Kälteherz - Sheila Bugler - E-Book
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Kälteherz E-Book

Sheila Bugler

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Beschreibung

Eine der neuen Star-Autorinnen der Irischen Literatur, die die Fans von Nicci French oder Sophie Hannah begeistern wird! Für ihren Thriller mit der Londoner Star-Ermittlerin Detective Inspector Ellen Kelly wird die Autorin Sheila Bugler bereits in eine Reihe mit Val McDermid gestellt. Die toughe Ermittlerin aus London, Ellen Kelly, wird in die privaten Abgründe einer Familie hineingezogen und bekommt es mit Hass, Selbstsucht und Mord zu tun. Im Mittelpunkt des Thrillers mit dem atmosphärischen Setting steht die Familie Gleeson, in deren Nachbarschaft - im Londoner Stadtteil Blackheath - die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird. Schnell stellt sich heraus, dass der Tote Freya Gleesons Freund war. Da Freyas Mutter ihn angeblich hasste und ihr Vater seinen Tod lediglich als schlechte Publicity für sein Geschäft betrachtet, steht jedes Familien-Mitglied plötzlich unter Verdacht – nicht zuletzt, weil keiner der Gleesons ein Alibi hat. Ungewollt dringt DI Kelly immer tiefer in die familiären Geheimnisse ein – bis ein weiterer Mord geschieht, der den Fall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Oder ist auch das nur Fassade? "Ein Meisterstück" Ken Bruen "Kälteherz packt dich … und lässt dich bis zur letzten Seite nicht mehr los. Klassische Krimi-Lektüre." K.Perry (Autor von "Bittere Lügen") "Sheila Bugler hat immer noch eine Überraschung in petto. Bis zum bitteren Ende" www.crimereview.co.uk Weitere Thriller mit der Londoner Star-Ermittlerin DI Ellen Kelly: Band 1 - Nebelspiel Band 2 - Schattenfänger

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Seitenzahl: 500

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Sheila Bugler

Kälteherz

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Schädlich

Knaur e-books

Über dieses Buch

DI Ellen Kelly blickt in ihrem dritten Fall tief in familiäre Abgründe: In der Nähe des noblen Gleeson-Anwesens wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass der Tote der Freund von Freya Gleeson war – den deren Mutter angeblich gehasst hat. Freyas Vater wiederum reagiert seltsam unbeteiligt auf den Mord, den er nur als schlechte Publicity für sein Geschäft betrachtet. Und keiner der Gleesons hat ein Alibi. Ungewollt dringt DI Kelly immer tiefer in die private Hölle einer zerrütteten Familie ein – bis ein weiterer Mord geschieht, der den Fall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Oder ist auch das nur Fassade?

Inhaltsübersicht

WidmungFreitagSonnabendEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtSonntagEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfMontagEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtDienstagEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtMittwochEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenDonnerstagEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfFreitagEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnMontagEinsZweiEpilogDanksagung
[home]

 

 

 

 

Für Luke und Ruby, für immer

[home]

Freitag

Gesicht zu nah. Sein Mund schrie. Sie verstand die Worte nicht. Zu viele andere Geräusche. Eine Hand auf ihrem Arm. Zerrte an ihr. Sie stolperte. Merlot schwappte aus dem Glas auf das Bündchen ihres Donna-Karan-Pullovers. Draußen. Die Nachtluft kühl nach der intensiven Wärme im Haus. Ein Joint mit Ginny und irgendeinem Typen. Dermot. Großes Gesicht, laute Stimme.

»Was feiern wir eigentlich?«, fragte er.

»Charlottes Geburtstag.« Ginny umarmte Charlotte und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die kalte Wange.

Charlottes Glas war leer. Wo war der Wein geblieben? Sie bewegte das Glas vor Dermots Gesicht hin und her.

»Wir brauchen mehr Wein.«

Er blickte missbilligend. »Wie bitte?« Drehte sich zu Ginny um, lachte.

»Mit der hast du alle Hände voll zu tun.«

Wieder im Haus. Musik. Laut. Eine ihr unbekannte Frau ruft »Happy Birthday«. Viele Leute. Was wollen die alle hier? Dann ein vertrautes Gesicht. Freya. Sie lächelt, geht auf sie zu, will etwas sagen – was? Egal. Als sie das Zimmer durchquert hat, ist Freya fort.

Im Park von Blackheath jetzt. Wie ist sie hierhergekommen?

Vor ihr ein Typ. Sie erinnert sich nicht an seinen Namen. Declan vielleicht. Er drückt sich an sie, sie spürt seine Erektion an ihrem Bein. Sie stößt ihn weg. Das findet er gar nicht lustig. Als ob ihr das etwas ausmachen würde. Könnte ihr Sohn sein. Was ist das nur mit ihr und den jüngeren Männern?

Er schreit sie an, sie dreht sich weg, torkelt in Richtung Haus. Plötzlich revoltiert ihr Magen. Sie beugt sich vor, Kotze spritzt aus ihrem Mund.

Sie richtet sich auf und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Geruch von Erbrochenem liegt in der Luft.

Von Declan jetzt keine Spur. Er hat Glück gehabt, dass sie ihn nicht vollgekotzt hat. Bei dem Gedanken, was er für ein Gesicht gemacht hätte, muss sie kichern.

Ihr ist kalt. Sie zittert. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, fängt an zu laufen. Es ist einsam hier draußen. Die leere Schwärze der Heide umfängt sie. Am Rand der Landschaft die erleuchteten Fenster der großen georgianischen Häuser.

Sie kann ihr Haus sehen. Heller als die anderen. Licht scheint wie zum Trotz gegen die dunkle Nacht aus allen Fenstern. Ob Freya noch da ist? Plötzlich fällt ihr Freyas Freund ein. Sie will nicht an ihn denken, doch sein Gesicht ist da, die ganze Zeit.

Sie überlegt, ob sie ihn heute Abend gesehen hat. Wäre nicht überrascht, wenn sie ihn jetzt vorfände. Trotz seiner sogenannten Prinzipien isst er immer gerne ihr Essen und trinkt ihren Alkohol.

Freya muss ihn verlassen. Diese Erkenntnis trifft Charlotte wie ein Schlag. Sie beugt sich vor, hat das Gefühl, sich noch einmal übergeben zu müssen, würgt, doch es kommt nichts. Sie wankt vorwärts, jetzt schneller, weil sie weiß, dass sie sich diesen Moment der Klarheit bewahren, ihre Tochter finden und ihr sagen muss, was für ein Scheißkerl ihr Freund in Wirklichkeit ist.

Eine Gestalt kommt auf sie zu. Wie aus dem Nichts. Sie weicht zurück, schreit. Einen wahnsinnigen Augenblick lang glaubt sie, er sei es; er sei gekommen, sie zu finden.

»Charlotte! Hier bist du. Wir haben dich überall gesucht.«

Ginny. Die Angst verfliegt. Ginny zieht sie am Arm zurück ins Haus, redet von einem Kuchen und Kerzen. Zeit für einen Wunsch. Sie erinnert sich an den Krach, die Hitze, die Leute. Sie zieht ihren Arm weg. Ginny insistiert. Charlotte ist zu müde und ihr ist zu übel, um sich zu wehren.

Im Haus ist es zu hell und zu warm. Die Leute sind zu laut und zu nah. Körper quetschen sich gegen sie, Stimmen schreien sie an. Sie drängelt sich durch, sucht ihre Tochter.

Freya steht in der Küche an der Spüle, trinkt ein Glas Wasser. Ein säuerlicher Ausdruck in ihrem Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Oder nur ihre Mutter gesehen.

»Er ist ein Schwein.«

Freya sieht sie böse an. Charlotte versucht es noch einmal.

»Kieran.« Sie lallt, packt Freyas Arm, schreit, weil es wichtig ist.

»Kieran ist ein Schwein.«

Freya schubst sie weg. Heftig. Charlotte taumelt rückwärts gegen den Küchentisch, stößt sich die Hüfte.

»Er hat dich nicht verdient«, sagt Charlotte. Es ist nicht leicht, die Worte über die schwere Zunge zu bringen. Es sieht so aus, als wolle Freya etwas sagen, doch sie schweigt, stellt nur das Glas ab und geht. Panik ergreift Charlotte.

»Nein!« Sie stürzt ihr nach. Packt Freya und drückt sie gegen die Wand, stemmt sich gegen sie, fest entschlossen, einhundert Prozent, Freya die Augen zu öffnen.

»Er liebt dich nicht. Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre, aber es ist wahr.«

Sie wollte noch mehr sagen, doch jetzt schrie Freya sie an, stieß sie weg.

Charlotte streckt die Arme nach Freya aus, will sie beruhigen. Ihre Bewegungen sind ruckartig, ein Schlag trifft Freya versehentlich im Gesicht.

Sie will sich entschuldigen, aber Freya schreit immer noch, nennt sie ein Miststück. Charlotte will widersprechen, aber es war ja wahr oder etwa nicht?

»Komm, Lottie. Lass uns gehen.« Ginny, den Arm um ihre Schultern, lotst sie weg.

Charlotte blickte sich um. Freya stand noch immer da. Ihr Gesicht war verschwommen, weil Charlotte weinte. Sie konnte nicht aufhören.

»Alles in Ordnung?«, fragte jemand.

»Nur ein bisschen zu viel getrunken«, sagte Ginny. »Es geht ihr gleich wieder besser, nicht wahr, Lottie? Wir haben den Kuchen noch gar nicht angeschnitten. Komm.«

Das konnte sie jetzt nicht ertragen.

Sie will, dass sie alle nach Hause gehen und sie in Ruhe lassen. Sie versucht es Ginny zu sagen, aber Ginny hört nicht zu. Ginny tätschelt ihr den Rücken und sagt, es sei okay, es werde alles okay.

