Kalte Sonne - Johannes Epple - E-Book

Kalte Sonne E-Book

Johannes Epple

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Beschreibung

Ein junger Arzt reist von einem Auslandseinsatz an der türkisch-syrischen Grenze heim nach Wien. Er hat ein mulmiges Gefühl, denn er wird zum ersten Mal seine kleine Tochter Lara sehen, die vor einigen Wochen zur Welt gekommen ist. Doch als er im Morgengrauen ankommt, ist die Wohnung verlassen. Seine Lebensgefährtin und das Kind sind spurlos verschwunden. Er macht sich auf die Suche nach seiner Familie. Doch als er die kleine Lara findet, tauchen nur noch mehr Fragen auf. Wo ist ihre Mutter und warum ist sie nicht bei ihrem Kind geblieben? Ein Verwirrspiel beginnt, das in der Szene der Fitnessblogger seine Wurzeln hat. Es führt den Arzt an einen Ort, von dem es für ihn kein Zurück mehr gibt: in die Tiefen des eigenen Gewissens.

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Johannes Epple:Kalte Sonne

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-90320-006-7

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

YOU ARE FUCKED! Ich weiß, warum ihr hier seid. Ihr wollt Titten sehen. Miriams Titten und Miriams Panzerarsch. Ihr wollt aussehen wie sie. Oder wie Zyzz oder wie Ulisses. Aber das werdet ihr nie. Dafür seid ihr viel zu faul und zu bequem und zu verwöhnt. Ihr werdet euer Leben lang daherkommen, als hätte euch Gott nach einer viertägigen Sauftour in die Landschaft geschissen. Wie auch immer, damit ist Schluss jetzt. Die Backyard-Seite ist ab heute meine Seite. Ich bin Hacker. Mein Name ist Lordtom99 aka Dr. Tomtom. In der Neigungsgruppe »Firmenspionage und Datenklau« bin ich bekannt als Gründungsmitglied der Steroidhacker-Crew. In den nächsten Stunden werde ich 17 Word-Dokumente hochladen. Miriams Halbbruder hat sie geschrieben. Ihr werdet feststellen, dass die Geschichten über Miriam und ihre Tochter, die auf gannikus.com und team-andro.com herumgeistern, falsch sind.Seht selbst …

Mitte Juni, 2015

Lordtom99\1\Wien:Sommer.docx

»Bin gelandet. Alles gut. Melde mich später.«

Manuel drückte auf »Senden« und holte sein Notebook aus dem Gepäckfach. Er schlüpfte in sein Jackett und wartete, bis die Flugbegleiter die Ausstiegsluken öffneten. Während der Fahrt mit dem Flughafenbus nahm er ein Aspirin gegen seine Kopfschmerzen und ließ seinen Blick über den Hangar schweifen. Zwei Arbeiter standen rauchend vor einem Hallentor. Die Leuchten am Tower warfen grelle Lichtkegel über die Landebahn.

Manuels Koffer gehörte zu den ersten, die in der Gepäckausgabe auftauchten. Er packte das dreckige Ding und hievte es auf seine Schultern. Am Weg durch die Empfangshalle trottete er an einem Sicherheitsbeamten vorbei, der ihn gleichgültig musterte. Draußen winkte er einem Taxi. Er rutschte auf den Beifahrersitz. »Favoritenstraße bitte«, sagte er.

Nebel hing über den Parkhäusern, ein leichter Sprühregen fiel. Erste Lichtreflexe spiegelten sich am Horizont, als das Taxi auf die Stadtautobahn bog. Während der Fahrer das Navigationsgerät bediente, sah Manuel nach, ob Hanna auf seine SMS reagiert hatte. Fehlanzeige. Er löschte die Spammails, die während der Nacht eingegangen waren, und wählte ihre Nummer. Das letzte Mal hatte er es vor dem Abflug versucht, das war vor sieben Stunden gewesen. Auch jetzt schaltete sich die Mobilbox ein.

Gegen sechs Uhr hielt der Taxifahrer in der Favoritenstraße vor dem Haus mit der Nummer 48. Manuel blickte die Fassade hoch. Alle Fenster waren dunkel. Er gab dem Fahrer zwei Euro Trinkgeld und fuhr in den dritten Stock. Die Luft im Vorzimmer war kalt und abgestanden. Als er das Licht aufdrehte, fiel sein erster Blick auf den großen Efeu neben dem Garderobenspiegel. Die Erde war feucht, und im Untersetzer stand Wasser. Gutes Zeichen, dachte er.

»Hanna?« Manuel schlüpfte aus seinen Converse und strich seine buschigen schwarzen Locken hinter die Ohren. »Ich bin wieder da.«

Niemand antwortete.

Manuel hängte sein Jackett auf den Kleiderständer und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Glastisch vor der Couch lag ein Stoß zerfledderter Wochenmagazine. Die Regale links und rechts an der Wand waren voller CDs und medizinischer Lehrbücher. Manuels Bücher. Unfallchirurgie. Alte Kladden, die er seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen hatte.

Manuel kippte die Balkontür und ging ins Schlafzimmer. Die Lampe im Kabinett war zu schwach, um den Raum vollständig auszuleuchten. Er sah nur Konturen. Den Schrank. Die Kommode. Den Spiegel an der Wand. Hinten links unter dem Fenster stand das knorrige Bauernbett, das er bei einem Restaurator am Karmelitermarkt im zweiten Bezirk gekauft hatte. Schon jetzt war ihm klar, es würde leer sein. Er schaltete das Licht ein und sah eine nackte Matratze ohne Decke und Kissen.

Manuel spürte, wie sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Er sah im Bad, in der Toilette und im Kleiderschrank nach. Er durchforstete das Bücherregal im Wohnzimmer und die Laden in der Küche. Keine Auffälligkeiten.

