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Ein Schädel ohne Skelett, eine Leiche ohne Kopf... Neu-Neuenbrück, eine kleine Stadt im Schatten einer viel größeren, irgendwo im Rheinland. Nicht nur im Tangokurs, auch bei seinen Ermittlungen steht Kant, der leitende und leicht depressive Kommissar, vor einigen Rätseln. Die makabren Fundstücke haben nichts miteinander zu tun, die Fälle schon - irgendwie. Viel Arbeit für Kant und sein Team, in dem auch nicht alles rundläuft. Dazu ein Psychopath im Frühstadium, eine Vertrauenslehrerin auf Abwegen, große Lieben am Grill und hinter Glas, Geister aus der Vergangenheit, die niemand rief, ein total hippes Bauprojekt und ein paar sehr alte Steine ... ... Mord und mehr im Speckgürtel
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Peter Strotmann wurde in Recklinghausen geboren, wo er auch aufwuchs. Zum Studium – Theater-, Film-, Fernsehwissenschaft, Germanistik, Philosophie – wechselte er nach Köln, dort arbeitete er später unter anderem als Redakteur, Journalist und Drehbuchautor. Inzwischen ist er als Deutschdozent tätig und schreibt Bücher. 2012 erschien der Jugendroman Aber sonst geht’s mir gut, derzeit ist er gemeinsam mit Annette Neubauer Autor der Krimireihe um die Kölner Ermittlerin Antje Servatius: Die Kommissarin und der lange Tod (2021) und Die Kommissarin und die blutigen Spiegel (VÖ Juli 2022, beide bei Lübbe). Und wenn die Umstände es erlauben, tanzt er Tango.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Der Ball flog in hohem Bogen über den rostigen Fangzaun und verschwand irgendwo zwischen den Bäumen und Büschen, welche die steile Böschung dahinter zu einem undurchdringlichen Dschungel machten. Sofort war klar, wer ihn holen würde. Das Schreien und Schimpfen der Jungen auf dem matschigen Bolzplatz verstummte, und alle schauten ihn an. Maxi. Maxi, den sie immer als Letzten wählten, weil das einzige, was er draufhatte, Danebenschießen war. Manchmal, wenn die Zahl ungerade war und ohne ihn zwei gleich starke Mannschaften zustande kamen, wurde er auch gar nicht gewählt. Dann lümmelte er an der Seitenlinie herum und durfte höchstens die Bälle holen, die ins Aus geschossen wurden. Trotzdem harrte er immer bis zum Spielende aus. Er wollte dazugehören. Und wenn etwas noch langweiliger war als allein an der Seitenlinie rumzuhängen, dann allein zu Hause rumhängen.
Heute hatte Maxi mitspielen dürfen. Aber auch nur, weil Jan, der sonst immer der Erste war, der gewählt wurde, Hausarrest hatte; sein Klassenlehrer hatte ihn angeblich beim Rauchen erwischt. Und Maxi hatte wieder nur danebengeschossen. Wenn er gut drauf war, traf er den Ball auch mal wie Toni Kroos. Glaubte er jedenfalls. Toni Kroos war sein großes Idol. Heute war er nicht gut drauf. Einige Male hatte er sogar danebengetreten, neben den Ball nämlich. Am Ende hatten nicht mehr nur die aus der anderen Mannschaft hämisch gejohlt, sondern sogar die Mitspieler. Die Höchststrafe.
Maxi setzte sich in Bewegung, widerwillig, aber auch erleichtert, weil er für ein paar Sekunden den abfälligen Blicken entkam. Über die rote Asche, die längst ihre Spuren in seinen Klamotten hinterlassen hatte, auf der dunklen Jeans, noch mehr auf dem Toni-Kroos-Trikot, seine Mutter würde wieder stocksauer sein, trabte er Richtung Ecke und um den Metallpfosten herum, der den altersschwachen Maschendrahtzaun mühsam aufrecht hielt. »Gib Gas, Balljunge!«, hörte er noch, bevor er ins Unterholz abtauchte. Jan hatte ihn vor ein paar Wochen so getauft. Seitdem nannten ihn alle ›Balljunge‹.
Im trüben Untergrund der Böschung war es noch nasser als auf dem Platz. Der nieselige Mairegen, der schon den ganzen Tag über der Siedlung und dem Platz niederging, hatte alles durchtränkt, nicht nur die Zweige und Äste und Blätter, auch den Boden, auf dem noch das Laub vom letzten Herbst moderte, und das Wurzelwerk, das an vielen Stellen frei lag. Ein dicker, üppig grüner Farnwedel wischte ihm wie ein Waschlappen über das Gesicht, als er in die Hocke ging und sich suchend umschaute. In der schmalen Rinne, die sich am Fuß des Hangs gebildet hatte, stand brackiges Wasser. Hier sammelte sich früher oder später alles, was das Gefälle nicht halten konnte; schmutzige Bierdosen, zusammengeknüllte Zigarettenpackungen und in der Regel auch die Bälle, die in der Böschung landeten. Aber jetzt konnte Maxi nichts entdecken. Er würde weiter nach oben müssen. Marc – das war derjenige, der immer als Zweiter gewählt wurde – hatte wirklich einen Mordsschuss abgelassen.
Er zerkratzte sich die Hände, als er nach Zweigen und Ästen griff, um sich die Böschung hochzuarbeiten. Immer wieder musste er in den morastigen Boden packen, um nicht den Halt zu verlieren. Die Fußballschuhe hingen wie nasse Säcke an den Füßen. Natürlich hatte er das Imprägnierspray nicht benutzt, das seine Mutter ihm hingestellt hatte. Sie würde mehr als stocksauer sein. Vom Platz drangen Rufe hoch. Was die Jungs riefen, konnte er nicht verstehen, aber sie klangen ungeduldig.
Balljunge. Dabei war auch Maxi nicht sein richtiger Name. Aber wer machte sich schon die Mühe und sagte immer Maximilian? Bis vor kurzem hatten sie ihn Mini genannt in der Schule, weil er einen halben Kopf kleiner war als der Rest. Dann fing er zum Glück an zu wachsen. Mini. Da war Balljunge ja fast besser. Aber auch nicht richtig gut.
Und vom Ball weiter keine Spur. Maxi merkte, wie er ins Schwitzen kam. Er wusste nicht, dass die Böschung weiter oben so steil war; so hoch hatte er noch nie kraxeln müssen. Dabei war der ›alte Berg‹, wie sie ihn nannten, eigentlich nur ein Hügel. Er schnaufte, als er schließlich auf dem Waldweg ankam, der an den letzten Häusern der Siedlung begann und sich hier, zehn, zwölf Meter über dem Bolzplatz, in einem langen Bogen um den Hügel zog, an ein paar Kleingärten vorbei, wo sich bei diesem Wetter auch keiner rumtreiben würde. Weiter hinten, schon außer Sicht, nahm der Weg den letzten Schwung nach oben und verschwand im Wald. Dann kam lange nichts mehr, bis zur Autobahn, wo es sogar eine Unterführung für den Weg gab, und dann kam die Bundesstraße. Aber so weit war Maxi bisher nur einmal gewesen, mit seinem neuen Mountain Bike.
Während seiner Suchaktion waren die Regenwolken noch dichter geworden. Es sah aus, als wolle es schon dunkel werden. Viel zu früh. Und unten warteten die Jungs. Er hörte sie herummaulen. Da sah er den Ball endlich. Direkt am Rand der halb zugewachsenen Fahrspur, kaum zu erkennen im Zwielicht, auch weil er weitgehend von dem großen ledrigen Blatt einer Bodenpflanze verdeckt wurde. Aber die helle Farbe und der runde Umriss zeichneten sich deutlich ab. Maxi beschloss, die Aktion abzukürzen. Er würde das Leder nicht brav nach unten tragen. Er würde es mit einem sauberen Schuss zu den anderen befördern, damit die schon mal weiterspielen konnten. Er nahm Maß. Schaute auf das Feld, auf den Fangzaun, dessen Maschen wie ein blasses Muster über dem Aschrot des Platzes lagen. Bis hier oben reichte der Zaun nicht. Es war also zu machen. Maxi nahm Anlauf.
