Kanalfeuer - Kirstin Warschau - E-Book
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Kirstin Warschau

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Beschreibung

Belächelt wird der alte Mann, als er von seltsam flackernden Lichtern am Nord-Ostsee-Kanal erzählt, doch wenig später ist er tot. Bald darauf wird am Ufer des Flemhuder Sees ein dunkelhäutiger Mann wie vom Erdboden verschluckt. Ermittlerin Olga Island glaubt, der Lösung des Falls ganz nahe zu sein, als plötzlich ihre kranke Kollegin spurlos verschwindet und eine Jagd auf Leben und Tod beginnt ...

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Seitenzahl: 359

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Für Mary

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage August 2012

ISBN 978-3-492-95489-1

© 2012 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagfoto: Ekkehart Reinsch/buchcover.com

Karte: Cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Heißer Sand und ein verlorenes Land

und ein Leben in Gefahr,

heißer Sand und die Erinnerung daran,

dass es einmal schöner war.

Mina, »Heißer Sand«

1

Vasco da Gama kam mit dem ICE aus Zürich um siebzehn Uhr dreißig in Kiel an. Seine dunkle Sonnenbrille, ein seltenes Designerstück, spiegelte den wolkenlosen Himmel und die Eisreklame auf dem Bahnsteig. Er trug Markenjeans und ein Polohemd und hatte die Kopfhörer seines Mobiltelefons in den Gehörgängen, wie viele andere der Bahnreisenden auch. Die Musik stammte von den H-Blockx, also nichts, was man leise hören konnte.

Cord Petersen stand unter den Anzeigetafeln am Ende des Gleises und wartete. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte er eine Weile darüber nachgedacht, was für ein Tattoo er sich als Nächstes stechen lassen sollte, war aber zu keinem Schluss gekommen, was ihn in eine gewisse Missstimmung gebracht hatte. Als er den Jungen endlich zwischen den anderen Fahrgästen entdeckte, trat er ihm entgegen und streckte die breite, behaarte Hand aus.

»Moin.«

Ein fester, trockener Händedruck. Vasco da Gama nickte Petersen kurz zu, dachte aber nicht daran, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen oder die Lautstärke zu drosseln. Er überließ ihm das Gepäck, Seesack und Handkoffer, und trottete schweigend hinter ihm her. Der Geländewagen stand im Halteverbot vor der Kaisertreppe.

Während da Gama die Stufen hinabstieg, blickte er hinunter auf die Kieler Förde, die Kräne der Werft und die Aufbauten der Schwedenfähre, die im Hafen lag. Am Anleger der Hafendampfer herrschte Hochbetrieb, und vor dem Café Blauer Engel waren alle Stühle und Strandkörbe besetzt.

Die Menschen suchten die Nähe des Wassers, das dunkel, blau und kühl unter ihnen an die Spundwände schwappte, und genossen die warmen Strahlen der Spätnachmittagssonne. Sie konnten nicht wissen, wer da gerade die Kaisertreppe herunterkam, und erst recht nicht, was er vorhatte. Vasco da Gama verzog den Mund und lächelte breit. Sie alle ahnten nichts, aber sie würden noch von ihm hören.

2

Er saß am Fenster und wartete. Seit einer Stunde hockte er an seinem Platz zwischen den Geranientöpfen, stützte die Ellenbogen auf die weiß gestrichene Fensterbank und starrte hinaus. Erst spät war die kurze nördliche Sommernacht mit ihrem blauen Dämmerlicht über Hol­tenau hereingebrochen. Bogenlampen warfen ein schwaches Licht auf die Fahrbahn und den Bürgersteig der Kanalstraße. Nur von drüben, von der Schleuseninsel her, leuchtete Flutlicht hinter dunklen Baumwipfeln hervor und verschmolz mit den Lichtern der Stadt, die jenseits der Schleusen lag.

Hans Hinrichs lauschte. Es war still in dem hohen, alten Haus, von dem aus man auf den alten Seitenarm des Nord-Ostsee-Kanals blicken konnte. Das viel beschäftigte Ehepaar Schmirgel im Erdgeschoss schlief seit Stunden. Auch von Herrn Müller, dem ewigen Studenten oben in der Dachwohnung, der gelegentlich mitten in der Nacht Stühle rückte und seinen Drucker stundenlang rattern ließ, war kein Laut zu vernehmen. Hans Hinrichs vermutete, dass er vorzeitig in die Ferien aufgebrochen war. Letztes Wochenende war er in der Nacht des großen Abschlussfeuerwerks, das traditionell die Kieler Woche beendete, singend die Treppe nach oben gepoltert und hatte seitdem keinen Mucks mehr getan. Das konnte nur bedeuten, dass er bei seiner Mutter war, die ihm die Wäsche machte und sein Auto bezahlte.

Es war vollkommen still im Erker zwischen den Blumen. Selbst die Möwen, die sonst zu allen Tageszeiten draußen auf dem Dachfirst saßen und schrien, waren verstummt. Nur die Uhr an Hinrichs’ Handgelenk bewegte ihre fluoreszierenden Zeiger in gleichförmiger Langsamkeit über das Ziffernblatt.

Vorsichtig zog er das Spiralheft heran. Der Kugelschreiber lag bereit. Der, auf den er wartete, würde kommen, davon war er überzeugt. Die Nacht war lau, der Mond noch nicht aufgegangen, und Hinrichs hatte Muße zu warten. Seine Hände zitterten wie so oft in der letzten Zeit, die Schrift geriet krakelig, als er am Ende einer langen Spalte Datum und Uhrzeit notierte. »Sonntag, 1.Juli, 0.45 Uhr, keine Vorkommnisse.«

Die Aufzeichnungen mussten exakt sein, so gehörte es sich. Gelernt war gelernt, das steckte in einem nach sechsundvierzig Jahren Arbeit in der Verwaltung. Da nützte es nichts, dass man ihn mit Einführung der Computer aus Altersgründen in Rente geschickt hatte, fortan zu nichts weiter verpflichtet, als Miete zu zahlen und die Klappe zu halten. Die Aufzeichnungen mussten sein. Besonders in den Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, brauchte er die Gewissheit, dass er noch klar denken konnte – auch wenn sein Körper langsam verfiel, das Herz oft schwach und unregelmäßig schlug, der Brustkorb schmerzte und das Atmen nicht immer leichtfiel. Sicher, er hatte sein Spray, aber manchmal erinnerte er sich nicht mehr daran, wo er es hingestellt hatte.

Plötzlich bemerkte er draußen eine Bewegung. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Das musste er sein. Er kam wie immer aus Richtung des Fähranlegers und ging mit wiegendem Schritt den unbefestigten Gehweg auf der anderen Straßenseite entlang. Die dunkle Buchenhecke, die die Straße von der Schleusenwiese trennte, verbarg ihn fast vollkommen. Aber Hinrichs sah ihn trotzdem, und es bereitete ihm eine diebische Freude, dass der andere nichts von seinem Beobachter wusste.

