Kaputt in El Paso - Rick DeMarinis - E-Book

Kaputt in El Paso E-Book

Rick DeMarinis

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Beschreibung

Uriah Walkinghorse wähnt sich mit Midlife-Crisis in der Sackgasse. Einst als Bodybuilder noch als Mister West Texas erfolgreich, tritt er nunmehr als Hausmeister eines heruntergekommenen Apartmentkomplexes in El Paso nur noch gegen verstopfte Toilettenschüsseln an. Um dem Alltags-trott zu entrinnen, läßt er sich von einem Dominastudio als maskierter Henker anheuern. Doch als der VIP-Banker Clive Renseller bei einer S/M-Session einem Herzinfarkt erliegt und Uriah von Narcotraficantes über die Grenze nach Mexiko verschleppt wird, um dort exekutiert zu werden, wird ihm klar, dass es im Leben immer noch schlimmer kommen kann ... Sollte unsere Zivilisation eines Tages in die Höhlen zurückkehren müssen, kann sich niemand beklagen, man hätte uns nicht gewarnt. Rick DeMarinis hat es mit diesem Noir-Thriller, der den alltäglichen Wahnsinn thematisiert, der uns schon längst zur Gewohnheit geworden ist, zumindest versucht.

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RICK DEMARINIS

KaputtinEl Paso

Eins

Eine Horde Schnüffler, die sich in 7-A eingenistet hatte, versaute mir den Nachmittag. Sie hatten die Tür mit einer Brechstange aufgebrochen und sich klammheimlich häuslich niedergelassen. Eine Woche lang, bis der Asthmatiker in 9-A sich bei mir über den ätzenden Geruch beschwerte, der durch die Wände drang. Ich warf einen Blick in meine Unterlagen: 7-A stand seit dem 14. Februar leer, seit der Auseinandersetzung zwischen dem Pärchen, das darin gewohnt hatte. Er war mit Pralinen nach Hause gekommen, hatte aber nach Puff gerochen. Deshalb hatte sie ihm den Kiefer mit einer gusseisernen Pfanne brechen müssen. Valentinstag – ein schwarzer Tag für Liebende.

Im Apartment stank es nach Lösemitteln, Farbspray und Körperausscheidungen. Mit Pfefferspray und Stabtaschenlampe bewaffnet, trat ich ein. Schnüffler sind in der Regel weich in der Birne und leisten keinen Widerstand, doch ein haariger Hüne in Latzhosen fühlte sich wohl auf den Schlips getreten. Er warf mir alles Mögliche an den Kopf. Mit ›Handlanger des Vermieters‹ zum Beispiel lag er gar nicht mal so falsch. Der Schädel des Hünen war groß wie ein Basketball, sein Blick unstet, auf der Suche nach einem festen Punkt. Der Typ brabbelte etwas von Menschenrechten und steuerte auf mich zu, ein Stück galvanisiertes Rohr in der Hand. Aus knapp zwei Metern Entfernung verpasste ich ihm eine Ladung Pfefferspray, die er lediglich mit einem Niesen quittierte.

»In deinem Fall ist der Begriff Menschenrechte ein Oxymoron«, sagte ich. Daran hatte der Hüne erst einmal zu knabbern. Sein massiger Schädel war knochig, über seinen Augenbrauen saßen Knorpel, dick wie Batteriekabel, und seine wilde Mähne sah aus wie frisch geteert.

»Oxy … was? Willst du mich verarschen?«, rief er mit sichtlich wachsender Empörung. Er setzte sich erneut in Bewegung. Ich machte einen Schritt zur Seite, wich so seinem Angriff aus und versetzte ihm dabei mit der Taschenlampe einen Schlag auf seine ohnehin schon platte Nase. Anscheinend war er sich der Verletzung nicht bewusst. Zwar schossen ihm Blut und Rotz aus der Nase, doch das störte ihn nicht. Es lenkte ihn eher ab. Das Stück Rohr ausgestreckt, als handele es sich um einen Zauberstab, der mich in einen Kürbis verwandeln sollte, und gleichzeitig verwirrt, dass nichts dergleichen geschah, stand er vor mir. Ich trat zu, traf sein Knie und er ging mit einem Jaulen zu Boden. Seine Kniescheibe war herausgesprungen. Er tastete seinen Unterschenkel ab und ich schlug ein zweites Mal zu; diesmal zog meine Taschenlampe den Kürzeren. Der Reflektorkopf brach entzwei und die Batterien flogen durch die Luft. Der Hüne verdrehte die Augen und verzog die mit silberner Sprayfarbe verfärbten Lippen zu einem entrückten Lächeln. Das Silberlächeln fror ein und er sah aus, als hätte er einen Engel geküsst.

Das Problem des Hünen war für die anderen Schnüffler nicht existent. Plastiktüten vor den Gesichtern, inhalierten sie Dämpfe. Ich nahm den Geruch von Toluol wahr, einem Lösemittel, das den Zellen der Großhirnrinde und den Lackierungen von Holzoberflächen gleichermaßen effizient den Garaus macht.

Bei den anderen handelte es sich um vier Männer und drei Frauen, allerdings war die Frage nach dem jeweiligen Geschlecht eine rein akademische, so wie die drauf waren. Ich trieb sie hinaus auf den Parkplatz und rief mit meinem Mobiltelefon die Cops. Damit mir die Schnüffelnasen nicht nervös wurden, ließ ich ihnen die Plastiktüten. Die Cops waren ziemlich angepisst. Mit dem Bodensatz unserer Gesellschaft wollten sie im Grunde nichts zu tun haben. Es war nun mal kein Staat mit der Festnahme von Schnüfflern zu machen. Obendrein verpesteten sie die Streifenwagen.

Mitleid mit den Cops kam bei mir nicht auf. 7-A sah aus wie ein Schweinestall und das Saubermachen war mein Job. Schließlich bin ich Manager, Hausmeister, Sicherheitskraft und Ratgeber für die vollends Konfusen in einem. Es kostete mich zwei Stunden, alles wieder in Ordnung zu bringen. Einer von den Schnüfflern hatte in die Badewanne geschissen. Ich fühlte mich regelrecht kontaminiert, stellte mich lange unter die heiße Dusche und malte mir aus, wie Wasser und Seife nicht nur Fliegen, Läuse, Pilze und Sackratten wegwuschen, sondern auch den Gestank von Fäkalien und Chemie. Nun hatte ich mir eine Margarita verdient, wenn nicht sogar zwei. Ich warf eine Hand voll Vitaminpillen ein, zog mich an und ging hinüber auf die andere Seite der Mesa Street, ins DMZ. Abgesehen von einem betuchten Pärchen war die Bar leer. Es waren Abenteurer der feineren Art, die über die trüben Gewässer meiner Nachbarschaft kreuzten. Die Frau sah aus wie erstarrtes Wachs, der feiste Typ auf dem Barhocker neben ihr hingegen wie Wachs in einem frühen Schmelzintervall. Drahtig, zierlich, war sie Form und Farbe in einer Konzentration, die die Augäpfel schmirgelte wie sonst nur Wüstensand. Der schwammige Knabe in ihrer Begleitung trug einen dunklen Zweireiher mit Nadelstreifen – Bankerkluft, aber er war kein Banker. Der rote Iro, der seinen weißen Schädel zweiteilte und in einem Pferdeschwanz mündete, ließ diesbezüglich keinen Zweifel aufkommen. Dennoch, er hatte Geld. Aufgefächert lagen sie vor ihm auf dem Tresen, die Zehner und Zwanziger. Das feuchte, weiche Fleisch seines Halses quoll über seinen Kragen und seinen Single Malt Whisky schlürfte er durch einen Strohhalm. An seinem kleinen Finger blitzte ein Ring mit einem Diamanten, so groß wie eine Erdnuss. Er keuchte leise, das Keuchen großer Männer mit großem Appetit, die über die Mittel verfügen, ihn zu befriedigen, und keinen Grund sehen, es nicht zu tun. Gedankenverloren langte er in seinen Schritt und kratzte sich.

Die Frau warf mir einen Blick zu und sah wieder weg. »Spielst du gerne, Honey?«, fragte sie. Doch sie hatte mich nicht aus den Augen gelassen, sie hatte nur den Blickwinkel verändert: Sie sprach zu meinem Konterfei im Spiegel hinter der Bar. Sie saß drei Barhocker weiter und trank etwas Mintgrünes. Ihre Duftranken – der elektrisierende Geruch von Geld und Moschus – nahmen mich gefangen.

