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Selahattin Demirtaş

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Beschreibung

»Mit seinen Kurzgeschichten hat sich Demirtaş jedenfalls in die erste Reihe der türkischen Gegenwartsliteratur katapultiert.« ― FAZ über »Morgengrauen«

Wenn ein Vater das Gesetz schützen soll, doch stattdessen das größte Unrecht geschehen lässt. Wenn sich ein Mann bei dem Versuch, sein Leben zu bestreiten, durch sein Schweigen schuldig macht. Wenn ein Kind in einer Gesellschaft aufwächst, in der Mitgefühl bestraft wird.

Die beinahe märchenhaft anmutenden Kurzgeschichten in »Kaltfront« blicken tief in die Seele der Türkei. Mitfühlend und liebevoll erzählt Demirtaş von den Ärmsten der Gesellschaft: den Hilfsarbeitern, den Busfahrern, den Straßendieben – sie alle eint der Wunsch nach einem glücklichen Leben und die schiere Ausweglosigkeit ihrer Situation.

Selahattin Demirtaş gehört zu den wichtigsten politischen Denkern der Türkei. Er wurde für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar.

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Selahattin Demirtaş, Jahrgang 1973, war bis Februar 2018 Co-Vorsitzender der Oppositionspartei HDP, der Demokratischen Partei der Völker, die sich für eine pluralistische Türkei einsetzt. Der kurdische Politiker ist einer der wichtigsten Gegenspieler Erdoğans und wird seit November 2016 festgehalten. Im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne hat Demirtaş angefangen zu schreiben. Sein erster Erzählungsband Morgengrauen war für den renommierten französischen Prix Médicis étranger nominiert und wurde mit dem PEN Translates Award sowie dem Montluc Resistance and Liberty Prize ausgezeichnet. Selahattin Demirtaş war im Frühjahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert. 2021 erhielt er den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar.

Gerhard Meier, Jahrgang 1957, lebt seit 1986 in Lyon und übersetzt literarische Werke aus dem Türkischen und Französischen, unter anderem von Orhan Pamuk, Aslı Erdoğan, Zülfü Livaneli, Amin Maalouf, Henri Troyat und Sait Faik. 2014 erhielt er für sein Gesamtwerk den Paul-Celan-Preis.

»Mit seinen Kurzgeschichten hat sich Demirtaş jedenfalls in die erste Reihe der türkischen Gegenwartsliteratur katapultiert.«FAZ über Morgengrauen

»Dieses Buch ist keine Politprosa. Es ist hohe Erzählkunst.«DIEZEIT über Morgengrauen

»Demirtaş’ Storys sind ein kunstvoll verschlüsseltes, subtil erzähltes Dokument der Menschenliebe und der Moral, ein Plädoyer für die Zukurzgekommenen.«Deutschlandfunk Kultur über Morgengrauen

SELAHATTINDEMIRTAŞ

KALT-FRONT

Storys

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Devran bei Dipnot Yayınları.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe Selahattin Demirtaş 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © plainpicture / Sandra Jordan

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26510-6V001

www.penguin-verlag.de

In Dankbarkeit für meine unermüdlichen Eltern, die schon siebzehn Jahre damit verbracht haben, vor Gerichts- und Gefängnistoren ihrer Kinder zu harren.