Diesmal traf er den Ball. Vielleicht lag es an seinem Ärger über den verkorksten Nachmittag, an der Angst vor dem Stress mit seiner Mutter, aber er brachte den Vorderfuß sauber unter die Kugel und erwischte sie perfekt. Vollspann. Toni würde das auch nicht besser hinkriegen. Es tat ein bisschen weh, als er den Ball traf. Er musste schwerer geworden sein – wahrscheinlich die Nässe, nach dem ganzen Regen. Aber er flog, flog wie er den ganzen Tag noch nicht geflogen war. Ein echter Sonntagsschuss. Ein tückischer Flatterball, der über den Zaun eierte, über das gegnerische Tor, das Maxi die ganze Zeit so verfehlt hatte, und mit einem dumpfen Ploppen im Strafraum landete, fast bei den Jungs. Maxi schaute gar nicht mehr hin, wie weit er noch rollte. Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung machte er, dass er wieder auf den Platz kam. Während er die Böschung halb herunterlief, halb -schlidderte, die Jeans war jetzt endgültig hin, hörte er das Johlen der anderen. Vielleicht war seine Zeit als Balljunge ja jetzt vorbei. Dann ging das Johlen in lautes, abgehacktes Schreien über. Als er die letzten Büsche hinter sich hatte und um den Zaunpfosten bog, jetzt ganz lässig, hörte er gar nichts mehr, es war still auf dem Feld. Totenstill. Die Jungs standen in großem Abstand vom Ball. Wie eine Mauer beim Freistoß, aber noch weiter weg. Marc hatte sich abgewandt und krümmte sich, als ob er kotzen würde.
Als Maxi näherkam, sah er auch, warum.
Der Ball war gar kein Ball.
***
Kant merkte, dass er schon wieder auf die Säule zusteuerte.
Die Säule war nun wirklich nicht dick, und sie stand mitten im Raum. Also warum, überlegte Kant, während sich allmählich ein weiterer Schweißtropfen auf seiner Nasenspitze bildete, warum konnte er nicht da tanzen, wo die anderen tanzten, auf der Außenbahn, an den Wänden entlang? Warum landete nur er immer wieder mitten im Raum, bei der Säule? Als ob irgendeine Anziehung, eine unsichtbare Kraft von ihr ausginge.
Das Einfachste wäre gewesen, einen großen Bogen zu machen. Aber dann hätte er eine Kurve tanzen müssen. Und Kurven konnte Kant noch nicht. Er war vollauf damit beschäftigt, geradeaus zu gehen, ohne über die eigenen Füße zu stolpern. Oder über die der Partnerin. Oder vor die Knie der Partnerin zu stoßen. Zusammenstöße mit fremden Knien konnten recht schmerzhaft sein, wie er schon festgestellt hatte. Für alle Beteiligten.
Nein, Kant konnte noch keine Kurven. Kurven lernte man wahrscheinlich erst bei den Fortgeschrittenen. Und das hier war ein Anfängerkurs. Tango für Anfänger, erste Stunde.
Zu Beginn hatten sie gehen müssen. Da hatten sie sich im Kreis aufgestellt, in diesem Raum tief im Bauch eines Bürgerzentrums, ein Raum, der keine Fenster hatte – das einzige Glas war eine komplett verspiegelte Wand – und den diskreten Charme einer Turnhalle atmete. »Tango ist eigentlich nur Gehen«, hatte Diego, der Tanzlehrer, gesagt. Also waren sie gegangen, alle sechzehn Anfänger. Zunächst auf der Stelle, in einem großen Kreis. Einen Schritt vor, das andere Bein beiziehen, Fußwechsel, dann wieder zurück, Fußwechsel, und wieder vor und wieder zurück und vor und zurück und vor und zurück. Am Ende war Kant in einer Art Trance angelangt.
Dann waren sie im Gänsemarsch gegangen, hintereinander, und Diego – Mitte dreißig, groß und schlank, was auch sonst, die lockigen dunklen Haare lässig zu einem Schwanz geknotet, bestimmt ein Argentinier, Kant kannte nur einen weiteren Diego, und der war Argentinier – hatte einen Tango gespielt und im Takt dazu geklatscht. Pam-pam-pam!
Da hatte Kant die Kurve noch gekriegt. Aber da war er auch noch allein unterwegs. Die Schwierigkeit hatte eher darin bestanden, dem Vordermann nicht in die Fersen zu treten. Die Teilnehmer am Gänsemarsch waren verschieden schnell. Lücken rissen auf, oder es entstand plötzlich ein Stau, weil Tango eben nicht nur Gehen war, sondern Gehen im Takt, was die Sache erheblich verkomplizierte. »Stellt euch vor, morgens ihr geht zum Bäcker, Brötchen holen«, hatte Diego in seinem manchmal etwas holprigen Akzent gesagt. Aber wer holte seine Brötchen schon im Zweivierteltakt? Also entstanden Staus. Und Kant achtete bald weniger auf Diegos Pam-pam-pam als auf die Hacken des Vordermanns. »Ihr führt nicht mit den Armen«, hatte Diego den Männern weiter erklärt, als sie wieder im Kreis standen. »Das eine Bein, das ...«, er suchte kurz nach dem Wort, »... das Standbein transportiert die Mitte vom Körper und den Oberkörper in den Schritt. Aber das Spielbein bleibt dabei unter dem Oberkörper. Eso.« Und er hatte vorgemacht, wie der Tangotänzer zu gehen hatte, bei jedem Schritt mit rechts die linke Schulter nach vorne schiebend, die rechte bei jedem Schritt mit links. Während der Oberkörper vorwärts drängte, folgten die Beine nur zögernd, als müssten sie einen Widerstand überwinden, als würde er durch hüfthohes Wasser waten. Trotzdem war die ganze Bewegung von energischer Eleganz. Kant guckte nur. Sein Brötchenholen sah anders aus.
Dann hatte Diego noch ein paar Sachen zur Achse gesagt. Die Achse schien wichtig beim Tango. Und so hatten sie versucht, auf den Fußballen zu stehen und zu gehen und nicht auf den Fersen; eine Übung, die Kant zumindest zu der Erkenntnis brachte, dass er den größten Teil seines bisherigen Lebens auf den Fersen verbracht hatte. »Eso«, hatte Diego gesagt, das E besonders dehnend. Aber für die Achse sei es auch wichtig, dass man in Höhe der Gürtellinie noch etwas einknicke und das Becken nach hinten kippe. Eso. Und so hatten sie dagestanden, acht Männer, acht Frauen, wie Besenstiele, die in der Mitte einen Knacks hatten. Besenstiele ohne jeden Halt.
Irgendwann meinte Kant sie trotzdem gefunden zu haben, die Achse. Das jedoch war der Moment, wo seine Partnerin dazu kam, die bis dahin, wie die anderen Frauen, für sich geübt und gekämpft und gelitten hatte. Und zu zweit die Achse zu finden und zu halten, war noch einmal etwas anderes. Das war der Moment, wo Kant zu schwitzen begonnen hatte.
Dann war auch noch die Säule in Spiel gekommen.
Kant machte, während die Säule unaufhaltsam näher rückte, das, was er schon zwei-, dreimal gemacht hatte. Kurz vor der finalen Kollision brach er ab; als hätte er einen Riesenfehler gemacht, den er nur beheben konnte, indem er aufhörte zu tanzen. Dann bugsierte er sich und die Partnerin mit, wie er meinte, unauffälligen Seitenschritten zurück auf die Außenspur.
Das rettete ihn auch jetzt.
»Entschuldigung«, sagte er, und der Schweißtropfen tropfte von der Nase auf seine Partnerin. Nicht irgendwohin, sondern genau auf ihre rechte Brust. Es war nicht der erste Schweißtropfen. Der Stoff der roten Bluse färbte sich allmählich dunkel, und unter dem Fleck begann sich der BH abzuzeichnen.
Kant ermahnte sich, nicht so oft runterzugucken. Unter Umständen verstand sie das falsch. »Entschuldigung«, sagte er noch einmal und dachte sofort: auch nicht besser.
»Kein Problem«, sagte sie. Aber er meinte, ihr Tonfall sei nicht mehr ganz so unproblematisch wie zu Beginn. Sie hieß Wiebke, und er hatte sie über den Kursveranstalter vermittelt bekommen. In seinem Leben gab es sonst niemanden, der Tango lernen wollte. In ihrem wohl auch nicht. Sie übten und litten weiter.
