Karin Slaughter Thriller-Bundle Vol. 1 (Tote Blumen / Pretty Girls) - Karin Slaughter - E-Book

Karin Slaughter Thriller-Bundle Vol. 1 (Tote Blumen / Pretty Girls) E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

TOTE BLUMEN

Das Grauen beginnt, wenn der Tag zu Ende geht.

Julia Carroll ist ein Glückskind. Sie ist schön, eine begabte Studentin, eine wunderbare Tochter und Schwester. Sie arbeitet ehrenamtlich mit obdachlosen Frauen. Eines Tages hält sie vergeblich Ausschau nach einer Gleichaltrigen, die noch nicht lange auf der Straße lebt. Das Mädchen ist hübsch, blond und hat blaue Augen - und scheint wie vom Erdboden verschluckt.

Julia ist vom Verschwinden der jungen Frau äußerst beunruhigt, denn sie ist nicht die Erste, die als vermisst gilt. Julia beginnt zu recherchieren - und ahnt nicht, dass jemand sie heimlich sehr genau beobachtet.
Und bereits dabei ist, sie einzukreisen, denn sie ist blond und hat blaue Augen ...

"Karin Slaughter ist definitiv eine der besten Thriller Autorinnen unserer Zeit ... Ich folge ihr überall hin"
Gillian Flynn

"Slaughter traut sich, was andere Thriller Autoren nicht wagen: Sie führt uns an die tiefsten und düstersten Orte"
Tess Gerritsen

PRETTY GIRLS

Nervenzerfetzend spannend. Atemberaubend düster. Psychologisch raffiniert.
Ein Stoff, aus dem Albträume gemacht sind.

"Pretty Girls": Der neue Roman von Karin Slaughter, dem internationalen Superstar des Thrillers!

März 1991. Nach einer Party kehrt die 19-jährige Julia nicht nach Hause zurück. Die eher halbherzig geführten Ermittlungen laufen ins Leere. Eine Leiche wird nie gefunden. Weder die Eltern noch die beiden Schwestern der Vermissten werden je mit dem Verlust fertig.

Vierundzwanzig Jahre später erschüttert eine brutale Mordserie den amerikanischen Bundesstaat Georgia. Und die frisch verwitwete Claire ist vollkommen verstört, als sie im Nachlass ihres verstorbenen Mannes brutales Filmmaterial findet, in dem Menschen ganz offensichtlich vor der Kamera auf grausame Weise ermordet werden. Eines der Opfer glaubt sie zu erkennen. Doch was hatte ihr verstorbener Mann damit zu tun? Wer war der Mensch wirklich, den sie über zwanzig Jahre zu kennen glaubte? Claire begibt sich auf eine lebensgefährliche Spurensuche, die sie immer dichter an eine unfassbare Wahrheit führt. Und an den eigenen Abgrund ...

"Die große Stärke des Romans liegt in der Empathie, mit der Karin Slaughter von der sukzessiven Wiederannährung zweier Frauen erzählt."
Marcus Müntefering, Spiegel Online

"Ein super spannender Roman"
Mike van Clewe, TV Movie

"Eines ihrer besten Bücher"
Andrea Kahlmeier, Express

"Eine vielschichtige Geschichte aus Familiendrama, Verblendung und Machtfantasien. Packend!"
Katharina Vollmeyer, People Magazin

"Eigentlich müssten Karin Slaughters Thriller mit einem Warnhinweis für Leser mit schwachen Nerven versehen sein… "
The Guardian

"Ergreifendes Familiendrama und atemberaubend rasanter Thriller gleichermaßen! ... Mit Sicherheit eines der Bücher des Jahres."
Lee Child

"Slaughter verfolgt ihre blutigen Pfade so kompromisslos bis in die aller dunkelsten Winkel, dass die Bücher der Konkurrenz im Vergleich dazu blass, formalistisch oder einfach nur konstruiert wirken."
Kirkus Reviews

"Karin Slaughters meisterhafte Schock-Taktik entlässt den Leser nicht eine Sekunde aus der Spannung."
The Times

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Seitenzahl: 808

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Karin Slaughter

Karin Slaughter Thriller-Bundle Vol. 1 (Tote Blumen / Pretty Girls)

HarperCollins

HarperCollins® Bücher erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Blonde Hair, Blue Eyes Copyright © 2015 by Karin Slaughter erschienen bei: Witness Impulse, ein Imprint von HarperCollins Publishers, LLC.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Covergestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Silvia Kuttny-Walser

Montag, 4. März 1991

7.26 Uhr, North Lumpkin Street, Athens, Georgia

Morgennebel zog durch die Straßen des Zentrums und legte sich wie Spinnweben in winzigen, verschlungenen Mustern auf die Schlafsäcke entlang des Gehsteigs vor dem Georgia Theater. Die Türen würden sich frühestens in zwölf Stunden öffnen, aber die Fans der Band Phish waren entschlossen, Plätze in der ersten Reihe zu ergattern. Zwei schwergewichtige junge Männer hatten sich in Gartenstühle aus Plastik gezwängt, die neben der mit einer Kette gesicherten Eingangstür standen. Zu ihren Füßen lagen Bierdosen, Zigarettenkippen und eine leere Sandwichtüte, die wahrscheinlich eine größere Menge Gras enthalten hatte.

Als Julia Carroll die Straße entlangging, folgten sie ihr mit den Augen. Julia spürte ihre Blicke so deutlich auf sich haften wie den Nebel. Sie schaute unbeirrt geradeaus und hielt den Rücken gerade, aber sofort überlegte sie, ob sie dadurch kalt und hochnäsig wirkte. Und schon im nächsten Moment fragte sie sich verärgert, welche Rolle es spielte, wie sie für diese beiden vollkommen fremden Typen aussah.

Früher war sie nie so paranoid gewesen.

Athens war eine Universitätsstadt, dominiert von der University of Athens, die dreihundert Hektar Grund in bester Lage einnahm und auf die eine oder andere Weise das halbe County beschäftigte. Julia war hier aufgewachsen. Sie studierte Journalistik und arbeitete für die Collegezeitung. Ihr Vater war Professor an der tiermedizinischen Fakultät. Mit ihren neunzehn Jahren wusste sie bereits, dass Alkohol und die passenden Umstände auch nett wirkende Jungs in Typen verwandeln konnten, denen man sogar an einem Freitagmorgen um halb acht nicht über den Weg laufen wollte.

Oder vielleicht benahm sie sich nur albern. Vielleicht war es wie damals, als sie spätabends am Old College vorbeiging, Schritte hinter sich hörte und einen bedrohlich aufragenden, sich immer schneller bewegenden Schatten sah. Ihr Herz blieb fast stehen blieb, und sie wäre am liebsten gerannt, doch dann hatte die furchterregende Erscheinung ihren Namen gerufen, und es war nur Ezekiel Mann aus dem Biologiekurs gewesen.

Er hatte ihr vom neuen Auto seines Bruders erzählt und dann Monty-Python-Sprüche zitiert, und Julia war immer schneller und schneller gegangen, so dass sie beide praktisch liefen, als sie Julias Unterkunft erreichten. Ezekiel hatte die Hand auf die geschlossene Glastür gepresst, während Julia aufschloss.

„Ich rufe dich an!“, hatte er beinahe gebrüllt.

Sie hatte ihn angelächelt, aber auf dem Weg zur Treppe gedacht: O Gott, bitte zwing mich nicht dazu, deine Gefühle zu verletzen.

Julia war wunderschön. Sie wusste es, seit sie klein war, aber statt es als ein Geschenk anzunehmen, hatte sie es immer als eine Bürde empfunden. Die Leute gingen bei schönen Mädchen von bestimmten Annahmen aus. Sie waren die eiskalten, hinterhältigen Miststücke, die in Filmen von John Hughes am Ende immer die Quittung bekamen. Sie waren die Trophäen, auf die kein Typ Anspruch zu erheben wagte. Ihre Schüchternheit wurde als Arroganz, ihre Ängstlichkeit als Missbilligung verstanden. Dass Julia aufgrund dessen im reifen Alter von neunzehn immer noch Jungfrau war und fast ohne Freunde dastand, blieb weitgehend unbemerkt, nur ihre beiden jüngeren Schwestern registrierten es.

Im College sollte endlich alles anders werden. Gut, ihr Wohnheim lag nur einen halben Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt, doch es war Julias Chance, sich neu zu erfinden, die Person zu werden, die sie immer hatte sein wollen: stark, selbstbewusst, glücklich, zufrieden (und keine Jungfrau). Sie unterdrückte die Neigung, lesend in ihrem Zimmer zu sitzen, während sich das Leben draußen vor ihrer Tür abspielte. Sie wurde Mitglied im Tennisclub, im Leichtathletikclub und im Wildlife-Club. Sie schloss sich keinen Cliquen an, sondern sie sprach mit allen Leuten. Sie lächelte Fremde an. Sie ging mit Jungs aus, die nett, wenn auch nicht wahnsinnig interessant waren, und die sie mit ihren verzweifelten Küssen immer an Neunaugen erinnerten, wie sie sich an einer Bachforelle festsaugen.