Das DMZ, eine dunkle, absolut schäbige Bar, gehörte einem Professor für Englisch, den man geschasst hatte. Es war ein ziemlich kleiner, eher friedlicher Laden, dennoch stand DMZ nicht für Demilitarisierte Zone, es stand für Dangling Modifier Zoo, was ich für mich mit Stilblüten-Zoo übersetzte. Hier verbrachten meine Frau und ich für gewöhnlich unsere Nachmittage, selbst als wir zwei Meilen entfernt gewohnt hatten. Jetzt kam ich allein her. Ein Blick auf die abendliche Stammkundschaft genügte, um einen Bezug zum Zoo herzustellen, aber was der Rest bedeutete, wusste keiner. Alkohol beeinflusst das Denk- und Sprachvermögen und so könnte man einige, die hier ihre Zeit verbrachten, durchaus als wandelnde Stilblüten bezeichnen. Ich vermutete, das könnte in etwa eine Erklärung sein. Überall hingen Zettel mit rätselhaften Aufschriften. Diese zum Beispiel, am Spiegel, hinter den Ginflaschen:

In Butter getunkt,kann man das köstliche Aromades Hummers so recht genießen.

Güero Odonaju, der Besitzer, grinst häufig; der Spruch war ein Witz für Eingeweihte, ein Witz, der ein Grinsen hervorrufen sollte. Ich hatte ihn nie verstanden. Niemand hatte ihn verstanden.

Ich liebte diese alte Bar, eine intime kleine Höhle inmitten der Stadtmauern, wo sich selbst im Winter die feuchte Wärme menschlicher Körper hielt. Der alte Holzboden gab nach und die Mörtelwände, ölig-braun durch eine Million gerauchter Zigaretten, waren voller Einschusslöcher, die aussehen wie Pockennarben. John Wesley Hardin, so die Legende, soll an dieser Stelle einen Mann erschossen haben. Die rotierenden Flügel der Deckenventilatoren bewegten sich mit einer Gemächlichkeit, dass fette Schmeißfliegen ungestört darauf schlafen konnten.

Ich hatte meine zwei Margaritas intus und wollte eigentlich nach Hause, um Jeopardy! zu sehen. Wäre die Lady weniger knackig und ich nicht so einsam und gelangweilt gewesen, hätte ich sie ignoriert. Doch die beiden Margaritas hatten nicht ausgereicht, um mich wieder aufzubauen, also brauchte ich ein Erfolgserlebnis.

»Wie … spielen?«, fragte ich.

»Einfach spielen. Du weißt schon. Herumalbern. Manche Leute haben fürs Spielen gar nichts übrig, andere würden dafür sterben. Auf welcher Seite stehst du?«

»Ich steh außerhalb des Spielplatzes«, sagte ich. Sie musterte mich mit neugierigem Blick. »Ich hab ’ne Scheidung zu verarbeiten«, erklärte ich.

Sie drehte sich auf ihrem Barhocker in meine Richtung, wobei ihre festen Brüste den limonengrünen Stoff ihrer Bluse einer Belastungsprobe unterzogen. Die Lady war um die vierzig und wusste genau, dass sie Bilder von Dauer in die Gehirne der Männer ritzen konnte. Die mit Collagen aufgepolsterten Lippen waren zu einem Zeig’smir-Schmollmund fixiert. Ihre großen, meergrünen Augen nahmen einen in Beschlag, während die kräftigen Brauen darüber einen permanenten Bogen des Zweifels formten, als könne sie die nackte Wahrheit unter jeder noch so schillernden Oberfläche erkennen. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Ich wandte mich wieder zum Tresen und setzte mein leeres Glas an die Lippen, um Zeit zu schinden.

Mein Apartmenthaus heißt The Baron Arms. Es wird aber auch schon mal The Barren Arms genannt (tote Hose, denn in Sachen Liebe passiert hier nicht allzu viel) oder The Bearing Arms (alle Bewohner besitzen Schusswaffen), die meisten kennen es als Familiengericht. In den Vierzigern und Fünfzigern war es das beste Motel am alten Highway, der zur Grenze führte, aber in den Sechzigern durch die Interstate entlastet wurde. An jeder Ausfahrt der I-10 schossen luxuriöse Motels wie Pilze aus dem Boden. Diese neuen Motels saugten die Reisenden von der Interstate und die Roadhouses entlang des alten Highways machten entweder dicht oder mussten die Preise derart senken, dass sie nur noch Gesindel und obdachlose Bargeldschnorrer anzogen. Einige wurden zu Stundenhotels. Der Besitzer des Baron Arms hatte beschlossen, das Motel in möblierte Apartments umzuwandeln. Gut ein Drittel der Bewohner sind Männer mittleren Alters, deren Frauen sich aus dem Staub gemacht haben – Männer auf dem absteigenden Ast, voller Reue, Selbstmitleid und mit Paranoia. Den Rest könnte man bestenfalls als Bürger aus gesellschaftlichen Randgruppen bezeichnen. Polizeisirenen und Blinklichter gehören zum Alltag, sind Teil der Szenerie. Ich für meinen Teil sehe ab und an fern, lese und gehe dreimal die Woche ins Y zum Training.

Ich zog hierher, nachdem Gert abgehauen war. Ich hatte einen guten Job, musste ihn aber aufgeben. Die Scheidungsvereinbarung sprach Gert dreißig Prozent meiner Einkünfte zu, und ich schuftete doch nicht ein Drittel des Tages für sie und ihren Lover, einen NAS-CAR-Fahrer namens Trey Stovekiss. Um nichts in der Welt würde ich ihre hochtourige Oktan-Romanze finanzieren. Die achttausend Dollar, die ich auf der hohen Kante hatte, würden eine Weile reichen. Danach könnte ich unter anderem Namen einen Job als Lagerarbeiter annehmen. In der Zwischenzeit managte ich das Baron Arms und musste – als Gegenleistung für kleine Handwerksarbeiten – keine Miete bezahlen. Meine Situation war also gar nicht mal so übel. Ich betrachtete mich immer noch als einen Mann mit Zukunft.

Das mit dem neuen Namen reizte mich. Abgesehen von der einen oder anderen Glückssträhne war das Leben unter meinem richtigen Namen eine einzige Pleite gewesen. Vielleicht würde ein Name, der nach Erfolg klang, meinem Leben eine Wendung geben. Ein Name wie Strobe zum Beispiel. Strobe Champion III.

Die Lady konnte Gedanken lesen. »Wie heißt du, Honey?«

Ich machte sogleich die Probe aufs Exempel. »Strobe Champion III.«, erwiderte ich.

»Klingt gut. Ich bin Mona Farnsworth. Das ist Jerry, mein Mann. Na komm schon, wie heißt du wirklich, Strobe?«

»Kannst du Gedanken lesen?«

Sie sah mich von der Seite an und zwinkerte mir zu. Dann rutschte sie von ihrem Barhocker und setzte sich neben mich. Ich spürte einen harten Nippel meinen Arm entlangfahren. Schweiß kitzelte meine Achselhöhle und ich gab auf. »Walkinghorse«, sagte ich, »Uriah Walkinghorse.«

»Ist nicht wahr!«, rief sie unter Lachen aus. Es war ein nettes Lachen, ein kleiner, explosiver Schrei. Augenblicklich fand ich mich in einem flüchtigen, erotischen Tagtraum wieder, der sich um diesen Schrei drehte, den ich provoziert hatte.

»Würde ich mir so einen Namen ausdenken?«, fragte ich.

Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Würde er, Jerry? Würdest du dir einen Namen ausdenken wie … « Sie sah mich wieder an. »Wie war das noch mal?«

»Uriah Walkinghorse.«

»Du hast nicht mehr von einem Indianer als ich«, sagte sie.

