Kalter Kaffee in Tiflis - Dustin Dehez - E-Book

Kalter Kaffee in Tiflis E-Book

Dustin Dehez

3,8
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mann unterwegs im Auftrag seines Landes. Seine Waffe: Selbstironie

Dustin Dehez, Vortragsreisender für die deutsche Entwicklungshilfe, wird auf seinen Reisen in politische Krisenherde wie Georgien, Israel oder Pakistan die ganze Absurdität seines Anliegens bewusst – ihm dämmert: in diesen Ländern ist Frieden längst zur schlechten Idee verkommen und er wohl der Letzte, der daran etwas ändern könnte. Doch die Lösung ist oft näher und einfacher als gedacht, denn mit ein paar einfachen Regeln, wird jede noch so absurde Konferenz zum Erfolg. Etwa mit Hilfe eines Gläschens Hochprozentigem zur allgemeinen Lockerung – bloß wo bekommt man Alkohol her, wenn die Islamisten das Land fest in ihrer Hand haben, oder man aufgrund einer überdosierten Malariaprophylaxe ohnehin schon doppelt sieht? Wie verhält man sich, wenn der Diktator von jeder Häuserwand herunterlächelt? Und was kann man tun, wenn der nette Tischnachbar im teuren Lokal sich plötzlich als Waffenhändler entpuppt?

Dustin Dehez zeigt uns die Welt, wie wir sie nicht aus der Tagesschau kennen. Und das ist oft furchtbar komisch, manchmal aber auch nur mit einer Prise gesundem schwarzem Humor – und einem gut geschüttelten Martini – zu ertragen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 258

Bewertungen
3,8 (12 Bewertungen)
4
4
2
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dustin Dehez

KALTER KAFFEE IN TIFLIS

Absurde Geschichten eines deutschen Gesandten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. AuflageCopyright © 2013 by btb Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-10607-2V002

www.btb-verlag.de

Meiner Familie und Sarah Elizabeth Kreps, die schon wissen wird, warum.

Inhalt

Vorwort

Kalter Kaffee in Tiflis

Provinzen sind wie zerbrechliche Vasen

Auf der Suche nach dem Heiligen Land – mit Waffenhändlern an der Bar

Garnelen und Wein mit der Opposition

Zwei F-16 für einmal al-Qaeda

Singen für den Frieden

Togo Redux

Ein arabischer Frühling in Kairo

Das Bier danach

Dank

Glossar

Vorwort

Bremen , 2013

Das erste Mal kam mir die Idee zu diesem Buch auf einer Konferenz der NATO, des Slowakischen Außenministeriums und des Viségrad-Funds in Bratislava im Spätsommer des Jahres 2008, zu der ich als einziger Deutscher eingeladen und dann auch noch gekommen war. Im Laufe des zweiten Konferenztages fanden sich die damaligen Außenminister Polens und der Slowakei zu einer Podiumsdiskussion zusammen, um in nebulös gehaltenen Allgemeinplätzen ihr Vertrauen in die transatlantische Allianz zu bekunden. Während der slowakische Außenminister müde und völlig ausdruckslos das wohl langweiligste Einleitungsstatement aller Zeiten verlas, erklang urplötzlich die klassische James Bond-Melodie. Noch während ich mich ungeschickt im Stuhl wand, um herauszubekommen, woher diese nun kam, griff der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski in sein Jackett, holte sein Mobiltelefon heraus und drückte ungeniert darauf herum, während es munter weiterklingelte. Sikorski sah ohnehin immer aus, als hätte er im letzten James Bond den Bösewicht gespielt: Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Mads Mikkelsen – und einen ganz fabelhaften Humor. Seine platte Nase, das blasse Gesicht und die stets ungeschickt in die Stirn fallende Tolle ließen ihn wie einen schlecht getarnten KGB-Agenten an den Rändern des Warschauer Paktes aussehen. Der Wahl seiner persönlichen Accessoires treu folgend, wies er in seinen einführenden Worten mit Nachdruck darauf hin, dass Polen nicht vorhabe, Deutschland zu besetzen, zumindest nicht so bald. Nicht dass das nicht ginge, Polen hätte an jedem Freitagnachmittag gute Chancen gehabt, wenn deutsche Soldaten in aller Regel die Intercitys zwischen Porta Westfalica und Görlitz verstopften. Ich hatte also allen Grund zur Erleichterung. Aber wie er da auf seinem Mobiltelefon herumdrückte, entschied ich in stiller Eitelkeit, dass all diese Anekdoten nicht länger verlorengehen sollten. Es sind schließlich diese Dinge, die ich nie in Konferenzberichte schreiben durfte, die mir aber beim abendlichen Nacherzählen die Aufmerksamkeit einer schon viel zu lange nur entfernt Angebeteten brachten. Ich musste also dringend damit beginnen, alles aufzuschreiben und über meine vergeblich angeführten Beweise für Liebe und Leidenschaft Buch zu führen.