Doch dann geschah die Sache mit Beatrice Oliver.

Julia hatte die Geschichte des Mädchens am Telex im Red & Black, der Campuszeitung der University of Georgia verfolgt. Neunzehn Jahre, genau wie Julia. Blondes Haar und blaue Augen, genau wie Julia. Studentin, genau wie Julia.

Bildhübsch.

Vor fünf Wochen hatte Beatrice Oliver gegen zehn Uhr abends ihr Elternhaus verlassen. Sie ging zu Fuß zum Supermarkt, um Eiskrem für ihren Vater zu holen, der unter Zahnschmerzen litt. Julia wusste nicht, warum ihr dieser Teil der Geschichte so ins Auge sprang. Es wirkte irgendwie verdächtig – warum sollte jemand etwas Eiskaltes auf einem schmerzenden Zahn haben wollen? –, aber so hatten es beide Eltern der Polizei erzählt, also war es Teil der Geschichte.

Und die Geschichte lief über den Fernschreiber, weil Beatrice Oliver nicht mehr nach Hause gekommen war.

Julia war wie besessen vom Verschwinden des Mädchens. Sie sagte sich, dass es wahrscheinlich daran lag, dass sie für Red & Black von der Sache berichten wollte, aber in Wahrheit machte es ihr eine Höllenangst, dass jemand – und nicht irgendwer, sondern ein Mädchen in ihrem Alter – zur Tür hinausging und einfach nicht wieder zurückkehrte. Julia wollte die Einzelheiten wissen. Sie wollte mit den Eltern des Mädchens reden. Sie wollte Beatrice Olivers Freundinnen, eine Verwandte oder einen Nachbarn interviewen, vielleicht einen Kollegen oder einen Typen, mit dem sie ging, oder einfach irgendwen, der ihr eine Erklärung lieferte, wie sich ein neunzehnjähriges Mädchen, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte, in Luft auflösen konnte.

„Wir haben es wahrscheinlich mit einer Entführung zu tun“, war der Detective im ersten Beitrag zitiert worden. Alle persönlichen Gegenstände von Beatrice waren noch da, darunter ihre Handtasche, das Bargeld, das sie in ihrer Sockenschublade aufbewahrte, und ihr Wagen, der noch in der Einfahrt der Familie stand.

Von Beatrice Olivers Mutter stammte die Aussage, die Julia am meisten frösteln ließ: „Meine Tochter ist nur deshalb nicht nach Hause gekommen, weil jemand sie festhält.“

Festhält.

Julia schauderte bei dem Gedanken, festgehalten zu werden – ihrer Familie, ihres Lebens, ihrer Freiheit beraubt. In ihren Kinderbüchern war der Schwarze Mann immer struppig, dunkel und bedrohlich gewesen, ein Wolf im Schafspelz, aber immer noch eindeutig ein Wolf (wenn man genau hinsah). Sie wusste, im richtigen Leben war es nicht wie in diesen Märchen. Man erkannte nicht sofort am verräterischen Bart, dass der Wolf ein böser Mann war.

Wer immer Beatrice Oliver auch festhalten mochte, es konnte ein Freund, ein Kollege, ein Nachbar oder ein Junge sein, mit dem sie ging – genau die Leute, die Julia gern persönlich interviewt hätte. Allein. Mit nichts als einem Notizblock und einem Stift bewaffnet. Im Gespräch mit einem Mann, der das Mädchen in genau diesem Augenblick vielleicht an irgendeinem schrecklichen Ort gefangen hielt.

Julia legte die Hand auf den Bauch, um das Grummeln zu beruhigen, und sah sich nervös in alle Richtungen um.

Sie bemühte sich, ihre Angst ein wenig durch vernünftige Überlegung zu mildern. Es konnte durchaus sein, dass sie sich grundlos in solche Anspannung hineinsteigerte, denn die Interviews zum Fall Beatrice Oliver würden vielleicht nie stattfinden. Bevor Julia mit irgendwem sprach, musste sie nämlich einen offiziellen Auftrag für den Artikel erhalten: Nur Nachrichtenjournalisten waren berechtigt, Fragen zu stellen, Feuilletonschreiber wie Julia taten dies lediglich aus Neugier. Ihr größtes Hindernis würde Greg Gianakos sein, der studentische Chefredakteur, der sich für den zukünftigen Walter Cronkite hielt, und bei dem Julia immer daran denken musste, was ihr Vater über Beagles gesagt hatte: Sie lieben den Klang ihrer eigenen Stimme.

Wenn sie Greg auf ihre Seite brachte, würde Lionel Vance, Gregs Lakai, folgen (obwohl er schmollte, weil Julia ihn abgewiesen hatte, als er mit ihr ausgehen wollte). Die letzte Hürde würde dann Mr. Hannah, der Berater der Fakultät, sein. Er war sehr nett, aber er liebte es, wenn Redaktionssitzungen, bei denen Aufträge für Artikel vergeben wurden, wie Wettkämpfe im Klippenspringen auf dem Sportkanal abliefen.

Während Julia in die nächste menschenleere Straße einbog, übte sie lautlos, wie sie die Idee zu ihrem Artikel pitchen wollte.

Beatrice Oliver, ein neunzehnjähriges Mädchen, das bei ihren Eltern wohnt …

Nein. Die anderen würden Schnarchgeräusche machen, ehe sie den Satz zu Ende gebracht hatte.

Ein verschwundenes Mädchen!

Nein. Viele Mädchen verschwanden. Meistens tauchten sie ein paar Tage später wieder auf.

Ein junges Mädchen ging spätabends zum Supermarkt, als plötzlich …

Julia fuhr herum. Sie hatte ein Geräusch hinter sich gehört, ein Scharren wie von schlurfenden Schritten. Sie suchte alles mit den Augen ab, sah Glasscherben, leere Bierflaschen und weggeworfene Zeitungen, aber sonst nichts. Zumindest nichts, wovor sie Angst haben müsste.

Langsam und vorsichtig ging sie weiter, schaute trotzdem noch in Hauseingänge und Seitengassen und wechselte einmal die Straßenseite, um nicht an einem großen Berg Müll vorbeizumüssen.

Paranoid.

Reporter sollten eigentlich alles mit einem kühlen, an den Fakten orientierten Blick betrachten, aber seit Julia von Beatrice Oliver gelesen hatte, waren ihre Träume voller Bilder, die nichts mit Fakten zu tun hatten, sondern ihrer eigenen wilden Fantasie entsprangen. Beatrice lief die Straße entlang. Die Nacht war dunkel, der Mond verhüllt. Kälte lag in der Luft. Sie sah eine brennende Zigarette aufglühen, hörte das leise Trippeln von Schuhen auf dem Asphalt, und dann schmeckte sie eine nikotinfleckige Hand, die sich über ihren Mund schloss, fühlte eine rasiermesserscharfe Klinge an ihrer Kehle und roch den sauren Atem eines Fremden, der sie zu seinem Wagen schleifte, in den Kofferraum sperrte und an einen dunklen, feuchten Ort fuhr, wo er sie festhalten konnte.

Wäre Julias Mutter nicht Bibliothekarin, würde sie wahrscheinlich den Büchern, die Julia las, die Schuld an den düsteren Fantasien ihrer Tochter geben. The Stranger Beside Me. Helter Skelter. Das Schweigen der Lämmer. Hexenstunde. Aber ihre Mutter war nun mal Bibliothekarin, deshalb würde sie wahrscheinlich nur mit den Schultern zucken und ihrer ältesten Tochter raten, besser keine Geschichten zu lesen, die ihr Angst machten.

Oder machte es Julia immun gegen Gefahr, wenn sie sich vor diesen Dingen fürchtete, wenn sie ihre schrecklichen Ängste zum Ausdruck brachte?

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass ihr T-Shirt bei jedem Schlag auf der Haut kitzelte. Sie griff in ihre Handtasche. Der Walkman lag in das gelbe Halstuch geschmiegt, das sie rasch noch zu Hause abliefern musste; sie hatte es ihrer Schwester versprochen. Ihr Finger ruhte auf dem Startknopf, aber sie drückte ihn nicht. Sie wollte nur die Kassette darin spüren, die krakelige Handschrift des Jungen heraufbeschwören, der sie für sie aufgenommen hatte.

Robin Clark.

Julia hatte ihn vor zwei Monaten kennen gelernt. Kurze Nachrichten waren hin und her gegangen, es hatte Telefonate gegeben und einige Verabredungen in der Clique, bei denen sie tiefe Blickte ausgetauscht und Händchen gehalten hatten. Und dann hatten sie sich endlich allein getroffen. Er hatte sie so ausdauernd und so gut geküsst, dass sie dachte, der Schädel würde ihr zerspringen. Sie hatte ihn einmal nach Hause mitgenommen, nicht damit er ihre Eltern kennenlernte, sondern weil sie ihre Wäsche abholen musste. Ihre jüngste Schwester hatte gelacht, weil Robin ein Mädchenname war, bis Julia sie auf den Arm geboxt hatte, damit sie aufhörte. (Ausnahmsweise hatte die kleine Göre mal nicht gepetzt.)