In Hannas Arbeitszimmer änderte sich die Szenerie. Akten waren am Boden verstreut, die Türen des Dokumentenschranks standen offen. Manuel griff nach einem Blatt am Boden. Ein Literaturverzeichnis. Er nahm ein anderes. Der Abstract eines Forschungsförderantrags. Irgendwo in der Wohnung knackte der Parkettboden. Manuel sah über seine Schulter. »Hanna?«

Stille.

Er kontrollierte die Wohnungstür auf Einbruchspuren. Keine Kratzer im Holz. Auch das Sicherheitsschloss war noch ganz. Hatte Hanna das Chaos angerichtet? Niemand sonst hatte einen Schlüssel, dachte er und zückte das Mobiltelefon. Er rief im AKH an, im Hanuschkrankenhaus und im Wilhelminenspital. Er erkundigte sich, ob seine Lebensgefährtin Hanna Mahler stationär aufgenommen worden war. Gespannt lauschte er dem monotonen Klackern der Computertastaturen. Nichts, alle verneinten. Niemand mit diesem Namen war in eines der großen Wiener Krankenhäuser eingeliefert worden.

Manuel blies die Backen auf und wählte die Nummern von Freunden und Bekannten. Vielleicht wussten sie, was mit Hanna geschehen war. Da es erst kurz vor sieben Uhr morgens war, reagierten die meisten nicht auf seinen Anruf. Als Letztes versuchte er es bei Georg, einem Herz-Thorax-Chirurgen mit einer Stelle im Donauspital. Manuel und er hatten gemeinsam studiert, eine Zeit lang hatten sie zu zweit Tutorien am Anatomieinstitut gehalten. Auch heute trafen sie sich noch alle paar Monate auf ein Bier oder schauten Fußball in einem Irish-Pub in der Währinger Straße. Diesmal ließ er es länger läuten als bei den anderen. »Komm schon«, sagte er.

Als er auflegen wollte, hob Georg ab. »Ich werde zuhören, aber ich werde nicht antworten«, sagte er. »Das ist die Strafe für einen Anruf um diese Tageszeit.«

Manuel setzte sich auf die Bettkante. Er war froh, Georgs nasale Stimme zu hören.

»Hallo, Georg. Ich bin’s. Ich bin in Wien.«

»Manuel? Das ist doch … Manuel! Für dich mache ich eine Ausnahme. Seit wann bist du zurück?«

»Ich bin eben gelandet.«

»Wie lange warst du weg? Zwei Jahre?«

»Fast. Mit Unterbrechungen.«

»Wie ist der Krieg?«

»Wie der … keine Ahnung. Ärzte ohne Grenzen agiert nicht an der Front. Wir räumen den Dreck nach der Party weg.«

Kurz war es still. Georg atmete schwer. Er hörte sich krank an. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Aber wenn du gerade gelandet bist, solltest du dann nicht jetzt mit Hanna herummachen, statt mich anzurufen?« Er ließ ein heiseres Lachen hören, das in ein Husten überging.

Manuel blickte auf die leere Matratze. »Hanna ist nicht da. Deswegen rufe ich an. Seit Tagen kann ich sie telefonisch nicht erreichen, und sie reagiert nicht auf meine Mails.«

»Warte.«

Manuel hörte, wie sich Georg aus dem Bett hievte.

»Hast du es in einem Krankenhaus versucht? Vielleicht gab es Komplikationen.«

»Alle durchgerufen.«

Manuel beschlich das Gefühl, dass sein Freund etwas wusste.

»Vor ein paar Wochen war ich bei einer Tagung für Herz-Thorax-Chirurgen, da haben zwei Typen darüber geredet«, sagte Georg.

»Worüber geredet?«

»Sie hätte einen Vortrag halten sollen. Den hat sie abgesagt. Sie soll angerufen haben, hat es geheißen, sie sei kurz vor der Entbindung. Alles gut, soll sie gesagt haben, alles so, wie es sein soll.«

Manuel starrte auf die Staubschlieren auf der Fensterscheibe. Die Morgensonne warf verzerrte Schatten an die Wand. »Vor ein paar Wochen? Kurz vor der Entbindung? Eine Frühgeburt? Ist das dein Ernst?«

Georg hustete.

»Wann hast du sie gesehen?«, fragte Manuel. »Was ist mit ihr und dem Kind?«

»Ich wusste nicht, in welchem Krankenhaus sie liegt. Du weißt ja, so eng sind wir beide nicht.«

»Du erzählst mir, Hanna hätte, ohne mich zu informieren, unser Kind zur Welt gebracht, und dann hast du sie nicht einmal besucht?« Manuel ging im Zimmer auf und ab. In einem kleinen Spiegel auf der Kommode gegenüber dem Bett sah er sein Gesicht. Seine Augen waren klein, und er hatte einen dunklen Dreitagebart, in den sich erste graue Härchen mischten.

»Ich habe nicht einmal Hannas private Telefonnummer«, sagte Georg. »Ich muss nicht wissen, wo dein Kind ist. Das ist deine Aufgabe.«1

Im nächsten Moment ertönte das Freizeichen. Manuel ging ins Bad und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er stopfte die Schmutzwäsche in die Waschmaschine und drückte den Startknopf. Geistesabwesend starrte er auf den steigenden Wasserspiegel in der Trommel.

Hanna hatte offenbar entbunden.

Ihre letzte Nachricht war, dass alles in Ordnung sei.

Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Ihm keine Fotos, keine SMS, keine E-Mail geschickt? Warum war sie nicht erreichbar? Wo war sie überhaupt?

Um sich zu beruhigen verließ Manuel die Wohnung und kaufte bei einem Bäcker Brot und Marmelade. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr. Der Regen hatte aufgehört. Die Wassertropfen auf den parkenden Autos glitzerten in der Morgensonne. Mit dem Gebäck ging Manuel eine Runde im angrenzenden Belvedere-Park. Er setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die Jogger. Gegen neun Uhr wurde sein Hunger so groß, dass er Magenschmerzen bekam. Er fuhr nach Hause, trank hastig einen Kaffee und hängte die frisch gewaschenen Kleider auf den Wäscheständer.