Charlotte befreit sich von ihr, bahnt sich ihren Weg raus aus dem Haus, und dann – endlich – ist sie frei. Sie rennt den Hügel hinauf durch die Heidelandschaft, weg von dem Song. Doch egal wie schnell sie rennt, sie kann ihm nicht entkommen, weil er da ist, in ihrem Kopf. Die blecherne Puppenstimme, die immer höher singt:

 

Sugar and spice and all things nice

Kisses sweeter than wine

Sugar and spice and all things nice

You know that girl’s mine.

[home]

Sonnabend

Eins

Ein Frühmorgen-Jogger entdeckte die Leiche. Der Mörder hatte keine Anstrengungen unternommen, den Leichnam zu verbergen. Das Opfer – weiß, männlich, Mitte zwanzig bis Anfang dreißig – lag am unteren Ende von St. Joseph’s Vale, einem stillen Gässchen abseits von Belmont Hill in Blackheath. Neben dem toten Mann Erbrochenes vom unglücklichen Jogger.

»Glücklicherweise ist heute Sonnabend«, sagte Abby. »Sonst hätte ihn vielleicht ein Kind auf dem Weg zur Schule gefunden.«

»Ich weiß nicht, ob glücklicherweise das richtige Wort ist«, sagte Ellen.

Sie kniete neben dem toten Mann, untersuchte ihn. Seine Augen standen offen. Weit und leer, starrten sie an. Hellbraune Iris, an den Rändern schwarz.

Ganz und gar nicht wie Billy Dunston, trotzdem erinnerte er sie an ihn. Aschblondes Haar, kurzer Bart, ausgeprägte Gesichtszüge. Die Sorte Typ, die man zweimal anguckt, wenn sie einem in einer Bar begegnete oder auf der Straße an einem vorbeilief und man in der Stimmung war, einen gutaussehenden Kerl, der der eigene Sohn sein konnte, zweimal anzusehen.

Er trug Jeans und eine verblasste Jeansjacke. Graues T-Shirt unter der Jacke, schwarzer Fleck in Brusthöhe. Die Verletzung.

Ein Messer, mutmaßte Ellen. Um das mit Sicherheit sagen zu können, müsste sie das T-Shirt hochziehen und sich die Wunde genauer betrachten. Sie musste auf den Pathologen warten.

Sie schaute noch einmal in die Augen des toten Mannes, hatte das Gefühl, dass eine Frage in ihnen stand. Ihr Hirn spielte ihr einen Streich. Sie wandte sich ab, bevor sie irgendetwas Blödes machte. Wie mit ihm zu sprechen.

Sie stand auf, streckte sich. Die Straße kannte sie. Ihr Bruder Sean war auf die katholische Knabenschule gegangen, nach der die Straße benannt war. St. Joseph’s Vale stieß auf die Heath Lane, eine wohlhabende Straße in einer Gegend voller wohlhabender Straßen in und um Blackheath im Südosten Londons. Die Leiche lag da, wo beide Straßen aufeinandertrafen.

»Scheint schon eine Weile hier zu liegen«, sagte sie. »Vier Stunden oder länger.«

»Muss ein Schock gewesen sein«, sagte Abby und nickte in Richtung Jogger. Eine uniformierte Polizistin nahm gerade seine Aussage auf. »Kein Wunder, dass der arme Kerl sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat.«

»Ich wünschte, er hätte es woanders getan«, sagte Ellen. »Weiß Gott, was das für den Tatort bedeutet.«

Abby mokierte sich über Ellens Mangel an Empathie. Ellen ignorierte sie und betrachtete wieder den toten Körper. Er war jung. Zu jung, als dass schon alles vorbei sein sollte. Noch eine arme Seele auf der langen Liste von Seelen, die ihre Träume bevölkerten und in den Schatten ihrer wachen Stunden lauerten. Sie waren immer da, die Namen und Gesichter von beendeten Leben, von all diesen toten Menschen. Eine endlose Reihe. An deren Anfang ihre Schwester, an deren Ende dieser Unbekannte auf einer stillen Seitenstraße zwischen Lewisham und Blackheath. Nur war es nicht das Ende. Es würde immer noch mehr Leichen geben. Dieser Gedanke deprimierte sie maßlos.

Fragen drängten sich in ihr Hirn, Details, die sie über den toten Mann noch nicht wusste. Details, die es noch schwerer machten, als es ohnehin schon war, wenn sie von seinem Leben erfuhr, seiner Familie und den Menschen, die er zurückließ.

Der Tatort war abgesperrt. Uniformierte Beamte passten auf, dass niemand ohne Ellens Erlaubnis kam oder ging. Im Moment befanden sich innerhalb der Absperrung nur die fünf weißbekleideten Forensiker, die jeden Zentimeter absuchten. Ellen und Abby trugen dieselben Schutzanzüge. In der drückenden Maiwärme fühlte sich die zusätzliche Schicht schwer an.

Schweiß rann Ellens Rücken hinunter. Schweiß stand auf der Stirn. Sie wischte ihn genervt weg.

»Wenigstens regnet es nicht«, sagte sie. »Hoffen wir, dass die Forensiker etwas Brauchbares finden.«

»Es soll das ganze Wochenende über trocken bleiben«, sagte Abby. »Regen ist erst wieder für Montag angesagt.«

Ellen seufzte.

Noch eine Plauderei über das Wetter schwebte ihr jetzt nicht vor.

Der Dauerregen in den letzten Wochen war bei allen Dauerthema.

»Wo zum Teufel bleibt Mark?«, fragte sie.

Wie auf Befehl erschien die hoch aufgeschossene Gestalt von Mark Pritchard, dem Pathologen, am oberen Ende von Joseph’s Vale. Erleichtert lief Ellen ihm entgegen.

»Ellen, meine Liebe!« Mark umarmte sie, küsste sie auf beide Wangen. »Messerstecherei?« Er schaute ihr ins Gesicht. »Du siehst gut aus. Viel besser als das letzte Mal. Das Leben behandelt dich offenbar gut?«

Ellen lächelte. Marks Begeisterung für das Leben und für alles, was es bot, war ansteckend. Es ging ihr immer sofort besser, wenn sie ihm begegnete. Selbst in den düsteren, endlosen Wochen nach dem Tod ihres Mannes hatte Mark es geschafft, irgendetwas zu sagen oder zu tun, worüber sie lächeln musste. Ihr wurde klar, dass sie ihm noch nie gesagt hatte, wie wichtig das gewesen war. Nicht nur für sie, auch für die Kinder.

»Nicht schlecht«, sagte sie. »Jetzt, wo du da bist, noch besser.«

»Na logo«, sagte Mark. »Wie immer. Führ mich zu ihm. Hab nicht den ganzen Tag, weißt du? Ah, DC Roberts. Wunderbar. Was für ein herrlicher Tag. Und das hier ist unser armes Opfer. Wissen wir, wem das Erbrochene gehört?«

»Dem Mann, der die Leiche gefunden hat«, sagte Ellen. »Jogger. Er hat offensichtlich vor seiner morgendlichen Runde gegessen.«

»Wer isst denn vor dem Joggen?«, fragte Mark. »Wann wurde die Leiche gefunden?«

»Der Anruf kam sieben Minuten nach sieben«, sagte Ellen. »Sieht nach Messerstecherei aus.« Sie zeigte auf den Fleck auf der Brust des toten Mannes. »Allerdings kein Messer bislang.«

»Okay«, sagte Mark. »Werfen wir einen Blick drauf. Würdet ihr vielleicht ein wenig zur Seite treten? Noch ein bisschen. So ist es gut. Danke.«

Während Mark sich an die Arbeit machte, traten Ellen und Abby aus der Absperrung heraus. Nachdem sie sich der Schutzkleidung entledigt hatten, liefen sie die Heath Lane hinauf, an uniformierten Beamten vorbei, die in der Hoffnung auf irgendeine wichtige Information, die sie zum Mörder führte, Tür-zu-Tür-Befragungen durchführten.

»Hier kann man glatt vergessen, dass man in London lebt«, sagte Abby. »So schön ist es.«

»Schön und eine Nummer zu groß für Sie«, sagte Ellen. »Sie müssen sich eine andere Karriere suchen, wenn Sie die Absicht haben, irgendwann einmal so zu wohnen.«

»Oder einen reichen Mann«, sagte Abby.

Ellen musste sich keine passende Antwort überlegen, weil in dem Moment zwei Uniformierte aus der Tür eines roten Backsteinhauses im eleganten Queen-Ann-Stil traten.

»Irgendwas in Erfahrung gebracht?«, fragte Ellen.

»Ein Paar am oberen Ende der Straße hat letzte Nacht eine Party gefeiert«, sagte der Beamte. »Offenbar war es ziemlich laut. Ging bis in die Morgenstunden. Die liebenswerte alte Dame«, er deutete mit dem Daumen auf das Haus, aus dem sie gerade gekommen waren, »sagt, die Musik schmetterte – ihre Worte, nicht meine – die halbe Nacht.«

»In welchem Haus?«, fragte Ellen. »Eine Party bedeutet viele Leute. Je mehr Leute, desto größer die Chance, dass irgendwer etwas gesehen hat.«

»Das erste auf der rechten Seite«, sagte der Mann. Seine Kollegin hatte noch kein Wort von sich gegeben. Ellen fragte sich, ob sie nichts zu sagen hatte oder es gewohnt war, dass ihr Partner über sie hinwegredete.

»PC McKeown, richtig?«, wandte sich Ellen an die pummelige Blonde.

»Richtig, Ma’am«, sagte McKeown errötend.