DAS RAD DREHT SICH

Das Knirschen der Jeep-Reifen auf dem schneebedeckten Asphalt vermischte sich mit dem Rauschen des beharrlich kalt wehenden Gebläses und der leise krächzenden Radiomusik. Salih bekam nichts davon mit. Er klammerte sich fester ans Lenkrad, je mühsamer er auf der Straße vorankam. Nach der Landung in Erzurum hatte er am Flughafen den Jeep gemietet, und seither war höchstens eine halbe Stunde vergangen. Sich im Dezember in dieser Gegend in ein Bergdorf aufzumachen, war äußerst unvernünftig, wie ihm jedermann bestätigt hätte. Seine Frau und sein Sohn hatten ihn von der Reise abbringen wollen, aber es war nicht mit ihm zu reden gewesen. Schließlich hatte er den erstbesten Flug von Istanbul nach Erzurum gebucht. Auf die Frage nach dem Grund für seine Reise hatte er behauptet, er müsse in Erzurum an einer wichtigen Gerichtsverhandlung teilnehmen. Seit Wochen war er wortkarg gewesen, unruhig, hatte nächtelang wach gelegen, was seiner Frau Süheyla Sorgen bereitete. Doch wie sehr sie auch auf ihn eindrang, es war aus ihm nichts herauszubringen gewesen. Letztlich führte sie den Zustand ihres Mannes darauf zurück, dass ihr Sohn Kerem einen Monat zuvor mit dem Auto verunglückt war. Salim war in seiner Anwaltskanzlei gewesen, umgeben von Aktenbergen und zu unterzeichnenden Dokumenten, als er davon erfuhr. Kaum vernahm er die Nachricht, da fasste er sich an die Brust und brach zusammen. Kollegen brachten ihn sofort ins Krankenhaus, wo sich herausstellte, dass er nicht etwa einen Herzinfarkt erlitten hatte, sondern durch den Schock in Ohnmacht gefallen war. Als er wieder zu sich kam, eilte er sofort zu der Intensivstation, auf der sein Sohn lag, und durfte ihn dort wenigstens kurz besuchen. Als er mit ansah, wie sein knapp mit dem Leben davongekommener Junge am ganzen Körper verbunden in seinem Krankenbett lag, wand er sich innerlich bei dem fürchterlichen Gedanken, wie es sein musste, sein Kind zu verlieren. Und noch etwas anderes nistete sich in ihm ein, wenn ihm das auch nicht sofort bewusst wurde. Beim Anblick von Kerems verletztem Gesicht und seiner armseligen Miene regten sich Gewissensbisse in ihm, die er seit Jahren zu verdrängen suchte. Eine Erinnerung, die er am liebsten vergessen hätte, so hätte er es wohl ausgedrückt, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Es machte sich in ihm ein Unbehagen breit, das ihn immer mehr quälte, bis er weder arbeiten noch schlafen konnte und nur noch unruhig im Haus herumwanderte. Eines Tages packte er hastig ein paar Sachen, sagte nur, »Ich muss fort«, und flog nach Erzurum. Nach seiner Ankunft rief er seine Frau an, verkündete ihr, er müsse in Erzurum übernachten und könne erst am folgenden Tag nach Istanbul zurück. Dann mietete er den Jeep und machte sich auf den Weg nach Karayazı.

Als er aus der Stadt heraus war, kam ein leichter Schneesturm auf. Die Hügel und Berge ringsumher waren schneebedeckt. Schnee, so weit das Auge reichte. Von ein paar schwarzen Felsen abgesehen sah man nichts als Weiß. Nur alle paar Kilometer zeugten an den Hang geschmiegte Bauernhäuser von menschlichem Leben. Die Straßendecke lag immer tiefer unter Schnee, und kilometerweit begegnete Salim keinem einzigen Fahrzeug. Wer nicht wirklich musste, war bei solch einem Wetter nicht unterwegs. Salim aber hätte es nicht ertragen, auch nur eine Stunde länger zu warten. Er musste noch am selben Tag in jenes Dorf und sich dort seiner Vergangenheit stellen, seinem Gewissen, sich selbst. Bevor das nicht geschah, würde er keine Ruhe finden, das war ihm längst klar. Was er so lange hatte unterdrücken und beiseiteschieben können, hatte sich nun an die Oberfläche gebohrt, stand ihm so deutlich vor Augen, dass es seinen gesamten Seelenhaushalt erschütterte. Ohne die Furcht um seinen Sohn wäre es vermutlich nie so weit gekommen.