Irgendwann stand Diego bei ihnen.
»Chico!« Der Lehrer tippte ihm an den Brustkorb. »Der Impuls geht von hier aus. Nicht vom Spielbein.«
Kant begann sein Spielbein zu hassen. Er stellte sich einen Impuls im Brustkorb vor und machte einen Schritt.
Diego bückte sich und begann an seinen Beinen zu zupfen. »Und die Füße nicht zu hoch. Am Boden.«
Schritt zwei. Kant versuchte die Füße am Boden zu halten.
»Aber nicht schleifen«, sagte Diego. »Schleifen ist nicht gut.«
Schritt drei. Kant versuchte, die Füße am Boden zu halten, ohne zu schleifen, merkte aber, dass sein Brustkorb wieder in sich zusammenfiel.
»Und die Füße kommen zusammen«, ließ sich Diego von unten vernehmen. »Schließen. Nach jedem Schritt.«
Schritt vier. Von einem Zusammenkommen der Füße konnte keine Rede sein. Diego richtete sich auf, klopfte ihm auf die Schulter (was wohl als Aufmunterung gedacht war, Kant aber wie die endgültige Besiegelung eines Todesurteils vorkam) und ging weiter zum nächsten Opfer. Kant spürte den müden Blick seiner Partnerin. Und er spürte ein Kitzeln auf der Nasenspitze. Ein weiterer Schweißtropfen kündigte sich an.
Kant machte den nächsten Schritt. Mit dem falschen Fuß. Wiebke zuckte zusammen, als er das Knie traf, aber sie sagte nichts. Kant wechselte das Gewicht und machte zwei schnelle Schritte – womit er dem Paar, das vor ihnen übte, gefährlich nahekam.
Der Schweißtropfen fiel auf die Brust.
»Entschuldigung«, sagte er schnell und machte die üblichen unauffälligen Seitenschritte – womit er seine Partnerin direkt in die Säule führte.
Als Kant wenig später auf einer der Holzbänke zwischen den Garderobenständern saß, wo man sich umzog, war Wiebke längst verschwunden, grußlos, sich den schmerzenden Arm haltend.
»Dann bis zum nächsten Mal«, sagte ein Mann, der eine Krawatte trug und von einer stark geschminkten Frau begleitet wurde. Beide waren ihm die ganze Zeit nicht aufgefallen. Keiner der anderen Tänzer war ihm aufgefallen, außer als Hindernis.
Kant starrte, den Kopf gesenkt, auf seine Schuhe. Ein bisschen Putz war auf das Leder gerieselt, so heftig hatte der Ellbogen seiner Partnerin die Säule getroffen.
Welches nächste Mal?, dachte er.
Erst als er das Vibrieren seines Handys in der Hosentasche spürte, ging ihm auf, dass er während der anderthalb Stunden Kurs kein einziges Mal an seinen Job gedacht hatte. Nicht an den Job, nicht an Rut.
Immerhin.
»Ja?«
»Wir haben einen Toten«, sagte Voigt. Die Stimme seines Assistenten quäkte noch mehr, wenn sie durch ein Mobiltelefon kam. »Na ja, einen Teil von einem Toten.«
***
Er konnte ihr Parfüm riechen, schwer und blumig, als er sich zu ihr hinunterbeugte und leicht in ihren Hals biss.
Sie zuckte zusammen. »Bist du wahnsinnig?! Soll das jeder sehen?«
»Okay.« Er richtete sich folgsam wieder auf. Jetzt roch er etwas anderes. Süßlich, leicht vergoren. Es mussten die Äpfel sein, die im Vorraum in einer Kiste lagerten. Der Rest der Ernte noch vom letzten Herbst, von dem mickrigen Apfelbaum ganz hinten im kleinen Garten.
Sie rührte sich unter ihm, ließ ihr Becken kreisen, die Augen halb geschlossen. »Komm.« Er stieß einmal heftig zu, dass das Sofa knarzte, sie stöhnte auf. Er zog tief die Luft ein und fragte sich, ob er später, wenn er einen überreifen Apfel roch, immer an Sex denken würde. Oder beim Sex immer überreife Äpfel riechen. Sollte es ja geben, Konditionierung oder so, er hatte mal von so was gelesen.
Während er sich ein wenig aus ihr zurückzog und dann erneut zustieß, gingen seine Augen zu der Uhr auf der Anrichte. Sie folgte seinem Blick.
»Er kommt nicht vor acht zurück. Und wenn er kommt, kommt er nicht hierher.« Sie fuhr ihm mit den Fingern über den glatten Bauch, kniff ihn knapp über dem Nabel. »Also Zeit genug.«
Er schaute kurz nach draußen, durch die schlierigen Scheiben. Das Fenster stand auf Kipp, ihm fiel auf, dass man nur noch den nachlassenden Regen hörte. Das Geschrei vom Bolzplatz war verstummt. Er hatte die Jungs vorhin gesehen, als er sich durch den Wald den Hügel hochstahl. Ein leichter kühler Luftzug strich über seinen schwitzenden Rücken. Er legte die Hände, seine viel dunkleren Hände, auf ihre hellen Brüste. Sie zog sie hoch zu ihrem Hals, so dass die Fingerkuppen an den Kieferansätzen lagen und die Daumen neben ihrem Kehlkopf, unter dem Kinn. Er drückte leicht zu. Sie schluckte, ihr Atem ging schwerer. Er wusste, dass sie das anmachte. Er stellte sich vor, er würde immer weiter zudrücken, bis sich helle Abdrücke in ihrer Haut bildeten, bis sie zu röcheln aufhörte und sich nicht mehr rührte. Er fragte sich, ob ihn das anmachen würde. Dann nahm er die Hände weg, ließ sie nach unten wandern, griff in ihre immer noch jugendlich festen Pobacken. Sie grinste und drängte sich ihm weiter entgegen.
»Hast du dich eigentlich auf die Klausur vorbereitet?«
»Klar, was sonst?«
»Gut. Glaub nicht, dass du irgendeine Vorzugsbehandlung kriegst.« Sie schloss ihre Schenkel um seine Hüften und zog sie fest wie einen Schraubstock. »Da kannst du noch so gut ficken.«
***
Der Totenschädel lag am Spielfeldrand auf einem hüfthohen Kunststoffkasten, in dem Netze aufbewahrt sein mochten oder die Kreide und die Gerätschaften, mit denen man die Linien nachzog, Kant wusste es nicht so genau, dafür war er viel zu selten auf Fußballplätzen. Der Schädel lag da wie eine Trophäe oder wie ein Objekt der Anbetung. Wer immer ihn dorthin gelegt hatte, hatte sich immerhin die Mühe gemacht, zuerst eine Plastikfolie auf den Deckel der Box zu legen. Allerdings war diese Art der Zurschaustellung nicht sehr feinfühlig gegenüber den Jungen, die in gehörigem Abstand herumlungerten und abwechselnd weg- und wieder hinguckten – die Faszination des Schreckens –, mit Gesichtern, die blasser als blass waren. Und dem kleinen Einmaleins der Tatortsicherung entsprach sie schon gar nicht. Wobei: Welcher Tatort? Ob es sich hier um einen Tatort handelte, war noch zu klären, oder ob, wenn man schon dabei war, überhaupt ein Gewaltverbrechen vorlag. Vorerst lag nur ein völlig skelettierter Schädel vor.
Kant ging ein wenig in die Knie, um das Objekt des Schreckens eingehender zu betrachten – quasi auf Augenhöhe, aber das konnte man in diesem konkreten Fall ja schlecht sagen. Das Knochenwerk schimmerte bleich im Licht der Abendsonne, die sich gerade mühsam durch die Wolken kämpfte. Jedenfalls schimmerte es da, wo es frei lag; gute Teile des Schädels waren von rötlichem Matsch, von Gras und Blättern bedeckt. Ein besonders großes Blatt hatte sich genau auf die linke Augenhöhle gelegt, wie eine Augenklappe. Eine Requisite aus Fluch der Karibik, dachte Kant unwillentlich.
»Ist der echt?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon wusste.