Auf den meisten Reisen, die mich schließlich zum Schreiben dieses Buches verführt haben, war ich sozusagen teilnehmender Beobachter. Wer mit dem Begriff der teilnehmenden Beobachtung nichts anfangen kann, hat vermutlich nie Malinowski und/oder Ethnologie studiert, dafür aber mit großer Wahrscheinlichkeit seinen gesunden Menschenverstand bewahrt. Das Konzept besagt eigentlich nichts weiter, als dass der Ethnologe sich nicht in die Angelegenheiten und Vorgänge einer Gemeinschaft einmischen soll, die er zu beobachten, verstehen und anschließend zu beschreiben versucht. In der Regel, so nahm ich an, hieß das, dass sich die Ethnologen und Anthropologen, die den Hühnerkampf auf Bali, die Kinderheirat in Süd-Waziristan oder norwegische Fischer bei der Schnapsbrennerei beobachteten, sich vor lauter Ereignislosigkeit ausgiebig betrinken. So habe ich das, wie dem Leser sicher nicht entgehen wird, auch gehandhabt.

Tatsächlich habe ich die Hoffnung, dass dieses Buch mehr ist als nur eine lose Sammlung von persönlichen Anekdoten, sondern dem Leser einen Eindruck von dem vermittelt, was sich außerhalb der für die Tagesschau und Günther Jauch zurechtgeschnittenen Welt abspielt. Mit anderen Worten: den Leser mit dem vertraut zu machen, was sonst auf dem Globus geschieht und dabei jene Stereotypen zu vermeiden, die die deutschen Medien so gerne prägen. Dabei entführt das Buch den Leser an Plätze, die im Merian nicht unbedingt als besonders einladende, vergnügliche Erholungsorte angepriesen werden, die in keinem Lonely Planet Beschreibung finden, in denen dennoch Abenteuer erlebt werden und phantastische Bekanntschaften geschlossen werden können und die in den Nachrichten eigentlich einen Platz haben müssten, der ihnen aber aus unerfindlichen Gründen verweigert wird. Meist weilden Nachrichtenmachern andere, wichtigere Dinge dazwischenkommen, etwa weil ein belangloses Kloster in Hitzacker eine neue Flutmauer erhalten hat, in Cannstatt ein beliebiges Treffen irgendeiner Nischenpartei stattfand oder weil die öffentlich-rechtlichen Sender Katharina Witt davon überzeugen konnten, einem zweitklassigen Laiendarsteller irgendeinen ausgedachten Fernsehpreis anzudrehen und sich daher gezwungen sehen, eine ganze Ewigkeit über sich selbst zu berichten. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass ich bereit bin, für die Erfüllung des Sendeauftrags angemessene Wiedergutmachung der öffentlich-rechtlichen Sender entgegenzunehmen. Ob es gelungen ist, dem Leser den Rest der Welt ein Stück näherzubringen, darf ich zum Glück nicht selbst entscheiden. Wie bei einem Buch über die schönen Seiten der Welt üblich, kommt es nicht ganz ohne Quellen aus. Alle Übersetzungen stammen aus dem Englischen und sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, vom Autor selbst vorgenommen worden.

Ein guter Autor ist zuerst ein guter Leser und so dürfen all die intellektuellen Anregungen, die mich zu Stil und Unfug in diesem Buch verleitet haben, nicht ungenannt bleiben: Die wunderbaren Reiseberichte P. J. O’Rourkes, die Reportagen von Christopher Hitchens und die Romane so wunderbarer Autoren wie Mohammed Hanif, Evelyn Waugh, Stuart Stevens, Graham Greene, Hunter S. Thompson, P. G. Wodehouse und vielen anderen. Hier und da habe ich einen Namen verändert, nicht etwa aus naheliegender oder einer durch den einen oder anderen Abend an der Bar hervorgerufene Vergesslichkeit, sondern um Gesprächspartner vor möglichen Repressalien des Staates oder Lebenspartners zu schützen, nicht immer in dieser Reihenfolge.

Kalter Kaffee in Tiflis

Georgien , Februar 2009

Auf irgendeinem Pfad musste mein Name an Katja gelangt sein, die das Auslandsbüro einer deutschen politischen Stiftung in Tiflis leitete, und die mich nun für ein paar Tage in die georgische Hauptstadt und nach Gudauri, einen beliebten, aber in Europa doch weitgehend unbekannten Wintersportort, eingeladen hatte. Dort sollte ich nun einer Winterschule für georgische Studenten und Nachwuchsdiplomaten zweifelhaften Glanz verleihen, etwas zur NATO und den Sicherheitsproblemen der Region aus alliierter Perspektive erzählen. Ich nehme solche Einladungen furchtbar gerne an und sage dafür bereitwillig alles andere ab. Lasse, mit den Worten meiner Eltern, alles stehen und liegen. Auch sonst erinnert vieles an meine Jugend. Schon der Flug nach Tiflis gleicht mehr einer Klassenfahrt. Waren auf dem Flug von Frankfurt nach Istanbul noch alle Passagiere artig auf ihre Plätze zurückgekehrt, als das Anschnallzeichen über den Sitzen aufleuchtete, geschieht auf dem Flug nach Tiflis das exakte Gegenteil. Kaum blinkt das Anschnallzeichen einladend, stehen um mich herum alle möglichen Georgier auf, rennen durch das Flugzeug zur Toilette, rufen nach der Stewardess, holen umständlich irgendetwas aus dem Gepäckfach oder führen irgendwelche, offensichtlich richtungslosen Unterhaltungen mit Bekannten drei Reihen hinter mir. Einer der Nachteile, wenn man in ein Land mit gerade mal vier Millionen Einwohnern fliegt, ist, dass jeder jeden über wirklich jede Ecke kennt. Ein gemeinsamer Flug muss hier in etwa so viel Gesprächsbedarf schaffen wie andernorts eine Wahlparty oder ein Kriegsausbruch. Dieses Spektakel dauert ungefähr zehn Minuten, dann kehrt vorübergehende Ruhe ein, einzig vereinzelte Handyanrufe unterbrechen die letzte Minute des Landeanfluges, vermutlich teilen einige Georgier ihrer Familie den bevorstehenden Absturz der Maschine mit oder berichten von einer überfälligen, aber leider desaströs endenden Familienzusammenführung. So genau kann ich das nicht sagen, denn das Georgische ist eine recht blumige Sprache. Die Einzigen, die den georgischen Flugzirkus gelassen hinnehmen, sind die Stewardessen und ein halbes Dutzend gelangweilter UN-Soldaten, die auf dem Weg zur UN-Mission (UNOMIG) in Georgien sind.