Hinrichs griff zum Stift, um die Uhrzeit zu notieren. Es war jetzt exakt null Uhr neunundvierzig. Als er aufsah, war der Mann bereits durch die Hecke geschlüpft, hatte die Wiese überquert und den Wanderweg erreicht, der am Altarm des Kanals entlangführte. Das Flutlicht drüben auf der Schleuseninsel fiel durch die Bäume bis aufs Wasser, und Hinrichs konnte die Umrisse des Mannes deutlich erkennen, der vornübergebeugt dastand und in den Kanal starrte.

Hans Hinrichs zog das Opernglas aus der Hosentasche. Als Marie, seine Frau, noch lebte, war sie gern nach Kiel ins Opernhaus gefahren. Ihm selbst hatte das langatmige Gesinge und Gedudel dort nie zugesagt. Da hatte er sich lieber an Volkstümliches gehalten wie den Lotsengesangverein Knurrhahn zum Beispiel, der war mehr nach seinem Geschmack, und er hatte einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, möglichst keines der Konzerte auszulassen. Maries kleines Opernglas war nicht besonders gut, aber für die Beobachtungen, die er seit einiger Zeit durchführte, reichte es aus.

Als vor ein paar Jahren drüben in der Wik, auf der gegenüberliegenden Kanalseite, das Paraffinlager gebrannt hatte, da hatte er zum ersten Mal nach Maries Tod ihr Opernglas aus dem Schrank geholt. Meterhoch waren die Flammen in den Himmel geschlagen. Er hatte unbeweglich am Fenster gesessen und sich selbst dann nicht gerührt, als die Feuerwehr alle Bewohner im Umkreis von einem Kilometer aus den Häusern geklingelt und evakuiert hatte. Er hatte in seiner Wohnung gesessen und hinübergestarrt, während draußen nur das beherzte Eingreifen aller Wehren aus Kiel und Umgebung, unterstützt von zwei Feuerlöschschiffen, eine Katastrophe hatte verhindern können. Die nahe gelegenen Öltanks hatten nur dank der Kühlung mit Kanalwasser der Hitze standgehalten. Der Anleger der Kanalfähre war zerstört worden, doch die Schleusentore des Nord-Ostsee-Kanals, die nur wenige Hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt waren, blieben unversehrt.

In den Nächten nach dem großen Feuer hatte Hans Hinrichs kein Auge zugetan. Das Ereignis hatte seine Erinnerungen an den Krieg zu neuem Leben erweckt. An die Zeit, als er mit seiner kleinen Schwester nach einem Bombenangriff aus dem Bunker gekrochen war und ihr Zuhause einfach nicht mehr da gewesen war. Die Reste des zerstörten Mietshauses hatten gebrannt, und alle, die wie seine Mutter im Keller Zuflucht gesucht hatten, waren erstickt. Zusammen mit seiner Schwester war er über die beschädigte, nur notdürftig geflickte Holtenauer Hochbrücke geirrt, mit versengten Haaren und verkohlter Kleidung, raus aus der Stadt, fort, nur fort von Hitze, Qualm und Tod. Nach ein paar Nächten allein im Freien waren sie, als sie die Strände nach etwas Essbarem absuchten, auf eine Bekannte ihrer Mutter gestoßen. Die Frau, die ihre eigenen Kinder bei einem Tieffliegerangriff verloren hatte, nahm die fremden Kinder bei sich auf. Tag für Tag, Jahr um Jahr, hatte sie vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft gehofft. Er blieb verschollen. Hans Hinrichs erinnerte sich an eiskalte Winter, ewig verlauste Köpfe und den Hunger. Und an den Tag, als ihn und Anne die Nachricht erreichte, dass ihr Vater bei einem Einsatz in einem Kleinst-U-Boot gefallen war.

Nach dem Feuer im Paraffinlager war Hinrichs tage- und nächtelang durch seine Wohnung gelaufen, er hatte angefangen, Selbstgespräche über den Krieg zu führen, und hatte vergessen, zu essen und zu trinken. Ewa, seine Pflegerin vom mobilen Betreuungsdienst, hatte Dr. Peters angerufen, der ihm ein Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Hans Hinrichs hatte wieder schlafen können, aber er war ängstlicher geworden, am Morgen verwirrt, am Abend oft traurig und unruhig.

Hinrichs richtete das Opernglas wieder auf den Fremden, der noch immer an derselben Stelle stand. Nach einer Weile zuckte der Strahl einer Taschenlampe über das Wasser. Er schien den Grund abzuleuchten. Doch schon bald schaltete er das Licht wieder aus.

Er wartete auf etwas.

Und Hans Hinrichs, alt, zittrig, aber wach und aufs Äußerste gespannt, wartete mit ihm.

3

Leon Witte hatte seit einer Woche Sommerferien, aber genießen konnte er sie nicht. Er war zwölf Jahre alt und hatte die sechste Klasse des Gymnasiums mit Müh und Not geschafft, eine Tatsache, die sein Vater nicht hinnehmen wollte. Werner Witte hatte deshalb einen Studenten engagiert, der seinem Sohn vormittags von neun bis zwölf Uhr Nachhilfeunterricht erteilte. Für den Nach­mittag bekam der Junge schriftliche Aufgaben, die er am nächsten Morgen abzuliefern hatte. Zu allem Überfluss musste Leon mehrmals die Woche anschließend auf seine kleine Schwester aufpassen, weil seine Mutter am späten Nachmittag für den nächsten Marathon trainierte.

Früher waren die Wittes im Sommer nach Südfrankreich in den Urlaub gefahren, aber seit sie ihre Doppelhaushälfte in einem Neubaugebiet in Suchsdorf bezogen hatten, war das Geld knapp geworden, und sie blieben zu Hause. Wenn Leon die Aufgaben erledigt hatte, schaute er meist bei seinem Freund Finn-Lukas vorbei, der ein paar Straßen weiter wohnte. Dessen Eltern hatten zwar genug Geld, um zu verreisen, aber sie konnten sich im Sommer nicht freinehmen. Also hockte Finn-Lukas unter der Aufsicht eines magersüchtigen russischen Au-pair-Mädchens zu Hause, langweilte sich und sehnte sich nach Abwechslung.

Wenn Leon ihn besuchte, fuhren sie meistens mit ihren Crossrädern in der Gegend herum. Manchmal landeten sie dann auf dem Kinderspielplatz am Rande der Siedlung. So auch an diesem Tag, an dem Leon erst gegen halb sieben abends bei Finn-Lukas geklingelt hatte. Er hatte ihn nicht lange überreden müssen, noch eine kleine Ausfahrt zu unternehmen.