Gegen zehn Uhr fuhr er ins AKH, das Allgemeine Krankenhaus. Vielleicht konnten ihm Hannas Arbeitskollegen weiterhelfen. Im Forschungstrakt erkundigte er sich nach dem Labor C.1 und nahm den Lift ins Untergeschoss, wo sechs Laboratorien lagen, die alle unter Hannas Leitung standen. Er erinnerte sich an eine junge Pharmakologin, die bei ihnen zu Besuch gewesen war, und mit der Hanna so etwas wie eine Freundschaft pflegte. Berger oder Bergmeister hieß sie. Er suchte ihren Namen auf einem Laborplan und fand eine Sylvia Bergmann. Er erinnerte sich wieder. Raum C.1.8.

Das erste Mal seit seiner Rückkehr aus der Türkei spürte Manuel eine verhaltene Freude. Er hatte keine Ahnung, was für ein Spiel Hanna da trieb, aber es konnte um nichts Großes gehen. Seine Tochter war zwar vier Wochen vor dem Geburtstermin auf die Welt gekommen, aber das musste nichts bedeuten. Er war Vater. Komisches Gefühl, dachte er.

Manuel klopfte an Bergmanns Bürotür. Niemand reagierte. Vorsichtig drückte er die Klinke. Abgeschlossen. Manuel erkundigte sich bei einer jungen Frau in einem weißen Mantel nach der Pharmakologin. »Sylvia ist im Kühlraum im zweiten Untergeschoss«, sagte sie und betrachtete ihre silber lackierten Fingernägel. »In zwanzig Minuten ist sie zurück.«

Am Gang setzte sich Manuel auf einen Stuhl und verfolgte das Treiben der Laboranten. Ihn beeindruckte die souveräne Sterilität, die im Forschungstrakt herrschte. Er kannte das alles aus seiner eigenen Zeit in der Wissenschaft. Mit fünfundzwanzig war ihm diese Lebensart zu langweilig geworden. Ihn selbst hatte es immer hinaus ins Leben gezogen. Er wollte echten Schmerz und echte Lust, hatte er einmal zu Hanna gesagt. In der Forschung war immer alles zu sauber und still. Die Menschen sprachen nicht. Sie flüsterten. Sie liefen nicht, sondern schwebten durch die Gänge wie Gespenster. Alles wirkte so rein, beinahe ephemer in den Laboratorien, unendlich weit weg von der Wirklichkeit, als handelte es sich um zwei unterschiedliche Sphären, die nichts miteinander zu tun hatten.

Aus diesem Grund hatte er bei Ärzte ohne Grenzen angeheuert. Er verließ die Operationssäle und Aufwachräume der Wiener Krankenhäuser, in denen er seine Ausbildung absolviert hatte, und tauschte sie gegen Zeltlager und die schmutzigen Rücksitze amerikanischer Humvees. Er mochte das.

Durch eine offene Tür beobachtete er einen Laboranten, der eine Gewebeprobe aus einem Kühlschrank holte und unter ein Mikroskop schob. Jede seiner Bewegungen war langsam und vorsichtig. Er war von einer Ehrfurcht und einem Zartgefühl gegenüber seinem Arbeitsgegenstand ergriffen, die Manuel beeindruckten. Er selbst war nie so gewesen. Er wollte immer stürmen. Da blieb kein Platz für die Feinheiten des Mehr oder Weniger, für die hohe Kunst der Nuance.

Der Laborant war gut und gerne zehn Jahre älter als Manuel. Er musste seinen Beruf seit mindestens zwanzig Jahren ausüben. Und dennoch diese Hingabe, die er auch an Hanna beobachtet hatte. Sie hatte eine ähnliche Haltung wie der Laborant. Hanna war getrieben von der Faszination »Krankheit«, wie sie ihm einmal erklärt hatte. Es war das Labyrinth des Schmerzes, das sie seit ihrem Studium begeisterte.

Nach einigen Minuten trat eine Frau in einem zerknitterten weißen Kittel aus dem Lift und verschwand im Zimmer, auf dessen Türschild der Name Bergmann stand. Manuel klopfte. Die Tür war nur angelehnt. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.

»Klar«, sagte die Frau. »Saltimbocca, trocken und ohne Salbei. Ich habe immer schon gewusst, dass Hanna nicht kochen kann.«

Manuel sah sie ernst an. »Wegen Hanna bin ich hier«, sagte er. »Ich muss dich etwas fragen.«

»Gehen wir in den Park? Ich könnte ein wenig Sonne vertragen.«

Zwischen Hagebuttensträuchern, unter denen Amseln nach Fressbarem suchten, setzten sie sich auf eine Bank. Bergmann schlug die Beine übereinander und holte einen Kaugummistreifen aus der Brusttasche ihres Kittels.

»Ich bin wie gesagt wegen Hanna hier«, sagte Manuel und wartete, welche Wirkung seine Worte auf Bergmann hatten. »Und wegen meiner Tochter. Sie ist … Die beiden sind verschwunden.«

»Verschwunden? Was heißt das?«

»Sie sind nicht daheim, und ich kann Hanna weder telefonisch noch irgendwie anders erreichen.«

»Hattet ihr Streit?«

»Nichts dergleichen.«

Bergmann schob die Ärmel ihres Kittels nach oben und musterte ihn stoisch von der Seite. Manuel fiel auf, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie wirkte so, als hätte sie die Nacht durchgearbeitet.

