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Ein atmosphärischer Psychothriller, der seine Leser bis zum Schluss rätseln lässt Regines Leben scheint endlich in geordneten Bahnen zu verlaufen. Doch diese Idylle wird an einem Wintermorgen zerstört. Eine furchtbare Nachricht über ihre Nichte Julia zwingt Regine, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und nach München zu reisen. Dort führt sie eine Verkettung tragischer Ereignisse auf die Spur eines Verbrechers, der keine Grenzen kennt, um seine Ziele zu erreichen. Eine gefährliche Reise, an deren Ende nichts mehr ist, wie es war.
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Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2020
Elsa Spach
Kalter Plan
Psychologischer Thriller
© 2020 Elsa Spach
Autorin: Elsa Spach
Umschlaggestaltung, Illustration: Edward Mason
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
978-3-347-11571-2 (Paperback)
978-3-347-11572-9 (Hardcover)
978-3-347-11573-6 (e-Book)
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1
28. Januar 2012, REGINE
Die Gäste, die hier im Februar auftauchen, kommen wegen der Robben. Ausgerechnet zu einer Jahreszeit, wenn der Wind direkt vom Nordpol über uns hinwegbläst, werden die Robbenbabys geboren. Zu Hunderten liegen die Mütter am Strand, eine steingraue Masse, die sich beim Näherkommen als Ansammlung wuchtiger Körper entpuppt. Ihre Jungen bleiben meist im Dünengras versteckt und schleppen sich nur zu ihren Müttern, wenn sie hungrig sind.
Gestern traf eine Familie mit zwei Teenagern bei uns ein, allesamt Brillenträger, groß und stämmig gebaut. Heute wecken sie mich schon um sieben, als sie mit ihren schweren Stiefeln die Treppen herunterpoltern, um ihren Rottweiler auszuführen. Zuerst hatte ich geglaubt, die Teenager seien ein junges Ehepaar; beinahe hätte ich ihnen das Doppelzimmer statt das mit den Einzelbetten gegeben. Sie kicherten und klärten mich auf. Meist spricht die Mutter, laut und mit klagender Stimme. Die Tochter lächelt gequält durch ihre Zahnspange, Vater und Sohn tauschen Blicke aus und schweigen. Wie ich beim Servieren erfahre, ist der junge Mann ein mathematisches Genie seines Schuljahrgangs. Dafür scheinen seine Emotionen tief im Inneren vergraben zu sein.
Neben mir ertönt ein Aufschnarchen, dann wälzt Joe sich zu mir herum und zieht sich das Federbett wie eine Kapuze über den Kopf. Dick eingepackt muss er sein, und Wollsocken braucht er, sonst schläft er nicht. Ein Hauch von Weindunst dringt in meine Nase.
Gestern Abend hatte die Mannschaft der Auffangstation ihr wöchentliches Treffen im Wild Man, unserem Pub im Dorf. Ich bin erleichtert, dass Joe sich so rasch eingearbeitet hat und unter den Kollegen so beliebt ist. Er ist spät ins Bett gekommen, ich werde ihn schlafen lassen. Wenn er einen frühen Termin hat, sollte er sich selbst einen Wecker stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er verschläft, aber vielleicht lernt er endlich daraus. Später wird er mir vermutlich Vorwürfe machen. Ich betrachte sein schmales Gesicht, seine geöffneten Lippen, und berühre seine Wange federleicht, worauf sie zuckt.
Draußen verklingen die Schritte und Stimmen der Gäste, dann herrscht Stille, als sei die Welt in Watte gehüllt. Noch bevor ich hinausschaue, weiß ich, dass es geschneit hat. Die dicken Vorhänge lasse ich geschlossen, obwohl von draußen ohnehin kein Licht hereindringen und Joe wecken könnte. Ich schlüpfe in Jeans und Wollpulli und schleiche auf Hausschuhen hinunter in die Küche.
Zwei schwarze Wirbelwinde stürzen winselnd auf mich zu. Ihre Körper sind warm und geschmeidig vom Liegen vor dem großen Gasherd, der Seele meiner Küche. An die Wand gehockt lasse ich sie um Körperkontakt mit mir buhlen. Meist gewinnt Poppy, weil ihre Tochter Ruby zu rücksichtsvoll ist und sich fortdrängen lässt.
Ein englisches Frühstück läuft zu einer riesigen Mahlzeit auf, wenn Gäste wie unsere derzeitigen sämtliche Beilagen auf der Bestellliste ankreuzen. Mir ist unbegreiflich, wie manche Leute solche Mengen an Würstchen, geschmortem Speck, Spiegelei auf in Butter oder Schmalz gebratenem Toastbrot, gebackenen Bohnen, Champignons und Tomaten am Morgen verspeisen können, ohne dass ihr Magen rebelliert. Ich zerlasse Butter in einer Auflaufform, fülle Würstchen, Speck, Pilze und Tomaten hinein, schiebe alles in den Ofen und gieße mir eine Tasse grünen Tee auf.