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich wurde von einem Pfarrer adoptiert, dessen Vorfahren Sioux waren«, erklärte ich. »Seine Frau konnte keine Kinder bekommen. Er hat uns allen biblische Namen verpasst. Meine Schwester heißt Zipporah, meine drei Brüder heißen Moses, Jesaja und Zacharias. Wir stammen alle aus dem Waisenhaus.« Die Lady lachte wieder. »Uriah, um Gottes willen. Ist das nicht auch der Name von so einem Versager bei Dickens?«

Jetzt ergriff Speck-Jerry das Wort. »Wen juckt es schon, wie er sich nennt? Namen sind Schall und Rauch. Was man macht, darauf kommt es an. Kann doch gut sein, dass irgendein Idiot von Strobe Champion sich den ganzen Tag die Eier schaukelt und sich Soaps reinzieht, während seine Frau Klos sauber macht, und ein Typ, der Uriah heißt, hat dagegen richtig was am Laufen, stimmt’s, Uriah?«

Ich nickte. Das Nicken war eine Lüge. »Ihr könnt mich Uri nennen«, sagte ich.

»Und was machst du so, Uri?«, wollte Mona Farnsworth wissen und berührte meinen Arm. Ich spannte den Bizeps an. Ihre Hand zuckte zurück, als hätte sie 220 Volt berührt.

»Gabelstaplerfahrer«, sagte ich. »Momentan arbeitsloser Gabelstaplerfahrer.«

Nachdem mir die Folgen der Scheidung klar geworden waren, hatte ich meinen Job bei Munk & Weismer Steel an den Nagel gehängt. Als Gabelstaplerfahrer hatte ich achtzehn Dollar die Stunde verdient, aber drei Stunden am Tag hätte ich quasi für Gert und ihren StockcarGeschwindigkeitsfanatiker arbeiten müssen. Den Job hatte ich höchst ungern aufgegeben, immerhin war es seinerzeit reine Glückssache gewesen, dass ich ihn überhaupt bekommen hatte. Wäre nicht Bedarf gewesen, weil der bisherige Gabelstaplerfahrer einen Herzinfarkt erlitten hatte, hätten die mich gar nicht eingestellt. Ich hatte noch nie einen Gabelstapler gefahren, aber ich lerne schnell und man braucht keine Intelligenzbestie zu sein, um so ein Ding durch ein Hochregallager zu steuern. Solange man keine Palette mit Stahlblechen auf die Schutzhelme anderer fallen ließ, war alles okay.

Zuvor hatte ich am Community College halbtags Förderunterricht in Mathematik erteilt. Von der freien Stelle bei Munk & Weismer hatte ich durch einen meiner Studenten erfahren, der dort gejobbt hatte. Ich hatte es so satt, Jugendlichen, die nicht mal einen Scheck ausstellen können, Mathe einzubläuen. Ich hatte es satt, derart mies bezahlt zu werden. Als Gabelstaplerfahrer verdiente ich in zehn Tagen mehr als in einem Monat am College.

»Faszinierend«, meinte Mona. Sie spitzte den Mund, als dächte sie über irgendetwas nach. Ihre Lippen sahen jetzt aus wie die Knospe einer dunkelroten Blume. Dann öffneten sie sich leicht und ich starrte in die vermeintliche Dunkelheit ihres Mundes.

»Du stemmst Eisen, Mr. Walkinghorse, nicht wahr?«, fragte sie. »Unter diesem Hemd stecken astreine Anabolika-Muskeln. Wie alt bist du?« Letzteres hauchte sie mir zu. Ich konnte ihren Atem riechen – feucht und warm, verschnitten mit der Minze ihres grünen Drinks.

»Fünfunddreißig«, log ich. »Und ich setze keine Anabolika ein.« Das war nicht ganz gelogen. Ich hatte Oxandrin mit Anadrol gespritzt, allerdings vor Jahren.

Vor kurzem bin ich zweiundvierzig geworden. Mein Haar ist mit Grau durchsetzt, rund um meine Augen bilden sich Knitterfältchen und aus meinen Ohren sprießen Härchen. Auf der Bank kann ich immer noch hundertachtzig drücken, zweihundertsiebzig aus der Kniebeuge und auf dem Laufband schaffe ich eine gute Stunde. Dank Haferflocken und salzfreier Margaritas ist mein Blutdruck konstant bei 120/80. Ich fühle mich wie fünfunddreißig. Zum Teufel, ich fühle mich wie fünfundzwanzig.

»Suchst du einen Job?«, wollte Jerry wissen.

Ich sah ihn an. Sein Iro stand aufrecht wie ein Hahnenkamm, sein rosiger Teint glich dem eines Babys und die Linie seines Kinns verschwand unter Speckfalten. Er schob die Geldscheine auf dem Tresen zusammen, legte sie bündig übereinander wie Spielkarten, um sie anschließend wie einen Fächer auszubreiten.

»So leicht hast du noch nie zweihundert Dollar verdient«, sagte Mona, öffnete ihre Handtasche, kramte kurz darin herum und reichte mir eine Visitenkarte. Ich las sie.

Die Farnsworths residierten unter einer feudalen Adresse. Der Wert der billigen Häuser dort lag im mittleren sechsstelligen Bereich, das obere Ende der Spannweite umfasste siebenstellige Beträge. Die Straße hieß El Cielito, in Heaven’s Gate Estates oben in den Franklin Mountains. Früher war dort meine Laufstrecke. In dieser Gegend ist die Luft besser, Kriminalität ein Fremdwort und das Bargeld kann man förmlich riechen.

»Was muss ich machen?«, fragte ich.

»Das erkläre ich dir, wenn du da bist. Im Grunde musst du gar nicht viel tun. Vielleicht kannst du dabei sogar noch etwas lernen.« Sie warf mir einen durchtriebenen, viel sagenden Blick zu und legte ihre Hand wieder auf meinen Arm. Ihre Fingerspitzen bearbeiteten meinen Bizeps, als suchten sie dort nach Fettablagerungen. Aber da waren keine. Ich spannte wieder an.

Ausdruck meiner Eitelkeit. Eine Frau berührt meinen Arm, ich lass es zucken. Diesmal zog sie ihre Hand nicht weg.

»Big guy«, sagte sie und ihre amüsiert dreinblickenden Augen suchten meine.

»Big, in der Tat, aber ist er auch b-b-b-b-bad?«, fragte Jerry.

»Bad to the bone«, vervollständigte ich seinen Retro-Rock-Witz.

»Sechs Uhr heute Abend«, sagte sie, plötzlich durch und durch Geschäftsfrau. »Sei pünktlich.«

Zwei

Im Laufe der letzten vierzig Jahre war aus der U.S. 80 ›The Strip‹ geworden – Gebrauchtwagenhändler, taquerias, Tabledance-Bars, Massagesalons, casas de cambio, wo man Pesos gegen Dollar oder Dollar gegen Pesos tauschen konnte, und die Rein-Raus-Quickie-Motels. Niemand spricht mehr von der U.S. 80. Es gibt jetzt einen Namen: Mesa Street. Vom DMZ, also von der anderen Seite der Mesa aus betrachtet, wirkt das Baron Arms wie eine Sandburg mit Hanglage. Der Architekt, der es in den Fünfzigern entworfen hatte, musste ein Mann mit Gespür gewesen sein. Das Gebäude fügt sich perfekt in die Umgebung El Pasos ein – es sieht aus wie ein natürlicher Ausläufer der terrakottafarbenen Berge. Genauso gut hätte es auch tausend Jahre zuvor von den Anasazi erbaut werden können. Folglich ist es gar nicht mal so abwegig, sich die Mieter als Höhlenbewohner vorzustellen. Ich hatte die Anasazi schon immer für ein überaus wachsames, fast schon paranoides Volk gehalten, das sich in seinen auf hohen Felsvorsprüngen gelegenen, zugemauerten Halbhöhlen vor einem realen oder imaginären Feind verborgen gehalten hatte. Das Gleiche könnte man auch von vielen Bewohnern des Baron Arms behaupten. Auch sie versuchen, einer realen oder imaginären Bedrohung zu entkommen. In den meisten Fällen jedoch ist die Bedrohung real. Schmierige Anwälte, Privatdetektive auf der Suche nach Untergetauchten, Schuldeneintreiber, eifersüchtige Verflossene und vor sich hin murmelnde Psychotiker drücken sich in den Fluren, Laubengängen und auf Treppenabsätzen herum.

Vom Balkon meines im dritten Stock gelegenen Apartments hat man einen Blick über die unendliche Wüste, mit einem Horizont, so weit entfernt, dass man glauben könnte, die Welt sei eine Scheibe. Über die weite Ebene hinweg kann man beobachten, wie sich Sandstürme entwickeln und den Himmel entlangschrammen. In der vor Hitze flirrenden Luft sieht das ferne Gebiet von El Malpais geriffelt aus, als wäre es auf dünnes Blech gemalt. Schon der reine Anblick dieses sich scheinbar endlos erstreckenden Ödlandes macht durstig. Weht dann noch ab und an heißer Wind den Sand herüber, möchte man fast für Regen beten.