»Ich möchte, dass Sie zu dem Haus gehen, in dem die Party stattgefunden hat. Finden Sie heraus, wer dort wohnt, den Grund für die Feier, und besorgen Sie eine Liste mit den Namen der Gäste. Okay?«

McKeown lächelte. »Natürlich Ma’am. Selbstverständlich.«

Ellen nickte. »Gut. Sie«, sie wandte sich an den Mann, »machen mit den restlichen Häusern weiter. Schaffen Sie das allein?«

»Geht schon«, sagte der Mann. »Ma’am.«

Falls er jetzt sauer war, hatte er sich gut im Griff, musste Ellen ihm zugestehen. Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt.

»Baxter, richtig?«

Er nickte.

»Gute Arbeit«, sagte sie. »Sehr gut. Weiter so. Abby, sehen wir, wie weit Mark ist.«

Mark lief ihnen schon entgegen.

»Eine einzige Stichwunde unter dem Herzen«, sagte er. »Messerstich, denke ich. Eine Messerstecherei, fürchte ich, Detectives. Keine weiteren äußeren Verletzungen. Mehr weiß ich erst nach der Obduktion. Ich ordne eine Blutuntersuchung an. Die Ergebnisse bekommt ihr frühestens in einer Woche.«

»Wie lange hat er hier gelegen?«, fragte Ellen.

»Todeszeit zwischen Mitternacht und ein Uhr dreißig, schätze ich. Genaueres weiß ich erst …«

»Ich weiß«, sagte Ellen. »Nach der Obduktion.«

»Hatte ein Handy in seiner Jackentasche«, sagte Mark. »Er hatte auch seine Brieftasche dabei. Fast zweihundert Pfund in bar. Kein Raubüberfall. Da ist noch was, ich kann euch verraten, wie er heißt.«

»Du scherzt«, sagte Ellen.

Mark schüttelte den Kopf. »Studentenausweis in der Innentasche seiner Jacke. Kieran Burton. Wohnt auf der Ennersdale Road, Hither Green. Sicherlich würdet ihr jetzt gerne seine Adresse erfahren?«

Kieran Burton. Sie kannten seinen Namen. Bald kannten sie seine Geschichte. Es hatte begonnen.

Zwei

Sie schlug die Augen auf, sah den Sonnenstreifen, der das dunstige Grau des Schlafzimmers durchschnitt. Er war zu grell. Sie schloss die Augen wieder. Sie war zu Hause. In der Sicherheit ihres eigenen Zimmers.

Überreste des Traumes klangen nach. Der Song. Immer derselbe Song. Weit weg, aber da. Lauter und wieder leise. Verängstigt setzte sich Charlotte auf, scannte das Zimmer, prüfte jede Ecke, wollte sich vergewissern, dass sich alles nur in ihrem Kopf abspielte.

Im Zimmer war nichts. Erleichtert sank sie zurück auf das Kissen. Bruchstückhafte Erinnerungen an die letzte Nacht jagten durch ihr Bewusstsein. Sie erinnerte sich an einen Mann, sein Körper eng an sie gepresst. Eine weitere Panikwelle ergriff sie. Sie setzte sich wieder auf. Niemand hier. Wer er auch gewesen war, sie war ihn losgeworden, bevor sie zu Bett gegangen war. Gut gemacht. Sie durchforstete ihre lückenhaften Erinnerungen. Ihr fiel nichts ein, was darauf hindeutete, dass sie irgendetwas allzu Schreckliches getan hatte.

Warum also das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen war?

Sie ging noch einmal ihre Erinnerung durch. Cocktails, Sushi, Wein, mehr Cocktails. Noch mehr Cocktails. Ihr Magen drehte sich um. Sie wollte sich hinlegen, wieder einschlafen, bis das Schlimmste vorüber war, aber sie hatte einen höllischen Durst. Ein großes Glas kühles, prickelndes Mineralwasser! Sie quälte sich aus dem Bett und die zwei Treppen hinunter in die Küche.

Das Haus war leer und still wie eine Leiche, abgesehen von dem geisterhaften Rhythmus der nächtlichen Musik, die in ihrem schmerzenden Kopf hämmerte. Die Überreste der Party waren überall zu sehen. Die Putzkolonne war bestellt, aber sie wusste nicht mehr, für wann.

Die Küche, geräumig, ganz in Weiß und Chrom, nahm fast die gesamte untere Etage ein. Als sie aus den Tiefen des Kühlschranks eine Flasche Wasser herauszog, zitterten ihre Beine vor Anstrengung.

Irgendwie gelang es ihren zittrigen Fingern, den Deckel der Flasche abzuschrauben und sie an die Lippen zu setzen. Kühles Wasser rann ihre Kehle hinunter, über Kinn und Hals, durchnässte den Kragen des Sweaters. Sie trank, bis sie nicht mehr trinken konnte, bis ihr Magen aufgebläht war von der Kohlensäure und der Flüssigkeit. Sie ließ sich auf das cremefarbene Sofa vor dem Fenster fallen, schob ein paar Pappteller beiseite, kauerte sich in die Ecke. Sie fror. Zitterte. Wartete darauf, dass die Übelkeit nachließ.

Sie richtete die Fernbedienung auf den Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Ein hübsches weibliches Gesicht interviewte Xavi Cheval, den Promikoch, der im Moment die Boulevardpresse beschäftigte, weil er seine Frau und drei Kinder für eine zwanzig Jahre Jüngere hatte sitzenlassen. Charlotte schaute gleichgültig hin. Sie war Cheval ein paar Mal begegnet. Seine sexuellen Eskapaden waren in der Restaurantbranche kein Geheimnis, schon gar nicht für seine Frau.

Bei der Geschichte musste sie an Nick denken. Sie fragte sich, wo er steckte.

Auf der Party hatte sie ihn nicht gesehen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie redete sich ein, dass es ihr gleichgültig war. Auch gleichgültig, dass er ihren Geburtstag vergessen hatte. Es war nicht das erste Mal.

Das Haus stank von letzter Nacht. Eine Erinnerung. Kotze spritzt aus ihrem Mund. Irgendetwas anderes lauerte in den Schatten jenes Augenblicks. Nicht etwas. Jemand. Ein Mann.

Ihr Magen zog sich zusammen. Ein Name. Declan. Sie entspannte sich wieder. Ein Fremder. Egal. Sie versuchte sich Declans Gesicht ins Gedächtnis zurückzurufen. Nichts.

Den Gestank, die Unordnung, das Chaos hielt sie nicht länger aus und stand auf. Durch den Nebel ihres Katers kroch ein anderes Gefühl an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Ein Verlangen. Sie bewegte sich durch das Zimmer, wühlte sich durch die schmutzigen Servietten, Essensreste und umgestoßenen Gläser. Ihre Hand verharrte einen Moment über einer halbvollen Flasche Sauvignon Blanc. Charlotte entschied sich dagegen, war sich nicht sicher, ob sie ihn bei sich behalten würde.

Nach dem Wohnzimmer durchsuchte sie die Küche. Nicht eine einzige Zigarette im Haus. Unglaublich. Sie wappnete sich für den Gang nach draußen und die Mühe, die es ihr machen würde.

Auf der Innenveranda war eine kleine Nische. Dort bewahrte sie ihre Schuhe auf. Sie ging die ordentliche Reihe von Turnschuhen und Stiefeln durch, bis sie ihre derzeitigen Lieblingsschuhe gefunden hatte. Weiße Yves Saint Laurents. Sie waren schmutzig. Schlammstreifen und Rotweinspritzer. Viel zu oft war ihre Kleidung die Landkarte, mit Hilfe derer sie rekapitulieren konnte, was sie in der Nacht zuvor getrieben hatte. Vage erinnerte sie sich an verschütteten Wein. Ein roter Fleck auf dem Ärmel, wie Blut. Sie schüttelte den Kopf, und das Bild verschwand.

Sie zog sich die Schuhe an, schnappte sich ihre Handtasche und trat in die unerwartete Helligkeit eines perfekten Sommermorgens.

In einem weniger desolaten Zustand wäre ihr gleich aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Die beiden uniformierten Polizisten bemerkte sie erst, als sie schon am oberen Ende der Heath Lane war. Im selben Moment erblickte sie das schwarzgelbe kreuz und quer gespannte Band, das jeden am Kommen oder Gehen hinderte.

Zunächst war sie irritiert. Gleich darauf ergriff sie Panik. Sollte ein Vorfall – war das nicht der Euphemismus, den die Polizei für alle möglichen menschlichen Tragödien benutzte? – sie daran hindern, im Laden ihre Marlboro Lights zu holen?

»Entschuldigen Sie, Ma’am.«

Die beiden Polizisten postierten sich vor ihr, versperrten den Weg.

»Was ist?« Ihre Stimme war heiser, als hätte sie letzte Nacht viel herumgeschrien. Es fühlte sich an, als riebe jemand mit Sandpapier über ihre Stimmbänder.

»Wohnen Sie hier?«

Sie waren groß, dunkel und gutaussehend, wie junge Männer der Arbeiterklasse. Muskeln, Dreitagebart und kurzgeschnittenes Haar. Der größere von beiden – grünblaue Augen, die sie an einen Jahre zurückliegenden Urlaub in Marokko erinnerten – übernahm das Reden. Er hatte eine tiefe, volle Stimme und einen puren Südlondoner Akzent.

»Selbstverständlich«, fuhr sie ihn an. »Was geht Sie das an?«

»Ich fürchte, wir müssen Sie bitten, wieder ins Haus zu gehen«, sagte er. »Im Moment darf niemand rein oder raus.«

Irrationale, schuldbewusste Angst durchfuhr sie. Wieder durchforstete sie ihre lückenhafte Erinnerung nach irgendetwas, worüber sie sich Sorgen machen musste.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie.