»Echt echt«, entgegnete Voigt, der nie um ein filigranes Wortspiel verlegen war. »Als ich den Anruf kriegte, dachte ich ja erst: ein Halloween-Überbleibsel, aber nee ...«
Kriminalhauptkommissar Lars Voigt zupfte mit säuerlicher Miene an seiner Regenjacke herum, die ihm ein wenig zu eng saß, vor allem, weil er darunter noch eine Uniformjacke trug. Grün, mit Kordel. Das Schützenfest, ging es Kant durch den Kopf. Das erste mit weiblicher Beteiligung; eine Revolution, wenn man dem Gerede auf der Dienststelle glaubte. Alle waren heute beim Schützenfest. Deshalb lag die Siedlung neben den Plätzen auch so verwaist da.
»Zweifellos echt«, schaltete sich der Mann ein, der neben Voigt stand, etwa vierzigjährig, zu graumeliert für sein Alter, zu braungebrannt für die Jahreszeit. »Echt und mit diversen Frakturen.«
Kant brauchte einen Moment, bis er zu dem Gesicht einen Namen hatte. Und einen Titel: Dr. Vormweg, plastischer Chirurg, Leiter einer kleinen Schönheitsklinik in einer der besseren Gegenden des Ortes. Im Winter hatte Vormweg ein paar Mal in der Direktion Kriminalität erscheinen müssen, um Aussagen zu machen, eine Patientin hatte ihn, nachdem eine Operation gehörig danebengegangen war, jedenfalls nach ihrem Empfinden, wegen Körperverletzung angezeigt. Die Sache war damals im Sande verlaufen. Allerdings hatte dabei niemand Kant um seine Meinung gefragt. Wenn man Kant fragte, hatte Schönheitschirurgie immer etwas von Körperverletzung.
»Und was führt Sie hierhin, wenn ich fragen darf?« Das kam, Kant merkte es sofort, eine Spur schärfer heraus als nötig.
»Eigentlich wollte ich nur meinen Jüngsten abholen.« Vormweg nickte zu dem dreckigen Dutzend verschreckter kleiner Kicker hinüber, zu denen sich jetzt ein dünner, knapp sechzigjähriger Mann mit prononcierter Hakennase gesellte, ebenfalls in Schützenjacke. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich hier bewegte, ließ darauf schließen, dass er zum Verein gehörte. Ein Trainer? Der Platzwart?
»Ich geh mal rüber.« Lars Voigt winkte dem Neuankömmling zu und reckte sich. »Mich um den Jungen kümmern, der das Ding – na ja, gefunden hat. Die Eltern sind unterwegs, aber solange braucht der ja psychologische Betreuung.«
»Sehen Sie hier?« Noch ehe Kant weiter nachfragen konnte, hatte Vormweg aus dem Nichts einen äußerst edel aussehenden Stift hervorgezaubert und deutete auf eine wenige Zentimeter lange Einkerbung an der linken Seite. »Das ist prämortal. Die Fraktur hier dagegen ...», er fuhr auf der anderen Schädelseite eine frische, hellere Schramme entlang, »... die dürfte meiner Einschätzung nach postmortal sein. Da hat der Junge ihn erwischt. Mit seinem Schuss, meine ich.« Vormweg ließ den Stift wieder verschwinden. Immerhin, mit Knochen kannte er sich aus. Vielleicht war sein Traumberuf ja gar nicht Schönheitschirurg gewesen, sondern Rechtsmediziner. Vielleicht sollte sich Kant dafür einsetzen, dass er den Traumjob zumindest nebenberuflich ausüben konnte, es gab im Ort keinen Rechtsmediziner. Praxis für Plastische Chirurgie und Pathologie: Das machte sich bestimmt gut auf jedem goldenen Klingelschild.
Er sah sich um. »Was sagt er, von wo er ihn geschossen hat?«
»Oben von der Böschung.« Der Chirurg zeigte hinter sich. »Über den Zaun.«
»Über den Zaun und bis aufs Spielfeld?!« Kant maß die Entfernung mit den Augen ab und stieß unwillentlich einen leisen, aber anerkennenden Pfiff aus.
»Bis fast zum Strafraumrand. Vollspann. Perfekt getroffen.«
»Und er hat sich selbst nicht wehgetan dabei?«
»Vielleicht kriegt er einen blauen Fleck auf dem Fußrücken. Ein perfekter Schuss, wie gesagt. Allerdings ...«, Vormweg zog bedeutsam die Augenbrauen hoch, »... die seelischen Verletzungen, die man bei einem solchen Erlebnis davonträgt, die stehen natürlich auf einem ganz anderen Blatt.«
Praxis für Plastische Chirurgie, Pathologie und Kinderpsychologie. Noch besser. Kant richtete sich auf. »Ich werde ihn mal befragen. Danke. Aber Sie rühren nichts weiter an, ja?«
»Ich habe doch gar nichts angerührt!«, protestierte der Chirurg, aber Kant stapfte bereits durch den Matsch zu dem blassen, verlorenen Haufen hinüber, der sich jetzt um die beiden Erwachsenen scharte, um Voigt und den Dünnen, der sich gerade umsah und einigermaßen fassungslos »Auf meinem Platz ...« murmelte. Also der Platzwart. Der Besitzerstolz war allerdings nicht ganz angebracht, die ganze Sportanlage wirkte etwas in die Jahre gekommen, sie sollte demnächst generalüberholt werden, hatte Kant irgendwo aufgeschnappt.
Der Unglücksschütze war unschwer daran zu erkennen, dass Voigts Hand auf seinem Kopf ruhte. Psychologische Betreuung eben. Die Finger waren weit gespreizt. Kant musste an eine menschliche Schraubzwinge denken. Oder an das Alien, wie es dem nächsten Opfer ins Gesicht springt, wo es erst mal kleben bleibt wie ein Parasit. Er guckte zu viele Filme. Gerade in letzter Zeit guckte er zu viele Filme. Er hockte sich neben dem Jungen nieder.
»Das ist Maxi«, erklärte Voigt.
Maxi war elf, vielleicht zwölf Jahre alt, er hatte ein verheultes Gesicht und einen starren Blick und rieb sich gerade seinen Fußrücken. Der blaue Fleck war schon unterwegs. Während Kant noch überlegte, was man einen Jungen in dieser Situation fragen konnte – und mehr noch, wie man ihn das fragte –, wischte sich dieser über die Augen und murmelte etwas.
Kant blickte ratlos Voigt an, der zuckte die Schultern. »Ich verstehe die ganze Zeit Vollspann.« Maxi murmelte noch etwas. »Ich glaube, das habe ich jetzt auch verstanden. Toni Kroos?« Maxi nickte.
Kant nickte ebenfalls. Der Schock. Sinnlos, weiterzufragen. Das Wort ›Polizeipsychologin‹ geisterte kurz durch seinen Kopf, unmittelbar gefolgt von der Frage ›Wo sollen wir so was jetzt herkriegen?‹ Nochmals unmittelbar darauf tauchte ein Paar auf dem Weg zwischen den Umkleiden auf, und Maxi stürmte sofort auf sie los.
»Die Eltern«, erklärte Voigt. »Waren auf einer Familienfeier. Haben deswegen länger gebraucht.«
Das erübrigte dann hoffentlich die ohnehin nicht verfügbare Polizeipsychologin. Kant richtete sich wieder auf und betrachtete die anderen Jungen, sehr verschieden von der Größe her, wie das nun mal war für das Alter, lauter begossene Pudel, die jetzt noch verlorener aussahen, als sei ihnen mit Maxi das Zentrum verlorengegangen, der letzte Orientierungspunkt.
»Ich weiß, das war ein schlimmes Erlebnis«, sagte er, »aber ich muss euch trotzdem ein paar Fragen stellen. Also: Habt ihr irgendetwas gesehen oder gehört?«
Die Jungs starrten sich Füße scharrend an, bis einer, der Kleinste von ihnen, sagte: »Da war n Wagen, glaube ich. Oben auf dem Weg.«
»Wann?«
»Stunde, anderthalb Stunden.«
»Genauer kannst du es nicht sagen?«
»Wir haben doch gespielt«, sagte der Junge neben dem Kleinsten.
»Klar. Und wie sah der Wagen aus? Groß, klein?«
»So grau irgendwie«, sagte ein Dritter, der sich offenbar hatte übergeben müssen, jedenfalls hing ihm noch etwas Mageninhalt im Mundwinkel.
»Grau«, wiederholte Kant leicht resigniert.
