „Nelson’s Head“, in Richtung Dünen stapfe. Wenn meine Familie mich braucht, habe ich zur Stelle zu sein. Eine belebende Aufbruchsstimmung, gekoppelt mit dunklen Vorahnungen, hat sich trotz des furchtbaren Anlasses in mir breitgemacht und erhellt den grauen Tag. Gedanken an Julia kreisen mir unaufhörlich durch den Kopf.
Eine Rekordhöhe von etwa drei Zentimetern Schnee ist gefallen, was die Labradore völlig durchdrehen lässt. Für ein paar Minuten vergessen sie ihr fortgeschrittenes Alter, das sie sonst würdevoll dahertrotten lässt. Sie jagen einander, überschlagen sich auf den Feldern, wirbeln Schnee auf und hetzen davon in Richtung Strand. Ich pfeife auf beiden Mittelfingern, woraufhin sie wie im Flug stoppen und wieder auf mich zu rasen. Ihre Gesichter sind weiß bestäubt, die Mäuler zu einem glücklichen Lachen weit aufgerissen. Sie schnappen nach ihren wohlverdienten Hundekeksen, dann halte ich sie bei mir. Die Beiden wissen, dass sie sich den Robben nur vorsichtig nähern dürfen und Abstand wahren müssen, nicht nur wegen der Gefahr, dass Hunde und Robben sich möglicherweise gegenseitig mit Krankheiten infizieren, sondern auch, weil die Robben richtig gefährlich und angriffslustig sein können. Es hat schon Unfälle gegeben, bei denen vorwitzige Besucher ordentliche Wunden davongetragen haben und ärztlich versorgt werden mussten. Die Tiere wirken zwar ungelenk und plump, sind aber im Ernstfall in der Lage, rasch vorzupreschen. Ohnehin zeigen meine Hunde kein großes Interesse mehr an diesen schwerfälligen Wesen, deren torfiger Geruch mir schon in die Nase dringt, noch bevor ich sie sehe.
Die Jungen sind zutraulicher und neugieriger als die Alten. Aber als Poppy versehentlich auf ein verschlafenes Robbenbaby in einer Dünenmulde trifft, wird sie angefaucht und weicht erschrocken zurück. Das Meer liegt still im Kälteschlaf. Eine metallisch schimmernde Fläche, die in der Ferne mit dem Himmel verschwimmt. Der Winter hat dieser Welt alle Farben ausgesogen und harte Kontraste geschaffen. Massive Wellenbrecher aus dunklem Hartholz schieben sich von dem Strand her weit ins Meer hinein. Sie teilen den Sand in Abschnitte, soweit das Auge reicht, um die Wucht der Wellen zu mildern und das dem Meer abgerungene Land zu schützen.
Einige Hundert Meter entfernt erkenne ich nun eine weitere Robbenkolonie, die ich zunächst für Felsbrocken gehalten habe. Schemenhaft in der diesigen Luft zeichnen sich dort auch zwei Spaziergänger ab, ein Mann und eine langhaarige Frau. Sie bewegen sich langsam zwischen den dunklen Massen umher, beugen sich hinunter oder gehen ab und zu in die Hocke, als suchten sie etwas. Ich blinzele mit zusammengekniffenen Augen. Der Mann kommt mir irgendwie bekannt vor. Jetzt rücken sie eng zusammen, als sprächen sie miteinander. Sie lehnt ihren Kopf an ihn, legt ihm einen Arm um die Schultern und deutet auf etwas vor ihnen.
Ich wühle tief in der Manteltasche, bis ich mein Fernglas gefunden habe. Es verursacht mir einen kleinen Stich in den Magen, als ich seine karierte Fellmütze mit den Ohrenklappen erkenne, seinen hochgewachsenen, schlaksigen, leicht nach vorn gebeugten Körper, die Art, wie er den Kopf neigt, um der Frau zuzuhören. Dann sagt er etwas, und sie lacht. Das kann Jo wirklich gut, Frauen zum Lachen bringen.
Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie muss die junge Tierärztin sein, die seit ein paar Wochen ein Praktikum im Tierrettungszentrum macht. Er hat sie die Tage kurz erwähnt. Aber er hat nicht hinzugefügt, wie hübsch sie ist. Dass sie hochgewachsen ist, langes rötliches Haar hat und dass er mit ihr die Robben inspiziert. Warum auch. Die Betreuung der Robben gehört schließlich zu den wichtigsten Aufgaben der Arche. Und sie haben immer wieder neue Praktikanten und freiwillige Helfer dort.
Poppy ist bei mir stehengeblieben. Sie schaut mich auffordernd an. Ruby beobachtet mich vom Meer her, in dem sie gerade einen kleinen Schwimmausflug unternommen hat. Mag das Wasser noch so kalt sein, die Brandung noch so stürmisch – Ruby stürzt sich unweigerlich hinein, als müsse sie sich etwas beweisen. Zum Glück haben die beiden Jo nicht entdeckt. Ich will nicht, dass er uns sieht.
„