Auf der Kassette waren Songs, von denen Robin glaubte, sie würden Julia gefallen, nicht solche, von denen er wollte, dass sie ihr gefielen. Statt Styx, Chicago und Metallica fanden sich also Belinda Carlisle und Wilson Phillips, die Beatles und James Taylor und viele Songs von Madonna, weil Robin Madonna genauso fantastisch fand, wie Julia es tat.

Mit diesem Musikmix hatte zum ersten Mal in ihrem Leben ein Junge gezeigt, dass er sie so sah, wie sie war, und nicht, wie er sie gern gehabt hätte. Julia hatte jahrelang so getan, als würde sie Schlagezugsoli und kreischende Gitarren lieben und Raubkopien von Künstlern angehört, die tragischerweise verstorben waren, ehe sie der ganzen Welt (und nicht nur dem Jungen, der die Kassette aufgenommen hatte) beweisen konnten, wie cool sie waren.

Robin wollte nicht, dass Julia etwas vorgab. Er wollte einfach nur, dass sie sie selbst war. Ihre Professorin in Frauenforschung hätte wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen bei dem Bekenntnis, dass Julia endlich sie selbst sein wollte – aber nur, weil sie einen Jungen gefunden hatte, der es ebenfalls wollte.

„Robin“, flüsterte Julia in die kühle Morgenluft, denn sie liebte es, wie sich sein Name in ihrem Mund anfühlte.

Er war zweiundzwanzig, groß und schlank, mit sehnigen Oberarmen, weil er in der Bäckerei seines Vaters schwere Bleche voll Brot heben musste. Er trug sein dunkelbraunes Haar in einem wuscheligen Jon-Bon-Jovi-Haarschnitt, hatte blaue Augen wie ein Husky, und wenn er Julia ansah, regte sich tief in ihr an einem Ort etwas, für den sie keinen rechten Namen hatte.

Es hatte ein paar Jungs vor Robin gegeben. Sie waren meist älter, so wie er (wenngleich nie so reif), die Sorte Jungs, die sich von Julias Aussehen nicht übermäßig einschüchtern ließen, weil sie Autos und Geld in der Tasche hatten. Ihr Vater hatte Julia gewarnt, diese Jungen wollten nur das Eine. Er verstand nicht, dass Julia dieses Eine ebenfalls wollte.

Weiter als bis zum Petting war es bisher aber nie gegangen. Brent Lockwood war sechzehn (fast siebzehn) gewesen, Julia fünfzehn (näher an vierzehn). Er hatte ihren Vater um die Erlaubnis gebeten, sie ausführen zu dürfen, und ihr Vater hatte gesagt, er solle erst mal zum Friseur gehen und sich einen Job suchen, dann könne er wiederkommen.

Dass Brent ein paar Tage später mit einem Kurzhaarschnitt und einer Schürze von McDonald’s wieder vor der Tür stand, hatte ihren Vater überrascht, ihre Mutter amüsiert und ihre Schwestern vor Lachen brüllen lassen. Julia war entsetzt, denn Brents Haare waren das Beste an ihm gewesen. Fortan haftete hartnäckig der Geruch von gegrillten Burgern an ihm, und Julia war Vegetarierin. In Brents Nähe zu sein, war eine deprimierend humorlose Variante des Pawlow’schen Experiments.

Und dennoch hatte sie es versucht (auf dem Rücksitz seines Wagens, auf der Couch im Wohnzimmer), denn Brent sah gut aus, und alle wussten, er war schon mit vielen Mädchen zusammen gewesen, und das war Julias Chance, es hinter sich zu bringen. Sie wünschte sich so verzweifelt, das reife, anspruchsvolle Mädchen zu sein, für das alle sie hielten; das Mädchen, das sich mit Jungs auskannte, das Erfahrung hatte, das verwöhnte, wunderschöne Mädchen, das jeden Mann um den Finger wickeln konnte.

Aber Brent war in sie verliebt gewesen, und er hatte sanft sein und sich Zeit lassen wollen, was in Kombination mit der Frittenfett-Ausdünstung seiner Haut quälend langweilig war.

Robin war in keiner Hinsicht langweilig. Er roch wirklich gut, nach Kiefer mit einem nicht unangenehmen Hauch Brot von der Bäckerei. Seine Haut war schön gebräunt, weil er das ganze Jahr wanderte und Rad fuhr. Er sah Julia in die Augen, wenn er mit ihr sprach. Er versuchte nicht, ihre Probleme zu lösen, er hörte nur zu. Er lachte über ihre Witze, selbst über die schlechten (vor allem über die schlechten). Er konnte auch verträumt sein. Er wollte Künstler werden, besser gesagt: er war bereits ein Künstler (der Job in der Bäckerei war nur vorübergehend). Julia hatte Arbeiten von ihm gesehen. Der sanft geschwungene Hals eines Rehs, das sich zu einer Quelle neigt, um zu trinken. Die irren Rot- und Orangetöne eines Sonnenaufgangs. Seine Hand, die sich um die Rundung von Julias Hüfte legte.

Er hatte dieses Bild auf eine Serviette skizziert, bevor er aktiv wurde, hatte es Julia bei einer Tasse Tee im Student Center gezeigt und erklärt, die Zeichnung zeige, was er gern tun würde. Ihre Knie zitterten, als es Zeit war aufzustehen. Ihre Handflächen waren verschwitzt. Als er dann seine Hand wirklich auf ihre Taille legte, war Julia so aufgeladen von Vorfreude, dass es sich anfühlte, als fließe Strom aus seinen Fingern,

„Ich werde dich jetzt küssen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, bevor er es tat.

Julia nahm die Hand von dem Walkman. Der Lieferwagen des Obdachlosenzentrums, in dem sie ehrenamtlich arbeitete, stand an der Kreuzung von Hull und Washington, einem Bereich der Stadt, der aus unerfindlichen Gründen Hot Corner genannt wurde. Vor der Frühstücksausgabe hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Es waren mindestens dreißig Leute da, zumeist Männer, doch auch ein paar Frauen. Sie schlurften mit gesenkten Köpfen und den Händen in den Taschen vorwärts. Ihre ganze Haltung brachte zum Ausdruck, dass sie es hassten, milde Gaben anzunehmen, aber keine andere Wahl hatten, und so standen sie im Morgengrauen resigniert Schlange, um wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu haben.

„Guten Morgen“, rief Candice Bender. Sie verteilte Alubehälter mit Rührei, Schinken, Maisgrütze und Toast. Von dem großen Kaffeespender in der offenen Heckklappe des Lieferwagens durfte man sich selbst bedienen.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“ Julia war nicht verspätet, aber sie hatte die nervöse Angewohnheit, Unterhaltungen mit einer Entschuldigung zu beginnen. Sie holte einen Stapel Decken aus dem Fahrzeug und musterte die Schlange der Wartenden. Jemand fehlte. „Wo ist Mona Namenlos?“

Candice zuckte mit den Achseln.

Julia inspizierte die Schlange eingehender. Bei jedem Gesicht, in das sie prüfend schaute, wuchs ihre Beunruhigung.

„Siehst du sie nicht?“, fragte Candice.

Julia schüttelte den Kopf. Sie machte diesen Job schon lange genug, um zu wissen, dass die Leute irgendwann einfach weiterzogen, aber sie konnte die düsteren Gedanken nicht unterdrücken, die sich ihrer bemächtigten.

Mona war jung, nur wenige Monate älter als Julia. Sie achtete mehr auf sich als die anderen, badete öfter und trug hübschere Sachen, denn sie verpulverte ihr Geld nicht für Drogen. Sie war an ihrem achtzehnten Geburtstag bei ihren Pflegeltern rausgeflogen und hatte irgendwann die Dinge getan, die manche Mädchen eben tun mussten, um zu überleben. Als Julia sie nach ihrem Nachnamen fragte, hatte Mona trotzig erklärt: „Ich hab kein’ Namen, du Kuh.“

„Dann also Mona Namenlos“, hatte Julia erwidert, denn sie war schlecht gelaunt und leicht verkatert von einem spontanen Besäufnis am Vorabend gewesen. (Zu ihrer Beschämung war der Spitzname hängen geblieben.)

„Mona war letzte Nacht nicht hier“, sagte eine andere Obdachlose, als sie sich eine saubere Decke abholte.

„Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?“, fragte Julia.