„Nachher gehen wir zu den Robben“, erkläre ich den Hunden, die mich aufmerksam betrachten und die Ohren aufstellen. Mit raschen Blicken zwischen Kühlschrank und mir teilen sie mir mit, dass sie andere Prioritäten haben. Zuerst ist ihr Frühstück an der Reihe, bestehend aus Joghurt, Haferflocken und Glukosamin-Tabletten, weil sie schon ältere Damen sind. Sie lieben unsere Frühstückspension, weil sie übriggelassene Wurststücken oder Speckrinden fressen dürfen.
„Die beiden werden mich sicher überleben, bei all der Fürsorge, die sie von dir bekommen“, scherzt Joe oft.
„Auf alle Fälle trinken sie weniger Alkohol als du“, necke ich ihn dann.
Manchmal erinnere ich mich. An die Funken, die wie Feuerwerk zwischen uns aufschossen. An sein Lachen, das mir eine Gänsehaut über den Körper jagte und mich in seine Arme lockte. Obwohl er zum Greifen nah ist, Teil meines Alltags, meines Lebens, vermisse ich diesen Teil von ihm. Vielleicht ist das, was im Lauf der Zeit mit Liebe passiert. Mir kommt es so vor, als sei der Joe von früher einer neuen, kühlen Version gewichen. Wir gehen vorsichtig miteinander um, trauen einander nicht so recht. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich ihm ausweiche, obwohl ich ihm nahe sein will. Und ich grübele, warum er oft so erloschen erscheint.
Ob es an mir liegt? Wie bringe ich bloß dieses Bittere in mir zum Schweigen? Gelegentlich ertappe ich ihn dabei, dass er mich wie eine Fremde mustert. Als würde er sich fragen, wie um Gottes Willen er hierher geraten ist, in dieses zugige alte Haus am Meer, zu dieser Frau jenseits ihrer besten Jahre, in dieses raue Land. Zwischen uns steckt ein Keil wie ein schmerzhafter Dorn, zu tief, um ihn herauszupressen.
Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Ein Leben mit ihm war immer genau das, wonach ich mich sehnte. Jetzt ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich mir ausmale, nur mit den Hunden zu leben. Keine Kränkungen mehr, kein Groll, dafür bedingungslose Zuneigung. Vielleicht wäre ich weniger einsam ohne ihn. War es ein Fehler, ihn zu mir zu holen?
Joe betritt die Küche, nachdem ich das schmutzige Geschirr im Frühstücksraum schon längst aufgeräumt habe, und sinkt auf seinen Stuhl am Tisch. Manchmal hilft er mir beim Bewirten der Gäste, lässt seinen Charme spielen und bringt sie mit seinen reizenden Fehlern im Englischen zum Lachen. Heute aber, das sehe ich gleich, ist ein schlechter Morgen. Obwohl ein Duftgemisch von Toast, Bratwurst und Kaffee im Raum schwebt, den er sonst unwiderstehlich findet, wirkt er matt und uninteressiert.
„Ich habe verschlafen“, brummt er, ohne aufzublicken. Vergeblich versuchen die Hunde, durch Anstupsen mit den Schnauzen seine Aufmerksamkeit zu erregen. In sich zusammengesunken starrt er vor sich hin und schiebt sie fort. Ich stelle eine Tasse schwarzen Tee mit einem Schuss Milch vor ihn auf den Tisch.
„Toast oder Müsli?“
„Die warten bestimmt schon auf mich. Warum hast du mich nicht geweckt“, entgegnet er mürrisch und streckt blindlings eine Hand nach mir aus. Ich drücke sie kurz und fange schweigend an, die Spülmaschine zu füllen.
„Sprichst du nicht mehr mit mir?“
Diesmal kreuzen sich unsere Blicke. Sein graumeliertes Haar steht in alle Richtungen, kleine Tränensäcke und um den Mund eingegrabene Falten beherrschen das unrasierte Gesicht. Das alles glättet sich im Lauf des Tages. Aber der Morgen zeigt die Wahrheit. Wir werden beide älter. Ich sollte eine weniger grelle Birne in die Hängelampe über dem Tisch einschrauben, auch für mich.
Das Telefon klingelt und ich nehme ab, obwohl ich weiß, dass es für ihn ist.
„Moment, hier ist er.“ Ich reiche ihm den Hörer.
„Ja, tut mir Leid“, sagt er. „Der schwarze Schwan? Keine Panik. Ich bin gleich drüben.“
Sein Englisch wirkt immer noch hart und deutsch. Er steht auf, gibt mir den Hörer zurück, leert die Tasse mit dem kochend heißen Tee in einem Zug und greift zur Wachsjacke, die an der Tür hängt.
„Soll ich dir nicht noch eben ein Käsebrot zum Mitnehmen machen?“ frage ich.