Zu meiner Überraschung setzt die Maschine dann um drei Uhr nachts recht ruhig auf der Landebahn in Tiflis auf und rutscht nicht etwa über einen Acker zwischen Gori und irgendeinem Dorf in den ossetischen Bergen, von wo aus Rettungsmannschaften Wochen gebraucht hätten, um überhaupt zur Unglücksstelle zu gelangen. Das Flugzeug rollt an alten Mi-8-Helikoptern vorbei zum Terminal, nimmt ein paar Schlaglöcher, macht einen kurzen Satz und kommt mit einem Ruck zum Stehen. Im Terminal angelangt, gehe ich erstmal auf die Toilette, denn bevor mein Koffer ankommt, schießen aus unerfindlichen Gründen unzählige Absperrstangen und einige hundert Metallkisten der UN-Soldaten auf das Gepäckband. Kurz nach mir düst auch gleich ein Dutzend Georgier zur Toilette, nicht etwa um mir Gesellschaft zu leisten, sondern nur um zu rauchen. Ein Blick in den Papierkorb offenbart, dass es sich dabei wohl um einen jüngeren georgischen Brauch handeln muss, der in den Terminals georgischer Flughäfen weite Verbreitung gefunden hat. Die georgische Regierung hatte am Flughafen ein Experiment gestartet, den Rauchern das Rauchen madig zu machen, ein Versuch, der überall sonst im Land zum Scheitern verurteilt gewesen wäre und vermutlich nur den ersten Eindruck der Europäer von Georgien geraderücken sollte – es handelte sich also um eine Art Pilotprojekt. Überhaupt rauchen die Georgier bei jeder Gelegenheit, und das sehr ausgiebig. Die Passkontrolle, für mich immer eine gewisse Hürde, weil Grenzbeamte meinen Pass aus mir schleierhaften Gründen – vermutlich irritiert sie mein Name – immer extrem lange und ungläubig in ihren Händen drehen, ermöglicht einen ersten Einblick in die politischen Probleme, oder in der Terminologie der Europäischen Union, Herausforderungen des Landes. Ein mit schlechtem Wörterbuch angefertigter Zettel weist mich darauf hin, dass Georgien ein »Land ohne Korruption« sei und dass der Versuch, Beamte zu bestechen, mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet werde. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei diesem zarten Hinweis um die staatliche Sorge um den Ruf des Landes handelt, oder ob die offizielle Mitteilung mehr als subtiler Hinweis auf die sozialen Probleme der georgischen Staatsbeamten zu verstehen ist und ich nochmal schnell Bargeld am Automaten holen sollte.

Endlich kann auch ich meinen Koffer einsammeln und begebe mich auf die Suche nach Giorgi, der mich vom Flughafen abholen und zu meinem Hotel fahren soll. Kaum gefunden, erklärt mir Giorgi, warum die Regierung es für nötig hält, Reisende auf die wohl erst kürzlich gewonnene Korruptionsfreiheit des Landes hinzuweisen. Während wir auf der Hauptstraße vom Flughafen, vorbei am neuen Innen- und dem georgischen Gas- und Ölministerium, in die Stadt fahren, erzählt er mir, dass diese Korruptionsfreiheit wohl ein georgisches Alleinstellungsmerkmal im Südkaukasus ist und dass viele Armenier, die das Land zuhauf bereisten, aus gewisser armenischer Gewohnheit heraus, Polizeibeamten mit den geforderten Papieren unaufgefordert auch gleich eine nicht weiter nennenswerte, finanzielle Aufmerksamkeit aushändigten. Nun würden einige hundert rechtschaffene Armenier in georgischen Gefängnissen sitzen und Anklagen wegen versuchter Bestechung erwarten. Giorgi erzählt mir auch, dass er selbst gerne Gio genannt werde, denn überhaupt würden alle georgischen Vornamen auf o enden. Sollten aber unberechenbare Kräfte, vermutlich Eltern, einmal dafür gesorgt haben, dass ein Name nicht auf o endete, wie etwa bei Giorgi, kürzten die Georgier den Namen so ab, dass am Ende doch wieder ein o stünde. Streng der Regel folgend und als Ausdruck einer kreativen Meisterleistung, nannten die Georgier Giorgi also Gio. Gio hatte in Saarbrücken Deutsch gelernt und musste sich nun von einem deutschen Besucher in Georgien sagen lassen, dass Saarbrücken die dritthässlichste Stadt der Welt sei, nach Ulan Bator und Bischkek. Ich nehme an, dass er ebendeshalb nach Tiflis zurückgekehrt war.