»Hanna hat oft von dir gesprochen«, sagte Manuel. »Ich versuche nur, alle Möglichkeiten auszuschöpfen.«

»Als ich zuletzt von ihr gehört habe, war sie auf dem Weg in die Semmelweis-Klinik, weil die Wehen eingesetzt hatten.«

»Ging es ihr gut?«

»Alles bestens.«

»Und danach?«

»Ich wollte sie besuchen, aber sie hatte immer eine andere Ausrede. Das Kind sei krank. Das Kind sei müde. Das Kind brauche Ruhe, weil schon eine Menge Besucher dagewesen seien. Nach drei oder vier Versuchen habe ich aufgegeben. Ich kannte ja Hanna. Schon immer war sie darauf bedacht, das Private und das Berufliche zu trennen. Auch wenn sie mich als Freundin sah, gehörte ich zur Sphäre des Krankenhauses. Einmal erklärte sie, Fehler entstünden aus Unordnung. Ich kenne niemanden, der so große Probleme mit dem Unvollkommenen hatte wie Hanna.«

»Kennst du jemanden, der das Kind gesehen hat?«, fragte Manuel.

»Hier bei uns im Krankenhaus war ich die Einzige, die Kontakt mit Hanna pflegte. Sicher kam es vor, dass jemand sich mal nach ihr erkundigte. Aber niemand hatte den Ehrgeiz, sie privat kennenzulernen.«

Als Manuel von Hannas verwüstetem Arbeitszimmer sprechen wollte, ertönte ein Pieper. Bergmann zückte ihr Mobiltelefon und entfernte sich einige Schritte. Manuel behielt sie die ganze Zeit über im Blick.

»Ein epileptischer Schock in der Neuro-Ambulanz«, sagte Bergmann, als sie zu ihm zurückkehrte. »Tut mir leid, wenn ich keine große Hilfe gewesen bin.«

»Schon gut«, antwortete er. »Ich melde mich. Ich habe noch andere Fragen.«

Kurz vor zwei Uhr besuchte Manuel die Mensa im AKH, in der er schon während seines Studiums gegessen hatte. Während er auf die Suppe wartete, rief er jene Freunde und Verwandten an, die morgens nicht abgehoben hatten. Niemand konnte ihm helfen. Die meisten reagierten überrascht, als er ihnen seine Situation erklärte. Er aus der Türkei zurück? Hanna verschwunden? Seine Tochter schon geboren? Wie bitte? Am Ende stocherte er in einem Gulasch und beobachtete das Krankenhauspersonal, das sich vor der Essensausgabe zu einer Schlange aufgefädelt hatte.

Er verließ das AKH durch einen Nebenausgang. Über die Lazarettgasse erreichte er die Sensengasse und die Währinger Straße, der er bis zum Schottentor folgte. Von dort ging er zu Fuß zum Volkstheater und nahm die Straßenbahn in den siebten Bezirk. In der Neustiftgasse ging er zum Haus mit der Nummer 34, in dem ihm eine kleine Wohnung gehörte, die er von seinem Vater geerbt hatte. Er arbeitete dort an Vorträgen oder Arbeitsberichten. Als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen bezog er ein lausiges Gehalt. Da seine Österreichaufenthalte nie länger als drei oder vier Monate dauerten, und er deswegen keine reguläre Stelle in einem Krankenhaus annehmen konnte, finanzierte er seine Heimaturlaube mit Vorträgen bei Pharma-Kongressen oder Reportagen, zuletzt von der Grenze zwischen Türkei und Syrien.

Im Postfach waren Werbebroschüren von Pharmaunternehmen, mit denen er zusammenarbeitete. Pfizer, Ratiopharm, Regeneratio, Bayer. Ohne sie durchzusehen suchte er nach einem Brief oder einer Karte von Hanna. Vielleicht hatte sie ihm hier eine Nachricht hinterlassen. Aber nichts. Nur Altpapier. Manuel warf die Unterlagen in den Container und ging hinauf in den ersten Stock. Vielleicht hatte sie ein Kärtchen unter der Tür durchgeschoben.

Ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase, als er die Wohnung betrat. Offenbar hatte er bei seinem letzten Besuch den Müll vergessen. Zwei Weinflaschen und ein schwarzer Plastiksack mit Essensresten lehnten an der Toilettentür. Dort mussten sie schon seit zwanzig Monaten liegen.

Bei seinem letzten Besuch in der Wohnung hatte er eine junge Tirolerin dabei gehabt. Eine Nachwuchsjournalistin, die irgendwas mit Medien studierte und ein Praktikum bei einem Wiener Hipstermagazin absolvierte. Manuel hatte schnell mitbekommen, dass bei der Journalistin seine Credits »Krieg«, »Arzt« und »Dritte Welt« hoch im Kurs standen. Auf das Interview folgten ein Essen, dann eine Nacht und dann eine Coverstory. Alle Beteiligten waren zufrieden gewesen.

Manuel sah sich um. Kein Kuvert, kein zusammengefalteter Zettel. Vielleicht hatte Hanna von einem seiner kleinen Auswärtsmatches erfahren, und ihr Verschwinden war die Folge davon, dachte er, während er den Müll vor die Tür stellte und ein Fenster öffnete, um den fauligen Geruch aus der Wohnung zu bekommen. Manuel lächelte zögerlich. Schon der Gedanke kam ihm abwegig vor. Es war einfach nicht Hannas Art, beleidigt zu sein und zu verschwinden. Außerdem glaubte Manuel nicht, dass sie sich neben ihrer Arbeit mit profanen Fragen wie der Treue ihres Partners auseinandersetzte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass für Hanna zuerst die Medizin kam, dann lange nichts, dann er und dann der Rest der Welt. Alles in allem eine Konstellation, die er durchaus zu schätzen wusste.

Mit hochgezogenem Kragen ging er in die Innenstadt. Am Donaukanal beobachtete er zwei Skateboarder bei ihren halsbrecherischen Tricks. Am Schwedenplatz kaufte er sich einen Ayran. Auf der anderen Seite des Kanals blitzten die Hochhäuser im Mittagslicht. Weiter oben auf Höhe der Urania knatterte ein Presslufthammer in einer Baugrube.