Ich hatte sechs Nachrichten auf dem AB, alle von Rosie Hildebrand. Es war immer die gleiche Botschaft: »Hey, Mister Manager, mit meiner verfluchten Terrine stimmt was nicht.« Terrine, so nannte sie ihre Toilette.

Wahrscheinlich wieder mal verstopft, dachte ich. Allein die fünfundsiebzig Toiletten des Apartment-Komplexes garantieren mir mietfreies Wohnen. Die Leute zahlen Miete, also nehmen sie auch das Recht für sich in Anspruch, alles Mögliche in die Toilette zu stopfen. Letzte Weihnacht versuchte eine Zwanzigjährige einen vielleicht 16 Wochen alten Fötus hinunterzuspülen. Diesbezüglich nahm sie auch kein Blatt vor den Mund: »Bringen Sie Ihre Spirale her, Walkinghorse. Meine verdammte Toilette läuft nicht ab. Ich musste pinkeln und dann hatte ich diesen fiesen Krampf. Haben Sie mich nicht schreien hören? ›Oh fuck! Oh SCHEIßE!‹ Richtig laut. Mann, war ich am Abjammern. Dann rutscht mir auch noch mein Baby raus. Ich hab mein Baby verloren! Was für eine Tragik, das vergess ich nie. Hoffentlich hat mich bloß keiner gehört. Ich glaube nämlich, die beiden Schwulen nebenan sind Jesus-Typen oder so.« Als ich bei ihr eintraf, hatte sie bereits geduscht, trug abgeschnittene Levi’s und keinen BH unter ihrem Nashville-Pussy-T-Shirt. Sie war hübsch, wirkte jedoch für ihre zwanzig Jahre schon reichlich verbraucht. Eine Zwanzigjährige, die direkt auf die vierzig zuging.

Sie sah alles andere als traurig aus. Vielmehr schien sie das Ganze bereits vergessen zu haben und sich darauf vorzubereiten, hinaus in die Welt zu gehen und sich in die nächste Katastrophe zu stürzen. Um mich abzusichern, rief ich die Cops, und die brachten Leute von der Gerichtsmedizin mit. Die von der Spurensicherung zogen den blutigen Klumpen aus dem Abflussrohr. »Frohe Weihnachten, Tiny Tim«, begrüßte Ted Lopez von der Spurensicherung den dunklen Winzling, der eher aussah wie ein überfahrenes Nagetier und nicht wie etwas, was eines Tages sprechen und laufen kann und möchte, dass seine Meinung ernst genommen wird. Die Frage war nun: Hatte sie ein Frühchen getötet oder war der Fötus bereits bei Ankunft tot gewesen? Es gab jedoch weder ein Ergebnis noch kam es zu einer Strafanzeige.

Ich war Ted Lopez und seinen Leuten von der Crime Scene Unit sehr dankbar. Dankbar, dass sie sich an meiner statt die verstopfte Toilette vornahmen. Ich kenne die Jungs gut. Letzten Monat hatten wir einen Mord/Selbstmord, den Monat zuvor eine Art Geiselnahme. Mit den Leuten von der Spurensicherung war ich inzwischen per Du.

Bill und Rosie Hildebrand bewohnen ein Dreizimmerapartment – eine Suite, wie man die Räume in Zeiten, als noch von einem Motel des gehobenen Standards gesprochen werden konnte, bezeichnet hatte. Die Hildebrands sorgen regelmäßig für eine Verstopfung ihrer Toilette. Die Woche zuvor hatte ich ein völlig aufgeweichtes Taschenbuch zutage gefördert. Einige Wochen früher gestrickte Zierdeckchen. Also machte ich mich auf den Weg zu 24-D, Spirale, Rohrfräse, Gummisauger, ein rotes Bandanna und Chemikalien gegen Scheiße in meiner Werkzeugkiste, bereit, die Herausforderung anzunehmen.

Die Hildebrands sind Säufer aus Überzeugung. Rosie ist um die siebzig, Bill nicht mal sechzig, dennoch sieht er älter aus als sie. Äußerlich ähneln sie einander sehr – farblose, unbedeutende Menschen mit leblosen Gesichtern. Sie haben sechs fette Katzen – vier mehr, als vom Vermieter erlaubt – und ein Aquarium. Der Vermieter lebt in Austin, sechshundert Meilen östlich von hier, demzufolge obliegt es mir, auf die Einhaltung der Hausordnung zu drängen, und ich bin eher nachgiebig, um ein gutes Auskommen mit den Mietern bemüht.

Überall im Apartment lagen fette Katzen. Leguane im Fellkleid. Ich ersparte mir das »Hallo«, denn Bill und Rosie sahen Jeopardy!, einen Krug Gallo Vin Rose zwischen sich auf dem Tisch. Rosie trug Kittel, Pantoffeln und Nylonkniestrümpfe, die bis zu den Knöcheln heruntergerollt waren. Ihre Beine sahen aus wie in Folie eingeschweißte Knochen. Mitten auf dem Kopf, kreisrund und so groß wie ein Silberdollar, sah man eine kahle Stelle, die sie als »meine Kippah« zu bezeichnen pflegt. Bill steckte wie immer in diesem 70er-Jahre-Anzug – bohnengrün, mit breiten Revers. Die käseweißen Füße waren nackt, die rissigen, gangränösen Fußnägel blau verfärbt. Er zeigte Richtung Badezimmer. Der Gestank schnürte mir die Kehle zu. Ich leide sehr schnell unter Brechreiz, beim Klempnern ein echtes Manko. Also band ich mir das Bandanna vor Mund und Nase und ging hinein.

In der Toilettenschüssel stand das dunkle Wasser bis zum Rand. Ich versuchte, der Brühe mit dem Gummisauger beizukommen. Ohne Ergebnis. Ich nahm das Bandanna ab und ging zurück ins Wohnzimmer. »Sag mal, Rosie, hast du etwa Katzenstreu ins Klo gekippt?«

Sichtlich verärgert über die Störung, riss sich Rosie von Jeopardy! los. »Na klar«, sagte sie mit säuerlicher Miene, »ich war extra draußen, hab fünf Tüten Katzenstreu gekauft und in die Terrine geschüttet. So was mach ich manchmal, nur so aus Spaß.« Ihr Teint sah aus wie Haferbrei und an der Nase blühte ein zehncentstückgroßes schorfiges Krebsgeschwür.

Ich schöpfte das Wasser aus der Kloschüssel, zog die Toilette komplett vom Abflussrohr ab und führte die Fräse direkt in das offene Rohr. Zwar kamen jede Menge organischer Partikel zum Vorschein, doch die Verstopfung blieb. Jetzt hatte die Spirale ihren Einsatz. Ich schob sie ungefähr zweieinhalb Meter ins Rohr. Als ich sie wieder rauszog, sah ich, dass ich einen Fisch aufgespießt hatte. Einen monströsen Piranha. Ich ging damit ins Wohnzimmer.

»Das könnte Carlotta sein«, meinte Bill Hildebrand und zeigte auf den Fisch. Er stand auf und nahm mich beiseite, so dass Rosie uns nicht hören konnte. »Rosie war ziemlich wütend auf Carlotta, weil sie die anderen kleinen Kerle aufgefressen hat«, flüsterte er.

Unsere Blicke wanderten zu Rosie. Die hatte nur Augen und Ohren für Jeopardy! »Was ist der Pawlow’sche Hund?«, rief sie und versuchte, der ratlosen Gemeinde auf der Mattscheibe mit der richtigen Frage weiterzuhelfen. »Kommt schon, ihr trüben Tassen: Was ist der Pawlow’sche Hund?«

»Rosie könnte richtig abräumen, wenn die sie in die Show lassen würden.« Bill kicherte stolz.

»Warum hat sie Carlotta eigentlich zu den anderen gelassen?«, fragte ich.