Gegen Mittag sah er die Kreisstadt Karayazı vor sich liegen. Der Schneefall hatte nachgelassen, und die herumwirbelnden Flocken schmolzen augenblicklich beim Auftreffen auf die Windschutzscheibe. Salim hängte sich hinter einen Traktor, der mit einem Schneeschild die Hauptstraße freischaufelte. So fuhr er langsam ins Zentrum des Städtchens hinein. Nicht weniger als fünfundzwanzig Jahre war es her, dass er das letzte Mal hier gewesen war, doch schien sich in der Zwischenzeit nichts verändert zu haben. Das gleiche Zentrum, die gleichen Läden, das gleiche Karayazı unter dem gleichen Himmel. Sogar die Menschen schienen dieselben zu sein. Als wäre das Karayazı, das er vor fünfundzwanzig Jahren an einem verschneiten Wintertag verlassen hatte, eingefroren worden und würde sich erst jetzt, bei seiner neuerlichen Ankunft, wieder zu regen beginnen. Die Ladenbesitzer kehrten die Eingänge zu ihren Geschäften frei, und außer wenigen in Mäntel und Tücher gehüllten Menschen war niemand unterwegs. Die Kaffeehäuser am Hauptplatz waren dagegen voll wie eh und je. An einem davon fuhr Salim bewusst langsam vorbei, um hineinspähen zu können. Eine Zeit lang hatte er gern neben dem warmen Ofen gesessen und mit den Einheimischen Domino gespielt, doch nachdem der Landrat und der Polizeichef ihm davon abrieten, hatte er es unterlassen. Damals war er noch nicht der ehrwürdige Staatsanwalt von heute gewesen, sondern ein junger idealistischer Beamter an seinem ersten Einsatzort. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich ziemliches Ansehen verschafft, und womöglich erinnerte sich noch so mancher an ihn. Doch selbst wem sein Name etwas sagte, hätte ihn schwer erkannt, war er doch sichtlich gealtert. Eingefallene Wangen, schütteres Haar, ein von den Jahren gezeichnetes Gesicht. Damals trug er zudem noch keinen Bart. Er hatte sich den Leuten als frischgebackener Staatsanwalt von gerade mal siebenundzwanzig Jahren präsentiert. Nun fragte er sich vor allem, ob wohl Hasan Sürgücü ihn wiedererkennen würde. Bestimmt genauso wenig wie die anderen, dachte er, nach so vielen Jahren. Dann würde er sich eben vorstellen und alles der Reihe nach erzählen, sonst würde er sich von jener Last nicht befreien können.

Als er am Landratsamt vorbeikam, hielt er an. Es war noch dasselbe Haus, nur Dach und Verputz waren erneuert worden. Der Zierbrunnen im Innenhof, die Atatürk-Büste, auf dem Sockel die Inschrift »Wie glücklich, wer sich Türke nennen darf« … alles war wie damals. Lange blickte Salim auf den verschneiten Hof und sann darüber nach, was in dem Gebäude einst im Namen von Staat und Volk getrieben worden war und wie er selbst sich daran beteiligt hatte. Nun fiel ihm auf, dass die bescheidene Gesundheitsstation rechter Hand durch ein kleines Krankenhaus ersetzt worden war. Die Polizeizentrale stand unverändert da, noch immer prangte am Eingang der Spruch »Jeder Türke kommt als Soldat auf die Welt«.

Er parkte den Jeep, holte seine Daunenjacke vom Rücksitz und stieg aus. Er war sich nicht mehr sicher, wie er in das Dorf gelangen konnte. Ausgerechnet das fiel ihm nicht mehr ein, obwohl er sich ansonsten an alle Details erinnern konnte; sein Gedächtnis spielte ihm da wirklich einen Streich. Schließlich ging er zu dem Polizisten, der vor dem Landratsamt Wache schob. »Die Straßenführung muss sich irgendwie geändert haben«, sagte er und fragte nach dem Weg zum Dorf Yüksekkaya. Der Polizist wusste es nicht genau, riet ihm aber bei dem Wetter von einer Weiterreise ab. Salim gab an, er sei Anwalt und müsse unbedingt in das Dorf. Da zuckte der Polizist die Achseln, erkundigte sich per Sprechfunk nach dem genauen Weg und beschrieb ihn Salim. Von der Kreisstadt aus waren es fünfundfünfzig Kilometer, unter normalen Umständen bedeutete das eine Stunde Fahrtzeit. Auf der schneebedeckten Bergstraße würde er jedoch nur mit Ketten vorwärtskommen und musste mit drei, vier Stunden rechnen. Dennoch zögerte er keinen Augenblick. Weder wollte er in der Kreisstadt übernachten noch etwas essen oder mit irgendjemandem reden. So holte er die Schneeketten aus dem Kofferraum und brachte sie an. Die Sache musste unbedingt am selben Tag über die Bühne gehen. Er musste Hasan Sürgücü sehen, ihm alles erzählen und sein Gewissen erleichtern. Je mehr Abstand er zwischen sich und die Kreisstadt brachte, umso erleichterter fühlte er sich. Endlich würde er sich seiner Vergangenheit stellen.