Er schüttelt den Kopf und wirft sich die Jacke über. Das Telefon klingelt erneut, und diesmal ist er schneller als ich.
„Was gibt’s denn noch?“ murmelt er in die Sprechmuschel. Dann verändert sich sein Gesicht, er runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen und hält den Hörer vom Gesicht weg, als habe er sich das Ohr verbrannt.
„Ja, da sind Sie richtig verbunden. Hier ist sie.“, sagt er auf Deutsch und hält mir den Hörer entgegen. Er beobachtet mich scharf, während ich das Gespräch übernehme. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen.
2
„Regine Bonewitz“, melde ich mich. „Mit wem spreche ich?“
Es ist lange her, seit ich den letzten Anruf aus Deutschland bekommen habe. Wer sollte mich auch anrufen? Mein Leben ist hier, versteckt in Norfolk, seit vielen Jahren schon. Ich habe alle Brücken abgebrochen, wie man so sagt. Oder andere haben sie für mich abgebrochen. Das schmerzt schon lange nicht mehr. Das hier ist meine Heimat geworden. Aber obwohl ich mich kaum noch als Fremde fühle und mein Englisch fließend ist, verraten mich immer wieder kleine Betonungsfehler, ein Akzent oder ein Fehler in der Grammatik. Die Engländer sind äußerst diskret, wenn es um Fragen nach der Herkunft geht.
„Sie stammen sicher nicht aus dieser Gegend“, tasten sie sich vor, statt auf deutsche Art direkt zu fragen: „Woher kommen Sie?“ Das gilt als plump, unhöflich, möglicherweise sogar rassistisch.
Oft antworten sie mit Komplimenten oder Reiseerinnerungen, wenn sie erfahren, dass ich Deutsche bin. Zuverlässige Autos und Elektrogeräte, Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, die aufstrebende Wirtschaft, die Schiffsreise auf dem Rhein, oft sogar ein deutscher Vorfahre. Ich habe mich immer geschmeichelt gefühlt, besonders weil ich anfangs befürchtet hatte, dass die Briten mit meinem Land eher die Schrecken der jüngeren Geschichte verbinden würden.
„Ich bin die Mitbewohnerin Ihrer Nichte Julia.“ Die Frauenstimme klingt kratzig und rau, erinnert mich an deftige bayerische Küche. Ich tausche einen Blick mit Joe, der fragend die Brauen anhebt, und gebe ihm mit erhobener Hand zu verstehen, einen Moment zu warten, bevor er geht.
„Karen Glashauser.“ Sie hustet kurz. „Entschuldigung, dass ich so einfach bei Ihnen anrufe, aber leider kann ich Ihre Schwester, also Julias Mutter, nicht erreichen.“
Ich schweige angespannt. Joe tritt zu mir und versucht zu lauschen. Sein Atem streift mein Gesicht.
„Hallo?“ tönt es aus dem Hörer. „Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, um was es geht.“
Bewusst abweisend klingt meine Stimme. Was fällt ihr ein, hier einzudringen, in meine Schutzhöhle in einem vergessenen Winkel Englands?
Sie verfällt plötzlich in stärkeres Bayerisch, und ich merke auch ihr die Spannung an.
„Etwas Furchtbares ist passiert.“ Sie macht eine Pause und atmet tief.
„Gestern früh. Man hat Julia gefunden. Julia … sie ist tot. Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt und ist erfroren, an der Isar. Ein Spaziergänger sie gefunden.“
Es ist, als habe mir jemand einen Faustschlag in den Magen verpasst. Ich versuche, dem Gehörten einen Sinn zu geben. Mein Herz pocht im Hals, und ich sinke auf einen Stuhl. Joe setzt sich und rückt an mich heran. Er versucht zu lauschen und legt einen Arm um meine Schultern, so schwer, dass es mich niederdrückt, ohne dass ich mich zur Wehr setzen kann.
Die Anruferin ist verstummt, nur unterdrückte Schluchzer dringen aus dem Hörer. Mit offenen Mund schüttele ich den Kopf und blicke Joe an. Der hat noch nichts verstanden, aber mein Entsetzen macht ihn ungeduldig, mehr zu erfahren. Unfähig, den Lautsprecher anzuschalten, umkrampfe ich den Hörer.
„Julia“, flüstere ich ihm zu. Joes Gesicht wird aschfahl. Ich halte den Hörer vom Ohr fort, als könnte das die Wucht weiterer Worte dämpfen. Das Schluchzen am anderen Ende verebbt.
„Sind Sie sicher, dass es sich um Julia handelt?“, krächze ich mit fremd klingender Stimme. Der Raum schwankt. Ich reibe mir das Gesicht, um einen klareren Kopf zu bekommen. Joes Wärme und sein vertrauter Geruch sind mein Anker, um nicht die Fassung zu verlieren.