Seit einigen Jahren versucht Georgien in die NATO zu gelangen. Die NATO ihrerseits erschwert Georgien seit ebenso vielen Jahren den Beitritt, indem die Allianz angestrengt auf die Provinzen Südossetien und Abchasien verweist. Moskau wiederum will den Beitritt mit demselben Hinweis ein für allemal verhindern. Übrigens ist Nato auch ein georgischer Mädchenname, genaugenommen eine Abkürzung für Natalya, und da Georgien im Großen und Ganzen doch eine patriarchalische Gesellschaft ist, kursieren allerhand Witze darüber, wie man wohl am besten in die Nato hineinkomme. Im August 2008 hatte es Georgien in die Nachrichten aller Welt geschafft, als es sich zu einer militärischen Auseinandersetzung mit seinem geringfügig größeren nördlichen Nachbarn Russland genötigt sah. 1991/92 hatte das Land mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur die Unabhängigkeit erreicht, sondern auch einen kurzen, verschwurbelten Bürgerkrieg. In Georgien hatte dieselbe Krankheit Fuß gefasst, die zeitgleich aus Jugoslawien eine von einem mittelalterlichen Bürgerkrieg verwüstete Mondlandschaft gemacht hatte; die Vorstellung nämlich, dass jedes Häuflein Menschen, das sich in irgendeiner Form von anderen unterschied – Länge der Bartstoppeln, Religion, Gestaltung der Vornamen oder was auch immer – oder sich auch gar nicht von den anderen abhob, jedoch vom Rest der Menschheit durch einen Bergkamm oder eine Hügelkette getrennt lebte, irgendwie eine Nation sei und deshalb Anspruch auf einen eigenen Staat habe. Die Vorstellung, einen gemeinsamen, besseren zu schaffen, war schon auf dem Balkan aus unerfindlichen Gründen nicht mehrheitsfähig gewesen, und in Georgien war dieser Gedanke nur unter jenen populär, die sich tatsächlich für Georgier hielten. Allerdings gab es sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem zu schaffenden Staat, und nicht wenige fragten, ob man denn nun so ganz unbedingt überhaupt einen schaffen müsse. Diejenigen nahmen wohl an, es ginge eh am besten ohne irgendeinen staatlichen – wie es in der Entwicklungszusammenarbeit so schön heißt – Ordnungsrahmen. Das war erstaunlich, sonst geht es in der Entwicklungszusammenarbeit nämlich in erster Linie um den geregelten Mittelabfluss. In Georgien waren es die Abchasen und Südosseten, die den Verbleib innerhalb Georgiens ablehnten und jeweils eigene Staaten gründen wollten, die in Einwohnerzahl und Fläche nur Luxemburg Konkurrenz machen konnten und deren Überlebensfähigkeit von westlichen Analysten mit ungewohnt vernünftigen Argumenten bezweifelt wurde (vor allem Größe und Lage werden dabei umstandsreich angeführt), wenn sie nicht großspurig Briefkastenfirmen und Drogenschmuggel ins Feld führten. Die internationale Gemeinschaft machte dann das, was Familien mit derlei Problemen am besten tun: Sie versuchte es unter den Teppich zu kehren und bereicherte die Welt um den Begriff des »eingefrorenen Konflikts«, ein Terminus, dessen Bedeutung und dessen unausweichliche Konsequenzen den meisten Menschen aus ihrer Ehe bekannt sind. Abchasen und Südosseten blieben in Abchasien und Südossetien und machten, was sie sonst auch machten, und Georgien blieb Georgien und durfte Abchasien und Südossetien zu seinen Staatsgebieten zählen, nur dass die Georgier dort nicht hineindurften. Das wäre auch schwierig gewesen, denn auf diesen Territorien standen sich eine russisch geführte und eine UN-Friedenstruppe (die UNOMIG) gegenseitig auf den Füßen herum, die gemeinsam darauf achteten, dass alles so blieb wie es war. All das kostete die internationale Gemeinschaft zwar eine Menge Geld, erlaubte es ihr aber, sich nicht weiter um den Konflikt kümmern zu müssen, während sie offiziell geduldig auf eine, wie auch immer geartete, Konfliktlösungsreife wartete – eine Strategie also, die schon in der Serie Beverly Hills 90210 aus dramaturgischen Gründen scheitern musste und bei Parker Lewis Lebens- bzw. Filmkonzept war. Die meisten Familien finden charakterlich ähnlich geartete Lösungen durch das rechtzeitige Einschalten von Internaten, Hospizen oder Wohnstiften.