Der Blick des Grünblauäugigen wanderte von ihrem Gesicht nach irgendwo hinter ihr. Sie drehte sich um.

Die Heath Lane krümmte sich von St. Joseph’s bis dahin, wo Charlotte stand. Die Kurve verhinderte den freien Blick nach ganz unten. Sie sah jedoch genug. Mit welcher Art »Vorfall« die Polizei es auch zu tun hatte, es war ernst. Männer und Frauen in Weiß bewegten sich langsam hügelaufwärts.

Charlotte wandte sich wieder den beiden Polizisten zu und fragte noch einmal, was los sei. Statt zu antworten, umfasste der große Polizist sanft – oh, so sanft – ihren Arm und begleitete sie zurück, sagte, es sei besser, wenn sie jetzt hineingingen, es gebe etwas, worüber sie mit ihr sprechen müssten.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er.

Wie sollte sie sich keine Sorgen machen? Wie sollte sie nicht diese weißen Anzüge mit dem Lärm, Chaos und Wirrwarr assoziieren, die zu dem unvollständigen Bild von letzter Nacht gehörten?

Als sie die Haustür erreichten – der Polizist hatte sie noch immer untergefasst, redete ununterbrochen, sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, es gäbe keinerlei Grund –, fiel ihr etwas ein. Sie war durch die Heide gelaufen, weg vom Haus und ihrer Party, so schnell sie konnte, ihr Gesicht tränenüberströmt. Doch sie wusste nicht mehr, wovor sie davongelaufen war.

Im Haus führte sie die Männer durch den Flur in das große Wohnzimmer im vorderen Bereich des Hauses.

»Ich habe letzte Nacht gefeiert«, sagte sie und deutete auf die Unordnung. Sie setzte sich auf eines der hübschen Blumenmustersofas und bedeutete den Polizisten, sich ihr gegenüber zu setzen. Die hockten sich auf den Rand des Sofas, als befürchteten sie, sich etwas einzufangen. Keiner der beiden bat um etwas zu trinken, und sie bot auch nichts an, hatte nicht die Kraft, Gastgeberin zu spielen.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Es wurde eine Leiche gefunden«, sagte der Blauäugige.

Noch eine Panikwelle.

»Wer?«

»Wissen wir noch nicht«, sagte der andere. Der weiche schottische Singsang überraschte sie. Nichts von London an ihm. Komisch, dachte sie, wie der erste Eindruck täuschen kann.

»Aber Sie müssen doch etwas wissen.« Sie wandte sich an den Schotten und fragte sich, was sie an seinem Akzent so anziehend fand. Es spielte keine Rolle. Einige Meter weiter lag ein Toter.

Das Gesicht ihrer Tochter tauchte vor ihr auf.

»Können Sie mir wenigstens sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt?«

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Dann antwortete der Süße mit den schönen Augen.

»Ein Mann«, sagte er. »Mehr kann ich nicht sagen.«

»Ich hatte eine Party«, sagte sie. »Letzte Nacht. Mein Geburtstag. Sie werden wissen wollen, wer hier war. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die Hälfte der Leute überhaupt kannte. Vielleicht war es jemand anderes. Ich meine, nur weil sie hier waren, heißt das noch nicht, dass … viele Leute kommen hier entlang, es ist eine Abkürzung von Lewisham nach Blackheath. Na ja, von Teilen von Lewisham.« Sie plapperte, als hätte sie die Kontrolle über ihren Mund verloren.

»Was ist denn passiert? Das haben sie mir noch nicht gesagt. Wurde er überfallen oder war es ein Herzanfall oder … nein, kein Auto. Na ja, vielleicht. Ich meine, Autos kommen hier auch vorbei, aber …«

Ihre Stimme verlor ich. Sie sank erschöpft ins Sofa. Der Schotte erhob sich.

»Wie wäre es mit Tee?«, fragte er. »Und dann unterhalten wir uns richtig.«

Sie blieben länger, als ihr lieb war. Nachdem sie gegangen waren, wünschte sie sich dennoch insgeheim, sie wären geblieben. Das Haus fühlte sich zu groß, zu einsam an. Sie wollte rausgehen, den Hügel hinunter, nachsehen, was dort vor sich ging.

Die Polizei würde sie nicht in die Nähe der Leiche lassen.

Sie hatten nicht gesagt, was geschehen war, trotzdem wusste sie, es war nichts Gutes. Ihre Anwesenheit und ihre bohrenden Fragen verrieten es ihr. Oh, sie waren freundlich gewesen. Sie wollten nur so verdammt viel wissen. Warum die Party? Wer da gewesen war? Ob sie öfter feierte? Ob es Streit gegeben hatte? Warum Leute da waren, die sie nicht kannte? Ob sie oft Fremde in ihr Haus ließ? Und so weiter und so weiter.

Sie wünschte, Nick wäre hier. Er konnte einem vielleicht auf den Wecker gehen, doch er wusste wenigstens, was zu tun war. Ihre Schwäche und Unentschiedenheit missfielen Nick am meisten. In diesem Moment konnte Charlotte ihn verstehen. Sie hatte nichts falsch gemacht, gar nichts, und trotzdem versteckte sie sich in ihrem eigenen Haus wie eine Kriminelle. Was auch immer da unten passiert war, es hatte nichts mit ihr zu tun.

Sie erhob sich. Ihre Entschlossenheit verflog. Übelkeit überfiel sie. Sie wartete, bis das Gefühl nachließ, und ging nach oben. Dunst von abgestandenem Alkohol im Schlafzimmer. Sie musste würgen, riss die weißen Seidenvorhänge auf und schob das große Fenster nach oben. Kühle Luft auf der warmen Haut. Sie blickte über die Wälder hinter dem Haus und wartete. Ihr Puls beruhigte sich.

Als sie sich wieder bewegen konnte, ging sie zum Mahagoninachttisch und nahm das Handy. Sie wollte Ginny anrufen. Sie schaltete das Handy ein. Zwei verpasste Anrufe und eine Voicemail.

Die verpassten Anrufe waren von Freya.

Warum wollte ihre Tochter sie sprechen? Ihre Beziehung war nicht so innig, dass sie einander regelmäßig anriefen.

Sie rief die Voicemail ab. Ihre Aufregung wurde größer, als sie Freyas Nachricht abhörte.

»Ich bin’s. Kieran ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ruf mich bitte zurück.«

Zufall. Mehr nicht. Nur, Freyas Stimme … sie klang verloren. Verletzlich. Ihr kleines Mädchen. Ein Instinkt wurde wach. Plötzlich war das Bedürfnis, ihre Tochter zu sehen, bei ihr zu sein, sicherzustellen, dass ihr nichts zustieß, überwältigend.

Charlotte schnappte sich die Handtasche, steckte das Handy ein und rannte los.

Drei

Ennersdale Road in Hither Green war mit dem Wagen zehn Minuten vom Tatort in Blackheath entfernt. Viktorianische Terrassen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls oder der Erneuerung säumten die Straße. Ellen vermutete, die Immobilien waren ein Mix aus Privatbesitz und Sozialwohnungen.

Die Adresse des Opfers war Hausnummer neunzehn. Ein großes, abseits gelegenes Haus fast am Ende der Straße. Ellen stieg aus dem Auto. Für den plötzlichen Sonnenschein war sie zu warm angezogen. Sie öffnete den Reißverschluss der Jacke.

»Ein Streifenwagen wird jede Sekunde hier sein«, sagte Ellen zu Abby. »Vorher gehen wir nicht rein.«

Auf der Ennersdale Road war es ruhig, wie auf den meisten Straßen in der Gegend an einem Sonnabendmorgen. Wenig Verkehr, nur eine Handvoll Leute.

Als Ellen auf das Haus zuging, näherte sich ein Paar. Es kam den Hügel hinunter. Ein Mädchen fuhr auf einem Dreirad kichernd und gefährlich schnell auf sie zu, wie Ellen fand. Im letzten Moment wich das Mädchen nach links aus und steuerte in den Garten von Nummer neunzehn. Das Paar nickte und lächelte Abby und Ellen zu, bevor es ebenfalls im Garten verschwand.

»Sicher, dass Sie hier sein wollen?«, fragte Abby.

»Wollen Sie mich das jedes Mal fragen, wenn wir ein Kind sehen?«, sagte Ellen. »Alles ist gut. Die Kinder sind bei Freunden. Das habe ich doch schon gesagt. Ich werde sie pünktlich abholen. Bis dahin haben Sie mich am Hals.«

Abby meinte es gut, doch die ständige Kontrolle ging Ellen auf den Geist. Seit neuestem, so die Vereinbarung, arbeitete Ellen nicht mehr an Wochenenden. Doch, was zum Teufel, sollte sie sonst tun, wenn die Kinder bei Freunden waren? Sie hatte aus dem Büro nur ein paar Akten holen wollen. Hatte gar nicht vor zu bleiben. Murphys Gesetz – oder doch Glück? –, dass die Meldung von dem Mord just in jenem Moment reinkam. So lief das eben manchmal. Weder Ellen noch sonst wer konnte irgendetwas dagegen unternehmen. Sie meinte es, wie sie es gesagt hatte. Sobald sie die Kinder abholen musste, würde sie gehen.

Ein Streifenwagen tauchte auf, parkte. Ellen lief auf ihn zu, um mit den beiden Beamten zu sprechen. Einen kannte sie.

»Geht’s Ihnen gut, Maurice?«

Maurice Alter war schon länger Streifenpolizist als Ellen bei der Polizei. Zuverlässig, unerschütterlich und einer ihrer Lieblingskollegen.