Auf dem Spielplatz angekommen, kickten sie mit einem Jonglierball herum, bis Finn-Lukas den Ball unbeabsichtigt, aber mit voller Wucht in die Sandkiste schoss. Er ­verfehlte den Kopf eines zweijährigen Mädchens nur um Haaresbreite, und die Mutter, die danebensaß und Sandförmchen füllte, bekam einen Tobsuchtsanfall. Die Jungen stiegen auf ihre Räder und fuhren weiter. Sie warfen kleine Steine nach den Mufflons, die im städtischen Tiergehege vor sich hin dösten, und gondelten schließlich den Weg am Kanal entlang, auf dem ihnen ein Grüppchen sonnengebräunter Rentner mit Fahrrädern entgegenkam.

Unter dem Brückenpfeiler der alten Levensauer Hochbrücke warfen die Jungen ihre Räder zu Boden und kletterten die Böschung hinauf. Es war kurz vor acht, und die Hitze des Tages staute sich zwischen den Büschen am Fuß des Bauwerks. Oben im mächtigen Brückenpfeiler überwinterten in der kalten Jahreszeit Tausende Fledermäuse. Leon und Finn-Lukas kannten die Stelle, an der die Tiere in das Gemäuer einflogen. Sie kannten auch die geheime Einstiegsöffnung, die es einem kleinen, sehr schmalen Menschen ermöglichte, in das Gewölbe im Widerlager der Brücke hineinzukriechen, ohne die stets fest verschlossene Stahltür zu benutzen.

Eigentlich hätten die Jungen um diese Zeit längst wieder zu Hause sein sollen. Aber heute war Werner Witte mit Leons kleiner Schwester nach Hamburg gefahren, um sie für drei Tage bei der Oma abzuliefern. Seine Mutter nutzte den freien Abend für eine besonders große Laufrunde und würde nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück­kommen. Und das Au-pair-Mädchen von Finn-Lukas war nach der Vorabendserie ermattet vor dem Fernseher ein­geschlafen.

Die beiden glücklich Vergessenen setzten sich am Fuße des Brückenpfeilers ins verdorrte Gras und streckten die Beine aus. Leon zog eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Der Rauch brannte ihm in der Kehle, aber er paffte entschlossen, während Finn-Lukas einer Jacht nachsah, die in gemächlichem Tempo Richtung Holtenauer Schleusen fuhr.

»Wollen wir rein?«, fragte Leon hustend und deutete auf den Brückenpfeiler.

»Weiß nicht, ist doch voll kalt in der Gruft.«

Sie schwiegen, während ein Schwarm Mücken sie umsurrte.

Finn-Lukas legte den Kopf in den Nacken und sah verträumt hinauf zu dem sonnenbeschienenen Brückenbogen aus genietetem Stahl. Die Brücke war schon über hundert Jahre alt und sollte demnächst abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden.

»Wie wär’s, wenn wir mal da raufklettern?«, schlug Finn-Lukas vor. »Oder traust du dich nicht?«

Leon zuckte mit den Achseln. »Doch, klar.«

Er stand auf und warf seine Zigarette zu Boden.

Für die beiden Jungen war es kein Problem, den Granitsockel zu erklimmen und in die Stahlkonstruktion hineinzuklettern. Die rötliche Farbe, mit der das Metall gegen die Witterung geschützt wurde, war rau, und die Eisennieten boten ihren Turnschuhen zusätzlich Halt. Schon bald lag der Kanal tief unter ihnen. Die Entfernung bis zur Wasseroberfläche war schwindelerregend. Eine warme Luftströmung unter der Brücke erfasste sie und ließ ihre Haare fliegen.

»Wow«, sagte Leon.

»Cool!«, meinte Finn-Lukas, aber seine Stimme klang dünn und beklommen. Trotzdem kletterten sie weiter voran. Anfangs hatten sie noch kichern müssen, aber je näher sie der Fahrbahn über ihren Köpfen kamen, desto stiller wurden sie. Plötzlich hörten sie ein dumpfes Grollen, das schnell lauter wurde. Es folgte ein unheimliches Getöse, die Stahlteile, auf denen sie hockten, vibrierten, und die ganze Brücke geriet in Schwingung. Leon blieb die Luft weg, während er sich festklammerte. Finn-Lukas riss erschrocken die Augen auf und wimmerte leise.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war die Regionalbahn von Kiel nach Flensburg über sie hinweggerast, aber ihre Herzen schlugen noch lange sehr schnell.

»Cool«, sagte Finn-Lukas wieder, doch seine Hände ­zitterten.

Die Jungen beugten sich vor, legten ihre Oberkörper auf den warmen Stahl und sahen hinab. Sie befanden sich auf der südwestlichen Seite der Brücke. Die Abendsonne stand über den Feldern. An einigen Stellen erreichten die Sonnenstrahlen die Wasseroberfläche des Kanals und brachten die Wellen tief unten zum Glitzern. Ein kleiner Frachter fuhr unten vorbei. Finn-Lukas winkte, aber niemand an Deck schien ihn zu bemerken. Leon sammelte Speichel in seinem Mund und ließ ihn hinabtropfen. Die Spucke wurde vom Höhenwind unter der Brücke erfasst, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie unten ankam.

»Stell dir vor, wie’s wäre, sich hier abzuseilen«, sinnierte Leon.

»Krass«, sagte Finn-Lukas. Plötzlich deutete er nach unten ins grünliche Wasser. »Sag mal, was ist das denn?«

Im Kielwasser des gerade passierten Frachters hatten sich kleine schaumige Wirbel gebildet, und seitlich davon war ein Schatten zu erkennen.

»Da schwimmt was.«

»Was soll das sein?«

Sie starrten beide auf den merkwürdigen Fleck unter der Wasseroberfläche, der langsam unter ihnen hinwegglitt. Es war ein unförmiger dunkler Körper, der dem Schiff wie von Geisterhand zu folgen schien.

»Ein Riesenfisch oder so was!«

»Ein Alien.«

Keiner der beiden lachte.

Sie starrten auf die ungewöhnliche Erscheinung, bis sie außer Sichtweite war. Ein paar Mal spuckten sie noch in den Kanal, dann erinnerten sie sich daran, dass sie Hunger hatten.

Beim Zurückklettern, in etwa dreißig Metern Höhe, rutschte Leon ab. Er schrie auf. Sein rechter Turnschuh verklemmte sich zwischen zwei Stahlkanten und verhinderte in letzter Sekunde, dass er von der Brücke fiel. Als die beiden wieder festen Boden unter den Füßen hatten, spürten sie eine gehörige Portion Erleichterung.

Wortlos radelten sie nach Hause.