Die Räder des Jeeps versanken auf der Bergstraße bis zur Hälfte im Schnee, und trotz der Ketten und des Vierradantriebs rutschten sie manchmal weg. Um nicht in einen Abgrund zu stürzen, klammerte Salim sich immer fester ans Lenkrad. Die Straße war nicht mehr von Wald umgeben, sondern von vereinzelten Bäumen, die am steilen Abhang kleinen weißen Hügeln gleichend emporragten. Salim kam an drei Dörfern vorbei, und nach drei Stunden hatte er noch immer eine Stunde Fahrzeit vor sich. Je weiter er kam, umso heftiger schneite es. Die herumwirbelnden Flocken kündeten von einem Schneesturm in höheren Lagen. Salim konnte kaum noch etwas erkennen, und als schließlich ein steiler Weg von der Straße abbog, hielt er an. Er stieg aus, stapfte zu einem verschneiten Wegweiser und befreite ihn mit dem Jackenärmel vom Schnee. Auf dem verrosteten, von Schüssen durchlöcherten Schild stand, gerade noch leserlich, »Yüksekkaya 8 km«. Er kämpfte sich zum Auto zurück und bog auf den Weg ab, der sich zum Dorf hinaufschlängelte. Eine halbe Stunde später erblickte er in der Dämmerung die Silhouette des Dorfes. Die einzelnen Häuser waren nur noch am schwachen gelben Lichtschein auszumachen, der aus ihren Fenstern drang. Auf dem letzten Abschnitt der Strecke ging es nun sehr steil hinauf. Salim nahm sich vor, sie in einem Schwung zu bewältigen, und ließ den Motor aufheulen. Aber schon nach wenigen Metern drehten die Räder durch, und das Auto begann, auf den Abgrund zuzurutschen. Ein paar Versuche später gab Salim auf. Er holte seinen kleinen Koffer aus dem Auto, sperrte es zu und ging zu Fuß weiter. Schnell war er außer Atem. Vor lauter Schnee sah er kaum die Hand vor Augen. Der Wind blies so heftig, dass er kaum vorwärtskam. Da hörte er im Dorf Hunde bellen und danach widerhallende Menschenstimmen, die auf ihn zuzukommen schienen. Immer wieder blieb er stehen und horchte, bis sich ihm tatsächlich eine Gestalt näherte. Er blieb stehen und wartete ab. Durch das Brausen des Windes hindurch vermochte er nicht auszumachen, aus welcher Richtung das Hundegebell kam. Auf einmal löste sich aus dem Wald zu seiner Rechten eine weitere Gestalt. Zwei Männer mit Jagdgewehren und zwei riesige Hirtenhunde kamen auf ihn zu. Als sie direkt vor ihm standen, merkte er, dass es junge Männer waren, gerade mal achtzehn Jahre alt, die ihn unter fest um den Kopf geschlungenen Tüchern anstarrten, als hätten sie ein Gespenst vor sich. Zumindest kam es Salim so vor. Er nahm die Kapuze ab, und als darunter ein bejahrter Städter mit grauen Haaren und Bart zum Vorschein kam, wunderten sich die Männer erst recht. Zunächst sprachen sie untereinander auf Kurdisch und beruhigten ihre Hunde, dann sagten sie in zögerlichem Türkisch zu Salim: »Sie haben sich hier verlaufen?« Der erwiderte: »Nein, nein, ich will nach Yüksekkaya.« Sie waren wieder erstaunt, denn sie konnten sich keinen Reim darauf machen, was ein solcher Herr aus der Stadt bei ihnen zu suchen hatte. Doch fragten sie nicht weiter, sondern hakten sich zu beiden Seiten bei Salim ein und halfen ihm, das letzte Stück bis zum Dorf zu bewältigen. Unterwegs fragte Salim nach dem Haus von Hasan Sürgücü, woraufhin sich die beiden nur schweigend ansahen. Im Dorf selbst brannte in allen der etwa fünfundzwanzig bis dreißig Häuser Licht. Der Schnee lag überall bis unter die Fenster, und die Dächer waren mit einer meterhohen Schicht bedeckt. Salim bemerkte Blicke aus den Häusern. Aus einem von ihnen kam ein alter Mann, stapfte eilig auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Willkommen bei uns, ich bin Dorfvorsteher Gıyasettin, es ist uns eine Ehre. Seien Sie unser Gast.« Mit der einen Hand hielt er sich den langen schwarzen Mantel zu, den er sich übergeworfen hatte, mit der anderen wies er auf seine Haustür. Er hatte ein schmales faltiges Gesicht, graue Barthaare und blickte Salim aus tief liegenden schwarzen Augen neugierig an. Salim dankte ihm, gab aber zu verstehen, dass er zu Hasan Sürgücü wolle. Wie bereits die jungen Männer nahm der Dorfvorsteher dies wortlos zur Kenntnis und ging sogleich voraus. An einem Haus klopfte er an und rief auf Kurdisch etwas hinein. Den alten Mann mit dem langen weißen Bart, der ihnen die Tür öffnete, erkannte Salim sofort wieder. Es war Hasan Sürgücü.

Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Dorfvorsteher kam Hasan Sürgücü sofort heraus und ergriff mit beiden Händen Salims Hand. Freudig sah er ihm in die Augen und sagte: »Willkommen! Bleiben Sie doch nicht draußen stehen!« Salim fahndete im Gesicht des Mannes nach einem Anzeichen, dass er ihn erkannte, sich an ihn erinnerte. Doch da war nichts. Der alte Mann empfing ihn so herzlich, als wäre er ein naher Verwandter, der aus der Ferne angereist war. Salim bedankte sich beim Dorfvorsteher und den beiden Begleitern und folgte Hasan Sürgücü ins Haus. Der machte die Tür hinter ihnen zu und rief auf Kurdisch etwas ins Hausinnere. Aus seinem Ton schloss Salim, dass der Frau des Hauses Anweisungen gegeben wurden, wie der überraschende Gast zu bewirten sei. Salim zog Jacke und Schuhe aus, und als er die gute Stube betrat, wurde er von der alten Frau darin auf Kurdisch angesprochen. Sie trug ein blaues Kleid aus dickem, geblümtem Stoff, handgestrickte Wollstrümpfe und ein weißes Kopftuch. Mit vor der Brust gekreuzten Armen lächelte sie Salim herzlich an. Salim erwiderte ihren Gruß, merkte der Frau aber auch an, wie melancholisch ihre Augen dreinsahen und wie sehr ihr Gesicht von Kummer gekennzeichnet war. Hasan Sürgücü übersetzte Salim, was seine Frau gesagt hatte. »Sie heißt Sie ganz herzlich willkommen, aber Türkisch kann sie nicht besonders gut.« Salim wiederum empfand – mochte es an der Müdigkeit liegen oder an dem Zustand, der ihn seit Tagen plagte – es zum ersten Mal im Leben als Ungeheuerlichkeit, dass er nun schon zweiundfünfzig Jahre in seinem Heimatland lebte und noch immer kein einziges Wort Kurdisch sprach. So nickte er nur lächelnd und stammelte etwas vor sich hin, das nicht einmal er selbst richtig verstand.