Die georgische Antwort auf Parker Lewis, den Coolen von der Schule, war Michael Saakaschwili, der Hitzkopf von Tiflis. Er brachte das Land nach dem Sturz Eduard Schewardnazes auf einen westlichen Kurs und begann eine ungewohnt erfolgreiche Modernisierung. Vielversprechend war sie schon allein deshalb, weil es nicht nur bei der Ankündigung blieb. Zu dieser Modernisierung zählte auch das Ansinnen, Georgien in die NATO zu führen, was aber den Russen nicht in den Kram passte. Russland hatte im Laufe der 1990er Jahre den rapiden Verfall seiner Macht ohnmächtig mitansehen müssen und es zu Beginn des neuen Jahrhunderts dank massiver Öl- und Gasverkäufe geschafft, wieder zu einer gewissen Stärke zurückzufinden, und begann nun ordentlich gegen den Westen und besonders die Vereinigten Staaten anzustänkern. Für Russland waren Südossetien und Abchasien plötzlich willkommene Mittel, um Georgien aus der NATO herauszuhalten. Im Laufe des Jahres 2008 hatte sich die Lage zwischen Russland und Georgien dramatisch zugespitzt, immer wieder hatte es Scharmützel zwischen den vermeintlichen russischen Friedenstruppen und georgischen Soldaten gegeben, bis sie schließlich am 7. August direkt aneinandergerieten. Schon im Februar 2008 hatten Russland und Abchasien gemeinsam überlegt, was zu tun sei, wenn der Westen den Kosovo als Staat anerkennen würde. Das war eine besonders verworrene Umschreibung für das Ansinnen, es dem Westen gleichzutun und ebenfalls so gar nicht lebensfähige Staaten zu schaffen. Moskau unterstrich damit auch eine ganz besondere Reife im Umgang mit dem Rest der Welt. Im März erklärte Russland, dessen sogenannte Friedenstruppe in Südossetien und Abchasien immerhin auf ein Mandat der ansonsten vollkommen unbedeutend gewordenen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) angewiesen war, dass es sich nicht länger an die Vereinbarungen zur »Konfliktregulierung in Abchasien (Georgien)« der GUS aus dem Jahr 1996 halten würde, und im Mai folgte schließlich der Befehl an die russischen Truppen, ohne Rücksprache mit dem Kreml, alle nötigen militärischen Mittel einzusetzen – wofür auch immer. Klar war da bereits, dass damit keine Solderhöhungen gemeint waren, zumindest keine regulären. Georgien ernannte zwischenzeitlich einen Minister für Reintegration, was wiederum Südosseten und Abchasen ordentlich auf die Palme trieb. Kurz, was in der Nacht vom 7. auf den 8. August in Südossetien genau geschah, wird niemand mehr rekonstruieren können, aber beide Seiten wollten diesen Krieg und hatten das Jahr 2008 mit der Vorbereitung für diesen Waffengang zugebracht. Georgien und Russland hatten dennoch überrascht, besorgt und empört ob des plötzlichen Ausbruchs der Feindseligkeiten reagiert und betont, dass es eine friedliche Einigung geben müsse, am besten sofort oder eben nach Abschluss der jeweils eigenen militärischen Operationen. Jetzt, nur wenige Monate später, kursierten überall die wildesten Theorien: Die erste war dezidiert georgischer Natur und lautete, dass es einen heimlichen Deal mit dem Kreml gegeben haben könnte, wonach Georgien Südossetien zurückholen dürfe, Abchasien dann aber vielleicht doch bei Russland bliebe. Russland habe sich dann einfach nicht an die Verabredung gehalten. Die russische Rechtfertigung sah so aus, dass, nachdem der Westen den Kosovo anerkannt habe, Südossetien und Abchasien ein ebensolches Recht auf Eigenständigkeit hätten, das hätten Volksabstimmungen so ergeben. Dabei wurde gerne und geflissentlich übergangen, dass es etwa in Abchasien durchaus mehr Georgier als Abchasen gab, die allerdings entweder Anfang der 1990er Jahre vertrieben wurden oder einfach nicht abstimmen durften. Eigentlich tat sich Russland mit der Anerkennung ohnehin keinen Gefallen: In Südrussland, an der Grenze zu Georgien, lebten die Nordosseten, und die träumten von einem ossetischen Riesenreich und der Vereinigung mit den Südosseten und vermutlich allen anderen Osseten auf dem ganzen Globus. Die westliche Theorie wiederum besagte, Russland wolle nicht nur Georgien aus der NATO heraushalten, sondern auch ein Monopol auf die Gasversorgung Europas. Deshalb dürfe es aus russischer Sicht auf keinen Fall zum Bau der sogenannten Nabucco-Pipeline kommen, die eines Tages aserbaidschanisches und, zu allem Übel, vielleicht auch noch turkmenisches Gas nach Südeuropa führen könnte. Nabucco wäre die einzige Pipeline, die nicht durch Russland verliefe und damit das russische Gasversorgungsmonopol durchbrechen könnte, und da sei es doch kein Zufall, dass die Pipeline eben auch durch Georgien verlaufen solle. Der Krieg, so die Theorie, hätte Russland auch dazu gedient, Investoren für die Nabucco-Pipeline abzuschrecken und das russische Gegenprojekt zu unterstützen. Kaukasische Politik ist aber meist so geartet, das war mir jetzt klar, dass wohl alle Theorien irgendwie stimmten.