Später lag Leon im Bett und konnte nicht einschlafen. Er steckte in einer Zwickmühle. Gern hätte er seinem Vater von dem merkwürdigen Ding im Kanal erzählt. Werner Witte wüsste vielleicht, worum es sich gehandelt haben könnte. Aber Leon hätte sich niemals getraut zuzugeben, dass er auf der Brücke herumgeklettert war. Denn auch wenn sein Vater sich gern mit den Abenteuern seiner eigenen Kindheit brüstete, so würde er garantiert ausrasten, wenn er hörte, dass sein Sohn fast von der Brücke gestürzt war. Er würde ihm womöglich sogar verbieten, sich weiter mit Finn-Lukas zu treffen. Und dann wären die Ferien völlig ruiniert.

Ein paar Straßen weiter schlief Finn-Lukas tief und fest. Trotz des gegenseitigen Versprechens, dass ihre Brücken­exkursion ein Geheimnis bleiben sollte, hatte er nach seiner Rückkehr versucht, dem verschlafen dreinblickenden Kindermädchen von der ganzen Sache zu erzählen. Aber die gelangweilte junge Frau, der deutschen Sprache erst zu einem kleineren Teil mächtig, hatte nur verständnislos die schmalen Schultern gezuckt und nicht mal versucht, ihr Gähnen zu unterdrücken.

4

In den letzten Wochen und Monaten hatte Hedda Marxen viel über ihr Leben nachgedacht. Eigentlich hielt sie sich für eine pragmatische Frau, die alles gut im Griff hatte. Jahrelang hatte sie Familie, Haus und Garten perfekt gemanagt, zwei lebhafte Jungen großgezogen und auch sonst alles in Ordnung gehalten. Aber kurz vor Pfingsten hatte sie ihren Neunundvierzigsten gefeiert, und zwar allein, weil den übrigen Familienmitgliedern offenbar andere Verpflichtungen wichtiger gewesen waren. Sie hatte versucht, an diesem Tag nicht allzu melancholisch zu werden, aber sie hatte sich doch ihre Gedanken gemacht und eine Art Bilanz gezogen.

Ihr Mann Christoph war selten zu Hause. Er war Architekt und arbeitete seit vielen Jahren in Hamburg. Weil er häufig Abendtermine hatte und ihm die dauernde Fahrerei zu beschwerlich geworden war, blieb er die Woche über meist in seinem Apartment in der Speicherstadt und kehrte nur noch am Wochenende ins Familienhaus nach Groß Nordsee zurück. Die Zwillinge, Niklas und Moritz, studierten in Bremen und Hannover, und leider hatte Hedda sie so selbstständig erzogen, dass sich die beiden mit Nachdruck gegen jedwede mütterliche Hilfe verwehrten.

An ihrem Geburtstag hatte Hedda Marxen allein auf der Terrasse gesessen und die Schiffe betrachtet, die in gemächlichem Tempo die Kanalweiche vor Schinkel passierten. Abgesehen von drei Kollegen ihres Mannes, die sie pflichtschuldigst angerufen hatten, waren keinerlei Gratulationen eingetroffen. Verzweifelt hatte sie der Versuchung standgehalten, sich einen kleinen Whisky einzuschenken. Gegen Abend hatte sie beschlossen, etwas in ihrem Leben zu ändern. Sie hatte sich vorgenommen, nun endlich den Führerschein zu machen. Seitdem fieberte sie nervös wie ein Teenager den Fahrstunden entgegen, die immer montags und mittwochs stattfanden. Außerdem hatte sie sich daran erinnert, wie gut es ihr tat, regelmäßig schwimmen zu gehen. Deshalb fuhr Hedda Marxen seit Anfang Mai jeden Morgen in aller Frühe und bei Wind und Wetter mit dem Rad zum Schwimmen an den Flemhuder See.

Auch heute, an diesem perfekten Sommermorgen, hatte sie in den kühlen Fluten des Sees ihre Runden gedreht. Während sie sich mit dem Handtuch trocken rubbelte, stellte sie fest, dass der Mann noch immer im Schatten unter dem Weißdornbusch lag. Beim Umziehen vorhin hatte sie ihn zwar gesehen, aber nicht weiter beachtet. Sie fingerte nach ihrer Brille, die sie während des Schwimmens immer in einem ihrer Schuhe deponierte. Neugierig sah sie zu ihm hinüber. Er lag seitlich ausgestreckt auf einem Handtuch, eine dünne Wolldecke bis über die Brust gezogen. Er schien zu schlafen. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass er ein gut aussehender Kerl war, mit muskulösem Körper und ebenmäßigem Gesicht. Sein dichtes, helles Haar lag wie ein Kissen um seinen Kopf.

Es war kurz nach sieben, und der Himmel leuchtete porzellanblau. Die Luft war lau und roch so berauschend nach Sommer, dass Hedda, wäre sie allein auf der Wiese gewesen, am liebsten laut losgesungen hätte. Aber sie wollte den Schlafenden nicht stören und hatte außerdem das unbestimmte Gefühl, dass vielleicht noch jemand in der Nähe war. Wahrscheinlich hatte am Vorabend eine Grillparty der ortsansässigen Jugend stattgefunden, und nicht alle hatten es bis nach Hause geschafft. Sie sah sich um. Ein Stück entfernt parkte ein Geländewagen, doch sie konnte nicht erkennen, ob jemand darin saß.

Sie sah zu ihrem Fahrrad hinüber, das sie an den Stamm einer Pappel gelehnt und nicht abgeschlossen hatte. Auf dem Land kam normalerweise nichts weg. Sie wickelte das Handtuch um ihren Oberkörper, streifte Bikinihose und das knappe Oberteil ab und zog sich an. Dabei summte sie leise ein Lied vor sich hin. Seit sie mit dem Schwimmen angefangen hatte, fühlte sie sich viel attraktiver als zuvor. Das Ganze war ein kleines Abenteuer am frühen Morgen, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ein guter und interessanter Teil ihres Lebens womöglich noch vor ihr lag.

Sie dachte an ihre nächste Fahrstunde. Jens Dirksen, der Fahrlehrer, würde sie am nächsten Tag um Punkt drei Uhr am Dorfausgang abholen. Sie lächelte. Wie der Dirksen sie immer ansah, wenn sie zu ihm ins Auto stieg: erfreut, verschmitzt und aufmerksam. Nicht nur der Gedanke, dass sie bald nach Lust und Laune allein nach Kiel ins Theater oder nach Neumünster ins Stadtbad fahren konnte, ließ ihr Herz hüpfen. Beim letzten Mal, sie hatte einen kleinen Fehler beim Schalten gemacht, hatten sich ihrer beider Hände auf dem Schaltknüppel getroffen, flüchtig nur, aber es war aufregend gewesen.