Er war lange weg gewesen. Knapp zwei Jahre. Seine Heimaturlaube hatten nie länger als vier Monate gedauert. Wenn er dann mal ein paar Tage Zeit für Hanna gehabt hatte, hatte sie sich freigenommen, und sie waren auf den Semmering oder nach Kärnten gefahren. Ein paar Tage. Wandern, baden. Die Abende verbrachte er vor seinem Notebook. »Unsere Beziehung ist fiktiv«, hatte Hanna einmal zu ihm gesagt und keine Ahnung gehabt, wie recht sie damit hatte.

Unsere Beziehung ist fiktiv, sagte er jetzt zu sich und leerte den Ayran. Eine Einbildung, nichts weiter. Natürlich war ihm bewusst, dass Hanna während der vergangenen Monate mehr von ihm erwartet hatte. Jeden zweiten Tag ein Dreizeiler per Mail machte ihn nicht zum Vater des Monats. Er konnte selbst nicht sagen, warum er nicht mehr Engagement gezeigt hatte. Er hatte sich ehrlich gefreut. Auf das Mädchen. Auf Hanna. Aber sie waren beide fiktiv, dachte er. Wie Einbildungen. Real war das Lager. Die Verletzten. Die Operationen nachts um drei, wenn Söldner einen zerschossenen Kämpfer brachten. Was hätte er tun sollen? Seine Sachen packen? Einfach abhauen und alles liegen lassen, was er sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte? Alles, was real war? Blutig und real?

Gegen vier Uhr fuhr er zurück zum AKH. Er setzte sich in den Krankenhauspark und wartete auf Bergmann. Irgendwann musste sie das Gebäude verlassen. Er heftete seinen Blick auf den Eingang und betrachtete die unzähligen Menschen, die aus dem Krankenhaus strömten. Nach einer halben Stunde war es so weit. Bergmann trat durch die Schiebetür. Sie trug einen olivgrünen Regenmantel. Ein schwarzer Rucksack klemmte unter ihrem Oberarm. Am Weg zum Personal-Parkplatz sah sie konzentriert auf ihr Mobiltelefon. Manuel folgte ihr unauffällig. Als sie den Parkplatz erreichte, machte er drei schnelle Schritte. »Sylvia«, rief er. »Ich hatte da noch einige …«

Bergmann wirbelte herum und ließ den Rucksack fallen. Manuel wollte ihn aufheben, doch die Pharmakologin drängte ihn zur Seite. »Was willst du noch von mir? Ich habe dir alles gesagt.«

»Was ist mit Hannas Forschungsprojekten? Die muss sie von daheim aus weiter betreut haben.«

»Hör doch auf. Hanna hat …«

»Was hat Hanna?« Manuel merkte, dass er eine Grimasse zog. Sein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. »Rede mit mir. Was geht hier vor?«

Bergmann umschloss den Rucksack mit beiden Händen. »Ich habe keine Zeit«, sagte sie. Sie machte kehrt und lief in einem weiten Bogen zurück zum Krankenhaus.

Im ersten Moment war Manuel verblüfft. Dann eilte er ihr nach. Bergmann war seine einzige Spur. Er musste an ihr dranbleiben. Er sah, wie sie im Trakt B verschwand. Seine militärischen Ausbildungseinheiten kamen ihm zugute. Schnell machte er Boden gut. Er war nur noch zehn Meter hinter ihr, als sie über eine Rolltreppe zu den Neuroambulanzen hinauflief. »Sylvia … sei doch nicht kindisch«, rief er ihr hinterher, aber die Pharmakologin reagierte nicht.

Oben bei den Ambulanzen stellten sich ihm drei Jungärzte in den Weg. Den ersten stieß er einfach mit der Schulter zur Seite, den beiden anderen wich er mit einer gekonnten Körpertäuschung aus. Dann lief er weiter die Ambulanz entlang, durch mehrere leerstehende Behandlungskojen bis zum Gipszimmer, wo er eine offenstehende Tür entdeckte. Von innen verschloss er die Tür und sah sich um. Er war allein. Leere Gipshüllen ragten aus einem Mülleimer. Es roch nach Desinfektionsmittel und dem ausgetrockneten Kleber für die Hartbandagen. Auf der anderen Seite des Raumes fand er einen Durchgang, vor dem ein Tuch hing. Vorsichtig zog er es zur Seite und betrat ein Zimmer mit drei Computern und mehreren Röntgenbildern an den Lichtwänden.

Sylvia stand vor dem offenen Fenster und blickte über den angrenzenden achtzehnten Bezirk. Der Wind fuhr durch ihre kurzen, braunen Haare. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn.

Hinter ihm knackte das Schloss und die Jungärzte, die er eben überrannt hatte, betraten das Röntgenzimmer. »Hilf mir, Sylvia«, sagte er. »Ich bin heute aus der Türkei zurückgekehrt. Ich bin müde und ich habe keine Ahnung, was mit Hanna und mit meiner Tochter geschehen ist.«

Bergmann lachte theatralisch. Sie starrte nach draußen, als würde Manuel für sie nicht existieren.

Die Ärzte gingen auf ihn zu.

»Komm schon …«, sagte er.

Bergmann wandte den Kopf. In ihren Augen blitzte etwas auf, das Manuel nur als Hass auffassen konnte. Er blinzelte unwillkürlich. »Es ist deine Schuld«, schrie sie. »Du bist das Problem.«

»Was?« Manuel machte einen Schritt zurück. »Was redest du da?«

Bevor er weitersprechen konnte, stürzten sich die drei Ärzte auf ihn. Einer stieß ihn zu Boden, einer sprang auf seinen Rücken, der dritte umklammerte seine Beine. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Mit aller Kraft stemmte er sich in die Höhe. »Was soll das?«, schrie er.