„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“

Sie passten nicht aufeinander auf, diese Frauen. Es gab Rivalität. Klatsch. Das gesellschaftliche System, wenn man es so nennen wollte, erinnerte Julia an die Highschool, denn es brachte die gleichen Rollen hervor: die Hure, der Liebling des Lehrers, das brave Mädchen, das Miststück, die Streberin. Mona war das Miststück, denn sie war hübsch. Sie hatte noch alle Zähne, sie trug Make-up, sie sah nicht obdachlos aus. Delilah war die Hure, denn sie war älter und erfahrener. Und sie war tatsächlich eine.

Gegenwärtig gab es acht Frauen in der Gruppe, und anders als bei Beatrice Oliver, die entführt worden war, als sie Eiskrem für ihren Vater holen ging, trafen die düsteren Vorstellungen, die sich Julia über das Leben dieser obdachlosen Frauen machte, sehr wahrscheinlich zu. Prostitution. Drogen. Hunger. Krankheit. Angst. Einsamkeit. Denn die meisten obdachlosen Menschen waren unfassbar und herzzerreißend einsam.

„Ich hab Mona in den Wald gehen sehen“, sagte Delilah. „So um zehn, elf gestern Abend, kurz bevor der Regen kam.“

Julia nickte, um ihr zu zeigen, dass sie zugehört hatte.

Delilah war unheimlich, denn sie war unberechenbar. Sie hatte die Neigung zu schreien, zu weinen, pausenlos zu summen oder so laut zu lachen, dass einem die Ohren klangen. Sie war süchtig und schon länger auf der Straße als Julia ehrenamtlich in der Unterkunft tätig war. Delilah hatte Bilder ihrer erwachsenen Kinder in der Tasche und führte ein Spritzbesteck mit sich, das nur sie selbst benutzte.

In den letzten vier Jahren hatte Julia die Highschool abgeschlossen, einen Collegeplatz bekommen und ihr erstes Studienjahr mit Auszeichnung beendet, und sie war zur Feuilletonredakteurin bei Red & Black befördert worden.

Im selben Zeitraum war Delilah wiederholt ausgeraubt worden. Sie hatte sämtliche Schneidezähne bei einer Schlägerei verloren, das Haar fiel ihr aufgrund der Mangelernährung büschelweise aus, und auf ihrer Haut bildeten sich seltsame, bläulich-braune Male.

AIDS, dachte Julia, aber niemand sprach das Wort laut aus, denn AIDS war ein Todesurteil.

„Im Wald lebt neuerdings eine Gruppe von Leuten“, sagte Candice zu Julia. „Ich bin gestern hingegangen, um zu sehen, ob sie Hilfe brauchen, aber anscheinend leben sie unter freiem Himmel, weil es ihnen Spaß macht, nicht weil sie in einer Notlage wären.“

Julia gab einem Mann im Militäranzug eine Decke. Auf seiner schwarzen Baseballmütze stand Vietnam MIA Never Forget. „Sie machen quasi Camping, oder wie?“, fragte sie Candice. Robin war diese Woche mit seiner Familie beim Zelten. Julia hatte er nicht dazu eingeladen, aber nur weil es merkwürdig gewesen wäre, die erste gemeinsame Nacht ausgerechnet im Kreis seiner Familie zu verbringen. „Mona kommt mir nicht wie der Camping-Typ vor.“

„Der Sheriff meint, es ist eine Sekte.“ Candice runzelte übertrieben die Stirn. Wie Julias Mutter war auch sie früher ein Hippie gewesen und legte eine gesunde Skepsis gegenüber Autoritäten an den Tag. „Sie sind alle ungefähr in deinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Wenn du mich fragst, ist es eher eine Kommune. Sie kleiden sich ähnlich, sie reden ähnlich, sie benehmen sich ähnlich.“

„Warum sollte Mona mit denen abhauen?“, fragte Julia.

„Warum nicht?“ Candice war mit der Essensausgabe fertig und wandte sich den Decken zu. „Angeblich haben sie vor, auf dem Appalachian Trail zum Mount Katahdin zu wandern, aber für mich klingt das mehr wie ein Vorwand, sich nicht mehr zu waschen und zu rammeln wie die Karnickel.“

„Ich bin dabei!“, brüllte Vietnam.

„Wo campen sie?“, fragte Julia.

„Gleich hinter dem Wishing Rock.“

Also nicht in der Nähe von dem Platz, an dem Robin und seine Familie in dieser Woche zelteten.

„Was hieltest du denn davon?“, fragte Candice. Sie war eine pensionierte Lehrerin und immer noch begierig darauf, junge Menschen zu formen. „Von zu Hause weggehen, alle weltlichen Besitztümer aufgeben, sich von den Gaben der Natur ernähren. Könntest du dir so ein Leben vorstellen?“

Julia zuckte mit den Achseln, obwohl sie sich noch eher vorstellen konnte, auf dem Mond herumzuspazieren. „Sie sind eben Freigeister, oder? Das hat schon was Romantisches.“

Candice lächelte. Anscheinend war es die richtige Antwort gewesen.

Julia holte eine Mülltüte aus dem Wagen und machte sich daran, die leeren Aluschalen und Kaffeebecher einzusammeln. Sie hatte keine Ahnung, warum es ihr nichts ausmachte, hinter diesen Leuten aufzuräumen, während sie einen Wutanfall bekam, wenn sie auch nur eine einzige schmutzige Socke aufheben musste, die ihre faulen jüngeren Schwestern auf der Treppe liegen gelassen hatten.

Sie hatte kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag mit der ehrenamtlichen Arbeit im Obdachlosenzentrum begonnen. Es war Sommer gewesen, und sie hatte sich gelangweilt. Sie hatte keine Lust gehabt, ein Buch zu lesen. Ihre Schwestern trieben sie in den Wahnsinn. Sie hatte es satt, den Babysitter für sie zu spielen. Sie hatte es satt, Verantwortung zu übernehmen. Sie hatte es satt, darauf zu warten, endlich erwachsen zu sein.

„Mal sehen, ob du das drauf hast“, hatte ihr Vater im Auto auf dem Weg zum Zentrum gesagt.

„Was?“, hatte Julia gereizt zurückgefragt, denn sie wusste nicht, was „das“ war, sie wusste nicht, dass er sie in den heruntergekommen Teil der Stadt brachte, wo sie sich um übelriechende, verrückte Obdachlose kümmern sollte.

Das Asyl war als eine Lektion fürs Leben gedacht, wie damals, als ihre Eltern verlangten, dass sie alle ein Weihnachtsgeschenk aus ihren Sachen auswählten, das sie dem Kinderheim spenden sollten, und es durften keine Socken und keine Unterwäsche sein. Sie hasste es, wenn man sie zwang, solche Dinge zu tun. Sie hasste es, wenn sie mit einer List ins Auto ihres Vaters gelockt wurde, der ihr erzählt hatte, sie würden sich einen Wurf neu geborener Hundewelpen ansehen. Sie war dickköpfig (wie ihre Mutter, sagte ihr Vater), sie war widerspenstig (wie ihr Vater, sagte ihre Mutter) und sie war eigenwillig (wie ihre Eltern, sagte ihre Großmutter) und tyrannisch (wie ihre Großmutter, sagten ihre Schwestern), und nur weil sie das alles war, hatte sie in jenen ersten Monaten im Obdachlosenzentrum durchgehalten.

Ich werde ihm beweisen, dass ich es draufhabe, hatte Julia lautlos geschäumt und sich in einer Weise ins Kochen, Saubermachen und Wäschewaschen gestürzt, dass ihre Mutter gar nicht mehr aufhören konnte, sarkastisch das Gesicht zu verziehen.

„Julia spült Geschirr?“ Die Stimme ihrer Mutter trillerte wie eine Fahrradklingel. „Julia Carroll, das Mädchen, das hier im Haus wohnt?“

Was Julia dazu veranlasste, weiter ins Obdachlosenheim zu gehen, war schwer zu erklären. Es machte ihr nicht übermäßig viel Freude, schmutzstarrende Kleidung zu waschen und Toiletten zu schrubben. Und doch zwang sie sich zwei- oder dreimal in der Woche um sieben Uhr morgens aus dem Bett und ging zu Fuß ins Pennerviertel oder zu der Unterkunft an der Prince Avenue, um Essen und Decken auszugeben oder bei Drogensüchtigen, Geisteskranken und anderen verlorenen Seelen sauber zu machen.

Wegen ihres Aussehens neigten viele Leute dazu, Julia besitzen zu wollen.

Die Leute, denen sie durch die Arbeit im Heim diente, brauchten sie.