Mit zittrigen Fingern griff Bill mein Handgelenk und kam ganz dicht heran. Sein Atem roch faulig. »Es ging um die kleinen Exoten. Rosie war ihrer überdrüssig, weil sie nie auch nur die Spur von Dankbarkeit gezeigt haben. ›Jetzt gehst du da rein, Carlotta, und zeigst diesen Fächerschwänzen und Neontetras mal, wie man sich benimmt.‹ Das waren ihre Worte.«

»Ich glaube kaum, dass Fische Dankbarkeit zeigen können«, sagte ich.

»Genau das hab ich ihr auch gesagt. Aber das ist nun mal ihr Naturell. Wenn sie das Gefühl hat, man nutzt sie aus, kann sie ganz schön zickig werden.«

»Fische wirft man nicht ins Klo, Rosie«, sagte ich und betrachtete das Aquarium. Bis auf einige vom Filter erzeugte Blasen war es leer. Ich zog kurz in Erwägung, ihr mit der 2-Katzen-Obergrenze zu drohen. Aber warum? Schließlich zahlte sie immer pünktlich ihre Miete.

»Was ist Excelsior?, ihr Saftheinis«, sagte Rosie, zog ihren Sessel näher an die Mattscheibe und strafte mich so mit Missachtung.

Ich mag diesen Wie-muss-die-Frage-lauten-Ansatz bei Jeopardy!, komme mir aber manchmal reichlich ungebildet vor, obwohl ich mein Mathestudium erst kurz vor dem Magisterexamen abgebrochen habe. (›In früheren Zeiten hießen die politischen Führer dieses modernen Staates Zipa in Bacatá und Zaque in Tunja.‹ Wie muss die Frage lauten? Viel Glück.)

»Du solltest dir den Krebs an der Nase entfernen lassen, Rosie«, sagte ich. »Es könnte ein schlimmes Ende nehmen.«

Ihre wässrigen Augen sahen mich gelassen an und sie sagte: »Wenn ich medizinischen Rat brauche, rufe ich einen Arzt, keinen Klempner.«

Ich montierte die Toilette, brachte Carlotta, den Piranha, zum Müllcontainer, ging zurück in mein Apartment und stellte mich unter die Dusche, um die diversen Hildebrand’schen Gerüche wegzuspülen. Anschließend mixte ich einen Shake aus Joghurt, drei Eiweiß und einer Hand voll getrockneter Leber, verteilte etwas Tofu auf Seetang- und Sonnenblumenkern-Crackern – mein Abendessen.

Ich trete nicht mehr bei Wettkämpfen an, dennoch möchte ich meinen Körperfettanteil unter fünf Prozent halten. Es sieht einfach besser aus, wenn das Zusammenspiel von Muskeln und Venen unter der Faszie nicht von einem halben Zentimeter Fett verdeckt wird. Das ist ein reines Ego-Ding. Aber was nicht? 1983 war ich Mr. Westside. Für die großen nationalen Wettkämpfe waren meine Proportionen nicht stimmig genug. Rumpf und Arme sind zu lang, Beine und Hals zu kurz. Nichts Unästhetisches, aber im Schwergewicht wollen sie nun mal Schwarzeneggers Perfektion.

Ich maß meinen Blutdruck – 124/79 – und legte mir einige B-12er unter die Zunge. Was auch immer die Farnsworths vorhatten, ich war bereit.

Nachdem ich mich angezogen hatte, stellte ich die Zeitschaltuhr für das Licht auf sieben Uhr, um Einbrecher zu foppen, um sie glauben zu machen, jemand sei im Apartment. Ich wusste, das war Quatsch. In dieser Stadt narrt man Einbrecher nur mit einem dunklen Apartment, dessen Fenster sperrangelweit offen stehen. Das verunsichert sie. Sie müssten damit rechnen, dass jemand im Dunkeln hockt, eine Flinte Kaliber 12 im Schoß.

Ich nahm den Fahrstuhl, der zum Parkplatz führte, befreite meine Windschutzscheibe von Flyern eines Ladens, der sich weiter unten an der Straße befindet, sich Die heilende Hexe nennt und neben Kräutern und Vitaminen auch bruja-Fetische verkauft, die eine die Libido anregende Wirkung garantieren. Dann machte ich mich auf den Weg nach Heaven’s Gate Estates zu meinen schnell verdienten zweihundert Dollar und der wie auch immer gearteten Nachhilfe, die Mona Farnsworth glaubte mir erteilen zu müssen.

Drei

Offenbar hatten die Farnsworths nichts zu verbergen. Ihr Haus lag am Hang und war vollständig verglast. Es zeigte nach Westen und die tief stehende, mandarinenfarbene Sonne spiegelte sich dutzendmal in den riesigen Fenstern. Die gewundene Straße hatte eine Steigung von gut 9% und so musste ich meinen 88er Ford Escort den ganzen Weg im kleinen Gang fahren. Als ich oben ankam, ging der Temperaturanzeiger gerade in den roten Bereich.

Ich steuerte in die kreisförmige Auffahrt, parkte hinter einem neuen Lexus, stieg aus und reckte mich, ließ dabei die saubere Luft tief in meine Lungen. Dann stieg ich die breiten, gefliesten Stufen hinauf zur Eingangstür und suchte die Klingel. Es gab keine. Mein Zeigefinger, mit dem ich die Klingel hatte drücken wollen, war noch ausgestreckt, da öffnete auch schon eine hochgewachsene, kräftige Frau im Abendkleid die Tür.

»Sensoren«, erklärte sie sogleich. »Man wird elektronisch angemeldet.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Du bist zwanzig Minuten überfällig.« Ihre tiefe Stimme passte zu ihrer Erscheinung.

»Überfällig … wofür?«, fragte ich.

Sie fuchtelte mit der Hand, als wolle sie Rauch vertreiben. »Komm rein, Strobe. Wir müssen dich noch umziehen.«

»Uri«, sagte ich. »Nicht Strobe.«

»Heute Abend bist du Strobe.«

Langsam dämmerte es mir. »Jerry?«

Sein Abendkleid aus Goldlamé schimmerte im Licht der untergehenden Sonne. Er trug eine Perücke, einen Bausch aus Haaren à la Jackie Kennedy, und lange, künstliche, perlmuttfarben lackierte Fingernägel. Sein Make-up hingegen war mehr als nachlässig. Die Menge an kegelförmigem Schaumstoff in seinem BH reichte aus, um die Oberweite einer Walküre vorzutäuschen, Brüste, die für eine Frau seiner Statur durchaus angemessen waren. Seine Lacklederpumps waren groß genug, um Ziegelsteine darin aufzubewahren. Ein Tuch im Paisleymuster kaschierte den fleischigen Hals. Erstaunlich graziös vollzog Jerry Farnsworth eine komplette Drehung, verlagerte sein Gewicht dabei auf den rechten Fußballen. Das Lamékleid wirbelte herum und erzeugte regenbogenfarbene Späne im Licht.

»Gefällt’s dir?«, fragte er.

Ich räusperte mich. »Du siehst scharf aus«, sagte ich schließlich. Er grinste.

Der Raum hinter Jerry war riesig – mein Apartment hätte viermal hineingepasst und der eine oder andere begehbare Schrank noch dazu. Das Mobiliar war einerseits hochwertig, andererseits nicht außergewöhnlich – solider dänischer Kram eben. Weiße Wände, weißer Teppich, auf Hochglanz gebrachtes Ebenholz für die Möbel. Der Teppich reichte bis zu einem großzügigen, gefliesten Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte. An den Wänden hingen Bilder. Reproduktionen von Miró. Grundfarben, einfache Formen. Woher ich das wusste? Jeopardy! (›Leuchtende Farben und schlichte Formen charakterisieren die Arbeiten dieses spanischen Künstlers.‹) Trivialwissen klebt an meinem Hirn wie statisch aufgeladener Staub.

Ich nahm das Klappern hoher Absätze auf Fliesenboden wahr. Mona Farnsworth eilte den Flur entlang. Sie trug ein Tweedkostüm, eine Brille aus Schildpatt und ihre Frisur bestach durch wetterfeste Wellen. Ihr Teint wirkte straff und ebenmäßig. »Du kommst zu spät«, schalt sie mich. June Cleaver, wenn sie ihre Tage hat.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Komm mit. Wir müssen dich noch umziehen.«

»Ich ziehe auf keinen Fall Frauensachen an«, sagte ich mit Blick auf Jerry.