»Nicht schlecht«, sagte Maurice. »Wir sollen hier warten?«

»Für den Anfang«, sagte Ellen. »Es muss kein ganzer Trupp reingehen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Wir müssen es nicht noch schlimmer für die Leute machen.«

»In Ordnung«, sagte Maurice. »Jamie und ich sind hier, wenn Sie uns brauchen.«

Ellen klopfte auf das Dach des Wagens und ging zurück zu Abby. Zusammen betraten sie den Garten von Haus Nummer neunzehn. Das Gebäude war eines der besser instand gehaltenen. Sonnengelb gestrichen, ordentlicher Vorgarten. Wer auch immer hier wohnte, kümmerte sich ganz offensichtlich.

Die Klingeln waren beschriftet: Wohnung eins die untere, Wohnung zwei die obere. Ellen drückte auf den Klingelknopf von Wohnung zwei und wartete. Nicht lange. Man konnte hören, wie jemand die Stufen hinunterpolterte. Die Tür öffnete sich knarzend. Vor ihnen stand eine pummelige, blassgesichtige Frau mit braunem Haar.

»Ja?«

»Mrs. Burton?«, riet Ellen.

Die Frau runzelte die Stirn. »Leider nein. Irrtum. Sie wollen zu Mr. Burton, nehme ich an. Kieran.«

»Ich nahm an, Sie seien seine Frau«, sagte Ellen.

Ein Zucken im Gesicht. Angst? Der Ausdruck war zu schnell verflogen, als dass Ellen ihn hätte deuten können.

»Ist ihm etwas zugestoßen?«, fragte die Frau. »Kieran, meine ich.«

»DI Kelly, CID Lewisham«, sagte sie. »Meine Kollegin DI Roberts. Dürfen wir reinkommen?«

Der Blick der Frau huschte von Ellen zu Abby und wieder zu Ellen. Sie bedeutete den beiden Detectives einzutreten.

Die Frau schloss die Tür, und der schmale Raum war plötzlich in Dunkelheit gehüllt. Eine Tür zu einer Wohnung zur linken, vor ihnen eine Treppe.

»Nach oben.«

Die Frau drängte sich an ihnen vorbei und stieg die Stufen hinauf, Ellen und Abby dicht hinter ihr. Die Wohnung im ersten Stock war hell mit großen Schiebefenstern und einem Blick über Hither Green und Catford. Die Einrichtung war billig, aber geschmackvoll. Möbel aus zweiter Hand, kein IKEA.

Ein original viktorianischer Kamin beherrschte eine Seite des Raumes. Das einzige Dekor auf dem Sims war ein gerahmtes Foto. Auf dem Bild zwei Personen: die Frau, die sie in die Wohnung geführt hatte, und ein Mann. Die Frau hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. Sie waren irgendwo auf dem Land. Beide trugen Outdoorjacken und lächelten Ellen an. Zu Lebzeiten sah der Mann anders aus. Es bestand jedoch kein Zweifel, wer er war. Dieselben hellbraunen Augen, dasselbe kurzgeschnittene blonde Haar.

Ellen wandte sich von den lächelnden Gesichtern ab.

»Können wir uns setzen?«, fragte sie.

Die Frau ließ sich in einem niedrigen Sessel neben dem Kamin nieder. Ellen entschied sich für das Zweisitzersofa gegenüber, Abby nahm auf einem hochlehnigen Stuhl am Tisch neben dem Fenster Platz.

»Schönes Foto.« Ellen deutete auf das Bild auf dem Kaminsims.

»West Sussex«, sagte die Frau. »Letzten September haben wir zwei Wochen dort verbracht. Bevor ihr Typen uns verjagt habt. Sind Sie darum hier?«

»Anti-Fracking?«, fragte Ellen. »Nein, darum sind wir nicht hier. Es geht um Mr. Burton. Kieran. Sind Sie seine Freundin, Miss …?«

»Partnerin«, sagte die Frau. »Kieran ist mein Partner. Ich bin Ms. Gleeson. Freya Gleeson. Hören Sie, können Sie mir sagen, worum es geht? Ich mache mir Sorgen.«

»Gibt es dafür einen Grund?«, fragte Ellen.

Freya schnaubte. »Abgesehen davon, dass Sie hier unangemeldet aufkreuzen? Würden Sie sich da keine Sorgen machen?«

»Kieran wohnt bei Ihnen«, sagte Ellen. »Stimmt das?«

»Ja.«

»War er letzte Nacht hier?«

Freya stöhnte. »Bitte, sagen Sie mir, was los ist.«

»Gleich«, sagte Ellen. »Ist das Mr. Burton auf dem Foto?«

Freya nickte. Jetzt sah sie verängstigt aus. Ellen graute es davor, ihr sagen zu müssen, warum sie hier waren.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte sie.

»Gestern.« Freya flüsterte. »Wir waren auf einer Party. Kieran ist vor mir weg. Er ist nicht nach Hause gekommen. Er war nicht hier, als ich zurückkam. Ich habe ihn seither nicht gesehen. Das ist ganz untypisch. Ich mache mir Sorgen. Er geht nicht an sein Handy. Irgendwas ist doch passiert, oder?

»Wo war die Feier?«, fragte Ellen.

»In Blackheath«, sagte Freya. »Meine Mutter hatte Geburtstag. Sie schmeißt immer große Partys. Nicht meine Szene, aber sie besteht darauf, dass ich komme. Meistens ist sie so betrunken, dass sie gar nicht mitkriegt, ob ich da bin oder nicht.«

»Die Leiche eines Mannes wurde heute Morgen in Blackheath gefunden«, sagte Ellen. »Wir glauben, es handelt sich um Kieran.«

Freya schüttelte den Kopf. Ihr Mund öffnete und schloss sich, als wollte sie sprechen, hätte aber vergessen, wie das ging. Sie beugte sich vor, die Arme vor dem Bauch gekreuzt, schnappte nach Luft. Abby sprang auf, lief zu Freya, legte ihren Arm um sie.

Freya stieß sie fort, fing an zu weinen. Laute Klagelaute. Ellen versuchte das auszublenden. Wie ihre Kollegen hasste sie diesen Teil ihres Jobs am meisten. Früh hatte sie gelernt, dass man solche Momente nur ertragen konnte, wenn man dichtmachte. Sprichwörtlich. Sie stellte sich ihr Hirn als Zusammenschluss unterschiedlicher Abteilungen vor. Jede Abteilung war zuständig für etwas anderes: atmen, bewegen, denken, fühlen. Die Abteilung für Gefühle – größer als die anderen – machte jetzt dicht. Eine Fähigkeit, die sie schon als Kind gelernt hatte. Der Umgang eines kleinen Mädchens mit einem Trauma, das ein junger Mensch unmöglich verarbeiten konnte. Dieselbe Technik im Job anzuwenden war nicht schwer. Der schwierige Teil kam später. Den Schalter zu finden, mit dem die Abteilung wieder aktiviert wurde. Es fiel ihr manchmal nicht leicht, sich wieder zurückzuholen. Sich dem Schmerz und der langen Reihe von Toten zu öffnen, die darauf warteten, einen Platz in ihrem Kopf einzunehmen.

Allmählich flaute Freyas Wehgeschrei zu einer leisen Totenklage ab. Einige lange Minuten später wischte sie sich das Gesicht ab und schaute auf. Ellen sah den tiefen Schmerz, zwang sich, nicht wegzusehen.

»Wo ist er?«, fragte Freya.

»In der Gerichtsmedizin«, sagte Ellen. »Er wird obduziert. Wir müssen wissen, was passiert ist. Wir können Sie zu ihm bringen lassen, wenn Sie wollen. Zuerst müssen Sie uns allerdings einige Fragen beantworten.«

»Selbstverständlich«, sagte Freya. »Ja. Was ist ihm zugestoßen? Das haben Sie mir noch nicht gesagt. Hat … Oh, Gott, was ist passiert? Unfall mit Fahrerflucht oder …?«

Ellen sah das Gesicht des toten Mannes vor sich. Die Überraschung in seinen Augen. Der dunkle Blutfleck auf seinem Shirt.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Abby. »Zur Todesursache können wir erst nach der Obduktion mit Sicherheit etwas sagen.«

»Sie müssen doch eine Ahnung haben«, sagte Freya. »Ich meine, war es ein Herzanfall oder, wie nennen Sie das, eine andere natürliche Todesursache oder …«

»Freya, bitte«, sagte Ellen. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir benötigen Ihre Hilfe. In Ordnung?«

Freya nickte.

»Gut«, sagte Ellen. »Fangen Sie doch mit dem gestrigen Abend an. Was war bis zu dem Zeitpunkt, als Sie die Party verlassen haben.«

»Wir haben hier zu Abend gegessen.« Freyas Stimme zitterte, ansonsten hatte sie sich wieder vollkommen unter Kontrolle. Entweder war sie eine ziemlich zähe junge Frau, oder sie hatte Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Ellen war sich nicht sicher.

»Es war schön«, sagte Freya. »Wir beide haben … oh, Gott, ich kann nicht glauben … wir hatten viel zu tun. Kierans Studium beansprucht viel Zeit. Er arbeitet … hat viel gearbeitet. Gestern Abend wollten wir ein wenig Zeit miteinander verbringen. Eigentlich wollten wir beide zu Hause bleiben, aber wir mussten ja los. Meine Mutter. Sie … na ja, sie ist manchmal ein wenig fordernd. Oh, Gott. Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«

»Dazu kommen wir noch«, sagte Ellen. »Erzählen Sie uns, wie es nach dem Abendessen weiterging.«

»Dann sind wir auf diese blöde Party gegangen«, sagte Freya. »Kieran hat vorher noch einen Freund auf einen Drink getroffen und kam nach.«

»Wen?«, fragte Ellen.