Ihr kleiner Tagtraum wurde jäh unterbrochen, als sie wieder zu dem Mann auf der Wiese hinübersah. Er lag noch immer so da wie vorher. Allerdings hatte sie jetzt den Eindruck, als würde er sie ansehen. Sie rieb sich den Rest Seewasser aus den Augen, konnte jedoch auf die Entfernung nicht erkennen, ob ihre Vermutung richtig war. Wie zufällig begann sie daher, ein paar Kleeblüten aus der Wiese zu zupfen. Und näherte sich dabei dem Mann bis auf wenige Schritte. Sie trat jetzt dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. Seine Haut hatte einen olivfarbenen Ton, das Gesicht war ebenmäßig, mit gerader, breiter Nase, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Die Augen hielt der Mann halb geschlossen. Hedda Marxen konnte die rosafarbenen Lidränder sehen und den Rand der dunklen Iris. Sie hielt die Luft an und lauschte. Bis auf die Rufe zweier Amseln war es still.

Etwas irritierte sie, aber sie wusste nicht, was. Erst als sie, von einer plötzlichen Unruhe getrieben, mit dem Fahrrad zum Dorf zurückfuhr, fiel ihr auf, dass er nicht geatmet hatte. Zu Hause angekommen, ging sie schnurstracks ins Wohnzimmer und griff nach dem Telefonhörer. Doch dann kamen ihr Zweifel.

Sie musste wieder an das denken, was lange zurücklag. Ihr fiel der Jeep ihres Mannes ein, den sie damals zu Schrott gefahren hatte. Und all das Schreckliche, was sie ange­richtet hatte in jener Nacht. Und natürlich auch das enge, grün gestrichene Zimmer in der Suchtklinik und die Patchworkdecken, die sie in der Ergotherapie genäht hatte, die niemandem in ihrer Familie gefallen hatten. Und plötzlich zitterten ihre Hände so sehr, dass sie, ohne zu zögern, den Sekretär ihres Mannes öffnete, sich ein Glas Whisky einschenkte und es in einem Zug leerte.

Anschließend stand sie, die Flasche mit blutleeren Fingern umklammernd, am Fenster und starrte über den Garten auf die Aufbauten eines vorbeiziehenden Containerfrachters. Auf der Wiese hatte ein Toter gelegen. Und sie wünschte sich, sie hätte niemals angefangen, über ihr Leben nachzudenken.

5

Kriminalhauptkommissarin Olga Island knallte die Autotür zu und atmete erleichtert aus. Noch während sie den Wagen über den holprigen Parkplatz oberhalb des Falckensteiner Strandes gelenkt hatte, war ihr der Schweiß in feinen Rinnsalen den Rücken hinuntergelaufen. Als sie nun im Schatten der Bäume den Kofferraum öffnete, kühlte die leichte Brise vom Meer ihre verschwitzte Haut. Den ganzen Tag schon hatte sie vor sich hin transpiriert, und ihr blaues T-Shirt über dem drallen Bauch zierte eine feine, helle Salzkruste.

Das Thermometer in ihrem Büro hatte bereits um acht Uhr morgens achtundzwanzig Grad Celsius angezeigt. Und obwohl die meisten Fenster den ganzen Tag offen standen, war es unter dem Dach der Bezirkskriminalin­spektion in der Blumenstraße von Stunde zu Stunde heißer geworden. Wären sie Schüler gewesen und keine Kriminalbeamten, hätten sie hitzefrei bekommen. So aber mussten alle Mitarbeiter der Mordkommission, mit Ausnahme von Karen Nissen und Falk Taulow, die mit ihren Familien im Urlaub waren, an diesem Tag mehr oder weniger klaglos dem Feierabend entgegenschwitzen.

Olga Island, die erst im vergangenen Jahr von Berlin in die Stadt ihrer Jugendzeit zurückgekehrt war, hatte den Eindruck, dass der Sommer für die Polizei in Kiel eine eher ruhige Zeit war. Es gab mehr freie Parkplätze in der Innenstadt und weniger alkoholbedingte Exzesse. Die Kieler Woche, auf der sich die Einheimischen und ihre Gäste traditionell ein wenig austobten, war vorbei, und Stadt und Land schienen in eine träumerische Schläfrigkeit verfallen zu sein.

Diesen Montag hatte es allerdings einen noch unge­klärten Todesfall im Stadtteil Holtenau gegeben. Ein alter Mann war morgens tot auf einer Bank am Kanalufer sitzend aufgefunden worden. Auf dem Boden neben der Bank hatte ein altmodischer, mit Wappen besetzter Wanderstock gelegen, zwischen seinen Knien ein kleines Fernglas. Der Kriminaldauerdienst hatte einen Arzt verständigt, der bestätigte, dass der Tod wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden durch Herzversagen eingetreten war. Der Mann war mit einem Bademantel bekleidet gewesen, in dessen Tasche die Chipkarte einer Krankenversicherung gesteckt hatte. Auf diese Weise hatten sie seine Identität schnell ermittelt. Es handelte sich um einen gewissen Hans Hinrichs aus einem Haus in der Kanalstraße. Ein Polizist hatte sich dort umgehört und von einer Bewohnerin erfahren, dass Hinrichs seit Jahren allein lebte und seine Wohnung schon seit vielen Monaten nicht mehr ohne Begleitung verlassen hatte. Das war dem jungen Beamten seltsam erschienen, und er hatte die Mordkommission informiert.

Die Leiche war daraufhin in die Gerichtsmedizin geschafft worden, aber die Untersuchungen hatten die Vermutungen des Arztes bestätigt, dass Fremdeinwirkung weitgehend ausgeschlossen war. Der Leiter der Mordkommission, der Erste Hauptkommissar Thoralf Bruns, hatte sich zusammen mit Kriminaloberkommissar Jan Dutzen die Wohnung des Toten angesehen, aber sie hatten nichts Auffälliges entdecken können. Island hatte mit dem Hausarzt und der Mitarbeiterin des mobilen Pflegedienstes gesprochen, die den Verstorbenen in den vergangenen Jahren betreut hatten. Beide hatten sich vom Ableben des Rentners wenig überrascht gezeigt.

Hans Hinrichs hatte seit Jahren an einer Angina Pectoris gelitten, einer schweren Herzinsuffizienz, und an einem sich fortentwickelnden Lungenemphysem, erfuhr Olga Island von Hinrichs’ Hausarzt. Die Angestellte der Pflege­engel GmbH aus Friedrichsort, an die Island verwiesen worden war, hatte kaum Zeit für ein Gespräch gehabt. Die Frau hatte bei laufendem Motor in dem kleinen Fiat ihrer Firma gesessen und durch das heruntergekurbelte Fenster energisch den Kopf geschüttelt.

»Herr Hinrichs ist nie allein rausgegangen. Schon lange nicht mehr. Aber den schönen Ausblick auf den Kanal von seiner Veranda aus, den hat er immer sehr genossen.«

»Ist Ihnen an ihm in der letzten Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?«, hatte Island gefragt.