Er sah, wie Bergmann mit den Schultern zuckte. Ihre Augen wurden groß und starr. Sie hielt sich an der Vorhangstange fest und kletterte auf den Heizkörper. Mit einem kurzen, kehligen Schrei sprang sie aus dem Fenster.2

Anfang August, 2015

Lordtom99\2\Wien:Neumann.docx

Es war kurz vor acht Uhr, als die U-Bahn-Linie 2 in der Station »Donauspital« einfuhr. Ich drängte mich an zwei Botox-Omas vorbei und nahm die Rolltreppe im Vollsprint. Oben umrundete ich das Krankenhaus und lief zum Eingang C.4, der direkt ins Untergeschoss führte. In der Garderobe schlüpfte ich aus meinen Jeans und dem Sakko. Nur mit einer Unterhose bekleidet passierte ich die Schleuse und holte mir aus einem Kästchen mit meiner Dienstnummer die keimfreien OP-Sachen. Im Saal 5 bereitete der Anästhesist die Narkose für das zweijährige Mädchen vor, das auf dem Operationstisch lag. Mit einer Tastatur regelte er die Fließgeschwindigkeit des Betäubungsgases und stülpte der kleinen Patientin die Saugöffnung über den Kopf. Sie fragte ständig nach ihrer Mutter. Ich trat näher an den Operationstisch heran und streichelte ihre Hand. »Deine Mama wartet draußen«, sagte ich. »Du wirst ein bisschen schlafen. Du bist doch müde?«

Die Kleine nickte. Nach drei tiefen Atemzügen hatte das Narkosegas ihr Zentralnervensystem erreicht und ihre Augen wurden schwer. Während die OP-Schwester den Brustkorb der Kleinen desinfizierte, warf ich einen Blick auf die Rönt genbilder und blätterte durch die Krankenakte. Nichts Auffälliges. Alter: zwei. Gewicht: neun Kilo. Keine Krankheiten, aber ein Herzscheidewanddefekt. Bei der Geburt festgestellt. Standardprogramm. Ich überließ das Abhaken der Checkliste dem Anästhesisten und ging in den Waschraum. Dort reinigte ich meine Finger und Hände in mehreren Waschgängen mit Seife und Octenisept. Am Ende kam eine Schwester in steriler Kleidung und half mir in die keimfreien Handschuhe.

»Wo ist Garstner?«, fragte ich, als ich in den Operationssaal zurückkehrte. »Er wollte mir doch assistieren.«

»Notfallhubschrauber«, antwortete der Anästhesist. »Professor Haliovic hat ihn mitgenommen. Er wird kommen, sobald er fertig ist.«

»Ein Notfall. Meinetwegen«, antwortete ich und warf einen Blick auf den reglosen Körper auf dem Operationstisch. Alles war vorbereitet. Die Röntgenbilder hingen wie Poster an den Wänden. Der Brustkorb war desinfiziert, die Schnittstelle war eingezeichnet. Der Anästhesist und der OP-Gehilfe nickten mir zu. Die Schwester reichte mir das Skalpell, und ich setzte einen sauberen Hautschnitt. Anschließend öffnete ich mit der oszillierenden Säge, einer Art Stichsäge, den Brustkorb des Mädchens. Der Spalt war schmal, kaum größer als drei Zentimeter. Ich schob zwei Klammern in die Öffnung und presste den Brustkorb auseinander. Vor mir lag der Herzbeutel. Ein rötlich-weißer Sack, der das Herz umschloss und so seine Funktionsfähigkeit gewährleistete. Mit einem Skalpell setzte ich einen zehn Zentimeter langen Schnitt in den Beutel und öffnete die rechte Herzkammer, um so an die defekte Herzscheidewand zu gelangen.

Während der Arbeit musste ich mehrmals absetzen. Meine Konzentration war schlecht. Ich sah auf die Uhr. Garstner ließ auf sich warten. Morgen flog er zu einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt nach Massachusetts. Ich hatte extra veranlasst, dass wir noch einmal zusammenarbeiteten, und jetzt funkte mir Haliovic dazwischen. Aber gut, so war es eben. Ich bat die Schwester, mir den Schweiß von der Stirn zu tupfen und lokalisierte mit einer Schlauchkamera die Löcher in der Herzscheidewand. Mit dem Skalpell schnitt ich aus dem Beutelgewebe ein Perikard-Patch, ein körpereigenes Pflaster zur Behandlung von verletzten Organen. Bevor ich das Patch anbrachte, musste ich es zur Stabilisierung in eine Glutaraldehydlösung legen. Während das Stück Gewebe in der Petrischale an Festigkeit gewann, ging die Schiebetür auf und Garstner betrat den OP. Seine OP-Haube war verrutscht, und er wirkte ziemlich angespannt.

»Haliovic hat einen Fahrradunfall drüben in Saal acht«, sagte er. »Zusammenstoß mit einem Lastwagen in der Speisinger Straße. Er will mich.«

Ich deutete mit einer Kopfbewegung mein Einverständnis an. Dann suchte ich Augenkontakt zu Garstner. Als sich unsere Blicke trafen, zog er ein Kuvert aus seinem Hosenbund und legte es in eine Lade unter der Lichtwand. Ich nickte ihm zu. Die anderen taten so, als hätten sie unsere Transaktion nicht bemerkt.

Nachdem Garstner den Saal verlassen hatte, holte ich das Patch mit einer Pinzette aus der Lösung und zerschnitt es in drei gleich große Teile. Die Schwester bereitete währenddessen die polyfilen Fäden und eine Nadel vor. Jetzt kam der heikle Teil: Ich musste die körpereigenen Pflaster an der Herzscheidewand anbringen. Da ich wenig Platz hatte, um mit dem Operationsbesteck zu hantieren, arbeitete ich sehr gewissenhaft. Ich benötigte fast zwei Stunden für diese eigentlich einfache Tätigkeit.

Kurz vor elf Uhr war es dann soweit. Die Löcher in der Herzscheidewand waren verschlossen. Nachdem der erste Assistent meine Arbeit kontrolliert hatte, bat ich den OP-Gehilfen, die Kaliumlösung abzulassen. Das Herz übernahm wieder seine Funktion im Körper, die während der OP die ECMO-Maschine ausgeführt hatte.