»Ja, was denn jetzt«, mischte sich der Platzwart ein. »Schwarzgrau, mausgrau?«
»Ist das ne Farbe, mausgrau?«, fragte der Kleinste zurück. Der Platzwart öffnete den Mund zu einer scharfen Entgegnung, aber Voigt hob beschwichtigend die Hand: »Lass gut sein, Horsti.« Er wuchs in seinem Einfühlungsvermögen förmlich über sich hinaus.
Kant schaute zur Böschung hinüber. Von dem Weg war durch das regenfrische grüne Laub tatsächlich nicht viel zu sehen, wahrscheinlich hätte er selbst auch nur grau gesagt. Er wandte sich Voigt zu und fragte, mit Rücksicht auf die Jungen betont unbestimmt: »Und es gibt nur den Schädel?«
»Wie, auch noch Knochen?!«, ging der Platzwart dazwischen. »Das wär ja noch schöner!«
»Ja, genau, Knochen«, knurrte Kant.
»Das können uns wahrscheinlich die Kollegen sagen.« Voigt schaute an Kant vorbei zum Fangzaun, wo soeben zwei Polizeibeamte auf den Platz traten und ihnen zustrebten – in echten Uniformen, sie kamen nicht vom Schützenfest. Heimke und Söders, eine von zwei permanenten gemischtgeschlechtlichen Streifen. Auf dem Revier auch kurz ›GG-Streifen‹ genannt, von irgendjemandem – war das nicht auch Voigt gewesen? – daraufhin zu ›Gehgehgehmirweg-Streife‹ verhunzt. Die beiden sahen aus, als hätte man sie von der Formel-Eins-Übertragung im Gemeinschaftsraum weggeholt. Keiner der Anwesenden sah aus, als würde er hier sein wollen. Kein Wunder. Sonntagnachmittage – auch typisch triste rheinische Sonntagnachmittage – waren nicht dazu da, dass Totenschädel über die Spielanlagen des Tus 48 Neu-Neuenbrück flogen.
»Da oben ist sonst nichts«, sagte Heimke und wischte sich einen einsamen Zweig von der Schulter. »Wir haben aber alles abgesperrt«, ergänzte seine Kollegin, »also da, wo der Junge geschossen hat.«
»Danke. Ihr kümmert euch dann bitte darum, dass alle wohlbehalten nach Hause kommen, ja? Auch der Junge und seine Eltern.« Kant nickte zu Maxi hinüber, der wie ein nasser Sack in den Armen seiner Mutter hing und offenbar immer noch nicht zu längeren Wortbeiträgen imstande war. Der Vater schaute gerade zu ihnen herüber. Kant fand, in dem Blick lag etwas Vorwurfsvolles; als seien sie, die Polizei, schuld an dem, was passiert war. »Wir sehen uns mal oben um«, wandte er sich an Voigt. Die beiden setzten sich in Bewegung.
»Und, gut erholt vom Urlaub?« Voigt hatte die letzte Woche mit Kind und Kegel an der Nordsee verbracht, Kant konnte sich nicht mehr entsinnen, auf welcher Insel.
»Bis vor einer Stunde ja«, entgegnete sein Kollege.
»Entschuldigung, dass sie dich rausgeklingelt haben.«
»Du warst ja nicht zu erreichen.« Voigt klang immer noch unwillig. Er schaute auf Kants Schuhe: »Wo kommst du überhaupt her? Beerdigung?«
Kant folgte dem Blick seines Kollegen. Da, wo Morast und Asche nicht gewonnen hatten, glänzten die Schuhe immer noch schwarz, geputzt für die erste Tangostunde. Kant hatte vergessen, sie zu wechseln, auch der Rest seines Outfits entsprach nicht dem männlichen Schlabberlook – Turnschuhe, Sweatshirts, Jeans –, für den er eigentlich bekannt war. »Familienfeier«, grummelte er ausweichend, »in der Stadt.«
Voigts Stirn kräuselte sich in leichter Missbilligung. Familienfeiern hatte man gefälligst hier und nicht in der Stadt.
Oben musste Kant erst einmal nach Luft schnappen, aber er war nicht annähernd so atemlos wie sein Kollege, der sich schnaufend auf die Knie stützte; unter dem stramm sitzenden weißen Hemd hob und senkte sich der voluminöse Bauch wie ein Blasebalg im Akkord. Unter den vielen Fleischfressern im Ort war Karsten Voigt wahrscheinlich der größte Karnivore.
Die Stelle, von der Maxi seinen Mordsschuss abgefeuert hatte, sah, abgesehen von dem rotgelben Polizeiband, das sie jetzt markierte, völlig nichtssagend aus, so wenig aussagekräftig wie das lockere Unterholz auf der anderen Seite des schmalen asphaltierten Weges. Kant kratzte sich am Kopf. »Den Bereich drüben lässt du bitte auch noch absperren. Je nachdem müssen wir das alles absuchen.« Er spürte den missmutigen Blick des Kollegen, der nun auch noch den Rest seines Familiennachmittags verloren sah, und seufzte. »Absperren heute. Absuchen morgen.«
Auch der Weg selbst gab keine Informationen für sie her. Etwaige Wagenspuren hatte der Regen weggewaschen. Die einstmalige Asphaltdecke musste Jahrzehnte alt sein, sie existierte nur noch in Bruchstücken, war überwachsen, aufgeplatzt, von tiefen Schlaglöchern zersetzt.
»Da kann ein ganzer Kleinwagen verschwinden«, sagte Voigt, als hätte er Kants Gedanken gelesen. »Hier fährt keiner mehr, weil die Löcher so riesig sind. Oder die Löcher sind so riesig, weil keiner mehr hier herfährt.«
Kant hatte keine Lust auf philosophische Sonntagsgespräche, er deutete auf eine Stelle ein paar Meter hügelabwärts, auf dem Seitenstreifen. Ein Reifen hatte sich ins Erdwerk eingegraben, wenn auch etwas seitlich verwischt.
»Als ob da einer ins Schleudern geraten wäre«, sagte Voigt.
»Du meinst, das wäre unser grauer Wagen gewesen?«
»Man weiß ja nie.«
»Weiß man nicht. Man weiß aber auch nicht, ob der Wagen überhaupt was mit dem Schädel zu tun hat. Oder glaubst du, der ist bei dem Bremsmanöver von der Pritsche gehopst? Oder aus dem Laderaum, weil zufällig gerade die Tür offen war?«
Jetzt zuckte Voigt nur noch die Achseln, was so viel heißen mochte wie: ›Ich hab hier schon so viel gesehen ...‹ Oder vielleicht auch: ›Du glaubst mir ja sowieso nicht.‹
»Na gut«, lenkte Kant ein, »mach Fotos. Und dann sollen Heimke und Söders auch noch Gipsabdrücke nehmen.«
»Und was passiert mit dem Schädel?«, fragte Voigt, wieder einigermaßen versöhnt, während er sein Handy aus der Jackentasche holte.
»Geht zur weiteren Untersuchung in die Rechtsmedizin der Universitätsklinik«, sagte Kant und ergänzte, diesmal betont: »In die Stadt. Wie alt ist der Schädel, wo kommen die Frakturen her, haben wir es mit einem Gewaltverbrechen zu tun ...«
»So ein Loch bohrt sich ja nicht mit dem Finger.«
»Wohl kaum. Aber die Frage ist, ob der Doktor Schönheitschirurg recht hat mit seinem prämortal.«
Sie wollten sich gerade an den Abstieg machen, da sahen sie einen einsamen Radfahrer vorsichtig den Weg herunterkommen. Kant korrigierte sich schnell: eine Radfahrerin. Voigt stoppte sie mit einem Handzeichen. »Hallo, Heike!«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kant auch dieses Gesicht unterbrachte. Heike hieß weiter Demandt und war Lehrerin am größten der hiesigen drei Gymnasien. Er konnte alle unterbringen, irgendwann und irgendwie. Es war erschreckend.
Demandt war Mitte dreißig, blond und musste bereits mit einem gewinnenden Dauerlächeln auf die Welt gekommen sein. Außerdem hatten ihr die Gene jene unverwüstliche Jugendlichkeit geschenkt, die alle anderen Frauen ihres Alters neidisch bis zur Raserei machen musste. Bis sie dann von einem Tag auf den anderen genauso alt aussahen, wie sie waren. Wenn nicht älter.