Der Pflegeengel hatte nicht lange nachdenken müssen. »Ich würde sagen, er war wie immer. Obwohl, wenn Sie mich so fragen, fällt mir gerade doch noch etwas ein. Herr Hinrichs war morgens in der letzten Zeit immer besonders verschlafen. Wenn ich zwischen sieben und halb acht bei ihm war, schlief er immer tief und fest und war kaum wach zu bekommen. Wenn ich ihn deswegen neckte, sagte er immer, er habe nachts den Kanal und die Schleusen beobachten müssen.«

»Hat er auch gesagt, warum?«

»Er musste irgendwas aufschreiben. Keine Ahnung, die werden manchmal etwas tüdelig, die alten Leute.«

»Haben Sie denn mal gesehen, was er aufgeschrieben hat?«

»Auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen lag immer so ein Ringbuch. Eine Art Liste war das. Er hat sich Uhrzeiten notiert und von irgendwelchen Lichtzeichen oder Lichtern gesprochen. Keine Ahnung, was das sollte. Ich habe leider nicht so viel Zeit, dass ich mich auch noch mit solchen Sachen beschäftigen kann. Ich muss meine eigenen Listen abarbeiten.«

Bei der Teambesprechung am nächsten Morgen hatte Olga Island ihre Kollegen Bruns und Dutzen gefragt, ob sie Aufzeichnungen in der Wohnung des Rentners gefunden hatten. Dutzen war in sein Zimmer gegangen, hatte die Ringbuchkladde geholt und sie herumgereicht. Die Handschrift war krakelig gewesen, aber es war wirklich kaum mehr als eine dürre Liste mit Datumsangaben, Uhrzeiten, Namen von Schiffen und einigen merkwürdig unbehol­fenen Ausdrücken.

Gemeinsam hatten sie den Fall noch einmal diskutiert, waren dann aber übereinstimmend zu dem Schluss gekommen, dass hier wohl nichts weiter zu tun war. Wäre der Mann zu Hause in seiner Wohnung gestorben, hätte man die Polizei vermutlich gar nicht erst hinzugezogen. Warum der Rentner das Haus verlassen hatte, würde sich wohl nicht mehr feststellen lassen.

Island wühlte im Kofferraum ihres Mazda und nahm ihren Rucksack heraus. Darin befand sich alles, was sie für einen Feierabend am Strand brauchte: ein Badelaken, der neue Badeanzug in XL, eine Literflasche Mineral­wasser, ein Reiseführer über die Abruzzen und eine große Plastikdose mit geschmierten Broten und Apfelstücken. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft war ihr ständig schlecht, oder sie hatte Hunger, oder beides gleichzeitig. Auf jeden Fall besserte sich ihre Laune stets, wenn sie etwas essen konnte. Am allerbesten schmeckten ihr zurzeit gutbürgerliche Gerichte, die sonst nicht gerade weit oben auf ihrem Speiseplan gestanden hatten. Sie konnte sich begeistern für Dinge wie Eisbein mit Sauerkraut, in Speck gebratene Scholle mit Bratkartoffeln oder Rinderrouladen mit Rotkohl. Aus diesem Grund hatte sie schon fünfzehn Kilo zugenommen, obwohl sie erst im sechsten Monat war. Der Bauch, den sie vor sich herschob, war nicht mehr zu übersehen, aber sie hatte beschlossen, an ihre Figur keinen Gedanken zu verschwenden. Wozu sollte sie sich Sorgen über ihr Äußeres machen? Männer interessierten sie gerade nicht besonders, und was Frauen dachten, war ihr auch egal.

Ihr Freund Lorenz, der angehende Vater des Kindes, war wieder einmal den Sommer über in Italien, diesmal, um an einer anthroposophischen Sommerakademie einen mehrmonatigen Holzbildhauerkurs zu leiten. Sie hoffte, dass er wie versprochen im September zurückkehren würde, ohne allzu sehr von den Ideen Rudolf Steiners beseelt zu sein. Er hatte ihr versichert, er würde nach seiner Rückkehr aus Italien Wohnung und Atelier in Berlin-Kreuzberg aufgeben, um zu ihr und dem Kind nach Kiel zu ziehen. Aber sie war sich nicht sicher, ob er das tatsächlich tun würde.

Irgendwie war Lorenz nicht gerade der Vater, den man sich für ein Kind wünschte. Zwar hatte er das gewinnendste Lächeln der Welt, und sie konnte sich mit ihm stundenlang auf das Wunderbarste unterhalten. Allerdings war er auch ein Künstler, wie er im Buche stand, ruhelos und hyperaktiv, was seine Ausstellungsbemühungen und Vernissagebesuche anging, aber depressiv, wenn es mal wieder nicht klappte mit der Karriere. Vor allem liebte er es, seine Freiheit in vollen Zügen zu genießen. Immerhin rief er sie jetzt ungefähr alle drei Tage an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Das war eigentlich die größte Veränderung, die sie an ihm feststellen konnte, seit sie ihm vor vier Monaten am Telefon die freudige Botschaft eröffnet hatte, dass sie ein Kind erwartete.

In dem nicht abreißenden Strom von Badegästen wiegte sie gemächlichen Schrittes den Asphaltweg zum Strand hinunter. Es war einer der wirklich heißen Sommertage in Kiel, und der Strand von Falckenstein war auch jetzt, um sieben Uhr abends, noch proppenvoll. Sie ging über den Holzbohlenweg bis ans Wasser, zwängte ihren Bauch in den ansonsten viel zu großen Badeanzug, breitete das Handtuch aus und streckte sich rücklings darauf aus. Der Sand war weich und warm. Für eine Weile schloss sie die Augen und lauschte den Wellen, die durch den Lärm der Badegäste hindurch an den Strand schlugen. Der Geruch von Grillanzündern, Bratwurst und Sonnenmilch verschmolz mit dem Duft von Tang und Meerwasser zu einer sommerlichen Komposition. Sie seufzte. Genau so sollte ein Feierabend im Hochsommer sein.

Schon wieder knurrte ihr Magen. Um sich vom Essen noch ein wenig abzulenken, stützte sie die Ellenbogen auf und blickte aufs Meer. Segeljachten zogen vorüber. Ein Speedboot kam von Schilksee herüber und verbreitete ein monotones, alles übertönendes Motorengeräusch. Drüben auf der anderen Seite der Förde erkannte sie den Mastenwald der Boote im alten Hafen und in der neuen Marina, die Windmühle auf dem Berg und das Laboer Ehrenmal. Sie versuchte die Stelle an der Strandpromenade auszumachen, wo das Haus ihrer Tante Thea gestanden hatte. Dort drüben hatte sie ihre Jugend verbracht, mehr als zehn Jahre ihres Lebens. Und ihr fiel ein, dass Tante Thea die winzige, klamme Erdgeschosswohnung immer an Sommergäste vermietet hatte. Olga Island hatte sich jedes Jahr wieder gewundert, dass Leute freiwillig nach Laboe kamen, um dort Urlaub zu machen, denn sie selbst hatte sich oft einfach nur von dort weggewünscht. Nun war das alte Haus längst abgerissen. Tante Thea wohnte bereits seit Jahren in Berlin. Island beschloss, mal wieder bei ihr durchzuklingeln, denn sie hatte länger nichts von ihr gehört. Aber jetzt war sie dazu nicht in der Stimmung.