Hasan Sürgücü wies dem Gast den Ehrenplatz in der Stube zu. Eilig räumte er den kleinen Teppich weg, auf dem er vermutlich gerade sein Gebet gesprochen hatte, und legte auch die große Gebetskette mit den neunundneunzig Kugeln sowie die grüne Gebetsmütze an ihren Platz. Mit seiner braunen Pluderhose, den gestrickten Strümpfen, der Weste und dem bis oben hin zugeknöpften blau karierten Hemd aus dickem Stoff wirkte er ganz anders, als Salim ihn sich vorgestellt hatte. Der lange weiße Bart spielte stellenweise ins Gelbe oder Graue, die kurz geschnittenen Haare waren völlig weiß und hoben sich damit noch stärker von der dunklen Hautfarbe ab. Die Adern der trockenen, schwieligen Hände sahen aus, als lägen sie nicht unter, sondern auf der Haut. Die buschigen, ergrauten Brauen, die riesigen schwarzen Augen und das längliche Gesicht verliehen dem Mann die Aura eines abgeklärten Weisen.

Während seine Frau sich bemühte, das Feuer im Ofen in Gang zu bringen, versah Hasan Sürgücü Salim mit einem zusätzlichen Kissen, damit er recht bequem saß. Das Ehepaar hatte noch keine einzige Frage gestellt und war allein damit beschäftigt, dem völlig unbekannten, an einem Wintertag zusammen mit der Dunkelheit eingetroffenen Gast einen würdigen Empfang zu bereiten.

Als sich die beiden mit den Worten »Wir kümmern uns gleich ums Essen« in die Küche zurückzogen, hatte Salim Gelegenheit, sich näher umzusehen. Wie auf dem Dorf üblich, waren an drei Wänden bunte Sitzkissen aneinandergereiht, die mit den Teppichen farbenfroh harmonierten. An einer Wand war in einem bestickten weißen Futteral der Koran aufgehängt, gegenüber ein Jagdgewehr mit Patronengürteln. Erst danach nahm Salim das Foto an der Wand hinter sich wahr. Er stand auf, holte seine Lesebrille heraus und besah sich das Gesicht auf dem Foto. Die funkelnden Augen fuhren einem sogleich ins Herz. Nein, nicht Salim sah auf das Foto, sondern der junge Mann darauf, Devran Sürgücü, blickte mit ebenjenen funkelnden Augen aus längst vergangener Zeit auf Salim. Die Augen, denen Salim fünfundzwanzig Jahre lang ausgewichen war, verbrannten ihn nun, nagelten ihn fest. Weder konnte er sich regen noch den Blick von dem Foto abwenden. Der junge Mann auf dem augenscheinlich aus einem Passfoto vergrößerten und nachgefärbten Bild war jener Albtraum, den Salim seit fünfundzwanzig Jahren wegzuschieben suchte. Genau deswegen war er nun gekommen, um sich dem Bild zu stellen, um Rechenschaft abzulegen. Salim, damals ein junger und dennoch mächtiger Staatsanwalt, stand nun wie ein Angeklagter vor Devrans Foto und vermochte sich nicht zu rühren.