„Sie hatte ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis dabei. Deshalb ist die Polizei dann zu mir gekommen. Ich musste sie gestern identifizieren.“ Sie spricht so überstürzt, dass ich sie kaum verstehe. „Eindeutig Selbstmord, meint die Polizei.“
Meine Schwester Mona, Julias Mutter, hat seit ihrer Jugend an Depressionen gelitten. Ich habe immer schon befürchtet, dass es sich auf Julia vererben könnte.
„Aber … ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat“, fährt die Frau fort. Sie klingt aufgeregt, fast ein wenig wütend.
„Es ging ihr gut, da bin ich mir sicher. Sie wollte am übernächsten Wochenende sogar mit Freunden in Skiurlaub fahren. Julia war Feuer und Flamme. Ich bin vor drei Tagen noch mit ihr einkaufen gegangen. Sie hat sich komplett neu eingedeckt, neue Skier, neue Schuhe, ein richtig cooler Skianzug …
Klingt das für Sie etwa nach Selbstmordgedanken? Nein, ich glaube ganz bestimmt, dass jemand sie getötet hat.“
Sie schweigt. In meinem Kopf wirbelt Schneegestöber. Joe ist aufgestanden und gestikuliert heftig, ich solle ihn endlich in das Geschehene einweihen. Mich hat eine Art Lähmung überfallen, ich starre ihn nur an.
„Ich habe vorhin eine Email an Ihr Bed and Breakfast mit dem Zeitungsausschnitt aus dem Münchner Tageblatt von heute früh zugesandt. In dem sie über Julias Tod berichten. Sie … Sie sind meine einzige Hoffnung.“
„Hoffnung? Für was?“ Ich runzele die Stirn. Viel werde ich jetzt nicht mehr aufnehmen können. Was will diese Frau von mir? Warum ruft sie ausgerechnet mich an?
„Woher … haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?“ Im selben Moment fällt es mir ein. Natürlich. Anonymität oder Privatsphäre sind im Zeitalter von Google und Facebook Fremdwörter geworden. Wahrscheinlich erscheint mein Name bei den Suchergebnissen gleich unter mehreren Rubriken. Als Besitzerin eines Bed & Breakfasts in Norfolk, als Editorin der Bücher der Botanikerin Mira Goldsmith. Ich bin auch als freiberufliche Übersetzerin in einigen Foren eingetragen. Hätte ich doch bloß meinen Namen geändert. In England ist das gar nicht so schwierig. Leider habe ich nie geheiratet, was ebenfalls dieses Problem gelöst hätte.
Mona Winterfels. Meiner Schwester ist das gelungen, sie hat sich einen schönen Namen ergattert. Prompt erscheint ihr hinreißendes Gesicht vor mir, ihr verführerischer Schmollmund, und ich erinnere mich an ihre rauchige Stimme. Eine Hitzewelle überflutet mich und überzieht meinen Körper mit einem Schweißfilm.
„Mit Google kein Problem“, bestätigt die Frau. Sie klingt auf einmal sachlich und energisch. „Sie sind ja nicht gerade schwer zu finden. Im Gegensatz zu Julias Mutter oder Vater. Der ist wie vom Erdboden verschluckt, und die Mutter verkriecht sich in einem buddhistischen Kloster in Frankreich. Ist im Moment unansprechbar, heißt es.“
Mona ist in einem Kloster? Beinahe muss ich lachen. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Eine verführerischere Nonne als sie kann ich mir kaum vorstellen. Joe deutet ungeduldig auf die Wanduhr und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er erhebt sich, schlingt sich den verfilzten Schal um den Hals und öffnet die Tür zur Vorhalle. Ein scharfer Luftzug schießt von draußen herein. Ich bedecke mit der Hand den Lautsprecher.
„Joe, warte bitte. Julia… Angeblich Selbstmord. Sie ist tot“, flüstere ich ihm zu. Tränen laufen mir über die Wangen. Er starrt mich zuerst einen Moment lang ungläubig an, schließt wieder die Tür und beginnt, in der Küche auf und ab zu laufen. Die Hunde haben sich unter dem Tisch verkrochen; sie spüren die unerträgliche Spannung im Raum.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich, unfähig zu antworten, weil mein Kehlkopf sich zusammenpresst.
„Ich rufe an, weil ich Sie hier wirklich dringend brauche. Sie müssen kommen. Hier läuft etwas verdammt falsch, aber ich allein kann das nicht klären. Von wegen Selbstmord!“
„Ist das Klären nicht Aufgabe der Polizei?“ Meine Stimme bebt. „Wenn doch alles auf Selbstmord hindeutet …“.
Joe steht an der Tür. Er wird mich in diesem Moment hoffentlich nicht im Stich lassen. Aber ich spüre, wie er dagegen kämpft hinauszustürmen. Konflikten auszuweichen war schon immer seine Stärke. In mir baut sich eine altbekannte Panik auf gegen die Vorstellung, nach München zu fahren. Aber gleichzeitig meldet sich unvermutet der Wunsch, mich der Situation zu stellen. Vielleicht kann ich etwas wieder gutmachen und einen kleinen Teil meiner Schuld abtragen.