Mit zehn Stichen schloss ich den Herzbeutel. Den Rest überließ ich dem ersten Assistenten. Während ich am Notebook das Operationsformular ausfüllte, holte ich beiläufig Frieds Kuvert aus der Lade. Ich kontrollierte die Vitalfunktionen des Mädchens und strich ihm sanft über die Wange. Dann kehrte ich zurück in die Garderobe und warf meine OP-Kleidung in den Müll. Im Aufenthaltsraum der Chirurgie I holte ich mir einen Kaffee und aß ein Stück einer verwaisten Geburtstagstorte. Auf der Terrasse setzte ich mich in die Mittagshitze und öffnete das Kuvert. Auf einem schmuddeligen Notizzettel stand in Garstners nicht gerade erwachsen wirkender Schrift: Heute 17 Uhr, Südeingang, Axel (Militärjacke), bringe 500 Euro.

Garstner hatte erwähnt, dass der Sozialarbeiter im Kinderdorf nur gegen Bezahlung kooperierte. Von 500 Euro hatte er nichts gesagt. Aber egal, ich bekam Zugang zum geschlossenen Bereich, und darum ging es mir.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Bereitschaftsdienst im Aufwachraum. Dort konnte ich mich in ein stilles Zimmer zurückziehen und die Operationsprotokolle der vergangenen Tage fertigschreiben. Nach eineinhalb Stunden hatte ich den gröbsten Rückstand aufgearbeitet.

Aus dem Schwesternzimmer holte ich mir einen Milchkaffee und ein mürbes Croissant. Ich setzte mich in meinem Zimmer an den Glastisch, auf dem ich eine Mappe mit Zeitungsartikeln, Blogbeiträgen und Diskussionsverläufen aus dem Netz abgelegt hatte. Seit sich die Staatsanwaltschaft mit Hanna Mahlers und Manuel Sommers Geschichte befasste, hatte ich mich bemüht, alles über die beiden Ärzte zu lesen und aufzubewahren. Inzwischen umfassten meine Recherchen zwei dicke Ringordner. Ich hatte niemandem von meiner Sammelwut erzählt. Ein wenig schämte ich mich für mein Verhalten, da solche Projekte eher zu Typen, die in der neurologischen Ambulanz ein- und ausgingen, passten.

Zum ersten Mal hörte ich von der Festnahme der beiden Ärzte beim Rückflug von der jährlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, die vor zwei Wochen in Göttingen stattgefunden hatte. Kurz vor dem Abflug in Hannover scrollte ich durch die App einer Tageszeitung. In der Rubrik »Panorama« fand ich einen Artikel, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Polizeieinsatz am Bahnhof Wien Meidling: Wiener Spitzenärztin festgenommen«, lautete der Titel. Darunter ein Foto von Mahler. Weißer Kittel, kurze blondierte Haare, einen Spachtel in der Brusttasche.

In den folgenden Tagen las ich alles über Mahlers und Sommers Festnahme. Die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe gegen die beiden fesselte mich, wie ich es noch nie erlebt hatte. Manuel hatte mich nach seiner Rückkehr von der türkisch-syrischen Grenze im Morgengrauen angerufen, als er Hanna nicht in der Wohnung vorgefunden hatte. Wenig später war er bei mir im Donauspital mit einem Mädchen aufgekreuzt. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, aber jetzt, nachdem der Fall der beiden öffentlich geworden war, hatte ich große Schuldgefühle. Warum war mir damals nicht aufgefallen, welches Mädchen Manuel mitgebracht hatte? Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich sehr viel Unheil verhindern können. Es würde der Kleinen besser gehen und wahrscheinlich auch meiner Mutter, die sich die ganze Zeit über große Sorgen gemacht hatte. Gerade meiner Mutter wollte ich jetzt eine Freude machen. Die Nachricht, dass die Polizei das Mädchen gefunden hatte, konnte sie wegen ihrer Demenz-Erkrankung nicht mehr richtig verarbeiten. Ich hatte mich daher entschlossen, ein Foto von der Kleinen zu machen, damit meine Mutter sie immer bei sich hatte.

Es war schwierig gewesen, persönlichen Kontakt zu der Kleinen herzustellen. Nachdem ich abgelehnt hatte, die Sorgepflicht zu übernehmen, verwehrte mir die Polizei das Besuchsrecht. Ich musste also anderweitig aktiv werden. Als ich mich im Ärztemilieu umhörte, gab mir Garstner einen Tipp. Einen, der weit mehr als 500 Euro wert war, wenn er stimmte.

Um halb vier Uhr packte ich den Ordner mit meinen Recherchen ein und machte eine letzte Kontrollrunde im Aufwachraum. Mit der U-Bahn und der Straßenbahn brauchte ich fast eine Stunde bis zum SOS-Kinderheim in Strebersdorf. Ich ging zwischen Buschenschanken und Weinkellern zum Südeingang des Heims, vor dem ein Typ mit Camouflage-Jacke eine Zigarette rauchte und dabei nervös über sein Smartphone wischte. Das musste Axel sein. Als er mich bemerkte, zog er einen Schlüsselbund aus seiner Jacke und öffnete die Stahltür. »Georg Neumann?«, fragte er und musterte mich wie ein Grenzwachebeamter einen Kleinwagen mit rumänischen Gastarbeitern. »Garstner hat gut über Sie gesprochen.«

»Garstner ist mein Assistent. Wir kennen uns seit fast sechs Jahren«, sagte ich.

Axel zuckte mit den Schultern, dann schnippte er die Zigarette auf den Gehsteig und öffnete das Tor.