Freya zuckte mit den Schultern. »Jemanden von der Uni, glaube ich. Gegen neun war er auf der Party. Meine Mutter war natürlich schon betrunken. Wenn sie trinkt, kann sie ziemlich abscheulich sein. Letzte Nacht war keine Ausnahme. Sie mag Kieran nicht. Mochte ihn nicht.«

Jetzt kamen sie der Sache schon näher.

»Wo in Blackheath wohnt sie?«, fragte Ellen.

»Heath Lane«, sagte Freya. »Oh, Gott. Haben Sie ihn dort gefunden?«

Sie fing wieder an zu weinen. Auf Ellen wirkte dieser plötzliche Wechsel von Kontrolle zu Hysterie künstlich. Sie blickte auf die Uhr. Drei Minuten vor zwölf. Um sechzehn Uhr musste sie die Kinder abholen. Noch hatte sie Zeit. Sie überlegte, ob sie Rosie anrufen und sie bitten sollte. Genauso schnell entschied sie sich dagegen.

Sie stand auf.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe?«, fragte sie.

Freya wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und schniefte. »Sie werden nichts finden.«

»Es hilft uns zu verstehen, was für ein Mensch Kieran war«, sagte Abby. »DI Kelly wird nichts durcheinanderbringen. Es dauert nicht lange. Warum lassen wir sie nicht einfach tun, was sie tun muss. In der Zwischenzeit könnte ich uns eine schöne Tasse Tee machen.«

»Glauben Sie, das hilft?«, fragte Freya. »Glauben Sie, Tee macht alles wieder gut? Wann kann ich ihn sehen? Das ist alles, was ich will. Nicht hier herumsitzen und verschissenen Tee trinken.«

Ellen gab Abby mit einem Blick zu verstehen, den Tee trotzdem zu machen. Leise schlüpfte sie aus dem Wohnzimmer in den Flur. Von hier konnte sie durch die offenen Türen in die anderen drei Räume sehen – in eine kleine Küche im Galeriestil, in ein blaugefliestes Bad und ein Schlafzimmer.

Sie fing im Schlafzimmer an. Klein, dunkel, muffig. Auf den Fensterbrettern lag Staub. Ein Kleiderschrank aus zweiter Hand. Das Doppelbett war ungemacht. Darauf eine verblichene Steppdecke und passende Kissen. Eins war eingedrückt. Jemand hatte darauf gelegen. Das andere aufgeschüttelt und unberührt.

Ellen öffnete den Schrank. T-Shirts und Jeans. Schwer zu sagen, welche Kieran und welche Freya gehörten. Ein Stapel Poster lag neben dem Bett. Ellen hob eines auf. Das Plakat für eine Greenpeace-Demo, die vor drei Monaten in London stattgefunden hatte. Auch alle anderen Poster waren von Greenpeace. Ansonsten gab es nicht eine persönliche Note hier drin.

Neben dem Bett stand ein verstaubter Nachttisch mit drei Schubladen. Ellen zog jede auf. Ausgeblichene Unterwäsche ordentlich zusammengelegt in den oberen beiden, in der letzten billige T-Shirts.

Das Bad bot auch nichts. Billige Männerduschgels und Feuchtigkeitslotionen im Badezimmerschrank, keine entsprechenden Produkte für eine Frau. Ellen hielt sich nicht für sonderlich eitel, aber die Kosmetikartikel des Partners mitbenutzen? Das war neu. Selbst wenn sie kein Geld hätte, in ihrem Badezimmerschrank stünden mit Sicherheit Kosmetikartikel für Frauen, die ihr Partner mit ihr zu teilen hatte, nicht umgekehrt. Vielleicht war Kieran ein Tyrann, der seine Bedürfnisse vornean stellte. Oder Freya war der Prügelknabe, stellte seine Bedürfnisse über die ihrigen? Ellen wollte später darüber nachdenken.

Die Küche war winzig. Ein alt aussehender Herd, eine Waschmaschine, eine Mikrowelle. Keine Spülmaschine, aber auch kein schmutziges Geschirr im Spülbecken. Alles sauber und aufgeräumt. Ein ungeöffneter ALDI-Rotwein stand auf der Arbeitsplatte.

Auf ihrem Weg zurück ins Wohnzimmer klingelte es an der Haustür.

»Ich geh schon«, sagte sie.

Der Besucher schien entschlossen, eingelassen zu werden. Immer wieder wurde die Klingel gedrückt, während Ellen zur Tür eilte. Sie bemerkte eine leere Garderobe in der Ecke des Flurs. Kieran Burton trug eine Jacke. Ellen fragte sich, ob sie sich die auch teilten.

Sie öffnete einer dürren Frau. Ihre Haut sah aus, als hätte sie zu viel Zeit auf der Sonnenbank verbracht. Das strohige Haar stand in alle Richtungen ab.

»Wo ist sie?«, fragte die Frau. Ellen wurde von der Alkoholfahne beinahe umgehauen.

»Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«

Die Mutter. Erster Eindruck – absolut nicht wie Freya. Die Party letzte Nacht mochte die Fahne und das derangierte Aussehen erklären. Doch irgendetwas an dieser Frau verriet Ellen, dass es mehr als nur ein Ausrutscher gewesen war.

»Freyas Mutter?«, fragte sie.

»Richtig.«

»DI Kelly. CID Lewisham. Freya geht es gut. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich fürchte allerdings, ich habe unerfreuliche Nachrichten. Besser, Sie kommen rein.«

Vier

»Unfassbar.« Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein. Es tut mir leid. Einfach unbegreiflich. Freya, Liebling, was um alles in der Welt ist geschehen?«

Freya hob die Schultern, drückte sich am Sofa vorbei, weg von ihrer Mutter.

Charlotte blickte zu Abby. »Was kann ich tun?«, fragte sie.

Ellen musste an ihre Adoptiveltern denken und wie viel Kraft sie ihr in den Tagen, Wochen und Monaten nach Vinnys Tod gegeben hatten. Dass Freya irgendetwas in der Art von ihrer Mutter erwarten konnte, bezweifelte sie.

Eine Strähne ihres gebleichten Haares war Charlotte ins Gesicht gefallen. Sie strich sie weg. Die Hand zitterte. Schock oder Kater oder eine Kombination aus beidem.

»Du kannst gar nichts tun«, sagte Freya.

»Wie ist es …?« Charlotte wandte sich an Abby, bemühte sich sichtlich, Ellen zu ignorieren. Ellen war daran gewöhnt. Sie wusste, dass sie einschüchternd auf andere wirken konnte. Abby dagegen strahlte Wärme aus. Ob Opfer oder Täter, sie vertrauten ihr instinktiv.

»Das können wir noch nicht sagen.«

Abby lächelte mitfühlend. Wie machte sie das nur? Ellen wusste es nicht. Charlotte Gleeson war erbärmlich. Sie hörte nicht auf zu heulen, wiederholte ständig, wie schrecklich es war, und fragte, wie sie mit dieser Tragödie fertigwerden sollte. Nicht ein Mal hatte sie ihre Tochter gefragt, wie es ihr ginge, wie sie sich fühlte.

Ellen dachte daran, was Freya über ihre Mutter gesagt hatte: Wenn sie trinkt, kann sie ziemlich abscheulich sein. Letzte Nacht war keine Ausnahme.

»Er war auf Ihrer Party?«, fragte Ellen.

»War er das? Ich weiß es nicht … Ich bin nicht sicher.« Charlotte runzelte die Stirn, sah zu Freya, als könnte sie eine Antwort darauf geben.

»Er ist nicht lange geblieben«, sagte Freya. »Wie gesagt, es war nicht wirklich seine Szene.«

Ellen sah Charlotte an. »Hatten Sie mit Kieran Streit? Ist er darum gegangen?«

Charlotte legte die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Oh, nein. Ganz sicher nicht.« Sie versuchte zu lachen, aber es klang eher wie ein Schluchzen. »Freya, Liebling, wieso sagt sie das?«

»Du warst betrunken.« Der Ausdruck in Freyas Gesicht machte den Mangel an Gefühl in ihrer Stimme wett. Ekel gemischt mit Hass. Irgendetwas, das tiefer saß.

»Es war mein Geburtstag«, sagte Charlotte. »Gönnst du mir das etwa nicht?«

Freya gönnte es ihr ganz und gar nicht, das sah man ihr an, doch statt das zu sagen, wandte sie sich an Ellen.

»Kann ich ihn sehen?«

Ellen wollte sagen, nein, du kannst ihn noch nicht sehen. Nicht, bevor du nicht mehr über dich und deine Mutter erzählt hast, warum du sie hasst, was sie gesagt hat, das Kieran dazu veranlasst hat, nicht länger auf der Party zu bleiben.

Das musste warten. Zuerst musste er identifiziert werden. Die Identifizierung würde bestätigen, was sie ohnehin schon wusste. Der Tote war Kieran Burton.

 

Die große, ernste Kommissarin chauffierte sie in einem dunkelgrünen Audi. Der Wagen war eine Überraschung. Charlotte hatte einen Ford erwartet, einen Vauxhall oder etwas ähnlich Geschmackloses. Ihr war schlecht. Lieber säße sie vorn. Aber Freya war einfach eingestiegen. Kletterte ohne zu fragen neben die Polizistin. Charlotte nahm es ihr nicht übel. Die arme Freya stand wahrscheinlich noch unter Schock. Charlotte tat es auf jeden Fall.