Während ich im Februar 2009 nachts mit Gio durch Tiflis fahre, ist so gut wie nichts mehr von dem Krieg zu erkennen. Tiflis liegt in einem Tal, der Fernsehturm ist beleuchtet, ebenso wie der kitschige neue Abflugterminal für die Regierung Georgiens. Nichts deutet noch darauf hin, dass russische Panzer nur ein halbes Jahr zuvor bis an die Stadtgrenze gerollt waren. Gio berichtet, dass die Beleuchtung auch während des Krieges mit Russland nicht abgeschaltet worden sei. In der Zeit Eduard Schewardnazes hatte es immer wieder Engpässe in der Stromversorgung gegeben, da sei es nur natürlich, dass man das Licht nicht einfach wieder ausschalte, nur weil ein paar russische MIGs sich auf die Suche nach einer Radarstation nahe Tiflis begeben. Meinen Einwand, dass der Fernsehturm ein ebenso verlockendes Ziel sei, wischt er mit einer Handbewegung weg. Während wir durch die Stadt zum Hotel fahren, fällt mir auf, dass die Straßen fast menschenleer sind. Vielleicht ist an der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes doch etwas dran: Das hatte vor nächtlichen Entführungen auf offener Straße und Raubüberfällen gewarnt und überhaupt von unnötigen Reisen ins Land abgeraten. Mir erscheint meine Reise in etwa so dringlich, wie einer dieser Spaziergänge, zu denen mich meine Eltern zwangen, als ich zwölf war und Oma zu Besuch kam, aber das behielt ich einstweilen für mich. Als handle es sich um eine Szene eines absurden Ingmar-Bergmann-Films, fahren einzig ein paar Streifenwagen langsam durch die Nacht, deren Blaulicht angeschaltet bleibt und kleine Lichtkegel das Signal von Ordnung und Korruptionsfreiheit an die Fassaden der Hauptstadt werfen. In Georgien fällt es den Streifenpolizisten zu, aus jeder Reise einen surrealen Trip zu machen. Die Warnung des Auswärtigen Amts war wohl eher ein Produkt des deutschen Amtsschimmels als der georgischen Verhältnisse. Vielleicht ist die ständige Beleuchtung von allem und jedem aber auch Teil des georgischen Programms, möglichst viel Energie zu verschwenden. Das scheint überhaupt eine georgische Obsession zu sein: Ständig passieren wir Häuser, auf denen riesige bunte Sterne leuchten und blinken. Ich hatte schon länger vor, einmal den Entwicklungsstand von Staaten nach dem im Lande verbreiteten Kitsch zu beurteilen. Nordkorea etwa würde dabei extrem schlecht abschneiden, schließlich herrscht dort ein staatlich verordneter Pastellfarben-Kitsch. England würde wegen der verbreiteten, gesetzten Herbstfarben recht weit vorn liegen, andererseits legt die britische Angewohnheit, in jedem Raum metertiefen Teppich zu verlegen, dem Land eine schwere Bürde auf. Georgien würde einen guten Mittelplatz einnehmen, und Michael Saakaschwili würde das Seine dafür tun: Im Land wird er gelegentlich Mischa, Brunnenbauer der Erste, genannt, obwohl er äußerlich eher wie eine Mischung aus Peter Alexander und Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit daherkommt. In ganz Tiflis stehen Springbrunnen, die aber im Februar, vermutlich auch über den Rest des Jahres, keinerlei Wasser führen, dafür aber das Bemühen Saakaschwilis ausdrücken, »der Bevölkerung den öffentlichen Raum wiederzugeben«, wie Gio es umständlich und bemüht europäisch ausdrückt. Und warum in Saakaschwilis Fall die Regel aufgehoben wurde, nach der alle Namen auf o enden müssten, frage ich erst gar nicht.

Am folgenden Morgen besuche ich das Büro der Stiftung, wo ich mit allen Mitarbeitern gemeinsam mittagesse. Es gibt etwas, das wie eine georgische Interpretation von Pizza wirkt. Gio fragt mich, ob ich einen Kaffee möchte, und hält mir triumphierend eine Dose Jacobs-Instantkaffee entgegen und ruft mir dabei aufmunternd zu: »Jacobs!« Da wusste ich noch nicht, dass Instantkaffee in Georgien offenbar mit dem Ruf belegt ist, gleichzeitig modern und auch noch europäisch zu sein. Jackpot also. Deshalb rauchen die Georgier immerzu und trinken dazu wie verrückt Instantkaffee. Wir wandern auf die Dachterrasse, von der aus man einen wunderbaren Blick über Tiflis hat: Die einzige Glaskuppel, die sich über der Hauptstadt erhebt, ist die des neuen Präsidentenpalastes von Mischa Saakaschwili. Gleichzeitig wird mir schlagartig klar, dass alle Städte ihren eigenen Geruch haben: Dresden zum Beispiel riecht im Winter stark nach Rosenkohl, im Prinzip also ekelhaft. Tiflis hingegen riecht nach Holzkohle, gemischt mit Weihrauch. Also hinnehmbar. Gio berichtet inzwischen enthusiastisch von den Modernisierungsbemühungen der georgischen Regierung und deren ersten Erfolgen, die bereits zu erkennen seien. Auch die Straße vor dem Büro der Stiftung müsse bald repariert werden, was ich für eine Untertreibung halte: Überhaupt eine Straße zu bauen wäre schon ein guter Anfang. Nach dem zweiten Instantkaffee laufen wir zur Metrostation, an der allerdings nur Taxen und Kleinbusse zu fahren scheinen. Dort nehmen wir einen Kleinbus in Richtung Gudauri, dem Wintersportort in der Nähe der südossetischen Grenze. Die Fahrt in dem Bus gleicht einer Schlittenfahrt: Nach kaukasischem Brauch hatten wir auf das Anschnallen verzichtet, und je weiter wir in die Berge kommen, desto klarer wird mir, dass der Wechsel von Sommer- auf Winterreifen vielleicht nicht überall so verbreitet ist wie in Westeuropa. Der Fahrer lenkt den VW-Bus streng nach Ideallinie, nur gelegentlich bricht die Hinterachse kurz aus. Hin und wieder muss er abrupt bremsen, etwa wenn Kühe auf der Straße stehen, Gegenverkehr aus dem Nichts auftaucht, mit großen kyrillischen Buchstaben beschriftete LKWs auf der Straße abgestellt wurden oder sich eine Brücke zeigt, die mit losen Stahlplatten belegt ist, dabei eine hunderte Meter tiefe Schlucht überwindet und deren ausgiebige Teerung auf einen günstigeren Zeitpunkt vertagt worden war. Bei den höheren Serpentinen fehlen die Leitplanken, und es kommt mir plötzlich so vor, als wäre ich Teil einer Weltspiegel-Reportage über irgendwelche Todespässe in Zentralasien, an denen regelmäßig Busse und selbst erfahrene Lastwagenfahrer tausende Meter in den von Regierungsseite leicht vermeidbaren Tod stürzten.