Zwei Kinder kamen herein, ein pausbäckiger kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren und eine etwa zwölfjährige Gruftie-Göre mit großen Augen. »Wer ist denn dieser Muskelberg?«, wollte das Mädchen wissen. Sie hatte kurzes, schwarzes Haar, gelockte Ponysträhnen, gepiercte Augenbrauen und einen Nasenring. Ihre Lippen waren schwarz geschminkt und auf ihren Nägeln schimmerte schwarzer Nagellack. Sie trug Rock und Bluse, ebenfalls in Schwarz. Ihr kalkweißes Gesicht reflektierte das Licht, als wäre die Haut mit einem Lacküberzug versehen. Das Mädchen taxierte mich mit übertrieben dunkel geschminkten Augen, die ihr das Aussehen einer Schwindsüchtigen verliehen. Sie stand einfach nur da, die Hüfte eingeknickt und die Arme unterhalb ihrer drolligen, teetassengroßen Brüste verschränkt. Ihre Nasenflügel bebten, während sie mich musterte, ein Vampir, der die Witterung aufgenommen hatte. Sie war niedlich und unheimlich zugleich, unschuldig und verdorben. Letzteres mit Vorsatz. Wenn sie eine Seele hatte, dann war die älter als Staub.

»Das sind unsere Kinder, Strobe Champion«, sagte Jerry. »Harry und Babs. Babs, Liebling, würdest du Mr. Champion eine Cola holen? Möchtest du ’ne Cola, Strobe?«

»Nein«, sagte ich.

»Du siehst umwerfend aus, Vater«, bemerkte das Mädchen.

»Danke, Prinzessin«, erwiderte Jerry mit einem Augenaufschlag und drehte sich ein weiteres Mal um die eigene Achse. »Bist du mit den Hausaufgaben fertig, meine Süße?«

»Seit Urzeiten. Ich sitze gerade über einer Buchbesprechung für meine Sozialkundeklasse. Meine Wahl ist auf Mutters Krafft-Ebing gefallen. Ich habe es zweimal gelesen und liebe das Kapitel über Körperfehler als Fetisch. Und Cantaranos Studie von 1895 über das Zehenlutschen ist total aktuell, werter Vater.« Ihr affektiertes Gebaren stand im krassen Gegensatz zu ihrem unbewegten Gesicht.

Jerry strahlte vor Stolz. »Sie will sich im Geschäft engagieren – auf die eine oder andere Art. Ich aber möchte, dass sie Wirtschaftsrecht studiert und dann die Finanzen in die Hand nimmt.«

»Für einen Small Talk haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Mona und nahm mich bei der Hand. »Unten wartet ein Kunde. Übrigens hat keiner was von Frauenkleidern gesagt, Strobe.«

»Uri«, sagte ich. »Ich heiße Uri.«

»Nicht heute Abend. Heute Abend bist du Strobe.«

Sie führte mich zu einem Zimmer am Ende des Flurs. »Das ist unsere Garderobe«, erklärte sie. »Welche Bundweite hast du?«

»Einunddreißig«, erwiderte ich.

Sie strich über meine Bauchmuskeln. »Die wollen wir auf keinen Fall verstecken.«

Sie zog die Schublade einer Kommode auf, wühlte darin herum und holte ein Paar schwarze Leggings und ein Suspensorium aus schwarzer Seide hervor. »Probier das mal«, sagte sie. »Und beeil dich.« Während ich mich umzog, wartete sie draußen.

Nachdem ich mich ausgezogen und das Suspensorium und die Leggings angezogen hatte, schlüpfte ich in meine Schuhe. Mona kam wieder herein und betrachtete eingehend meine Erscheinung. »Zum Anbeißen«, sagte sie schließlich, doch es war ein emotionsloser Kommentar, eine sachliche Feststellung eben.

»Die Schuhe passen nicht«, sagte sie. »Du musst barfuß gehen. Hast du was dagegen, wenn ich dich mit Babyöl einreibe?« Meine Neugier erwachte, aber die Vorstellung, dass June Cleaver mich mit Babyöl einrieb, erstickte jede meiner Fragen im Keim.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte ich.

Ihre Hände waren warm und ihre Finger sehr geübt. Sie trug das Öl auf Schultern und Rücken auf, konzentrierte sich dabei auf den großen Rückenmuskel, den Deltamuskel und Trizeps. Als sie über Brust- und Bauchmuskulatur fuhr, wurde es peinlich für mich. Das konnte auch das seidene Suspensorium nicht verhindern.

»Ertappt«, brachte ich zu meiner Entschuldigung hervor.

»Sag deinem elften Finger, er wird nicht gebraucht, Strobe. Ich bin nicht deine Freundin. Hier geht’s ums Geschäft.« Das Eis in ihrer Stimme kühlte mich wieder ab.

Sie fuhr fort, massierte das Öl in meine Ober- und Unterarme, dann trat sie zurück. Einen Finger an der Wange, begutachtete sie ihre Arbeit.

»Warum bist du nicht tätowiert?«, fragte sie. »Ich habe immer gedacht, große, böse Jungs wie du stehen auf Macho-Körperschmuck.«

»Ich hab früher an Wettkämpfen teilgenommen.«

Sie sah mich verständnislos an.

Ich nahm für sie eine Pose an, den Schwarzenegger-Spezial — die Bizeps beider Oberarme angespannt, dann in einer einzigen, flüssigen Bewegung hinunter aufs Knie, eine Drehung in eine dreiviertel Rückenschau. Aus dieser Position wieder nach vorn mit angespannten Brustmuskeln, dann eine Drehung, die großen Rückenmuskeln angespannt und zum Schluss die Trizeps. Dank meines niedrigen Körperfettgehalts bin ich noch immer gut definiert und kann Eindruck schinden: fünfzig Zentimeter Arm- und hundertdreißig Brustumfang. Dazu Oberschenkel wie aus Kalkstein gemeißelt und mit dem Umfang kleiner Fässer. Ich entspannte wieder und ließ meine Brustmuskeln auf- und abhüpfen, so dass es aussah, als zappelten Katzen in einem Sack. Ich hörte, wie Mona der Atem stockte. »Einen solchen Körper verunstaltet man doch nicht mit schlechten Bildern«, sagte ich.

»Sehr schön«, sagte sie. »Aber das nächste Mal — sofern es ein nächstes Mal gibt — werde ich dich mit ein paar Knast-Tattoos ausstatten. Wir werden Henna nehmen, das kannst du wieder abwaschen. Du wirst aussehen, als hättest du ’n paar harte Jahre Huntsville hinter dir.«

Meine Neugier meldete sich zurück. »Wozu das?«, fragte ich.

»Dann wirkst du noch einschüchternder.«

»Wen soll ich denn einschüchtern?«

»Das wirst du gleich herausfinden.«

Sie kramte wieder in der Schublade und zog etwas aus Leder heraus. »Streif das über, es gibt dem Ganzen den letzten Schliff.«

Es sah aus wie eine Sturmhaube aus Leder, eins von den Dingern, die von Scharfrichtern getragen wurden, als das Köpfen noch en vogue war. Ich streifte sie über. Mona zerrte hinten an einem Lederriemen, befestigte ihn und schon saß die Maske fest an meinem Gesicht.

»Na bitte«, meinte sie, »jetzt siehst du richtig fies aus. Eine wahre Schreckgestalt.« Der Blick ihrer Augen hinter der Brille aus Fensterglas war konzentriert. Sie bereitete sich auf etwas vor.

»Danke«, sagte ich. »Und was passiert jetzt?«

»Was passiert, das passiert«, lautete ihre Antwort. »Ich glaube, es könnte dir gefallen. Falls nicht, denk immer daran: Es ist nur ein Spiel. Du musst nichts Schlimmes machen. Eigentlich musst du gar nichts machen.«

Sie nahm meine Hand und führte mich den Flur entlang.

Vier

Der große, nackte Mann hatte Haltung angenommen. June Cleaver – die dunkle Seite von June Cleaver – schlug ihm heftig ins Gesicht. Er hatte ein ausdrucksvolles, nahezu edles Gesicht, ein Gesicht, dem sogar Selbstherrlichkeit gut stünde, aber jetzt, nach der dritten Ohrfeige, fing er an zu schluchzen. June Cleaver griff sich unter den Rock, zog ihr Höschen herunter und stieg heraus. Ein delikater Akt, der mich ein wenig erregte. Ich atmete tief durch und zwang mich, an andere Dinge zu denken.