Die Gerichtsmedizin befand sich in einem roten viktorianischen Backsteingebäude hinter dem Lewisham-Krankenhaus. Die Ermittlerin stellte den Wagen in einem Parkhafen ab und stieg ohne ein Wort aus. Ungünstig, denn Charlotte konnte sie nicht fragen, was sie jetzt tun sollte.

Die Hübsche schnallte sich ab und legte die Hand auf Freyas Schulter.

»Bereit?«

Freya drehte sich zu Charlotte um. »Kommst du mit?«

Oh, Gott. Charlotte wollte nein sagen. Sie brachte es nicht über sich. Nicht so. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, suchte nach einer Ausrede. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sie ein Pub gesehen. Machte es einen schlechten Eindruck, wenn sie vorschlug, erst einmal dorthin zu gehen? Nur für einen Drink.

Sie war nicht dämlich. Sie wusste, wie wichtig das hier war. Es fiele aber doch gewiss leichter mit einem kleinen Schluck als Mutmacher?

Freya schüttelte den Kopf. Charlotte sah den vertrauten Ausdruck von Ekel in den Augen ihrer Tochter. Beinahe, als könnte Freya ihre Gedanken erraten. Dämlich, aber sie konnte sich nicht helfen. Ihre Tochter gab ihr immer das Gefühl, dumm, nutzlos und eine einzige Irritation zu sein.

»Und Nick?«, fragte Charlotte. »Sollte er nicht auch hier sein?«

»Gut«, sagte Freya. »Bemüh dich nicht. Ich gehe sowieso lieber ohne dich da rein.«

Sie stieg aus. Der Wagen wackelte.

»Kein Problem«, sagte die hübsche Kommissarin. »Ich begleite sie.«

»Nein.« Charlotte folgte ihr, bevor sie es sich anders überlegte. Freya war zu Recht sauer. Ihre Tochter brauchte sie. In diesem Moment konnte sie etwas tun, was Freya nicht wütend machte oder irgendein anderes Gefühl weckte, das Charlotte sonst in ihr hervorrief. Keines dieser Gefühle war gut oder eines, das eine Tochter für eine Mutter haben sollte.

Sie lehnte sich gegen den Wagen, wollte den Schwindel verscheuchen, den die Übelkeit verursachte.

»Ich komme mit.«

Freya lief hinter den beiden Detectives her durch die Schwingtüren aus Glas. Charlotte eilte ihr nach und versuchte sich an den Namen der Frau zu erinnern. Irisch. Kelly. Erin Kelly? So ähnlich. Egal. Hauptsache, sie schaffte es durch die Glastür und blieb stark für Freya. Das war nicht zu viel verlangt.

Sie trat in die kühle, dunkle Halle. Du schaffst das, ermutigte sie sich. Du kannst das, und du wirst es tun. Danach wird Freya erkennen, was du für sie getan hast. Sie wird dir dankbar sein. Daran konnte sie sich festhalten.

Hätte sie gewusst, wie furchtbar es war, wäre sie draußen geblieben. Nichts in der Welt hätte sie darauf vorbereiten können. Angefangen beim Geruch. Ein durchdringender chemischer Gestank. Er drang in sie ein und wurde bei jedem Atemzug und jedem Schritt tiefer hinein in das schreckliche Gebäude stärker und widerlicher.

Der Raum, in dem die Toten lagen, brannte im weißen Neonlicht. Ihre Augen schmerzten. Reihen über Reihen von Stahltüren. Hinter jeder eine Leiche. Ein Mann in einem weißen Kittel öffnete eine und zog den Körper heraus, den sie sich ansehen sollten.

Zuerst erblickte sie den Zeh. Er lugte unter dem blassgrünen Laken hervor. Ein einzelner Zeh. Er konnte jedem gehören. Aber er gehörte Kieran. Der Mann hatte nun den ganzen Körper herausgezogen. Jetzt lag er vor ihr.

Seine Augen waren geschlossen. Er sah nicht aus wie jemand, den sie gekannt hatte. Aber er war es. Ihr Kopf füllte sich mit Bildern, Erinnerungen und Gerüchen. Seine Hand auf ihrer Haut, sein Atem auf ihrem Gesicht. Sie zusammen; schnell, verzweifelt, heftig. So verflucht falsch. Sie hatte ihn dafür gehasst und sich noch viel mehr.

Freya fing an zu schreien. Der Schrei durchschnitt Charlotte, traf sie bis ins Mark. Sie schloss die Augen, hörte ihre Tochter neben sich weinen wie ein kleines Kind.

Kieran flüsterte derweil Charlotte ins Ohr, dass er genau das wollte. Ihre Stimme sagte ja, ja, ja. Freya weinte. Charlotte kam es hoch, bitterer Geschmack und Brennen in der Kehle.

Sie schlug die Hand vor den Mund, wirbelte herum, weg von dem toten Körper, weg von ihrer weinenden Tochter, krümmte sich, als wäre der Schmerz einfach zu groß. Sie rannte auf die gläsernen Schwingtüren, auf das Licht, auf die Welt da draußen zu, ohne Leichen, ohne Erinnerungen und ohne ihre Tochter, weinte um einen Mann, den sie geliebt, der sie aber nicht zurückgeliebt hatte, denn in Wirklichkeit konnte er nur eine Person lieben: sich selbst.

Fünf

Nach der Gerichtsmedizin sollten sie im Polizeirevier ihre Aussagen machen. Charlotte fragte, ob das wirklich notwendig sei. Kelly machte deutlich, sie hätten keine andere Wahl. Sie hatte etwas Hartes an sich. Das machte es nicht leicht, sie zu mögen. Charlotte fand die andere sympathischer. Abby. Sie war hübsch und freundlich und schien Verständnis dafür zu haben, wie schwierig das alles für Charlotte war. Und natürlich für Freya.

Charlotte war davon ausgegangen, dass sie und Freya ihre Aussagen zusammen machen konnten. Doch Abby nahm Freya mit, Charlotte musste mit Kelly in einen anderen Raum gehen. Sie wünschte, es wäre andersherum. Das wäre sicher auch Freya lieber gewesen. Abbys gefühls- und körperbetonte Art würde sie irritieren.

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Kelly, als bäte sie Charlotte in ihr Wohnzimmer und nicht in diesen schrecklich grauen Raum, in dem es nach Chlor und Schweiß roch.

Charlotte wollte den Stuhl unter dem Tisch vorziehen, doch er war mit den Beinen am Boden befestigt. Sie schob sich auf die Sitzfläche, versuchte trotz der Kopfschmerzen und des unbändigen Durstes klar zu denken.

Kieran war tot. Ermordet. Wäre er eines natürlichen Todes gestorben, säße sie jetzt nicht hier. Bilder schossen ihr durch den Kopf. Am Ende jedes Mal eine Leiche auf einer Bahre in einem gleißend hellen Raum.

»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte Kelly. »Tee oder Kaffee?«

»Wasser«, sagte Charlotte. Sie wollte Kelly nach ihrem Vornamen fragen, hatte aber Angst, wie eine Idiotin dazustehen. Die Frau hatte ihn ihr ja schon gesagt. Wie sollte sie sich so ein Detail merken, wenn so vieles zu bedenken war?

Kelly verschwand. Charlotte atmete ein paar Mal langsam tief ein und aus, um ihren rasenden Puls zu beruhigen, die Angst und die Panik zu verscheuchen, die ihr die Brust zuschnürten. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf drehte sich jeden Moment vom Hals ab und flöge davon.

Kieran war tot.

Ermordet.

Geräusche und Bilder. Geräusche, Gerüche, Leute. Das Gesicht eines Mannes. Sie rannte durch die Heidelandschaft. Regen in ihrem Gesicht. Oder Tränen? Das Brennen von Erbrochenem in der Kehle. Das Singen ihrer Mutter. Nein. Ihre Mutter war nicht dort gewesen. Unbändiger Zorn brannte, bis es weh tat. Ein Messer. Kierans Hände auf ihrem Körper. Sein Gesicht über ihrem. Das von ihrer Mutter. Plötzlich Blutspritzer auf ihrem Arm und in ihrem Gesicht. Warm und feucht.

Die Tür ging auf. Charlotte zuckte zusammen.

Kelly stand im Türrahmen und blickte sie an. »Alles in Ordnung?«

»Kater«, sagte Charlotte. Die Zähne klapperten, der Körper zitterte. Eis in den Adern.

»Trinken Sie«, sagte Kelly. »Langsam.«

Sie nahm den Pappbecher in beide Hände, führte ihn an den Mund, ohne viel zu verschütten. Das Wasser schmeckte gut. Ihr Körper sehnte sich nach etwas anderem. Sie wartete, bis das Zittern nachließ, stellte den Pappbecher ab und blickte die Kommissarin an.

»Ellen«, sagte die Frau. »DI Ellen Kelly. Darf ich Charlotte zu Ihnen sagen?«

Sie nickte.

»Gestern hatten Sie Geburtstag?«

»Brauche ich einen Anwalt?«

»Wir können Ihnen einen besorgen, wenn Sie es wünschen«, sagte Ellen. »Sie sind aber nicht verhaftet. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Ist das okay?«

»Ich glaube schon.«

»Erinnern Sie sich, Kieran gesehen zu haben?«, fragte Ellen.

Lippen, Hände und kratzige Bartstoppeln auf ihrer Wange.

»Nein«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht. Freya war da. Allein, glaube ich.«

Ellen warf einen Blick auf ihre Notizen.

»Sie wissen nicht mehr, ob Sie mit jemandem gestritten haben?«

»Schreie«, sagte sie. »Ein Mann. Er hat mich angeschrien, glaube ich. Es tut mir leid. Ich weiß seinen Namen nicht mehr. Kieran war es nicht. Da bin ich mir sicher.«

»Wieso?«

Gute Frage.