Das Hotel in Gudauri gilt als erste Adresse des georgischen Wintersports, verströmt allerdings den Charme einer rustikalen, norddeutschen Autobahn-Raststätte. Alles sieht aus wie auf der Raststätte Tecklenburger Land im Jahr 1985. Georgier, auch das wird mir schnell klar, die zu Geld gekommen sind, kaufen sich einen Geländewagen, schnallen ganzjährig die Skiausrüstung auf das Dach und fahren zumindest einmal im Jahr nach Gudauri, wo sie sich dann in ihre Skiausrüstung werfen und den Rest des Tages in der Hotellobby herumhängen, rauchen und auf den Instantkaffee am Nachmittag warten. Das ist nur zu verständlich, denn die größte Attraktion Gudauris ist dem Krieg mit Russland zum Opfer gefallen. Früher war Gudauri für das sogenannte Heli-Skiing bekannt. Eine alte Mi-8 flog die Skifahrer auf die gegenüberliegende Seite des Tales, wo die wahnsinnigen Sportliebhaber aus dem Helikopter ausstiegen und ins Tal hinabbrausen konnten. Nun beginnt auf der anderen Seite des Bergkamms des gegenüberliegenden Tales Südossetien, und dort hatten die Russen Flugabwehrkanonen aufgestellt, und Flüge mit einer Mi-8 erschienen daher wenig ratsam. Stattdessen werden in Gudauri nun vermehrt politische Treffen abgehalten, und an diesem Wochenende, an dem ich junge Akademiker und Nachwuchsdiplomaten mit der nordatlantischen Allianz und der Sicherheitspolitik der Europäischen Union vertraut machen soll, sind außer uns noch die christlichen Demokraten Georgiens, die angeblich Georgiens einzig ernstzunehmende Oppositionspartei bilden, in dem Hotel abgestiegen. Als müssten sie ihre Ernsthaftigkeit beweisen, weisen sie mit Nachdruck darauf hin, dass sie bei Wahlen irgendetwas um die zehn Prozent erreichten. Die christlichen Demokraten tragen alle Norweger-Pullover, haben kleine aber beschauliche Bäuche, trinken Instantkaffee und rauchen viel. Gleichzeitig bereiten sie wohl irgendwelche Gesetzesmaßnahmen vor. Hin und wieder taucht auch eine amerikanische Entwicklungshelferin in der Lobby auf, die einen etwas schroffen Susan-Sontag-Charme versprüht, die christlichen Demokraten offenbar in die parlamentarische Oppositionsarbeit einführen soll und nun am Telefon von ebendiesen christlichen Demokraten berichtet, die Gelegenheit aber vor allem nutzt, eine Zigarette zu rauchen, Instantkaffee zu trinken und ihrem Chef enthusiastisch ins Telefon zu rufen: »Die haben die richtigen Ideen.« Präziser wird sie nicht, mein Eindruck ist aber auch, dass am anderen Ende der Leitung niemand genauer nachfragt.