Sie räkelte sich. Gern hätte sie einfach so ein paar Tage am Strand gelegen, am liebsten mit jemandem in ihrer Nähe, der ihr gutes Essen servierte. Das würde ihr gefallen, und dem Kind, das manchmal Bewegungen in ihrem Bauch vollführte, sicher auch.

Kurz bevor sie einnickte, musste sie noch einmal an den toten Rentner denken. Sie hatten keine Angehörigen ermitteln können. Anscheinend gab es niemanden außer dem Arzt und den Pflegerinnen, der nach ihm gesehen hatte. Wie viele solche Fälle hatte sie schon erlebt? Viel zu viele. All die alten oder noch gar nicht mal so alten Menschen, die nicht selten völlig isoliert in ihren Wohnungen lebten und starben. Berlin war voll davon. Kiel auch.

Der Rentner, der früher beim Finanzamt gearbeitet hatte, hatte ein Sparbuch mit ein paar Hundert Euro hinterlassen. Geld, das nicht mal für Bestattung und Wohnungsauflösung reichen würde. Wenn diese Dinge erledigt waren, würde nichts von ihm übrig bleiben. Was mochte er an den Schleusen beobachtet haben? Hatte es ihn vielleicht so aufgeregt, dass er deswegen einen Herzanfall erlitten hatte?

Lautes Kreischen unterbrach ihre Gedanken. Ein paar Badenixen in Bikinis spielten im flachen Wasser Volleyball. Sie ließen dekorativ ihre nicht gerade schmalen Hüften kreisen und lachten wild. Am Strand hatten sich einige junge Männer im Halbkreis um einen Grill versammelt und ließen Bierflaschen ploppen.

Island überlegte, ob sie ein Bad nehmen sollte, aber dann aß sie stattdessen ein paar Brote und blätterte in ihrem Reiseführer. Eine Wanderung in den Abruzzen war zwar erst einmal in weite Ferne gerückt, aber sie durfte ja schließlich noch träumen.

Gegen halb zehn Uhr brach sie auf. Der Rückweg führte sie an einem Kiosk vorbei, der noch geöffnet hatte. Sie konnte nicht anders, als sich eine doppelte Portion Pommes frites mit Ketchup und Mayonnaise zu bestellen. Mit großer Freude verspeiste sie die fettige Angelegenheit und wischte sich anschließend die Finger an der Serviette ab. Da klingelte ihr Handy.

»Thoralf hier. Bist du noch wach?«

Island ließ ihren Blick über den Strand wandern. Es war noch immer taghell, lediglich im Westen, hinter dem Wäldchen, zog eine orange gefärbte Wolke auf, die den Sonnenuntergang ankündigte.

»Aber hallo«, sagte sie, spürte aber sofort, dass der Erste Kriminalhauptkommissar nicht zum Spaßen aufgelegt war.

»Im Ostuferhafen hat es einen Zwischenfall mit zwei Toten gegeben«, sagte er ernst.

»Ich bin noch am Strand, fahr aber gleich los«, sagte sie automatisch.

»Warte mal.«

»Warum?«

»Am Fährterminal soll es eine Schlägerei zwischen Lkw-Fahrern gegeben haben. Dabei ist der Fahrer eines Gefahrguttransporters auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen. Außerdem ist ein Mitarbeiter der Fährlinie gestorben, der als Einweiser arbeitete.«

»Zwei Tote bei einer Schlägerei?«, fragte Island ungläubig.

»Soweit wir wissen, ist aus dem Gefahrguttransporter Flüssigkeit ausgelaufen. Die Feuerwehr ist mit dem Chemiebekämpfungstrupp der Ostwache vor Ort. Die haben den Tank hoffentlich bald abgedichtet und das ausgelaufene Zeug beseitigt. Zwei weitere Personen sind offenbar mit dem Gift in Kontakt gekommen und auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich fahre gerade mit Dutzen rüber zum Hafen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Es ist sicher nicht schlau, wenn du da hinkommst.«

Im Hintergrund hörte Island einen deutlichen Unmutslaut. Jan Dutzen schien über den Verkehr zu fluchen und auf das Lenkrad einzudreschen. Island vermutete, dass ihre beiden Kollegen gerade auf dem Ostring unterwegs waren, der auch am späten Abend immer noch dicht befahren war.

Island stopfte die Pommes-frites-Schale in einen überquellenden Mülleimer am Zaun des Minigolfplatzes. »Ich bin in zwanzig Minuten da«, sagte sie, ohne nachzudenken.

Bruns ließ sie gar nicht ausreden. »Ich muss dich wohl nicht erst auf das Mutterschutzgesetz aufmerksam machen. Mit dem Giftzeug da ist nicht zu spaßen.«

»Okay.« Natürlich war sie nicht versessen darauf, mit einem sechs Monate alten Baby im Bauch an einen toxischen Ort zu fahren. Außerdem würde sich die Polizei sowieso im Hintergrund halten, bis die Feuerwehr die Gefahr beseitigt hatte. Allerdings würde sie bei den nachfolgenden Ermittlungen kaum richtig beteiligt sein, wenn sie die Lage nicht in Augenschein nehmen konnte. Das verursachte ihr schon jetzt ein unangenehmes Gefühl von Unzulänglichkeit.

»Wenn es dich tröstet«, sagte Bruns, »hätte ich was anderes für dich.«

»Und zwar?«

»Ich habe gerade Hauptmeister Stark von der Polizeistation in Achterwehr in der Leitung und würde ihn gern zu dir durchstellen. Es gibt bei ihm gewisse Unklarheiten.«

»Bitte«, sagte Island und lauschte dem Klicken im Lautsprecher.

»Stark.« Die Stimme klang nasal.

»Island, Mordkommission. Worum geht’s?«

»Ich befinde mich im Dorf Groß Nordsee im Haus von einer Frau Marxen. Die Dame hat uns vor einer Stunde angerufen und uns gebeten, bei ihr vorbeizukommen. Sie hat heute Morgen an der Badestelle am Flemhuder See einen Toten gesehen, sagt sie.«

»Und?«

»Wir sind zusammen mit Frau Marxen zu der fraglichen Stelle gefahren, aber da war niemand.«

»Na, dann war der wohl doch nicht so tot, wie er aussah«, meinte Island spöttisch.