»Ich erinnere mich an sein Gesicht«, sagte sie. Nicht ganz die Wahrheit, aber niemand konnte ihr das Gegenteil beweisen. »Es war nicht Kieran.«

»Wer dann?«

»Irgendein ungeladener Gast«, sagte Charlotte. »Wieso ist das wichtig?«

»Okay.« Ellen zuckte mit den Schultern, als sei es so oder so egal. Das war nur vorgetäuscht, so viel war Charlotte klar. Gleichzeitig war sie erleichtert, dass sie sich nicht weiter erklären musste.

»Was können Sie mir über Kieran erzählen?«, fragte Ellen.

Charlotte zog die Stirn in Falten. »Wie meinen Sie das?«

»Wie war er?«, fragte Ellen. »Was für ein Mensch war er? Mochten Sie ihn? Hat er Ihre Tochter glücklich gemacht?«

Er war ein Schwein. Freya war ihm vollkommen egal. Das konnte sie ihnen nicht auf die Nase binden. Sie würden die falschen Schlüsse ziehen. Abgesehen davon ging es sie nicht das Geringste an.

»Er war okay«, sagte sie. »Sie waren okay. Ich meine, sonst hätten sie wohl kaum zusammen gewohnt.«

»Mochten Sie ihn?«, fragte Ellen noch einmal.

Hand auf ihren Schenkeln. Heiß. Feuchter Atem raunte ihr etwas zu.

»Ich weiß nicht«, sagte Charlotte. »Ich meine, na ja, ich kannte ihn kaum. Freya und ich führen sehr unterschiedliche Leben. Wir sehen uns nicht häufig. Ja, sie wohnt ganz in der Nähe, nur zehn Minuten mit dem Auto, aber es ist kompliziert. Sie ist kompliziert, um ehrlich zu sein.«

Sie hielt inne. Was, zum Teufel, war in sie gefahren? Plapperte vor sich hin wie eine Vollidiotin, erzählte der Polizei lauter Zeug. Private Dinge, die nur ihre Familie etwas angingen und niemanden sonst.

»Ich habe Kieran letzte Nacht nicht gesehen«, sagte sie. »Ich lüge nicht. Er ist tot. Das ist furchtbar. Aber ich war’s nicht. Ich habe damit nichts zu tun.«

»Womit?«, fragte Ellen.

»Kierans Tod«, sagte Charlotte.

»Das habe ich nie behauptet«, sagte Ellen.

Charlotte fragte sich, ob Ellen sie verwirren wollte oder ob sie es ernst meinte. Vielleicht war es gar nicht so, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht stand sie gar nicht unter Verdacht. Von der SMS wussten sie nichts. Sie hatte sie gelöscht. Und ihr Handy hatten sie nicht überprüft.

Wieder sah sie das Messer vor sich, spürte das warme klebrige Blut auf der Haut. Blutgeruch.

Sie schloss die Augen, versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Als sie die Augen aufschlug, blickte Ellen Kelly sie an, als könnte sie Charlottes Gedanken lesen.

Der Blutgeruch schien im Raum zu schweben, sich mit dem Chlor und dem Schweiß zu vermischen. Sie sah auf ihre Hände, die flach auf dem Tisch lagen. Bildete sich ein, Blut durch ihre Finger rinnen zu sehen.

Sechs

»Kieran Burton. Weiß. Fünfundzwanzig Jahre alt. Student an der Greenwich University. Masterstudium in Soziologie und Politik. In einer Beziehung mit Freya Gleeson. Fundort der Leiche am Fuße der Heath Lane, wo auch Freyas Eltern wohnen. Ein einzelner Stich ins Herz. Letzte Nacht war eine Party. Mrs. Gleesons Geburtstagsfeier. Zur Tatzeit war das Opfer entweder auf dem Weg zur Party, oder er wollte gehen.«

DCI Geraldine Cox hörte mit dem Hin- und Herlaufen auf, sah die vier Detectives an, die vor ihr saßen. Ellen, Abby, Alastair und Malcolm.

»Korrekt?«, fragte Ger. »Hab ich etwas vergessen?«

»Wir denken, er war auf dem Weg nach Hause«, sagte Ellen. »Laut Aussage seiner Freundin ist Kieran eher gegangen.«

»Sagt sie die Wahrheit?«, fragte Ger.

»Ich glaube, ja«, sagte Ellen. »Sie behauptet, ihre Mutter und Kieran seien aneinandergeraten. Charlotte gibt zu, eine Auseinandersetzung mit jemandem gehabt zu haben. Allerdings nicht mit Kieran, schwört sie. Ich glaube, sie war zu betrunken, um sich erinnern zu können.«

»Abby?«, sagte Ger. »Sie haben Freyas Aussage aufgenommen. Was glauben Sie?«

»Sie steht unter Schock«, sagte Abby. »Kein Wunder. Auf mich wirkte sie aufrichtig. Sie sagte, ihre Mutter war unhöflich zu Kieran. Darum ist er gegangen.«

»Unhöflich?«, fragte Ellen.

Abby schüttelte den Kopf. »Freya wusste nur, dass Kieran aufgebracht war.«

»Wieso ist sie nicht mit ihm mitgegangen?«, fragte Ellen.

»Sie war sauer«, sagte Abby. »Wollte ihre Mutter zur Rede stellen und wissen, was sie zu Kieran gesagt hat. Dazu kam sie nicht, weil Charlotte auf sie losgegangen ist. Also ist sie auch weg.«

»Haben wir eine Liste aller Gäste?«

»Charlotte hat uns eine Liste gegeben«, sagte Ellen. »Von geladenen Gästen. Es waren aber auch Leute da, die sie nicht kannte. Im Moment arbeiten sechs Beamte die Liste ab und holen Aussagen ein.«

Ellen warf einen Blick auf die Uhr an der Wand hinter Ger. Fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Sie hatte noch fünfzehn Minuten.

»Die Gerichtsmedizin ist mit der Arbeit im Rückstand«, sagte sie. »Mark versucht bis morgen, mit der Obduktion fertig zu sein. Die Eltern des Opfers sind tot. Eine Schwester lebt in Norwich. Wir haben mit den Kollegen Kontakt aufgenommen. Sie geben uns Bescheid, sobald sie sie informiert haben. Mit ein wenig Glück heute noch.«

»Bis dahin«, sagte Ger, »geben wir den Namen des Opfers nicht an die Presse raus. Mal sehen, wie lange das gutgeht. Sie wissen, dass der Vater des Mädchens Nick Gleeson ist?«

Der Name kam Ellen bekannt vor.

»Der Restaurantbesitzer«, erklärte Ger. »Der mit der Totally-Tapas-Kette.«

»Plant der nicht …«, fing Abby an.

»Eine Partnerschaft mit Pete Cooper«, vollendete Ger den Satz. »Ja. Was Sie nicht wissen, Pete Cooper ist seit einiger Zeit Gegenstand der Operation Rift. Sind Sie damit vertraut?«

Alle nickten. Operation Rift war eine polizeiübergreifende Aktion gegen das organisierte Verbrechen in der Stadt.

»Cooper ist ein einflussreicher Geschäftsmann«, fuhr Ger fort. »Ebenso Nick Gleeson. Besitzt eine Möbelhauskette im Südosten und investiert in Immobilien. Nach außen hin nichts Zwielichtiges. Es besteht jedoch der Verdacht, dass er über seine Filialen Geld aus weniger sauberen Geschäftsbereichen wäscht. Es lohnt sich vielleicht, darauf hinzuweisen, dass Nick Gleeson ein guter Freund unseres geschätzten Detective Superintendent Nicholls ist. Beide sind Mitglied im Royal Blackheath Golf Club. Ebenso Pete Cooper.«

Mit anderen Worten, ein ziemlicher Schlamassel. Ellen stand auf. »Sorry«, sagte sie.

»Schon gut«, sagte Ger. »Sie sollten heute sowieso nicht hier sein. Gehen Sie. Ich melde mich später bei Ihnen.«

»Danke«, sagte Ellen. »Was machen wir mit der Presse? Soll ich Jamala informieren?«

Jamala Nnamani war Communication Manager und kümmerte sich um alle Belange der Presse. Auf einen Mordfall, in dem ein angesehener Geschäftsmann im Fokus stand, würde sich die Presse stürzen.

»Ich denke darüber nach«, sagte Ger. »Wir können den Namen des Opfers nicht preisgeben, solange die Schwester nicht informiert ist. Ich bin auch nicht sicher, wie schnell wir die Verbindung zu Gleesons Familie öffentlich machen sollen.«

»Wir müssen also dafür sorgen, dass die Presse an keine Informationen herankommt, bevor wir es nicht für richtig halten«, sagte Ellen.

»Richtig«, sagte Ger. »Darüber können wir später reden. Jetzt müssen wir in die Einsatzzentrale zur Lagebesprechung. Malcolm hat ein Team zusammengetrommelt. Es wartet auf Anweisungen. Ich rufe Sie an, Ellen, versprochen.«

Sie war entlassen und war – vollkommen irrational – verärgert. Ellen verabschiedete sich. In einer entscheidenden Phase eines, wie es den Anschein hatte, außergewöhnlichen Falles einfach zu gehen, passte ihr nicht, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie hatte ihren Kindern und auch sich versprochen, dass die Arbeit ab sofort an die zweite Stelle trat. Dieses Versprechen wollte sie halten.

 

Charlotte stand vor Freyas Wohnung, Finger auf dem Klingelknopf. Sie wusste, dass Freya zu Hause war. Sie hatte sie hinter dem Fenster gesehen, als sie sich dem Haus näherte.