Ihr Dauerlächeln verlor sich jedoch zusehends, als Voigt kurz berichtete, was passiert war, und die pädagogische Wortgewandtheit reduzierte sich auf ein einsames: »Schrecklich!«
Kant schaltete sich ein: »Und was machen Sie hier draußen, Frau Demandt, an so einem Nachmittag?«
Jetzt kehrte ihr Lächeln zurück. »An apple a day keeps the doctor away.« Sie deutete auf den Korb auf ihrem Gepäckträger, auf die prall mit Äpfeln gefüllte Plastiktüte darin, und Kant fiel Weiteres ein: Demandt unterrichtete Englisch. Und sie war Vertrauenslehrerin. »Aus unserem Kleingarten«, fügte die Lehrerin hinzu.
»Ist dir was aufgefallen?«, wollte Voigt wissen. »Hast du was gehört? Zum Beispiel einen Wagen?«
»Wenn ich da oben bin, vergesse ich alles.« Demandt schüttelte den Kopf, dass ihr die Locken auf neckische Weise ins Gesicht fielen. Kant verspürte einen leichten Stich; es war so jugendlich, dass es wehtat.
Er nickte, und Voigt gab den Weg frei. Kant sah ihr nach, wie sie die Straße weiterrollte. Merkwürdig. Sie hatte aufgekratzt gewirkt, die Augen leuchtend, aufgeputscht, wie unter Drogen. Gleichzeitig aber war sie blass gewesen, als wäre ihr ebenfalls ein Totenschädel um die Ohren geflogen. Und so blass war sie nicht erst geworden, als sie hörte, was passiert war. sondern schon, als sie von ihnen gestoppt wurde.
Roda Karamyan war noch nicht ganz aus der Bäckerei, da hatte sie das Brötchen schon wieder aus der Tüte geholt und biss in die Kruste, dass es krachte.
Der Zwischenstopp bei Helmichs Backstube war seit ihrem zweiten Arbeitstag letzte Woche zum morgendlichen Ritual geworden. Wenn sie in der Stadt losfuhr, hatte Roda noch keinen Hunger. Aber acht Kilometer beziehungsweise eine halbe Stunde später – wenn es schlecht lief, 45 Minuten, aber das war bis jetzt nur einmal vorgekommen, sie fuhr ja gegen den Pendlerstrom – war er da, der Hunger.
Sie nahm einen zweiten herzhaften Bissen. Dinkel-Roggen. Roda liebte deutsche Brötchen. Manche Sachen hatten die Deutschen einfach nicht drauf. Sich schön anziehen zum Beispiel, sich richtig in Schale werfen, das konnten sie nicht; die Männer sowieso nicht, aber auch viele der Frauen liefen lieber als Kartoffelsack auf Beinen durch die Gegend. Und wenn sie sich mal rausputzten, sahen sie aus, als hätten sie ein schlechtes Gewissen dabei. Aber Brot und Brötchen, das konnten die Deutschen.
Sie warf einen Blick in den noch dunkelblauen Morgenhimmel, über den lediglich ein paar Wolkenfedern strichen. Möglicherweise – hoffentlich – hatte sich der Mai am Wochenende ausgeregnet. Die Kastanien, die das alte Gebäude auf der anderen Straßenseite überwölbten, strahlten in sattem Grün. Das Backsteingebäude war einmal die Schule gewesen, wie sie in der Bäckerei erfahren hatte; jetzt saß dort ein Teil der Verwaltung. In der kleinen Bank nebenan waren die Jalousien heruntergelassen: ›Liebe Kunden‹, hieß es in einem Aushang an der Tür, ›ab dem 30.4. bleibt diese Filiale leider geschlossen.‹ Zur Linken der Schule stand ein Pavillon, den sich ein Florist mit einem Buchladen teilte, der allerdings, wenn man nach den Auslagen im Schaufenster ging, mehr Geschenkartikel als Bücher verkaufte. Dann kam eine katholische Kirche, neugotisch mit Nachkriegsanbau, dann ein Bio-Supermarkt, dann ein Billig-Laden für alles Mögliche.
Die Straßenseite, auf der sie, Roda, stand, war nicht minder zusammengewürfelt. Helmichs Backstube. Daneben der Salon Hairlich. Nun gut, einen Friseursalon gleichen Namens gab es möglicherweise auch in der Stadt, Provinzcoiffeure hatten kein Monopol auf verunglückte Wortspiele. Vor der Altstadtschänke, deren Name immerhin darauf schließen ließ, dass es hier mal so etwas wie eine Altstadt gegeben hatte, fegte ein Kellner die Hinterlassenschaften der Raucher zusammen. Dann kam ein Kiosk, dann eine Metzgerei, schließlich der Supermarkt, in dem sie gleich einkaufen würde. Wo lag eigentlich das Zentrum von Neu-Neuenbrück? Roda hatte es bis jetzt noch nicht entdeckt. Am Ende gab es keins. Oder das hier, das war das Zentrum.
Sie stellte sich für einen Moment vor, wie es wäre, in diesem Ort zu leben und nicht nur zu arbeiten. Es war nur ein Kaff, aber es war größer als die meisten Städte in ihrer alten Heimat, ganz zu schweigen von den Dörfern. Roda hatte plötzlich das Dorf vor Augen, wo ihre Großeltern gelebt hatten: eine Handvoll Hütten, die sich an den braunen, baumlosen Berghang drückten, dazwischen einzelne Gebüsche und Reste von Mauern und die schiefen Holzmasten der Stromleitung. Das war ein Kaff. Nein, es war weniger als ein Kaff, es war ein Nichts. Ein Nichts, nach dem sie sich hin und wieder zurücksehnte, aus heiterem Himmel, wie jetzt.
Also: Hier leben? Helmichs Dinkel-Roggen-Brötchen jeden Tag? Auch am Wochenende? Roda schob sich den Rest des Brötchens in den Mund und knüllte die Tüte zusammen. Besser doch nicht.
Sie versuchte die zerknautschte Tüte wie jeden Morgen mit einem eleganten Bogenwurf im Mülleimer an der Fußgängerampel zu versenken. Heute traf sie erstmals nicht; die Tüte kullerte auf die Fahrbahn, vor einen Wagen, der sofort – und übertrieben scharf – bremste. Der Fahrer des SUV beugte sich über den Beifahrersitz, reckte sein frisch gebräuntes Gesicht aus dem offenen Fenster und musterte sie kurz: »Habt ihr bei euch keine Mülleimer?«
»Wo ›bei uns‹?« Roda trat, ganz die Ahnungslose, näher.
»Na, am Bosporus oder so. Du weißt schon.«
Das nun wieder. Kurz überlegte Roda, ihren Dienstausweis zu zücken, nur so, als kleines Muskelspiel, dann begnügte sie sich mit dem Du-mich-auch-Grinsen, das sie für Momente wie diesen reserviert hatte, und beugte sich zum Fenster herunter: »Geografie Sechs! Setzen!«
Der Fahrer glotzte sie an, er hatte nichts verstanden, natürlich nicht, dann wandte er den Blick ab. »Ayse, verdammte ...«, meinte Roda zu hören, aber da mochte sie sich auch geirrt haben, gerade rauschte mit lautem Hupen ein Wagen an ihnen vorbei.
Egal, dachte sie, während sie dem SUV nachsah, man sieht sich immer zweimal. Erst recht in einem Kaff wie diesem. Roda hob die Brötchentüte von der Fahrbahn auf und holte erneut aus.
Diesmal saß der Wurf auf Anhieb.
***
Kant wollte nach dem verregneten Sonntag etwas Sonnenlicht auf seinen Arbeitsplatz lassen, er zog an der Schnur, um den Lamellenvorhang zur Seite zu ziehen. Das verdammte Ding klemmte mal wieder. Dabei waren die Vorhänge noch das Neueste in ihrem Großraumbüro (das auch nur so hieß, weil es das größte Büro auf der Etage war). Er zog noch einmal, und noch einmal, bis es oben die Schnur aus der Verankerung riss. Kant unterdrückte einen Fluch und griff stattdessen zur Kegelkette. Immerhin ließen sich die Lamellen auf quer stellen. Morgenlicht in schmalen Streifen.