Das Pflegeheim bestand aus einem großen, beigefarbenen Hauptgebäude und einer Reihe von Bungalows, in denen die zehnjährigen und älteren Kinder lebten. In der Mitte des Geländes lag ein Spielplatz mit einer Baumhütte, von der Strickleitern und Seile hingen. »Haben Sie das Geld?«, fragte Axel und strich mit der Zunge über seine rissigen Lippen.

Ich zog die fünf grünen Scheine aus der Brusttasche und gab sie dem Pfleger.

»Für mich ist Ihre Anwesenheit ein Risiko«, sagte Axel. »Ich könnte den Job verlieren.« Er lächelte angestrengt.

Für meine Begriffe reagierte Axel überzogen, auch wenn der Fall für das Heim zweifellos unangenehm war. Seit Hannas und Manuels Namen in der Öffentlichkeit zirkulierten, berichteten die Zeitungen regelmäßig über das Mädchen. Anfang des Monats prangte ein Bild von der Kleinen auf dem Cover eines Boulevard-Blattes, acht Monate alt mit schwarzen Haaren, aber es war ein Fake gewesen, wie sich nach einigen Tagen herausgestellt hatte. Die Zeitung hatte ein falsches Foto gehabt.

Ich folgte Axel ins Hauptgebäude. In der Babystation verteilten die Betreuer gerade die Milchfläschchen. Es roch nach Desinfektionsmittel und säuerlichem Babyschweiß. Mich wunderte, dass niemand die Fenster öffnete. Vor den einzelnen Zimmern lagen Berge von Schmutzwäsche. Kinder lagen in ihren Gitterbetten und quengelten.

Axel winkte ins Schwesternzimmer, schlüpfte aus seiner Jacke und begleitete mich in den hinteren Teil der Station. Dort waren die drei- bis sechsjährigen Kinder untergebracht. Vier von ihnen saßen in abgetragenen Sportsachen in einem Aufenthaltsraum und tranken heiße Milch. Sie musterten mich wie einen Außerirdischen. Axel bedeutete mir, mich zu beeilen.

Er führte mich in ein Zimmer mit einem Gitterbett, einem Schrank und einem Waschbecken mit einer Ablage zum Windelwechseln. In dem Bett lag ein kleines Mädchen. Neben dem Bett saß eine junge Frau mit starker Akne und blätterte in einer Illustrierten. Sie verließ unaufgefordert das Zimmer, als Axel einen Stuhl für mich heranzog.

Ohne Platz zu nehmen, beugte ich mich über die Kleine. Kein Zweifel, ich hatte sie schon einmal gesehen. Ich kannte ihre breite, nach oben gekrümmte Nase, die wulstigen, an den Winkeln leicht eingerissenen Lippen und das runde Kinn. Ein Kloß bildete sich in meinem Magen, und ich atmete zweimal tief durch.

»Zufrieden?«, fragte Axel und ließ sich selbst auf den Stuhl fallen.

»Nein«, antwortete ich.

»Nein?« Axel lachte verlegen und kratzte sich mit seinen Wurstfingern am Kinn.

»Ich brauche Fotos von der Kleinen.«

Axel machte große Augen. »Fotos? Kommt nicht infrage. Ich habe es Garstner erklärt. Wenn die irgendwo auftauchen, ist es klar, woher sie stammen.«

»Ich brauche die Fotos trotzdem.«

Axel strich über seine rasierte Glatze. Seine Augen wurden groß, und etwas Unbestimmtes flackerte darin, als ich mein Handy nahm und die Kamera anklickte.

Axel baute sich vor mir auf. »So geht das nicht«, sagte er.

»Warum gehen Sie nicht für drei Minuten auf die Toilette? Wenn Sie zurückkommen, werde ich auf dem Stuhl sitzen und nichts wird passiert sein.«

»Und wenn ich bleibe?« Axel machte einen Schritt auf mich zu.

»Ich möchte mit den Bildern einer alten Frau eine Freude machen«, sagte ich.

Axel kniff die Augen zusammen.

Ich zog einen weiteren Hunderter aus meinem Sakko.

»Drei Minuten«, sagte Axel. »Machen Sie keinen Scheiß, sonst sind Sie dran.«

Anfang April, 2015

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»Wer sind Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen. Kommen Sie, ich habe Ihnen nichts getan.«

Stille.

»Sie sehen mich nicht einmal an. Wie alt sind Sie? 22? 23? Hat Ihnen Brandner verboten, mit mir zu sprechen?«

Keine Antwort. Nur das monotone Klicken des Aufzugs bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifuhr.

»Hören Sie, ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Wo ist Dr. Brandner, Nikolaus Brandner? Wo ist mein Kind? Meine Tochter. Ich suche meine Tochter.«

Der Aufzug ruckelte. Erdgeschoss, 1. Stock. Hanna zog sich am Seitengitter ihres Bettes hoch und blickte in das Gesicht des Mannes. Spitze Nase. Pferdeschwanz. Zerknittertes Hemd mit einer Zivildiener-Plakette an der Brust. »Sie wird gewaschen. Sie wird gewogen. Mehr ist nicht. Was soll das also? Sagen Sie mir gefälligst, wo meine Tochter ist.«

Der Zivildiener strich eine Strähne aus seinem Gesicht und blickte starr auf den Lageplan neben der Aufzugtür. »Alles Routine«, sagte er. »Alles unter Kontrolle. Beruhigen Sie sich.«

Hanna sank zurück. Bei jeder Bewegung wogte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Im dritten Stock öffnete sich die Schiebetür und der Zivildiener schob Hanna in ein Doppelzimmer. Er stellte sie auf den Platz neben dem Balkon, nahm die Krankenmappe und ging. Hanna stützte sich auf die Unterarme und sah sich um. Ihre Zimmerkollegin hatte die Decke über den Kopf gezogen. Hanna konnte nur ein braunes Haarknäuel und aufgeklebte Fingernägel erkennen. Am Nachtkästchen der Frau stand ein Orchideenstrauß. Auf der anderen Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt, lag ein Neugeborenes in einem roten Gitterbett und strampelte vergnügt.