„Kannst du hier allein weitermachen, Kindchen?“, fragte Candice. „Ich habe eine Besprechung beim Bürgermeister.“

„Natürlich.“ Julia warf den Müllsack in den Lieferwagen. Sie holte Stifte und einen Stapel Papiere vom Vordersitz – Formulare, die ausgefüllt werden mussten, Anträge für Behindertenausweise, Kriegsveteranenunterstützung und das staatliche Gesundheitsprogramm. In den nächsten Stunden erledigt Julia Papierkram, telefonierte von dem versifften Münztelefon mit Behörden und sprach mit einigen Gruppenmitgliedern darüber, was sie mit ihrem Leben anfangen wollten. Viele von Julias Freunden spotteten über ihr ehrenamtliches Engagement (sie hielten Obdachlose für faul), aber sie verstanden einfach nicht, dass Menschen im Allgemeinen nicht wegen eines schwerwiegenden Charakterfehlers auf der Straße landeten, sondern durch eine Folge scheinbar unbedeutender negativer Entscheidungen, wie etwa den falschen Polizisten zu verärgern, sich mit den falschen Leuten herumzutreiben oder die Schule, die Arbeit oder einen Termin beim Bewährungshelfer zu schwänzen, weil sie vor lauter Erschöpfung nicht daran gedacht hatten, den Wecker zu stellen.

Julia war keine Psychiaterin, aber bei vielen ihrer Schützlinge lagen ganz offensichtlich psychische Probleme vor, zum Beispiel eine leichte Paranoia, Depressionen oder ausgewachsene Wahnvorstellungen.

„Reagan“, hatte ihre Mutter nur gesagt, als Julia ihr das erste Mal von diesem Phänomen erzählt hatte. „Was dachte er, würde passieren, als er die Bundessmittel für psychiatrische Kliniken zusammenstrich? Sie leben jetzt alle entweder auf der Straße oder im Gefängnis.“

Beatrice Oliver. Das Mädchen, das Eiskrem holen ging und nie wieder gesehen wurde. Sie war wegen einer Depression in Behandlung gewesen, was eine echte psychische Erkrankung war. Julia hatte es im Telex gelesen. AP hatte einen Reporter zu den Eltern geschickt, als die nach ihrer Tochter suchten (nach ihrer Leiche, aber das sagte niemand), und die Mutter hatte eingeräumt, Beatrice sei einmal wegen einer Depression behandelt worden.

Julia hatte in ihrem ersten Jahr am College einen Psychologen aufgesucht. Sie hatte es niemandem erzählt, weil es peinlich war, zuzugeben, dass es ihr nicht so leicht fiel wie gedacht, nicht mehr zu Hause zu wohnen. Am Ende der Sitzung hatte der Mann tatsächlich gegähnt, was ihr mehr half als seine allgemeinen Ratschläge (Schließen Sie sich einer Gruppe an, probieren Sie eine neue Sportart oder einen neuen Haarschnitt aus, lächeln Sie mehr), denn es zeigte ihr, dass ihre Probleme banal waren und dass die Kids auf dem Campus, die scheinbar alles locker auf die Reihe brachten, wahrscheinlich unter den gleichen langweiligen Ängsten litten.

Aber es brachte sie auch ins Grübeln. Falls Julia eines Tages verschwinden oder, Gott behüte, entführt werden sollte, würde dann ein Reporter herausfinden, dass sie mit einem Psychologen gesprochen hatte? Und würde ein solches Gespräch auf eine Art psychische Krankheit hinweisen?

„Die hat einer mitgenommen!“ Delilahs barsche Stimme riss Julia aus ihren Gedanken. „Merk dir meine Worte, Schwester.“

Julia sah von dem Brief auf, den sie an Delilahs Tochter schrieb. Das Mädchen schrieb nie zurück, was Julia mehr zu enttäuschen schien als Delilah.

„Die hat einer mitgenommen“, wiederholte Delilah. „Mona Namenlos. Ein Mann hat die mitgenommen.“

„Aha“, war alles, was Julia einfiel.

„Nicht, was du meinst“, sagte Delilah. „So hat er sie mitgenommen …“ Delilah knurrte und beschrieb einen Kreis mit den Armen, als würde sie jemanden gewaltsam festhalten.

Julia zog die Arme an den Körper, als würde der Mann sie gleich packen.

„Sie is’ die Straße lang gegangen“, sagte Delilah, „sie is’ an dieser Oldtimer-Karre vorbeigekommen, und dann war dieser schwarze Transporter auf einmal da, die Schiebetür is’ aufgegangen, und dieser Mann, so ein großer, starker Kerl, ein Weißer, hat rausgelangt und …“ Sie machte wieder die zupackende Geste.

Julia rieb sich die Arme, weil sie fröstelte. Sie sah den schwarzen Transporter, sie sah die Tür aufgleiten, die verschwommene Gestalt eines adretten, typisch amerikanischen Jungen aus dem Dunkel auftauchen, er streckte die Arme aus, seine Finger verwandelten sich in Klauen. Er verzog den Mund zu einem Zähnefletschen, und seine Zähne waren rasiermesserscharf.

„Pass auf, was ich dir sage, Kind.“ Delilahs Stimme war nun ein bedrohliches Knurren. „Die hat sich einer geschnappt. Jede von uns kann geschnappt werden. Jede von euch.“

Julia legte den Kugelschreiber beiseite. Sie sah in Delilahs wässrige gelbe Augen. Heroin. Dafür war Delilahs Spritzbesteck da. Kaposi-Sarkom. Daher kamen die Hautflecken. Julia hatte mehrere Artikel über HIV und AIDS für Red & Black verfasst und wusste, die seltene Krebsart konnte auf die Organe übergreifen und das Gehirn schädigen. Delilah war schon zu ihren besten Zeiten nicht klar im Kopf. Berichtete sie eine Art Vision oder einen Fiebertraum? Es konnte ja wohl nicht sein, dass jemand mitten im Zentrum von Athens einfach so in ein Auto gezerrt wurde.

Andererseits schien es auch nicht möglich, dass ein Mädchen geraubt wurde, während es vom Haus ihrer Eltern zum Supermarkt ging, um Eis zu holen.

Nicht nur geraubt.

Festgehalten.

Und dennoch. „Vorhin hast du gesagt, du hast gesehen, wie Mona in den Wald ging“, erinnerte sie Delilah freundlich.

„Die Reifen von dem Wagen waren ganz verkrustet von Dreck. Gras und all so Zeug. Ich verwette meine rechte Titte, dass er sie in den Wald gebracht hat.“ Sie beugte sich näher zu Julia. Ihr Atem roch nach Fäulnis und Zigarettenrauch. „Männer machen Sachen mit Frauen, Schätzchen. Wenn sie die Zeit haben, machen die Sachen mit ihnen, die willst du gar nicht wissen.“

Julia spürte, wie sich jedes einzelne Haar in ihrem Nacken aufstellte.

„Ha!“ Delilah lachte, denn das tat sie immer, wenn es ihr gelungen war, eine Reaktion zu provozieren. „Ha!“ Sie hielt sich den Bauch. Kein Laut kam aus ihrem Mund, aber sie warf den Kopf in den Nacken, was eine Art von Ausgelassenheit darstellte. Ihre zahnlosen Kiefer glänzten im Licht der noch tief stehenden Sonne.

Julia rieb sich den Nacken, um die Nerven zu beruhigen.

Beatrice Oliver. Mona Namenlos. Sie lebten weniger als dreißig Kilometer voneinander entfernt. Sie waren beide hübsch. Sie waren beide blond. Sie waren ungefähr gleich alt. Sie waren beide nachts auf der Straße gewesen. Hatte ein böser Mensch sie beide gesehen und beschlossen, sie mitzunehmen?

Derselbe böse Mensch? Zwei verschiedene? Waren diese Männer jetzt beide zu Hause bei ihren Familien? Machten sie Frühstück für ihre Kinder, rasierten sich oder küssten ihre Frauen zum Abschied, während sie die ganze Zeit in sich hinein lächelten, wenn sie daran dachten, was sie später mit den entführten Mädchen tun würden?

„Hey.“ Delilah stieß Julia an. „Machst du das fertig, oder was? Ich muss noch wohin.“

Julia griff zum Kugelschreiber. Sie schrieb den Brief an Delilahs Tochter zu Ende und schloss wie immer mit „In Liebe …“, obwohl Delilah nie sagte, dass sie es tun sollte.

10.42 Uhr – Lipscomb Hall, University of Georgia, Athens

Weniger als eine halbe Stunde nach ihrer Rückkehr ins Wohnheim wachte Julia vom hartnäckigen Piepsen ihres Pagers auf. Sie wühlte blind in ihrer Handtasche herum, um das nervige Geräusch abzustellen. Ihre Hand verfing sich in dem gelben Halstuch, das sie für ihre Schwester hatte abgeben wollen. Schließlich fand sie den Knopf und stellte das Piepsen ab.

Sie drehte sich auf den Rücken und sah zur Zimmerdecke hinauf. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie es bis in den Hals hinauf spürte. Julia presste die Finger auf die Halsschlagader und zählte die Schläge mit, bis ihr Puls langsam zu einem normalen Tempo zurückkehrte.