„Es steht weitaus mehr auf dem Spiel als nur die Aufklärung von Julias Tod, glauben Sie mir. Ich kann Ihnen jetzt am Telefon nicht mehr sagen, es ist alles fürchterlich kompliziert und verfahren. Wenn Sie herkommen und wir uns unterhalten, werden Sie mich besser verstehen.“
Sie hat Angst, das spüre ich plötzlich. Sie weiß etwas weiß, das sie der Polizei nicht sagen kann. Mein Herz hämmert. Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht bin ich es meiner Nichte schuldig. Zumindest sollte ich versuchen, ein Begräbnis zu organisieren und Formalitäten zu erledigen.
„Ich überlege es mir“, sage ich. „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, auch die von Ihrem Handy. Ich rufe Sie bald zurück.“
Nachdem ich die Nummern notiert habe, lege ich auf. Joe steht neben mir und starrt mich an. In wenigen Worten erkläre ich ihm, was geschehen ist. Er legt seine Arme um mich, und ein paar Augenblicke lang klammere ich mich an ihn, den Kopf an ihn gepresst. Seine Jacke duftet nach frischem Holz und Harz - Spuren von gestern, als er Berge von Scheiten für den Brennofen gesägt hat.
„Ich fürchte, ich muss nach München fahren“, murmele ich mit geschlossenen Augen. „Was meinst du?“
Er löst sich aus der Umarmung. Sein Gesicht verhärtet sich, als er mich anstarrt. „Du fährst nicht!“ sagt er zwischen zusammengepressten Zähnen. „Lass die Vergangenheit ruhen. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts mehr angehen.“
Ich zucke vor seinem Ton zurück. Das wahre Ausmaß der Neuigkeit hat mich noch nicht erreicht. Vor langer Zeit habe ich Julia aus den Augen verloren; das Kind von damals existiert nicht mehr, und die Erwachsene kenne ich nicht. Meine Nichte gehört zu den Altlasten, die ich vor über zehn Jahren entsorgt habe.
„Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los.“ Er schiebt mich von sich fort. „Unternimm nichts, wir sprechen später darüber!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmt er hinaus und knallt die Tür hinter sich zu. Kurzentschlossen öffne ich meinen Laptop.
3
Münchner Tageblatt 28. Januar 2012
Leiche einer jungen Frau an Isar bei Geretsried gefunden
Wie die Polizei meldet, hat ein Spaziergänger gestern früh gegen 8.30h die Leiche einer jungen Frau am Isarufer im Wolfratshauser Forst nahe Geretsried gefunden.
Bei der Toten handelt es sich offiziellen Angaben zufolge um die 22jährige Kunststudentin Julia Winterfels, die seit dem 25. Januar vermisst wurde. Die Leiche weist offenbar keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung auf. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass sie an Unterkühlung und vermutlich einer Überdosis an Beruhigungsmitteln gestorben ist. Der Polizei zufolge handelt es sich vermutlich um Selbstmord.
Es ist noch nicht ganz geklärt, wie es zum Tod der Studentin kommen konnte. Julia Winterfels hat sich zeitweise in psychotherapeutischer Behandlung befunden. Nach einem Selbstmordversuch vor 2 Jahren wurde sie in einer psychiatrischen Klinik zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung aufgenommen. Auf Grund dieser Vorgeschichte und der Indizien schließt die Polizei ein Gewaltverbrechen weitgehend aus.
Julia Winterfels spielte Cello und war Mitglied in dem bekannten Münchner Szene-Ensemble „Alpentango“ Dessen Gründer, der Kontrabassist Michael Constantinescu, war eng mit der Musikerin befreundet und sagte: “Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich umgebracht haben soll. Gerade in letzter Zeit ging es ihr wirklich gut.“
Der Leiter der psychiatrischen Klinik, Prof. Dr. H. Roth, der Frau Winterfels vor zwei Jahren behandelt hatte, zeigte sich sehr betroffen von ihrem Tod. Er erklärte gegenüber dem ‘Tageblatt‘: „Julias Tod kommt für die Mitarbeiter unserer Klinik, die sie kannten, sehr überraschend. Man muss allerdings sagen, dass an Depression Erkrankte paradoxerweise oft gerade, wenn es ihnen wieder besser geht, leider den Mut und die Kraft finden, sich umzubringen.“
Die Krankengymnastin Karen G., Mitbewohnerin von Julia Winterfels, identifizierte die Tote. Weder Winterfels’ Mutter noch Vater konnten bisher erreicht werden. Die Eltern sind seit Jahren geschieden.