Als der Bodentisch gedeckt wurde, fasste Salim sich und setzte sich an seinen Platz. Aus dem braun emaillierten Ofen züngelten oben kleine Flammen heraus. Durch die Wärme entspannte Salim sich und merkte erst, wie hungrig er war. Hasan Sürgücü verschwand immer wieder in der Küche und kehrte mit neuen Schüsselchen zurück, in denen Honig, Butter, Käse, Oliven und vieles mehr war. Seine Frau stellte sich mit einer kupfernen Pfanne an den Ofen. So flink, wie man es ihr in ihrem Alter nicht zugetraut hätte, bereitete sie ein Fleischgericht zu, dessen Duft durch den gesamten Raum zog. Während sie noch ein paar Eier darüber aufschlug, holte ihr Mann Fladenbrot aus einem Tuch. Dann kam die Pfanne auf den Tisch. Salim verfolgte alles still und aufmerksam, wenn auch sehr verlegen. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie sein Besuch verlaufen würde, was er wann sagen und wie er sich dabei fühlen würde. Nun war alles ganz anders. Er hatte vorgehabt, ins Haus zu kommen, Hasan Sürgücü sofort alles zu erzählen und das Weitere ihm zu überlassen. Sollte er sich mit dem Mann einigen können, würde er unmittelbar nach Erzurum zurückkehren. Ansonsten aber abwarten und sich in sein Schicksal fügen. In dieser Verfassung war er hierhergekommen. Nun aber, und zwar seit er das Haus betreten hatte, lief nichts so, wie er es sich ausgemalt hatte. Weder hatten die Leute ihn irgendetwas gefragt, noch hatte er es gewagt, von sich aus zu erzählen. Abgesehen von dem Kummer und dem Schmerz, die von Devrans Foto ausgingen, war er durch nichts behelligt worden. Ganz im Gegenteil fühlte er sich so aufgehoben, als sei er nach jahrelanger Abwesenheit ins Elternhaus zurückgekehrt. Jene innere Ruhe, nach der er sich jahrelang gesehnt hatte, war ihm ausgerechnet in einer verschneiten Winternacht in der kleinen Stube eines Häuschens in den Bergen zuteilgeworden. Das wollte er nicht beschädigen, diesen Zauber nicht zerstören, der nach Möglichkeit ewig andauern sollte. Er fühlte sich gereinigt, von seinen Sünden befreit. Als ob seine Gastgeber ihn trotz allem an ihre Brust gedrückt hätten. Dabei wusste er genau, dass sie ihn weder erkannt noch begriffen hatten, warum er gekommen war.

Nach dem Essen zog er sich wieder in sein Eckchen zurück. Als der Tisch abgeräumt war, nahm Hasan Sürgücü ihm gegenüber Platz. Er sah Salim mit gesenktem Kopf dasitzen, kraftlos, unfähig, dem Hausherrn ins Gesicht zu blicken. »Rauchen Sie? Soll ich Tabak bringen?«, fragte Hasan Sürgücü. »Nein, danke«, erwiderte Salim flüsternd. Eine Weile schwiegen sie, dann fragte Salim, noch immer mit gesenktem Kopf: »Möchten Sie nicht erfahren, wer ich bin und warum ich gekommen bin?« Der alte Mann antwortete: »Bei uns fragt man einen Gast nicht, warum er gekommen ist und wann er wieder gehen wird. Wer auch immer über unsere Schwelle tritt, ist uns willkommen.« Das klang so ruhig, so innig, so bestimmt, dass Salim ganz beschämt war und immer mehr in sich zusammensank. Gequält versuchte er, sich einen Ruck zu geben, um endlich loszureden. Hätte Hasan Sürgücü etwas gefragt, ein wenig nachgebohrt, auch nur ein einziges ungutes Wort gesagt, so hätte sich Salim weinend alles von der Seele geredet. Doch kam da keine Frage, so brachte Salim nichts heraus.

Bald darauf schleppte Hasan Sürgücü ein wollenes Nachtlager herbei. »Sie müssen müde sein«, sagte er und schlug rasch das Lager auf dem Boden auf. »Ich wünsche eine gute Nacht.« – »Ihnen auch«, brachte Salim mühsam heraus. Es war einer der wenigen Sätze, die er den ganzen Abend über gesprochen hatte.

In jener Nacht schlief Salim tief und traumlos und wurde erst wach, als Hasan Sürgücü sich am Ofen zu schaffen machte. Der Tag war soeben angebrochen, und durch das Fenster schien der Glanz des Schnees herein. Salim wusch sich kurz. Als er zurückkam, war das Bettzeug bereits verstaut, und der Frühstückstisch wurde gedeckt. Im Teekessel blubberte das Wasser. Während die Eheleute noch mit Vorbereitungen beschäftigt waren, vermied Salim es, Devran ins Angesicht schauen zu müssen, und stellte sich ans Fenster. Das ganze Dorf war in Schnee versunken. Er sah nur den feinen Rauch aus den Schornsteinen aufsteigen und ein paar Leute draußen arbeiten. Die hohen steilen Berge waren völlig weiß, und die Bäume bogen sich unter der Last des Schnees. Salim hätte ewig dort stehen und sich dem Anblick hingeben können.