Kaum hatte ich meinen Auftrag erfüllt und die georgischen Akademiker mit NATO und europäischer Union bekannt gemacht, juckte es mich auch schon wieder in den Fingern, wieder Praktisches zu unternehmen. Deshalb machen wir uns in aller Frühe auf, um die Beobachtermission der Europäischen Union, die European Union Monitoring Mission (EUMM), zu besuchen. Während des Krieges zwischen Georgien und Russland hatte Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft inne, und Nicolas Sarkozy, der französische Präsident, der zwar von kleiner Statur war, dafür aber ein großes, narzisstisches Ego sein Eigen nannte, mit dem er sowohl Carla Bruni als auch Yasmina Reza um den Verstand gebracht hatte (und das war doch mal etwas, was selbst mir imponierte), war ihr Vorsitzender. Er flog mit Ausbruch des russisch-georgischen Krieges zwischen Tiflis und Moskau hin und her und wollte unbedingt vermitteln, selbst als das weder Russen noch Georgier wollten – die waren zunächst nämlich nur entsetzt und wenig verhandlungsbereit. Nachdem Russland realisierte, dass es einen gewaltsamen Regierungswechsel in Georgien nicht würde erzwingen können, gelang es Sarkozy aber, trotzdem zu vermitteln. Der wenige Tage nach Ausbruch der Kriegshandlungen von Sarkozy für die Europäische Union ausgehandelte Sechs-Punkte-Plan sah einen sofortigen Waffenstillstand, die Einstellung der Feindseligkeiten, den Rückzug der russischen Truppen aus Georgien (nicht unbedingt aus Südossetien und Abchasien) und überhaupt einen Dialog zwischen den Konfliktparteien um den endgültigen Status der Regionen Südossetien und Abchasien vor. Natürlich hat es diesen Dialog nie gegeben, denn Russland hatte es vorgezogen, Abchasien und Südossetien völkerrechtlich anzuerkennen, und auch der Rückzug der russischen Truppen aus Georgien ist nicht vollständig vollzogen worden. Noch im März 2009 stehen russische Truppen nicht nur in Südossetien, sondern auch noch in dem einen oder anderen Zipfel Georgiens herum, vermutlich, weil es in Südossetien selber zu eng geworden war, denn da patrouillierten ja immer noch hilflose UN-Soldaten. Auf die Nicht-Einhaltung des Vertrages angesprochen, behauptete der Kreml, die Bedingungen hätten sich irgendwie verändert. Und eine Weile später erkannte Russland Südossetien und Abchasien als eigene Staaten an. Problematisch war nur, dass Sarkozy ausgehandelt hatte, dass die Umsetzung des Sechs-Punkte-Plans von der Europäischen Union überwacht werden sollte. Seither befinden sich knapp dreihundertvierzig EU-Beobachter im Land, von denen zweihundert zwar den russischen Rückzug beobachten sollen, die aber von den Russen nicht nach Südossetien oder Abchasien gelassen werden und die auf georgischer Seite nichts weiter als spazierenfahren können. Eigentlich braucht es auch keine zweihundert aktiven Beobachter, um in der Nähe von Südossetien und Abchasien spazieren zu fahren, denn so groß ist das hier alles ja nicht, aber die Europäische Union hat sich vorgenommen, der Mission Bedeutung zu verleihen, und deshalb müssen auf jeden Fall mehr Beobachter von der EU entsandt werden, als zuvor von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gestellt worden waren.

Gemeinsam mit den Akademikern und Nachwuchsdiplomaten besteige ich wieder den Todesbus, der nun die Serpentinen herunterrast, dabei gelegentlich etwas wackelt und dessen Fahrer sich aus dem zwischenzeitlich auf der Fahrbahn gefrorenen Schneematsch nichts macht. Wir fahren in der Morgendämmerung in irgendein Tal, vorbei an Kiesgruben und verfallenen Kontrollstellen der ehemaligen Sowjetunion, immer auf der Suche nach dem Field Office der EU-Mission. Nach einigen Wendemanövern, Abkürzungen und Umwegen finden wir es schließlich am Ufer eines kleinen Baches, abgelegen an einem Wirtschaftsweg, in einer ganz besonders pittoresken Ortschaft. Unser Besuch beginnt mit einem Briefing, das wir, gebannt auf spektakuläre Neuigkeiten wartend, besonders aufmerksam verfolgen. Die Militärbeobachter der Europäischen Union berichten der Reihe nach von ihren Patrouillenfahrten am Vortag, von ungeräumten russischen Stellungen, und verlieren sich weit ausschweifend in endlos langweiligen Details. Die einzige Ausnahme bilden zwei rumänische Beobachter, die nur sagen, dass es absolut nichts zu berichten gebe. Akkurater lässt sich die Lage wohl nicht beschreiben. Ein untersetzter englischer Beobachter mit goldener Lesebrille erläutert in nicht weniger als fünfzehn Minuten eindringlich den Unterschied zwischen einer Umgehungs- und einer Ringstraße, dann werden die neuen Routen zugewiesen, auf denen die Beobachter erneut nach russischen Stellungen und Veränderungen schauen sollen. Vor dem Fenster stehen derweil zwei georgische Mitarbeiter, sie tragen Norweger, trinken Kaffee und rauchen. Der englische Beobachter meldet sich nun noch einmal zu Wort und weist seine nach Süden aufbrechenden Kollegen auf jene Gefahren hin, die sich ergeben können, wenn Umgehungs- und Ringstraße leichtfertig verwechselt werden. Unter Umständen seien Ringstraßen gar keine Ringstraßen, sondern Umgehungsstraßen.

Dann gibt es Instantkaffee und eine Rauchpause. Ich raffe mich auf und frage die Mitglieder der Mission, ob sie den Eindruck haben, mit ihrer Arbeit irgendetwas auszurichten, und ob sie denken, dass die richtigen Informationen in Brüssel ankommen, und ob es denn überhaupt eine Rückmeldung aus Brüssel gibt. Der Pressebeamte der Europäischen Union erklärt daraufhin umständlich, warum die Beobachter nicht frustriert seien. So könne man dazu nun wirklich nichts sagen.