Mit der einen Hand hielt sie dem Mann die Nase zu, und während er nach Luft rang, stopfte sie ihm mit der anderen Hand das Höschen in den Mund. Dann legte sie ihm ein Hundehalsband um, befestigte eine Hundeleine daran und sagte: »Bei Fuß!« Der Mann hockte sich hin, hockte auf allen vieren, und fing an, wie ein Hund an ihren Füßen zu schnuppern. Sie versetzte ihm einen Tritt und er jaulte auf wie ein geschlagener Köter. Sie zog ihren Rock hoch, setzte sich rittlings auf ihn und zerrte dabei fest an der Leine. Dann langte sie nach hinten und versetzte ihm einen Schlag auf die blassen Arschbacken. »Auf geht’s!«, befahl sie, und der Mann kroch durch den Raum, das rosafarbene Höschen im Mund. Er war grauhaarig, um die fünfzig und fett, und offenkundig war er eingeschüchtert. Ich konnte mir die Aufregung vorstellen, die seinen Herzschlag beschleunigte bei dem Gefühl von einem nackten, feuchtwarmen Hinterteil geritten zu werden.

Irgendwo da draußen, in einem Park, unter einem unschuldigen blauen Himmel, spielten Kinder, warfen munteren kleinen Hunden Frisbees zu, während ihre normalen Mütter und Väter sie beobachteten. Etwas in mir wollte das glauben; etwas in mir wusste es besser. Frei nach einem dieser abgedroschenen Witze: ›Normal‹ ist eine Einstellung an der Waschmaschine. Und ›unschuldig‹ ist ein Begriff, der vor Gericht gebräuchlich ist.

Die Ausstattung des Kellers sollte an einen Kerker erinnern. Rundum standen oder lagen Folterinstrumente – eiserne Jungfrauen, Stühle mit Daumenschrauben, Peitschen, Ketten, Käfige. Genau wie ich war alles nur Staffage, um eine Atmosphäre der Einschüchterung zu schaffen. An der Wand neben mir lehnte ein Henkersbeil.

Auf dem Weg hinunter zum Kerker hatte Mona mir erklärt, worum es bei ›Mind Me!‹, so der Name ihres Unternehmens, ging. Sie war eine Domina mit über hundert wohlhabenden Kunden, die bereit waren, bis zu tausend Dollar pro Sitzung zu zahlen, um von ihr erniedrigt zu werden. ›Mind me!‹ bewegte sich völlig im Rahmen der Legalität. Sie zahlte sogar Gewerbesteuer an die Stadt. Als ihr vor fünf Jahren die Idee zu ›Mind Me!‹ gekommen war, hatte sie sich vom City Attorney beraten lassen. Der habe gemeint, sie könne jegliche Art von Dienstleistung anbieten. Wenn es Männer gebe, die dafür bezahlen, erniedrigt zu werden, dann habe auch die Stadtverwaltung keine Einwände. Allerdings unter einer Bedingung: Keine Penetration. Penetration würde den Geschäftszweck neu definieren und ein Bordell könne die Stadt nicht billigen.

Sie betrieb eine Website, eine 0190-Nummer und schaltete Anzeigen im hiesigen Blätterwald. Die Anzeigen in den Tageszeitungen waren diskret und verschlüsselt, so dass nur Eingeweihte sie verstanden. In anderen Publikationen hingegen waren die Anzeigen eindeutig zweideutig:

Bad Boys! Was Ihr jetzt braucht, ist echte Disziplin! Ihr wisst doch, wer Ihr seid, oder? Ihr wisst, was Ihr getan habt! Ihr müsst bestraft werden, und zwar sofort. Ihr sehnt Euch danach! Ein Leben ohne Bestrafung ist nichts als Täuschung! Hört auf, die Unschuldigen zu spielen! Kommt zu mir, meine Lieben, Mama kennt Praktiken, die Euch zum Quieken bringen!

Mein Job, erklärte sie mir, bestehe darin, im Hintergrund zu stehen, das Henkersbeil locker in den Händen. Auf ein Zeichen ihrerseits sollte ich das Beil in die Höhe heben und einen Schritt auf den Kunden zugehen. »Versuche, angespannt zu bleiben«, sagte sie. »Ich will, dass diese Muskeln aussehen wie Folterinstrumente.« Ich machte fünfzig Liegestütze und ein paar isometrische Übungen, um den Effekt zu erzielen, den sie wollte. Ich denke, ich sah ziemlich gut aus. Zur Hölle, vielleicht könnte ich bei einem Bodybuildertreffen der Senioren noch was reißen. Vielleicht langt es sogar zu einem Mister Irgendwer.

Nach zehn Minuten begann Monas Programm mich zu langweilen. Anfangs war es noch interessant, aber nach einer Weile lebte das Ganze nur noch von Wiederholungen. Ich träumte vor mich hin und verpasste prompt ihr Signal. Also musste sie auf sich aufmerksam machen. »Strobe!«, schrie sie, und ich war voll da. »Strobe, heb dein Beil! Zeig ihm, dass wir nicht spaßen!«

Ich hob das Beil in die Höhe und ging auf den Kunden zu. Er fing an zu schreien: »Mein Gott, bitte nicht!« Ich schwang das Beil über meinem Kopf und er zuckte zusammen. Mona sah ihn drohend an. Ich knurrte, er wimmerte. Wir alle agierten in dieser perversen kleinen Farce. Es widerte mich an.

Dann aber ging es mit mir durch. Ich war niemals so reich gewesen wie dieser Idiot, der seinen Reichtum einsetzte, damit ihm in einem Pseudo-Folterkeller einer abging. »Du Fettarsch von einem Hurensohn«, stieß ich hervor und ging mit dem Beil auf ihn los. Ich holte aus, das Beil sauste an seinem Kopf vorbei und landete in der Wand dahinter, hatte seinen Schädel nur um wenige Zentimeter verfehlt. Putz bröckelte von der Wand. »Stirb, Motherfucker!«, schrie ich. Er krabbelte weg von mir und zitterte vor Angst. Mona sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, eine perfekte Imitation echter Furcht. »Strobe!«, sagte sie. »Um Gottes willen, beherrsche dich!«

Der Kunde begriff, dass das nicht Teil des Spiels war, und wollte aufstehen. Doch Mona ohrfeigte ihn und befahl ihn wieder hinunter auf den Boden, vielleicht zu seiner eigenen Sicherheit. »Und du reißt dich jetzt zusammen«, zischte sie mir zu. »Sonst war es das für dich, Mister!« Sie stopfte dem Kunden den Slip zurück in den Mund und ich verzog mich ans andere Ende des Kellers. Mir schlug das Herz bis zum Halse. Ich nutzte diesen Moment, um in mich zu gehen. Mein Gott, ich hätte diesem reichen Wichser tatsächlich am liebsten den Kopf abgeschlagen. Hatte Mona das gemeint, als sie gesagt hatte, ich könne vielleicht noch etwas lernen?

Das Schmierentheater ging weiter: Sie ritt ihn, schlug ihn, ließ ihn den Boden lecken. Während sie ihm Hintern und Beine mit seinem eigenen Gürtel versohlte, ließ sie ihn eine Jig tanzen und dabei Love is A Many Splendored Thing singen. Ab und an warf sie mir einen nervösen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich die Fassung behielt. Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper, diese Genugtuung gab ich ihr nicht. So wie ich das Henkersbeil hielt, verkörperte ich mehr als nur Gleichgültigkeit.

Das arme Schwein war vor Anstrengung ganz rot im Gesicht. Er keuchte vor Erschöpfung und Erregung und sah überhaupt nicht gut aus. Unter der Haut seines geröteten Halses sah man das Pochen in der Halsschlagader. »Herrin, dürfte ich Euer göttliches Wasser anbeten?«, bettelte er. Eine Gefühlsaufwallung, die aus dem tiefsten Innern an die Oberfläche strebte. Sie verlieh seinem Mienenspiel zwei widerstreitende Züge: den des zu Unrecht bestraften Kindes und den des erwachsenen Mannes, der dem Paradies entgegensieht. Er kniete vor Mona. Sie platzierte einen ihrer spitzen Absätze auf seiner Schulter und stieß ihn auf den Rücken. Anschließend zog sie den Rock hoch und hockte sich dicht über sein Gesicht. »Sag bitte, du unwürdiges Schwein.« Er tat es. Sie bedachte ihn mit einem Golden Shower. Er kam.