Voigt dagegen saß im schönsten Sonnenschein. Den Telefonhörer zwischen Halsbeuge und Schulter geklemmt, wickelte er einen Anruf ab; den dritten innerhalb von zehn Minuten. Der Schädelfund hatte schnell die Runde gemacht. Zunächst in den sozialen Medien, Voigt hatte ihm sofort nach seinem Eintreffen ein paar Kostproben serviert. Von ›grausiger Fund‹ bis ›Und das in unserem schönen Ort!‹ reichten die Kommentare, vor allem auf der vor ein paar Jahren ins Leben gerufenen Facebook-Seite Neues aus Neu-Neuenbrück. Ein gewitzterer Kommentator hatte ›Grobes Foul im Strafraum!‹ gepostet, und einer, der gewitzter und psychologisch geschult war (am Ende Voigt selbst?), hatte sich mit dem Unglücksschützen Maximilian auseinandergesetzt: ›Er wollte ein Traumtor – nun hat er eine Traumatherapie!‹
Dann kamen die Lokalreporter. Zuerst vom Tages-Anzeiger, dann von der Freien Presse, jetzt von dem wöchentlichen Blatt, das seine Anzeigenseiten zwischendurch mit überschaubaren redaktionellen Anteilen auflockerte und auf dessen Namen sich Kant auch nach Jahren nicht besinnen konnte, wohl weil er es immer direkt im Mülleimer unter den Briefkästen entsorgte. »Nein, wir wissen noch nichts Genaueres, Rüdiger«, erklärte Voigt gerade geduldig. Er war mit allen Zeitungsleuten im Ort per Du. Selbstredend. Nach ein paar weiteren polizeilichen Vertröstungsfloskeln konnte er endlich auflegen. Das Telefon klingelte sofort wieder. Voigt schaute ihn an, nun doch leicht erschöpft. Kant wedelte mit der Hand eine generöse Mach-dumal-Geste. Immerhin hatte ihm Voigts Medienarbeit nebenbei die Information geliefert, dass Neu-Neuenbrück seit gestern erstmals einen weiblichen Schützenkönig hatte. Die Revolution war vollendet. Kant vertiefte sich angelegentlich in den erstbesten Zettel auf seiner Schreibtischplatte, was, wie sich herausstellte, die Mittagskarte der Metzgerei um die Ecke war. Und dann auch noch die von letzter Woche.
Während der Kriminalkommissar dem nunmehr vierten Anrufer lauschte, kam die neue Kollegin herein. Roda Karamyan. Sie grüßte Kant mit einem Kopfnicken und hielt, als Entschuldigung für ihre leichte Verspätung, die Plastiktüte aus dem Supermarkt in die Höhe, in der ihre Zwischenmahlzeiten für den Tag verstaut waren. Dann blieb ihr Blick an Voigt hängen, der kurz – und, wie sie, ebenfalls etwas verdattert – aufschaute, während er zuhörte.
Karamyan ging zu ihrem Schreibtisch, dem kleinsten im Büro, der passenderweise Katzentisch hieß, mit dem Unterschied, dass es dahinter nicht zum Klo ging.
»Ach, Sie vermissen einen Schädel?«, sagte Voigt jetzt. Er schaute Kant bedeutsam an, dann widmete er sich wieder seinem Anruf. »Und wann und wo soll der verschwunden sein ...?«
Karamyan trat an Kants Schreibtisch, sie dämpfte ihre Stimme: »Was für ein Schädel?«
Mit Voigts Telefonat als Klangkulisse – und gelegentlichem Stichwortgeber – referierte Kant den Fund vom Vortag. Als er fertig war, legte auch der Kollege auf: »Völkerkundemuseum. Aus der Stadt. Die vermissen doch tatsächlich einen Schädel. Aber ohne Loch. Und afrikanisch. Und ein paar tausend Jahre alt.«
»Ich bin kein Ethnologe, aber das dürfte dann wohl kaum unserer sein«, schloss Kant und stellte die Kollegen, die sich noch nicht kannten – als sie ihre Arbeit antrat, war er just in Urlaub gegangen –, einander vor. »Lars Voigt, Kriminalhauptkommissar. Roda Karamyan, Kommissarin auf Probe.«
Voigt ergriff die Hand, die ihm mit einem eher dünnen Lächeln hingehalten wurde, und zuckte unmerklich zusammen. Kant unterdrückte ein Grinsen. Er kannte Roda Karamyans Händedruck bereits. Einer so zierlichen Frau – sie konnte die Sache mit der Mindestgröße nur knapp geschafft haben – war er absolut nicht zuzutrauen. Eher irritierte ihn der Blick, den die beiden wechselten. Als ob sie sich nicht zum ersten Mal sähen.
Karamyan ließ sich nichts weiter anmerken, sie wechselte zum Tagesgeschäft. »Was haben wir von der Rechtsmedizin?«
»Bis jetzt nur eine Eingangsbestätigung«, erwiderte Kant.
Voigt richtet seinen massigen Körper im Stuhl auf, wie um verlorengegangene Präsenz zurückzugewinnen. »Heimke und Söders –« Sein Blick streifte die neue Kollegin und er fügte hinzu: »Das ist unsere gemischtgeschlechtliche Streife, Heimke und Söders. Also denen ist gestern noch was aufgefallen. Da war bis zum Wochenende noch eine kleine Baustelle zwischen den Umkleiden. Kabelarbeiten. Das Loch hatten sie erst am Freitag zugemacht.«
»Und warum hat uns das keiner vom Verein gesagt?«
»Vielleicht, weil Horsti – das ist der Platzwart – nicht wollte, dass das Loch gleich wieder aufgebuddelt wird.«
Wieder das bedeutsame »das ist«. Gut, Karamyan war neu, aber das konnte nicht der einzige Grund sein, warum Voigt sie so demonstrativ belehrte.
»Tja, und die Reifenspuren ...« Voigt hievte den Gipsabdruck, den die Streife gemacht hatte, auf seinen Schreibtisch. Kant und Karamyan traten heran. »Von der Breite her würde ich mal sagen, kein PKW, auch kein LKW, sondern was dazwischen. Transporter, Kleinlaster ...«
»Was immer es ist«, ließ sich Roda Karamyan vernehmen, »es fährt mit einem Nagel im Reifen herum.«
»Wer sagt das?«, wollte Voigt wissen.
»Die Kommissarin auf Probe«, sagte Karamyan. »Das bin ich.«
Der folgende Blickwechsel war ein einziges Kräftemessen zwischen den beiden. Wenn das hier mal nicht der Beginn einer langen, wunderbaren Freundschaft ist, dachte Kant. »Zeigen Sie.«
»Hier.« die Kommissarin deutete auf einen kleinen. kreisrunden Krater, der sich über einen Zacken im Profil gelegt hatte. »Man kann mit so einem Nagel fahren. Lange. Bis es irgendwann knallt.«
»Stimmt«, gestand Voigt widerwillig ein. Und wieder maßen sich die beiden mit einem Blick.
Kant wurde die Atmosphäre im Büro etwas zu stickig. »Du lässt das Bauloch noch mal öffnen«, sagte er zu seinem Kollegen. Dann ging er zu seinem Platz zurück, griff die leichte Sommerjacke von der Lehne und nickte Karamyan zu. »Wir schauen mal, ob wir nicht doch eine Spur von diesem Wagen finden.«
***
Nach einer Viertelstunde Fahrt mit Kant hatte Roda mehr von Neu-Neuenbrück gesehen als in ihrer ganzen ersten Arbeitswoche – da war sie kaum aus dem Büro herausgekommen –; mehr, aber nicht grundlegend Neues. Es ging an Häuserzeilen vorbei, die in ihrem Zusammengewürfeltsein mehr oder weniger dem kurzen Stück mit der Bäckerei glichen; als handele es sich dabei um die ursprüngliche Gen-Sequenz, aus dem der Rest des Ortes geklont war. Eine Mischung aus Wohnen und Verkaufen und anderen Dienstleistungsangeboten, ein Durcheinander von alt und neu, von hübsch und hässlich. Und dabei wirkte alles doch sehr ordentlich und aufgeräumt, es hatte diese deutsche Zweckmäßigkeit, die sie als Kind, als Jugendliche gar nicht wahrgenommen hatte – wie auch? –, die sie nach ihrer Rückkehr aus Armenien, aus dem chaotischen Jerewan, zunächst beeindruckte, dann langweilte, schließlich zu ärgern begann. So aufgeräumt, so ordentlich, wie es tat, war das Land, wenn man genauer hinguckte, nämlich nicht.