Sollten Sie sachdienliche Hinweise zur endgültigen Abklärung des Todes der jungen Frau geben können, werden Sie gebeten, sich mit einer Polizeidienststelle in München in Verbindung zu setzen.
4
Ich drucke den Zeitungsbericht aus und betrachte eingehend das dort eingefügte Foto von Julia. Ihr Gesicht ist noch so kindlich und weich, aber die schwermütigen Augen und das gezwungene Lächeln erzählen eine andere Geschichte. Wie einen Schutzschild umklammert sie ihr Cello.
Mona ist also unerreichbar. Das ist mal wieder typisch meine Schwester. Sie hat sich schon immer erfolgreich vor Verantwortung gedrückt. Unsere Mutter hat es ihr leicht gemacht. Die Ärmste, wie musste sie unter der garstigen Jüngeren leiden. Wenn unsere Eltern gewusst hätten … Aber ich stand auf verlorenem Posten. Mir traute man alles Üble zu, und Mona war die Unschuld in Person.
Joe hat keine Ahnung, dass ich vorgestern eine Email von Julia erhalten hatte. Ich überfliege den Text, obwohl ich ganze Passagen auswendig weiß.
Tante Regine, du bist meine letzte Hoffnung. Ich habe eine fürchterliche Schweinerei entdeckt, die mein Leben komplett auf den Kopf stellt. Bin total verzweifelt, und kein Mensch aus meiner Familie ist da, um mir zu helfen. Nur du.
Trotz allem – wir waren doch immer ein Team, weißt du noch? Darum flehe ich dich an: Ruf mich an, damit ich dir erklären kann, was passiert ist: 089 575390. Du musst zu mir nach München kommen (ich finde, das bist du mir schuldig). Ich brauche dich!
Julia
Obwohl ich in Julias Email ihre Verzweiflung gespürt hatte – allein schon auf Grund der Tatsache, dass sie die verhasste Tante nach elf Jahren Schweigen plötzlich anschrieb – hatte ich gezögert zu antworten. Oder vielmehr versuchte ich, die Nachricht zu vergessen. Ich bin Julia nichts schuldig, oder? Ein bisschen unverschämt, mich so unter Druck zu setzen, nachdem sie allen Kontakt abgebrochen hatte. Aber ihr Flehen berührte mich wider Willen und nagte an meinem Gewissen.
Früher einmal war Julia mir nahe wie eine kleine Schwester gewesen, die mir ihre Geheimnisse anvertraute. Bis ich mir dieses Vertrauen von einem Moment zum anderen verscherzte. Aber meine Güte, wir alle machen Mist, und sie hätte lernen müssen zu verzeihen. So wie ich.
Auf der anderen Seite, wisperte mein Gewissen, könnte dies eine Chance sein, den Mist, den ich gebaut hatte, wieder gutzumachen. Ich war nicht umsonst katholisch aufgewachsen, um an so etwas wie Buße zu denken.
Zwei Tage lang kämpfte ich mit mir, ob ich Julia anrufen sollte. Und jetzt ist es zu spät.
Joe wird außer sich sein, doch je länger ich zögere, desto größere Bedenken werde ich haben. Das Flugticket online zu buchen ist schnell erledigt. Von Norwich fliege ich mit KLM über Amsterdam nach München, dann muss ich nicht erst zum Flughafen nach London fahren. Ich staune über mich, nachdem ich doch in den letzten Jahren jeden Gedanken an meine Heimatstadt ausgeschaltet habe. Ich rufe Karen Glashauser auf ihrem Handy an.
„Morgen Abend gegen acht Uhr werde ich in München sein.“
„Gott sei Dank!“ Sie klingt atemlos. „Haben Sie etwas zu schreiben? Ich muss Ihnen ja noch die Adresse geben.“
Julias Wohnung befindet sich in Schwabing. Ich male sie mir aus, gestalte sie aus mit Erinnerungen an mein damaliges Apartment.
Aus unserem Küchenradio tönt soeben der Wetterbericht, der Sprecher klingt panisch. Schneefall ist in England immer von dem Beigeschmack einer Katastrophe begleitet. Ein einziger Zentimeter Schnee, und die Autokolonnen schleichen in Zeitlupe über die Landstraßen. Zwei Zentimeter, und aller Verkehr kommt zum Erliegen. Natürlich besitzt kein Mensch Winterreifen, denn die gelten als kontinentale Notmaßnahme, die hierzulande unnötig ist. Ein paar Minusgrade werden in England bereits als arktische Kälte eingestuft, so verwöhnt sind die Leute. Das erklärt auch, warum viele alte Häuser wie unseres nur einfach verglaste Fenster besitzen, was andererseits, zusammen mit den verformten Holzrahmen, für einen gesunden Luftaustausch sorgt.