Das Spiel war zu Ende. Erschöpft wankte der Kunde in das angrenzende Badezimmer, um sich zu säubern und anzuziehen. Mona und ich gingen nach oben. Irgendwie stand ich ein wenig neben mir. Ich zog mir die Henkersmaske vom Kopf. Das Material war nicht unbedingt atmungsaktiv und mein Haar somit schweißnass. Es sah aus, als hätte ich meinen Kopf unter einen Wasserhahn gehalten. Mona schob mich in das Badezimmer, das neben der Garderobe lag. Meine Sachen hingen bereits an der Tür. Ich duschte, zog mich an und fand mich anschließend in der Küche ein, wo die gesamte Familie Farnsworth saß und Jerry – noch immer in seinem Fummel – einen Imbiss für Harry und Babs zubereitete. In Speck gerollte Hot Dogs und Pommes frites. Mona nippte an einem Eistee.

»Was ist da unten eigentlich in dich gefahren?«, fragte sie.

Ich zuckte die Achseln. »Ich hab nur meine Rolle gespielt.«

»Das kannst du wohl laut sagen. Du hast den Kunden richtig in Panik versetzt. Ich habe mich schon gefragt, ob ich mit dir den größten Fehler meiner Karriere begangen habe. Für mich hat es so ausgesehen, als wolltest du ihn wirklich umbringen.«

Ich lachte. »Offenbar bin ich ein ganz guter Schauspieler, wenn selbst ein Profi mir auf den Leim geht.«

»Das war kein Schauspielern.«

»Wir schauspielern alle. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, meinst du nicht?«

Sie sah mich lange an, dann wechselte sie das Thema. »Willst du was essen, Killer?«

»Nicht diesen Junk.« Ich setzte mich zu ihnen.

Jerry brachte mir ein großes Glas Eistee. »Zucker?«, fragte er.

»Süßstoff, wenn ihr habt.«

»Haben wir.«

Ich konnte nicht anders, ich musste ihn fragen. »Warum trägst du diesen Fummel, Jerry? Gehört das zum Geschäft?«

»Er wechselt gern mal die Seiten«, sagte Mona. »Das ist sein Hobby. Jeder sollte ein Hobby haben.«

»Hat nichts mit dem Geschäft zu tun«, erklärte Jerry. »Es ist einfach mein Ding, verstehst du.« Mein Blick blieb kurz an Harry hängen. Jerry bemerkte es. »Die Kinder kommen damit klar, Uri. Hey, du bist doch nicht etwa einer von diesen bescheuerten Moralaposteln?«

»Kann ich noch einen Hot Dog haben?«, fragte Harry. Er war ganz der Vater, ein pummeliger Optimist ohne jegliches Schuldgefühl. Babs hingegen ähnelte Mona. Sie hatte die Hab-ich-alles-schon-gesehen-Augen ihrer Mutter. War sie erst einmal erwachsen, würde sie begehrenswert und furchteinflößend zugleich sein.

Jerry versorgte Harry mit einem weiteren in Speck eingewickelten und unter einer Velveeta-Käsetunke begrabenen Hot Dog. Offensichtlich hatten diese Leute noch nie etwas von Nitraten und gesättigten Fettsäuren gehört oder es war ihnen total egal. Hatten sie wirklich keine Ahnung, was sie ihren Kindern antaten, indem sie ihnen so einen Mist vorsetzten? Ich wollte sie gerade daran erinnern, dass Hot Dogs aus Abfällen hergestellt werden, die man in Schlachthäusern vom Boden fegt, und dass Velveeta alles andere ist, nur kein richtiger Käse, doch ich besann mich eines Besseren. Wie miserabel die Ernährung ihrer Kinder auch war, es blieb ihre Sache.

Mona – noch immer in June-Cleaver-Kostümierung – sah auf ihre Uhr. »Mr. Renseller lässt sich heute aber Zeit«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir mal nach ihm sehen.«

Laut Mona war Clive Renseller ein stadtbekannter Banker. Seinerzeit war er einer ihrer ersten zahlungskräftigen Kunden gewesen und inzwischen Stammkunde. Für die wöchentliche Sitzung berappte er tausend Dollar. Renseller war ein hochangesehener Bürger, ein führendes Mitglied der Gemeinde. Er war mit dem Gouverneur befreundet und hatte mit dem Präsidenten Golf gespielt. In diversen Zeitschriften waren Features über ihn erschienen. »Clive Renseller und die Zukunft im Zeichen des Optimismus« lautete der Titel eines Interviews, das im Money Magazine veröffentlicht worden war.

Renseller bevorzugte die Sitzungen um sechs Uhr abends, am Ende von Monas Arbeitstag. Sollte er nämlich mal den Wunsch verspüren, eingefahrene Gleise zu verlassen, konnte die Sitzung ruhig eine halbe Stunde länger dauern, ohne dass spätere Termine dadurch verzögert wurden. Mona war es egal, zumal die Überzeit – ob nun zehn Minuten oder eine volle Stunde – weitere tausend Dollar einbrachte. Sie arbeitete grob geschätzt acht Stunden am Tag. Ich überschlug das kurz: Mal angenommen, sie arbeitete fünf Tage die Woche und es handelte sich ausschließlich um 1000-Dollar-Kunden, dann kam sie auf mindestens hundertsechzigtausend im Monat. Selbst wenn ein paar Sitzungen à fünfhundert Dollar darunter waren, würde sich ihr monatliches Einkommen immer noch im sechsstelligen Bereich bewegen. Und die 0190-Nummer und Dienstleistungen, die sie über ihre Website anbot, waren in dieser Rechnung nicht mal enthalten.

Mona ging hinunter in den Keller. Kurz darauf kam sie zurück und sagte: »Wir haben ein Problem.«

Fünf

Clive Renseller saß auf dem Boden der Duschkabine und starrte ins Leere. Das mittlerweile kalte Wasser der Brause prasselte auf ihn herab und seine Haut – nicht mehr ganz so rosig – schien bereits leicht schrumpelig. Von der Mitte seines Kopfes zeigten die klatschnassen Haarsträhnen in alle Richtungen, wie Vektoren. Es sah aus, als meditiere er – ein Mönch aus dem 12. Jahrhundert, der gerade ein metaphysisches Rätsel zu entschlüsseln versuchte.

»Kannst du erste Hilfe?«, fragte Mona mit bangem Unterton.

Ich stellte das Wasser ab und fühlte an seinem Hals nach dem Puls, wohl wissend, dass da nichts war. Ebenso gut hätte es sich auch um ein neues Spiel handeln können, das er sich ausgedacht hatte: Sklave täuscht Ohnmachtsanfall in Dusche vor, Herrin peitscht ihn so lange aus, bis er wieder zu sich kommt und um göttliches Wasser bettelt. Aber dem war nicht so. Clive Renseller, Banker und Stütze der Gesellschaft, war tot.

»Mein Gott«, sagte Mona, »das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Ruf 911 an«, sagte ich, »es sieht aus, als ob Clive einen Herzinfarkt hatte.«

»Nein. Zuerst rufe ich seine Frau an. Das ist eine höchst unangenehme Situation.«

Wir gingen wieder hoch und Mona telefonierte. »Jillian Renseller ist gleich hier«, erklärte sie. »Ich hab sie auf ihrem Mobiltelefon erwischt – sie war gerade unterwegs, irgendwo zum Abendessen. Die Arme hat darum gebeten, vorerst niemanden zu benachrichtigen. Ich respektiere das.«

»So was kann man doch nicht respektieren«, widersprach ich. »Das Gesetz – «

»Jetzt hör mal gut zu«, sagte Mona, »hier steht einiges auf dem Spiel. Wenn das publik wird, ist mein Geschäft ruiniert. Die meisten meiner Kunden sind namhafte Bürger. Die wollen ihr Privatleben nicht unter dem Mikroskop ausbreiten. Das kannst du doch nachvollziehen, oder? Bekommt die Presse erst mal Wind davon, werden sie wochenlang unsern Rasen belagern. Meine Kunden werden sich fern halten müssen. Das kann ich mir nicht leisten. Jillian hat ebenfalls viel zu verlieren. Im Grunde haben alle was zu verlieren. Bitte, Uri, funk mir jetzt nicht dazwischen.«