Sie hatte wieder von Beatrice Oliver geträumt, nur sah sie Beatrice dieses Mal nicht aus der Ferne zu, sondern trat an ihre Stelle. Sie sprach mit ihrem Vater – Julias Vater – über seine Zahnschmerzen und bot dann an, ihm Eiskrem aus dem Supermarkt zu holen. Julias Mutter gab ihr Geld mit, und lief ging sie die Straße entlang, aber plötzlich war sie nicht mehr Beatrice Oliver, sondern Mona Namenlos, und es war dunkel, und die Luft war kühl, und sie sah einen oldtimerartigen Wagen, und dann schloss sich eine verschwitzte Männerhand über ihren Mund, und sie wurde von den Füßen gerissen und in den dunklen, bedrohlichen Schlund einer offenen Lieferwagentür geschleppt.

Julia legte die Hand auf den Mund und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn man plötzlich zum Verstummen gebracht wurde. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, und plötzlich wurde die Berührung zarter, und ehe sie sich’s versah, war der verschwitzte böse Mann aus ihrem Kopf verschwunden, und sie dachte nur noch an Robin. Seine weichen Lippen auf ihren. Die überraschend raue Wange, die über ihren Hals strich. Seine großen Hände, die so zärtlich ihre Brüste streichelten, und welche Gefühle das in ihr hervorrief, denn er wusste, wie er sie berühren musste. Er packte sie nicht, und er bestieg sie nicht wie ein Straßenköter. Er machte Liebe mit ihr.

Er würde Liebe mit ihr machen. Julia beschloss es hier und jetzt. Ihre Mutter, die es zu genießen schien, offene und peinliche Gespräche über alles Mögliche von Sex bis Drogen zu führen, hatte zu Julia gesagt, es sei in Ordnung, intim mit wem auch immer zu werden, wenn sie selbst es wollte. Sie müsse sich nur sicher sein, es auch wirklich zu wollen.

Julia wollte wirklich mit Robin Clark schlafen.

Nicht, dass sie das Einverständnis ihrer Mutter gebraucht hätte.

Julia drehte sich auf die Seite. Nancy Griggs, ihre Mitbewohnerin, war vor zwanzig Minuten zu ihrem Töpferkurs gegangen. Julia hatte sich schlafend gestellt. Die beiden hatten sich am Wochenende heftig gestritten, weil Julia Nancy einen Vortrag darüber gehalten hatte, sich nicht zu lange in irgendwelchen Kneipen herumzutreiben und dafür zu sorgen, dass eine vertrauenswürdige Person sie nach Hause brachte.

Nancy hatte die Augen verdreht, und Julia war laut geworden, was nie hilfreich war. Noch während sie ihre beste Freundin anschrie, war Julia bewusst geworden, dass sie sich wie ihre Mutter anhörte. Und zum ersten Mal im Leben war es ihr egal. Beatrice Oliver hätte vielleicht davon profitiert, wenn ihr jemand mal einen lautstarken Vortrag darüber gehalten hätte, immer auf der Hut zu sein und aufzupassen, dass man nicht von einem kranken Psychopathen verschleppt wurde, wenn man spätabends noch losging, um Eis für seinen Vater zu holen.

„Zum Teufel mit deinen Ratschlägen!“, hatte Nancy wütend erwidert. „Nur weil du jetzt einen Freund hast, hast du noch lange nicht mehr Ahnung von irgendwas als ich.“

Genau darüber ärgerte sich Nancy nämlich in Wirklichkeit. Julia war nie verliebt gewesen (war sie verliebt?). Sie hatte nie einen festen Freund gehabt. In ihrer fast fünfzehnjährigen Freundschaft war Nancy immer diejenige gewesen, die die Jungs hatte und die erfahren in all den Dingen war, die Julia nur aus Büchern kannte.

Julia wurde an einen der Sprüche ihrer Großmutter erinnert: Dein Sprungseil hat sich in eine Leine verwandelt.

„Robin!“ Julia setzte sich ruckartig im Bett auf, ihr Herz raste wieder, sie hatte zu viel Speichel im Mund. Sie holte den Pager aus der Handtasche. Vielleicht war es Robin. Vielleicht stand er in diesem Moment neben einem Münztelefon auf einem Rastplatz im Wald und wartete auf ihren Anruf. Sie drückte den Knopf, um die Nummer aufzurufen, und hätte den Pager dann am liebsten quer durchs Zimmer geschleudert. Es war nicht Robin sondern wahrscheinlich eine ihrer bescheuerten Schwestern, die die Nachricht 55378008 hinterlassen hatte, was sich auf den Kopf gestellt BOOBLESS – tittenlos – las.

„Sehr witzig“, murmelte Julia und dachte, dass es um diese Tageszeit Pepper, ihre mittlere Schwester sein musste, denn ihre liebe brave kleine Schwester würde niemals die Schule schwänzen.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, stellte die Füße auf den Boden und betrachtete Nancys unordentliche Zimmerhälfte. Sie hatten ihre Bettwäsche zusammen bei Sears gekauft, und die Vorhänge und verschiedene Poster, die den Raum schmückten, mit dem Geld bezahlt, das sie mit Babysitten verdient hatten. Julia erinnerte sich, wie erwachsen sie sich gefühlt hatten – sie waren allein unterwegs! Gaben ihr eigenes, schwer verdientes Geld aus! Sorgten für sich wie richtige Erwachsene! Und dann war Julia wieder nach Hause gefahren, hatte das Essen von dem chinesischen Imbiss verspeist, das ihre Eltern gekauft hatten, ihre Klamotten, die sie bezahlt hatten, in der Waschmaschine gewaschen, die ihnen gehörte, und bekam es mit der Angst, weil sie tatsächlich nicht im Geringsten in der Lage war, für sich selbst zu sorgen.

Julia machte zwei Schritte und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie blickte auf das Blatt Papier, auf dem sie einen Liebesbrief an Robin angefangen hatte. Sie hatte den Madonna-Song von den Küssen in Paris und dem Händchenhalten in Rom zitiert.

Sollte sie wirklich mit ihm schlafen? War Robin der Richtige? Letztes Jahr um diese Zeit hätte sich Julia so ziemlich jedem hingegeben. Warum war es plötzlich so etwas Besonderes?

Sie fuhr den Songtext mit dem Kugelschreiber nach.

„Kiss you in Paris …“

Wahrscheinlich war jetzt nicht die beste Zeit für einen Liebesbrief, vor allem da Robin erst Ende der Woche zurückkommen würde. Sie durfte nicht eins dieser dummen Weiber sein, die ihr ganzes Leben für einen Jungen aufgaben. Sie sollte für ihre schwere Psychologieprüfung lernen. Sie sollte ihre Arbeit über Spenser für den Kurs bei Professor Edwards heute Mittag noch einmal durchlesen. Sie sollte an ihrem Artikelvorschlag für Red & Black feilen, denn seit der Entführung von Beatrice Oliver waren bereits fünf Wochen vergangen, und es dürfte ihr schwer genug fallen, Greg, Lionel und Mr. Hannah davon zu überzeugen, dass die Geschichte noch einen Artikel wert war.

Sie schlug mit dem Kugelschreiber leicht gegen ihren Mund und sah sich dabei die Polaroidbilder an, die an der Wand vor ihr klebten: Nancy mit Stinkefinger, ihre Schwestern beim missglückten Radschlagen im Park, ihre Eltern, die auf einem Fest tanzten (eng tanzten, aber es sah romantisch aus und nicht peinlich), eine Aufnahme ihrer Schildkröte Herschel Walker (ein zu wenig gewürdigtes Muttertagsgeschenk), die sich auf der Veranda sonnte.

Ein schönes junges Mädchen ging die Straße entlang, als plötzlich …

Ein Gedanke erschütterte Julia. War Beatrice Oliver ebenfalls noch Jungfrau? Würde der Mensch, der sie verschleppt hatte (und der sie festhielt), der erste sein, der mit ihr Sex hatte?

Würde er auch der letzte sein?

„Halt die Klappe!“, rief ein Mädchen weiter vorn im Flur. Die geschlossene Tür dämpfte das Alabama-Näseln. Sie klang, als würde sie jemanden ärgern, und Julia empfand sofort eine fast körperliche Abneigung, ohne sie auch nur gesehen zu haben. „Nein, du warst es, du Gans.“

Julia fuhr zusammen, als mit der Faust an ihre Tür geschlagen wurde.

„Hallo?“, rief Alabama.

Es war ein reines Mädchenwohnheim. Julia machte sich nicht die Mühe, etwas überzuziehen, obwohl sie nur T-Shirt und Höschen trug. Sie bedauerte dies sofort, als klar wurde, dass sie das Mädchen noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.

Das hielt die Fremde nicht davon ab, einfach ins Zimmer zu marschieren. „Was für ein Saustall. Ihr braucht alle ein Zimmermädchen.“ Alabama schaute unter Nancys Bett und sah neben ihrem Schreibtisch nach. Dann ging sie zum Schrank.