»Kann sein. Ich frag mich aber trotzdem, ob wir noch was tun sollten?«

»Sie haben alles gründlich abgesucht?«

»Selbstverständlich. Aber außer einem blutbesudelten Handtuch haben wir nichts gefunden.«

»Sie haben das Handtuch gesichert?«

»Es liegt in einem Müllsack in meinem Kofferraum.«

»Sonst noch irgendetwas?«

»Nein.«

»Kein platt gedrücktes Gras, wo das Handtuch gelegen hat? Und keine sonst irgendwie auffälligen Spuren?«

»Nichts.«

»Glauben Sie, dass an den Beobachtungen der Zeugin was dran ist?« Island war etwas außer Atem geraten, denn sie erklomm gerade die Anhöhe zum Falckensteiner Parkplatz.

Hauptmeister Stark zögerte wieder. Er ging offenbar in einen anderen Raum, denn als er leise antwortete, umgab seine Stimme ein starker Hall. »Die gute Frau hat, gelinde gesagt, eine ganz schöne Fahne, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Sie ist betrunken?«

»Also, lallen tut sie nicht, aber nüchtern ist sie auch nicht.«

»Na, dann«, meinte Island. »Sagen Sie der Zeugin, ich komme gleich morgen früh bei ihr vorbei. Hoffentlich ist sie da wieder nüchtern.«

»Natürlich. Sollen wir weiter nach dem angeblichen Toten suchen?«

»Gehen Sie bitte noch einmal das Gelände ab, bevor es ganz dunkel wird. Nehmen Sie Taschenlampen mit, und sperren Sie die Augen auf. Wenn Sie irgendetwas Bemerkenswertes finden, rufen Sie mich an, ja? Konnte Frau Marxen den Mann denn näher beschreiben?«

»Um die dreißig soll er gewesen sein. Mit hellen, krausen Haaren, aber dunkler oder zumindest gebräunter Haut.«

»Ein Farbiger?«

»So genau wollte unsere Zeugin sich nicht festlegen.«

»Wird jemand, auf den diese Beschreibung passt, in Ihrem Zuständigkeitsbereich vermisst?«

»Sieht nicht so aus«, antwortete Stark und schnäuzte sich.

»Dann sprechen wir uns morgen früh wieder«, sagte Island, deren Tatendrang im Laufe des Telefonats auf null gesunken war. Sie hatte ihren Wagen erreicht und warf den Rucksack auf den Rücksitz. Während sie sich mühsam hinter das Steuer quetschte, rülpste sie ungeniert.

6

Als Olga Island am nächsten Morgen um halb sechs in ihrer Wohnung in der Yorkstraße erwachte und mit einer Tasse Ingwertee gegen die morgendliche Übelkeit ins Wohnzimmer hinüberging, fielen die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf die Dieffenbachie und ließen die gesprenkelten Blätter hellgrün aufleuchten. Island hatte die Pflanze vor einer Woche mit nach Hause genommen, denn sie konnte nicht mit ansehen, wie das vernachlässigte Gewächs im Besprechungszimmer der Mordkommission einen langsamen, sommerlichen Vertrocknungstod starb. Und bisher hatte sich noch keiner beschwert, dass die Dieffenbachie nicht mehr an ihrem Platz stand. Wahrscheinlich war es überhaupt noch niemandem aufgefallen.

Kriminalkommissarin Karen Nissen war die Einzige, die der Pflanze ab und zu mal Wasser gab, aber sie war für drei Wochen mit ihrer Familie zu ihren Schwiegereltern nach Fehmarn gefahren. So lange würde die Dieffenbachie nun Ferien auf Islands Fensterbank machen.

Wenn es aber im Ostuferhafen tatsächlich zwei Tote und mehrere Verletzte gegeben hatte, würde der Erste Hauptkommissar Thoralf Bruns die Urlauber Nissen und Taulow umgehend in den Dienst zurückholen. Denn die Mordkommission Kiel war ein kleines Dezernat, und bei so einer Großlage wurde jeder Mitarbeiter gebraucht.

Island stellte das Fenster auf Kipp und schaltete das Radio ein. Ein Oldie aus den Siebzigerjahren säuselte ihr in die Ohren. Sie streckte sich auf dem Sofa aus, trank in kleinen Schlucken den Tee und blätterte in der Zeitung. Frische, kühle Luft strömte durch das Fenster. Island dachte daran, dass sie am späten Nachmittag einen Ultraschall­termin bei ihrer Frauenärztin hatte, den sie nicht vergessen durfte. Um sechs Uhr kamen die Radionachrichten und holten sie unsanft in die Realität zurück.

»Auf dem Gelände des Ostuferhafens in Kiel hat es gestern Nacht einen schweren Zwischenfall gegeben«, berichtete der Nachrichtensprecher. »Kurz vor der geplanten Abfahrt einer Fähre nach Kotka in Finnland starben unter noch ungeklärten Umständen zwei Menschen, mehrere Personen wurden leicht verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Wie unserem Sender bekannt wurde, ist aus dem Tank eines Gefahrguttransporters eine hochgiftige Substanz ausgetreten. Es handelt sich um Toluol, einen Stoff, der unter anderem bei der Herstellung von Kunststoffen verwendet wird. Die Kieler Feuerwehren und Rettungsdienste waren bis in die Morgenstunden im Einsatz. Laut Aussage des Feuerwehreinsatzleiters Jörg Pettersee lag zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung für die umliegenden Wohngebiete vor. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Personen mit der Flüssigkeit in Kontakt gekommen sind. Alle Menschen, die sich gestern im Ostuferhafen aufgehalten haben und an Symptomen wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen leiden, werden dringend gebeten, einen Arzt aufzusuchen.«

Eine Dreiviertelstunde später schloss Olga Island ihr Rad im Hof der Bezirkskriminalinspektion an und machte sich auf den Weg in den dritten Stock. Obwohl sie die Stufen langsam hinaufstieg und auf jedem Treppenabsatz eine Pause einlegte, musste sie schnaufen.

Im Treppenhaus kam ihr Jan Dutzen entgegen. Er trug eine verwaschene Jeans und ein altes, grünes T-Shirt mit der Aufschrift »Polizei«, ein Relikt aus Zeiten, als die Schleswig-Holsteinische Polizei ihre Dienstkleidung noch nicht auf die Farbe Blau umgestellt hatte. Es waren seine Wechselklamotten aus dem Spind im Keller, und Island schloss daraus, dass er die Nacht durchgearbeitet hatte. Das alte Polizei-T-Shirt spannte etwas über seiner Brust. Das mochte daran liegen, dass er vor einiger Zeit angefangen hatte, exzessiv Kampfsport zu treiben.

Ende der Leseprobe