In München herrscht klirrender Frost von Minus fünfzehn Grad, erfahre ich im Internet. Nicht schwierig, bei diesen Temperaturen draußen zu erfrieren. Was für ein Tod mag das sein? Auf alle Fälle weniger radikal, als sich vor einen Zug zu werfen. Was wird Julia gespürt haben, als sie starb? Was hat sie dazu getrieben, Tabletten zu schlucken, um sich dann erfrieren zu lassen? Fröstelnd sehe ich sie vor mir, am Ufer der Isar liegend, eine bleiche, erstarrte Eisprinzessin.
In Gedanken versunken räume ich die Gästezimmer auf. Besonders Tochter und Sohn haben ein Chaos hinterlassen, auf den Betten ein Wust von Kleidungsstücken, nassen Handtüchern und Unterwäsche. Aus den Steckdosen hängen iPad-Kabel, unter einem Bett liegen Kopfhörer und eine Musikzeitschrift, unter dem anderen eine halbe Tafel Schokolade und eine fettige Papiertüte mit zwei angebissenen Doughnuts. Die Eltern im Zimmer nebenan haben zumindest symbolisch ihr Bett gemacht, das heißt die Überdecke unordentlich darüber ausgebreitet. Ich seufze und häufe das gesamte Bettzeug auf einen Sessel, um das Bett wieder herrichten zu können.
Diese Seite meines Broterwerbs gefällt mir nicht besonders. Am wenigsten, Bad und Toiletten zu reinigen. Aber alles ist besser, als eine Klasse von Dreizehnjährigen unter Kontrolle zu halten. Wann immer mir Zweifel an meiner jetzigen Einkunftsquelle oder an meinem Lebensstil kommen, hilft es, mir die Jahre als Lehrerin in Erinnerung zu rufen. Das Bed & Breakfast deckt die laufenden Unkosten des Hauses. Und nicht zuletzt entfällt das endlose und sinnlose Korrigieren von Oberstufenaufsätzen, mit dem ich mir zahllose Ferien gründlich vermiest habe.
Es hat aufgehört zu schneien. Am Horizont zeichnet sich hinter der schweren Wolkendecke ein Silberstreifen ab. Der Lieblingsspruch meines Vaters „Blut ist dicker als Wasser“ kommt mir in den Sinn, als ich mit den beiden Hunden durch den Schneematsch in Richtung Dünen stapfe. Wenn meine Familie mich braucht, habe ich zur Stelle zu sein. Eine Aufbruchsstimmung, die den grauen Tag erhellt, gekoppelt mit dunklen Vorahnungen, erfüllt mich und beschwingt meine Schritte.
5
Eine Rekordhöhe von etwa drei Zentimetern Schnee ist gefallen, was die Labradore völlig durchdrehen lässt. Für ein paar Minuten vergessen sie ihr fortgeschrittenes Alter, wegen dem sie sonst würdevoll dahertrotten. Sie jagen einander, überschlagen sich auf den Feldern, wirbeln Schnee auf und hetzen davon in Richtung Strand. Ich pfeife auf beiden Mittelfingern, woraufhin sie wie im Flug stoppen und wieder auf mich zu rasen. Ihre Gesichter sind weiß bestäubt, die Mäuler wie zu einem glücklichen Lachen weit aufgerissen. Sie schnappen nach ihren wohlverdienten Hundekeksen, dann halte ich sie bei mir. Die beiden wissen, dass sie sich den Robben nur vorsichtig nähern dürfen und Abstand wahren müssen. Ohnehin zeigen sie kein großes Interesse mehr an diesen übergewichtigen Wesen, deren torfiger Geruch mir schon in die Nase dringt, bevor ich sie sehe.
Die Jungen sind zutraulicher und neugieriger als die Alten. Aber als Poppy versehentlich auf einen verschlafenen Heuler in einer Dünenmulde trifft, wird sie angefaucht und weicht erschrocken zurück. Das Meer liegt im Kälteschlaf, wie eine unendliche glitzernde Silberfolie, die am Horizont mit dem Himmel verschwimmt.
Der Winter hat dieser Welt alle Farben ausgesogen und scharfe Kontraste geschaffen. Massive Wellenbrecher aus dunklem Hartholz schieben sich von dem Strand her weit ins Meer hinein. Sie teilen Sand und Wasser in unzählige Abschnitte, um die Wucht der Wellen zu mildern und das dem Ozean abgerungene Land zu schützen.
Einige hundert Meter entfernt erkenne ich eine weitere Robbenkolonie, die ich zunächst für Felsbrocken gehalten habe. Schemenhaft zeichnen sich dort zwei Spaziergänger ab, ein Mann und eine Frau mit langem Haar. Sie bewegen sich langsam zwischen den dunklen Massen umher, als suchten sie etwas. Mit zusammengekniffenen Augen blinzele ich gegen das Licht. Der Mann kommt mir plötzlich bekannt vor. Jetzt rücken sie eng zusammen, als sprächen sie miteinander. Sie lehnt ihren Kopf zu ihm, legt ihm einen Arm um die Schultern und deutet auf etwas vor ihnen.