„Verzeihung“, sagte Julia. „Kenne ich dich?“

„Ich bin eine Freundin von Nancy.“ Das Mädchen machte Nancys Schrank auf. „Sie hat gesagt, sie leiht mir – ah, da ist sie.“ Sie riss eine kleine lederne Reisetasche aus dem Schrank und warf einen Berg Schuhe dabei durcheinander. Als sie sich umdrehte, musterte sie Julia langsam von Kopf bis Fuß. „Hübsche Socken.“

Dann ging sie und hinterließ einen säuerlichen Eindruck von Missbilligung.

Julia sah auf ihre Socken hinunter. Sie waren grau mit eingestickten schwarzbraunen Dackeln. Am liebsten wäre sie auf den Flur gerannt, um das Mädchen zu fragen, was mit ihren Socken nicht stimme, aber sie wusste, es ging gar nicht um die Socken, es ging darum, Julia in die Schranken zu weisen.

Julia durchschaute diese Spielchen, aber sie sah sich außerstande, sie mitzuspielen.

Sie blickte auf die Uhr. Ihr Spenser-Seminar fing erst um 12.00 Uhr an, und sie musste immer noch das gelbe Halstuch für ihre Schwester abliefern. Außerdem hatte ihre Mutter versprochen, ihr einige Ausdrucke auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Die Sonne schien, die Luft war frisch. Vielleicht würde eine Fahrt mit dem Rad ein paar der Dämonen in ihrem Kopf vertreiben.

Julia schlüpfte in ihre Jeans, zog einen Pullover über das T-Shirt, packte ihre Büchertasche voll und griff sich ihre Handtasche. Sie hatte die Tür bereits abgesperrt, als ihr einfiel, sie hätte sich die Zähne putzen und mit dem Kamm durchs Haar fahren sollen, aber das konnte sie auch zu Hause tun. Bei ihren Eltern zu Hause, genau gesagt, denn theoretisch wohnte sie ja nicht mehr in dem Haus am Boulevard.

Draußen vor dem Gebäude kämpfte sie mit dem Schloss an ihrem Fahrrad, nur mühsam ließ sich der Schlüssel durch eine Schicht Rost drehen. Die Sonne hatte den Morgennebel komplett weggeheizt, als sie an dem schwarzen Eisenbogen vorbeiradelte, der den Eingang zum North Campus markierte. Wahrscheinlich hätte sie eine Jacke mitnehmen sollen, aber es ging noch, solange sie in der Sonne blieb. Sie kurvte zwischen den Studenten hindurch, die in der Mitte der Broad Street umherwuselten. Sie schienen heiterer Stimmung zu sein. Das Wetter konnte sich nicht recht zwischen Winter und Frühjahr entscheiden, und jeder Tag, der Sonne versprach, war ein Tag, den man feiern musste.

Julias Wohnheim lag weniger als eine Viertelstunde vom Haus entfernt, aber die Hinfahrt schien immer länger zu dauern als die Rückfahrt. In die von Bäumen gesäumten Straßen ihrer Kindheit einzubiegen, weckte jedes Mal wehmütige Gefühle in ihr. Julia erhob sich aus dem Sattel, als sie den Boulevard entlangrollte. Die stattlichen viktorianischen Gebäude und Häuser im Ranch-Stil waren ihr so vertraut wie ihr eigener Handrücken. Die meisten Professoren wohnten in dieser Gegend, aber ihre Mutter behauptete, einige der alteingesessenen Bewohner seien schon hierher gezogen, bevor Jesus seine Sandalen verlor.

Sie nickte Mrs. Carter zu, die immer noch ihren Gartenschlauch für den Fall bereithielt, dass ein Kind den Weg durch ihren breiten Vorgarten abzukürzen versuchte. Sie wechselte in Erwartung des kläffenden Spaniels der Bartons auf die andere Straßenseite, denn egal, wie oft der Hund sich praktisch selbst erwürgte, wenn jemand am Grundstück vorbeiging, er vergaß jedes Mal auf Neue, dass er an einen Baum gekettet war. Dann bog sie in die Einfahrt des gelben viktorianischen Hauses ihrer Eltern. Peppers Fahrrad lehnte an der Vorderveranda, was nichts zu bedeuten hatte, denn Julias mittlere Schwester war sechzehn und hatte jede Menge Freunde, die sie zur Schule fahren konnten. Das rosarote Fahrrad ihrer jüngsten Schwester war fort, denn die perfekte kleine Sweetpea war immer genau dort, wo ihre Eltern sie vermuteten.

Sweetpea. Julias kleine Schwester war weder süß noch erbsenförmig (eher wie ein spitzer Stock). Der Spitzname stammte daher, dass sie sich in dem Sommer, in dem sie acht wurde, geweigert hatte, irgendetwas anderes als Zuckererbsen zu essen. Es war eine liebenswerte Familienanekdote (so wie die, dass Pepper deshalb Pepper genannt wurde, weil ihre Großmutter gesagt hatte, das Kind habe Pfeffer im Hintern), aber Julia war diejenige gewesen, die den ganzen Sommer lang jedes Mal eine Dose Erbsen öffnen musste, wenn das kleine Gör nach mehr plärrte. Ganz zu schweigen davon, was auf dem Weg nach draußen mit den Erbsen passierte. Man sollte meinen, die dumme Gans hätte in einer Pfütze aus grünem Dünnschiss untergehen müssen, aber nein: Sie war immer noch da.

Julia hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieses letzten Gedankens. Sie sollte netter zu ihrer kleinen Schwester sein, aber das war schwer, denn sie hatte es so viel leichter, als Julia es gehabt hatte. Es war, als hätten die fünf Jahre Altersunterschied ihre Eltern von harten, unerbittlichen Felsbrocken zu runden kleinen Kieseln abgeschliffen, die man über einen Bach hüpfen lassen konnte. Natürlich liebte Julia Sweetpea (schließlich waren sie Schwestern), aber manchmal hätte sie sie am liebsten erwürgt (schließlich waren sie Schwestern).

Um ihre Schuldgefühle zu besänftigen, rief sich Julia die Gelegenheiten in Erinnerung, bei denen sie alle drei zusammenhielten. Etwa in einem der seltenen Fälle, wo ihre Eltern richtig stritten (ernsthaft stritten, denn sie führten hitzige Diskussionen über tausenderlei Dinge) und alle drei Mädchen dann im selben Bett schliefen, als würde es sie vor dem Geschrei schützen, wenn sie ganz nah beieinander waren. Oder als Grandma zu Pepper gesagt hatte, sie müsse ihren Babyspeck loswerden, und Sweetpea hatte sie ein fieses altes Weib genannt. Oder als Julia verhaftet wurde, weil sie das allererste Mal zu kiffen versucht hatte, und beide Schwestern standen vor ihrer Zimmertür Wache, bis die Eltern damit fertig waren, sie anzubrüllen. Oder als sie alle geheult hatten wie die kleinen Kinder, als Charles und Diana getraut wurden, weil es so romantisch war, wie sie einander liebten. In dem Moment hofften die Carroll-Schwestern, dass jede von ihnen diese Art von ewiger Liebe finden würden (vorzugsweise bei einem reichen Prinzen).

Diese Erinnerungen riefen nostalgische Gefühle in Julia wach, als sie zum Haus hinaufging. Sie stieg über die zerbrochene Verandastufe (die er endlich reparieren sollte, herrschte die Mutter regelmäßig den Vater an) und drückte sich an dem Topf mit den absterbenden Krokussen vorbei (die sie endlich umsetzen sollte, herrschte der Vater regelmäßig die Mutter an). Die Haustür war wie üblich nicht verschlossen. Niemand wusste, wo ein Schlüssel war, und ihre Mutter war sich ziemlich sicher, jeder Dieb würde beim Anblick ihres zerschlissenen Wohnzimmermobiliars zu dem Schluss kommen, dass es hier nichts gab, was sich zu stehlen lohnte.

Julias Vater war Tierarzt. Er brachte ständig streunende oder entlaufene Tiere mit heim, und wenn ihre Mutter wieder einmal mit dem Fuß aufstampfte, mussten Julia und ihre Schwestern ein paar von ihnen in ihr Zuhause zurückbringen. Nicht ohne leise Missbilligung bezeichneten die Nachbarn das gelbe Haus im viktorianischen Stil gern als das Dr.-Doolittle-Haus.

Wie aufs Stichwort stolperte Julia über ein braunes Kätzchen unbekannter Herkunft, als sie ihre Büchertasche absetzen wollte. Von der Couch kam ein leises Wuff, wo Mr. Peterson, ein verkrüppelter Terrier, sich auf dem Rücken liegend erholte. Ms. Crabapple, ein goldener Labrador mit Gedächtnisproblemen, lag daneben auf dem Boden. Die sanften Kaugeräusche eines genesenden Tukans drangen aus dem Wintergarten.

„Kinder, ich möchte euch Señora Zwick di Finger aus der Familie der Ramphastidae vorstellen“, hatte ihr Vater den Vogel mit der seinen Patienten vorbehaltenen Förmlichkeit vorgestellt.