Je weiter sie nach Nordwesten fuhren, desto mehr mutierte das Gen jedoch. Weniger Geschäfte, mehr Wohnhäuser und ganze Wohngebiete. Kurz bevor sie zu den Sportanlagen abbogen, ging es auf der anderen Seite in ein Gewerbegebiet. Die Straßenecke wurde von einer Baustelle dominiert. Durch die Maschen des Zauns hindurch sah Roda ein rechteckiges Muster von Baugruben, das Ganze flankiert von Baggern und anderen Maschinen und ein, zwei LKWs. Erdspuren breiteten sich in krustigen, breiten Bögen von der Zufahrt auf die Straße aus, wo sie nach ein paar Metern auf dem Asphalt verendeten.
»Was kommt denn hier hin?« Sie wandte sich ihrem Vorgesetzten zu.
»Eine Markthalle, soweit ich weiß.«
»Eine Markthalle?!« Roda kannte Markthallen aus Südeuropa, auch Jerewan hatte eine. Aber in Deutschland? »Wozu denn das? Hier gibt’s doch bestimmt einen Wochenmarkt, wenn nicht mehrere.«
»Wochenmärkte sind nicht hip. Markthallen sind hip. Und Neu-Neuenbrück will auch hip sein. Also: Markthalle. Großes Prestigeobjekt. Sie arbeiten mit Hochdruck dran.«
Roda drehte sich auf ihrem Sitz herum, soweit der Gurt es zuließ, und schaute zurück. Arbeiter waren nicht zu sehen, die Bagger hatten sich keinen Deut bewegt. »Für Montagmorgen ist aber wenig Hochdruck zu sehen«, sagte sie.
Kant zuckte nur die Schultern, er warf noch nicht einmal einen Blick in den Rückspiegel.
Bald darauf bog er nochmals ab, es ging in eine Neubausiedlung. Die zweigeschossigen Backsteinhäuser rechts wie links sahen weitgehend identisch aus, alle nach dem gleichen Rohmodell gefertigt, kleine rotbraune, ineinander verschachtelte Kartons mit noch kleineren Vorgärten. Kant fuhr jetzt kaum mehr als Schritttempo, die Straße war verkehrsberuhigt, der Wagen musste alle fünfzig, hundert Meter Haken schlagen, weil die Parkbuchten vor den Häusern die Seite wechselten. Anfang und Ende der Parkzonen wurden jeweils durch große Betonquader angekündigt, Quader, in denen viel frisches Grün heranwuchs. Hier und da sah Roda sogar Sonnenblumen, natürlich noch ohne Blüten.
»Das Grünflächenamt macht sich hier aber viel Mühe«, sagte sie.
»Das sind wohl eher die Anwohner«, entgegnete Kant.
»Putzig«, sagte Roda.
»Speckgürtel halt.« Kant gab sich wenig Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen. »Sie wissen, was Speckgürtel ist?«
»Ich weiß.« Roda nickte. Dass sie es nicht immer gewusst hatte, erwähnte sie lieber nicht. »Speckgürtel, na dann viel Spaß«, hatte einer von der Polizeischule – einer, der sich in Geografie auskannte – auf der Abschlussfeier gespöttelt, als er hörte, wo sie ihre Probezeit absolvieren würde. Bei der nächsten Gelegenheit hatte sie schnell gegoogelt: Der Begriff spielte also nicht, wie sie gedacht hatte, auf die Gewichtsprobleme von Frauen in mittlerem Alter an. Nein, das erwähnte sie lieber nicht. »Wo wohnen Sie denn?«, fragte sie stattdessen.
»Mehr da rüber.« Kant nickte nach Westen. »Das Gleiche in Grün. Noch mehr Grün.«
Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Nach einer Woche Wortkargheit fragte sich Roda, ob ihr Vorgesetzter immer so wenig redete oder ob er etwas gegen sie hatte.
Oder ob ihm in seinem Leben gerade nur eine besonders große Laus über die Leber gelaufen war. Privater Ärger vielleicht? Roda wusste nichts über Kants Beziehungsstatus. Dass er allein lebte, konnte sie sich jedoch irgendwie nicht vorstellen. Er sah doch ganz okay aus. Mehr als okay eigentlich. Ein paar Kilo zu viel an den Hüften vielleicht – Speckgürtel, hahaha! –, aber das fiel bei seiner Größe von bestimmt Einsneunzig kaum auf, braune Haare mit leichten Geheimratsecken, braune Augen, die bestimmt nicht immer so traurig guckten wie in den letzten Tagen, ein voller, sinnlicher Mund ... 20 Jahre jünger, und er hätte gut in ihr Suchschema fallen können. 20 Jahre jünger und weniger Kollege und mehr gute Laune. Vielleicht ganz angemessen, dass man sich noch siezte.
Hinter der Siedlung verengte sich die Straße zu einem Wirtschaftsweg, dessen Asphalt an vielen Stellen zu borstigen Wunden aufgebrochen war.
»Dass hier überhaupt noch jemand lang fährt«, wunderte sich Roda.
»War wohl mal ein beliebter Schleichweg«, erklärte Kant. »Muss aber lange her sein. Um dem Stau auf der Ausfallstraße zu entgehen.«
»Jetzt benutzt man ihn, um Skelette zu entsorgen«, ergänzte die Kommissarin.
»Bis jetzt haben wir nur einen Schädel.«
Sie fuhren jetzt langsam hügelaufwärts, passierten die Fußballfelder, die Stelle, von welcher der unglückselige Junge seinen Schuss abgegeben hatte. Das Gehölz auf der anderen Seite des Weges war inzwischen abgesucht worden, müde hingen die Absperrbänder in der milden Frühsommerluft. Skelett Fehlanzeige. »War der Schädel eigentlich älter?«, fragte Roda. »Sie haben ihn doch gestern quasi in natura gesehen. Auf den Fotos sah er ja aus wie geleckt, ich meine, mal abgesehen von dem Matsch und den Blättern.«
»Als ob er gereinigt worden wäre, ja. Trotzdem würde ich sagen, er war älter«, entgegnete Kant. »Mal abwarten, was die Rechtsmedizin sagt.«
Linker Hand tauchte ein Maschendrahtzaun auf, dahinter erhoben sich schmucke kleine Häuschen, umgeben von nicht minder schmucken Gärten. Kleingartenanlagen waren von den vielen Dingen, die Roda in diesem Land bislang fremd geblieben waren, die fremdesten. Kant stoppte vor dem geöffneten Doppeltor.
»Sehen wir uns um?« Roda war schon dabei, ihren Gurt zu lösen.
Kant überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Wie, in jeder von diesen Hütten? Später vielleicht. Außerdem ...« Er deutete auf das Schild, das am Eisengatter angebracht war, knallrote Schrift auf blendend weißem Untergrund: Zufahrt strengstens verboten! »Wenn da einer mit dem Wagen rein ist, können wir die Aufklärung ruhigen Gewissens dem Kleingartenverein überlassen, der kennt bei so was keine Gnade.«
»Wer ein Mordopfer entsorgen will, wird sich im Zweifelsfall kaum um ein Verbotsschild kümmern«, wandte Roda ein.
»Ich sehe bis jetzt nur einen Schädel, keinen Mord. Und ich sehe übrigens auch keine Fahrspuren. Sie vielleicht?«
Während Kant den Wagen schon wieder anrollen ließ, stellte Roda fest, dass sich auf dem Kiesweg, der zwischen den Parzellen in die Anlage hineinführte, tatsächlich nur einige wenige Fahrradspuren abzeichneten.
Kurz ging es weiter durch den Wald, an dem schlecht verheilte Sturmschäden das einzig Auffällige waren. Der Weg war hier in besserem Zustand, fast schon eine schmale Straße mit relativ neuem und intaktem Asphalt. Auf Spuren eines defekten Reifens durfte man da nicht hoffen. Rechts ging es asphaltiert noch einmal ab, den Hügel hinunter und zurück in den Ort, wie Kant knapp vermerkte. Wer mit dem Wagen zu den Kleingärten wollte, kam wohl aus dieser Richtung.