Ich wühle in der Manteltasche, bis ich mein Fernglas gefunden habe. Mein Herz stolpert, als ich die karierte Fellmütze mit den Ohrenklappen erkenne, seinen hochgewachsenen schlaksigen, leicht nach vorn gebeugten Körper, die Art, wie er den Kopf neigt, um der Frau zuzuhören. Dann sagt er etwas, und sie lacht. Das kann Joe gut, Frauen zum Lachen bringen.
Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie muss die Studentin sein, die seit zwei Wochen ein Praktikum im Tierrettungszentrum macht. Er hat sie die Tage kurz erwähnt. Aber er hat nicht hinzugefügt, wie hübsch sie zu sein scheint. Dass sie langes rötliches Haar hat und dass er mit ihr die Robben inspiziert. Warum auch. Die Betreuung der Robben gehört schließlich zu den wichtigsten Aufgaben der Arche. Und sie haben immer wieder neue Studenten, die dort ein Praktikum absolvieren. Längst weiß ich, dass ich mein Misstrauen, meine Eifersucht niemals werde besiegen können. Zuviel ist geschehen, damit muss ich leben.
Poppy ist bei mir stehengeblieben. Sie schaut mich auffordernd an. Ruby beobachtet mich vom Meer her, wo sie gerade einen kleinen Schwimmausflug unternommen hat. Mag das Wasser noch so eisig sein, die Brandung noch so stürmisch – Ruby stürzt sich unweigerlich hinein, als müsse sie sich etwas beweisen. Zum Glück haben die beiden Joe nicht entdeckt, sonst würden sie zu ihm stürmen. Ich will vermeiden, dass er uns sieht.
„Keine Lust mehr, Poppy? Also gut, gehen wir zurück.“ Als hätte sie mich gehört, galoppiert Ruby zu uns herauf. Sie ist pitschnass und zittert am ganzen Körper, aber leider habe ich kein Tuch mitgenommen, um sie trockenzureiben. Macht nichts; Labradore sind hart im Nehmen. Trotzdem sorge ich mich um Ruby. Ihr Körper erscheint so ausgemergelt unter dem struppigen Fell, obwohl sie eine gute Fettschicht besitzt.
Die beiden machen kehrt und traben auf dem Pfad durch die Dünen zurück in Richtung Elmhill. Fast unheimlich, wie mühelos sie jedes Wort verstehen.
Unsere Gäste kehren in der Dämmerung müde von ihren Ausflügen zurück. Morgen werden sie abfahren, dann gibt es zwei Wochen lang erst einmal keine Buchungen.
6
Später höre ich Joe zur Haustür hereinkommen. „Wie war dein Tag?“ rufe ich ihm vom Sofa im Wohnzimmer aus zu.
„Ganz gut, nichts Dramatisches.“
Ich höre, wie er in der Küche herumhantiert und Wasser in den Kocher gießt, um sich einen Tee zu machen. Aus dem Radio ertönt die Stimme von Michelle Houssein, die auf BBC Kanal vier Nachrichten verliest.
Soeben habe ich, einer plötzlichen Sehnsucht nach Wärme folgend, ein Feuer im Kamin angezündet, dessen Flammen jetzt über das Eschenholz züngeln. Obwohl es nicht einmal fünf Uhr nachmittags ist, herrscht draußen bereits Dunkelheit, die von keinen Straßenlampen durchbrochen wird.
Diese Jahreszeit ist für mich in Elmhill am schwersten zu ertragen. In einer Stadt wird der Winterhimmel nachts wenigstens künstlich erhellt. Hier herrschen in bedeckten Winternächten absolute Stille und bodenlose Schwärze. Viele Einheimische lieben diese Dunkelheit und verwehren sich gegen die Installation von Straßenlampen.
„Egal, wie dunkel es ist, man sieht immer genug“, schwören sie.
Gäste aus der Stadt aber beklagen sich hin und wieder über die ihnen unheimliche Finsternis und vor allem die Ruhe, wegen der sie nicht schlafen können. Vielleicht, weil sie in dieser Stille nichts von ihren eigenen Geräuschen und Gedanken ablenkt.
Joe sitzt nun nebenan in seinem Büro vor dem Computer und tippt; vermutlich schreibt er Patientenberichte. Als er etwas Unverständliches murmelt, gehe ich zu ihm hinüber. Ich trete hinter ihn, massiere mit Druck seine angespannte Kopfhaut und streiche ihm über die Stirnfalten, bis sie sich glätten. Das wirkt immer. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, den Kopf gegen meinen Bauch gestützt, schließt die Augen, seufzt leise und lässt mich gewähren. Ein Lächeln entspannt sein Gesicht.
„Dem Schwan geht es etwas besser“, murmelt er. „Der Arme hatte einen Köder samt Nylonschnur verschluckt. Was Angler so alles liegenlassen, zum Kotzen!“