„Ay, caramba“, hatte ihre Mutter gemurmelt und war für den Rest der Nacht im Keller verschwunden.

Julia streichelte die Hunde kurz, ehe sie in die Küche ging, wo das übliche Chaos herrschte. Frühstücksteller und Schalen warteten darauf, dass ihre Schwestern von der Schule nach Hause kamen und sie abwuschen (Sweetpea würde es so langsam tun, dass Pepper es ihr schließlich abnahm). Eine unbekannte orangefarbene Katze sprang auf die Anrichte, eine klare Verletzung der einzigen Regel, die ihre Mutter für Katzen aufgestellt hatte. Julia nahm sie und stellte sie auf den Boden. Die Katze sprang wieder hinauf, aber Julia fand, sie hatte ihr Bestes versucht.

Sie entdeckte den Stapel Ausdrucke auf dem Küchentisch. Sie hatte ihre Mutter gebeten, Artikel über vermisste Mädchen im Staat Georgia in den letzten zwölf Monaten herauszusuchen. Die Handschrift auf der ersten Seite war so präzise wie die einer Grundschullehrerin, was bedeutete, dass ihre Mutter eine der Nachwuchsbibliothekarinnen an das Mikrofiche-Gerät gesetzt hatte. Die Frau hatte eine Notiz dazu geschrieben: Das sind die Artikel, zu denen es keine weitere Berichterstattung bezüglich einer Heimkehr gab.

Julia strich Erdnussbutter auf eine Banane und las den ersten Ausdruck. Vor zwei Monaten hatte die Clayton News Daily einen Artikel über ein Mädchen, das vom Campus des Junior College verschwunden war, auf der Titelseite gebracht. Das Foto war zu dunkel, um eine Vorstellung zu vermitteln, wie das Mädchen aussah, aber es wurde im Text als brünett und hübsch beschrieben.

Julia blätterte um. Der Statesboro Herald. Ein weiteres vermisstes Mädchen, dieses war zuletzt in einem Kino gesehen worden. Der Beschreibung nach sportlich und attraktiv.

Der nächste Artikel stammte aus dem News Observer. Ein vermisstes Mädchen, das zuletzt in der Nähe des Jahrmarkts von Fannin County gesehen wurde. Hochgewachsen, mit langem, dunklem Haar und bemerkenswert hübsch.

The Tri-County News. Mädchen aus Eden Valley als vermisst gemeldet. Blondes Haar, blaue Augen. Ehemalige Schönheitskönigin.

The Telegraph. Schlagzeile – „Zimmergenossin der Mercer-Studentin: Sie kam nie mehr nach Hause.“ Der Pastor des Mädchens wird in dem Artikel zitiert. „Sie ist eine schöne, fromme junge Frau, und wir hoffen nur auf das Eine: Wir hoffen, dass sie zurückkehrt.“

Hübsch. Bemerkenswert. Schön. Jung.

Wie Beatrice Oliver.

Wie Mona Namenlos.

Die beiden jüngsten Fälle waren noch nicht auf Mikrofiche archiviert, aber in einigen Monaten würden sie ebenfalls zu dem unheilvollen Club gehören. Keine der Geschichten stammte aus Athens, worüber Julia nicht nur aus naheliegenden Gründen froh war, sondern auch weil es bedeutete, dass sie bei ihrer täglichen Lektüre des Athens-Clarke Herald nichts übersehen hatte.

Julia stapelte die Ausdrucke aufeinander. Die Artikel hatten ihr zugesetzt. Ihr Puls raste wieder. Der Raum kam ihr plötzlich stickig vor. Sie fächelte sich mit den Papieren Luft zu.

All diese hübschen Mädchen waren verschwunden. Oder entführt. Oder eingekerkert.

Oder man hatte vielleicht ihre Leichen nur noch nicht gefunden.

Eine Karteikarte fiel aus dem Papierstapel. Diese Notiz war in der Handschrift ihrer Mutter verfasst, und es war keine Ermahnung, weil sie um derart düsteren Lesestoff gebeten hatte, sondern eine mit Datum versehene Rechnung der Bibliothek. Achtundzwanzig Ausdrucke à fünf Cent.

Julia fischte zwei Dollarscheine und zwei Vierteldollarmünzen aus ihrer Handtasche (ärgerlicherweise würde ihre Mutter alles daransetzen, korrekt herauszugeben). Sie ließ das Geld mit der Rechnung auf dem Tisch liegen. Ihr Blick fiel auf das heutige Datum – 4. März. Der Geburtstag ihrer Großmutter stand bevor. Wieder wühlte Julia in ihrer Handtasche. Sie fand die Karte, die sie schon gekauft hatte, bevor Grandma eine Bemerkung über ihr Erstsemester-Übergewicht gemacht hatte.

„Sie will sagen, du bist fett geworden, seit du studierst“, assistierte Sweetpea.

Julia klopfte mit dem versiegelten Kuvert auf den Tisch. Sie hatte ein paar nette Worte auf die Geburtstagskarte darin geschrieben, Nettigkeiten, die sie nicht mehr empfand. Sollte sie das Kuvert über Dampf öffnen und ihre veränderte Gefühlslage auf der Karte zum Ausdruck bringen?

Am Ende ließ sie das Kuvert einfach auf dem Tisch liegen. Vielleicht fühlte es sich so an, wenn man den rechten Weg beschritt, aber es war auf jeden Fall beschissen, dass niemand außer ihr je davon erfahren würde.

Sie ging in ihr Schlafzimmer, das im Erdgeschoß lag, weil das Arbeitszimmer ihres Vaters im Obergeschoss in einem solch chaotischen Zustand gewesen war, dass man es nicht hätte nach unten verlegen können, als Sweetpea zur Welt kam. Sie stand in der Tür und fühlte sich wie eine Fremde, obwohl sich nichts darin verändert hatte. Die Wände waren immer noch fliederfarben. Ihre Rockstar-Poster waren noch da – Indigo Girls, R.E.M., Billy Idol an der Decke, so dass er das letzte war, was sie sah, wenn sie abends zu Bett ging. Im Rahmen des Spiegels auf der Kommode steckten noch die Polaroidfotos von ihren Highschool-Freundinnen. Und Mr. Biggles saß auch noch auf dem Bett. Julia hob den altersschwachen Stoffhund auf, küsste ihn auf den Kopf und entschuldigte sich zum hunderttausendsten Mal bei ihm dafür, dass sie ihn versehentlich weggeworfen hatte, als sie fürs College packte (Gott sei Dank hatte ihr Vater ihn gerettet).

Sie strich glatt, was von Mr. Biggles’ räudigem, ungleichmäßigem Fell noch übrig war. Der arme Kerl hatte einiges durchgemacht. Julia hatte so viel auf ihm geschlafen, dass er fast nur mehr zweidimensional war. Sweetpea hatte ihm die Haare abgeschnitten, nachdem er – nicht ganz aus Versehen – mit Limonade überschüttet worden war. Pepper hatte ihm die Nase mit einem Lockenstab versengt, und Julia hatte sich bemüht, so zu tun, als fände sie es komisch, obwohl sie innerlich fast gestorben wäre.

Julia setzte Mr. Biggles sanft auf seinen rechtmäßigen Platz zurück. Dann wischte sie mit dem Ärmel ihres Pullovers ein wenig Staub von der scheußlichen blauen Lavalampe, die ihre Mutter so hasste (weshalb Julia sie hiergelassen hatte). Die orangefarbene Katze sprang auf ihr Bett. Julia strich ihr über den Rücken, dann fiel ihr auf, dass es eine andere orangefarbene Katze als vorhin war. Ihr rechtes Bein war an einer Stelle rasiert, wo man ihr einen Infusionsschlauch gelegt hatte. Ihr Schnurren klang wie die vibrierenden Zähne eines Kamms.

Julia fischte das gelbe Halstuch aus ihrer Handtasche und stieg die Treppe zu Peppers Zimmer hinauf. Wie üblich sah es darin aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall waren Kleidungsstücke verstreut. Bücher lagen aufgeklappt herum, mit dem Rücken nach oben („Eine Sünde“, sagte ihre Mutter). Die Wände waren dunkelgrau gestrichen, die Vorhänge fast schwarz. Dass der Raum eher an eine Höhle erinnerte, war pure Absicht. Dass es ihre Mutter auf die Palme brachte, nicht minder.

Julia führte die Hand zum Hals. Sie hatte sich vor Monaten Peppers goldenes Amulett ausgeliehen, aber ihre Schwester hatte dessen Fehlen erst letzten Freitag bemerkt. Es hatte eine hitzige Auseinandersetzung gegeben, bei der Julia behauptete, es gar nicht genommen zu haben, und dann eine zweite hitzige Auseinandersetzung, als Pepper klar wurde, dass Julia das Amulett sogar trug und nur unter ihrem T-Shirt versteckt hatte. Statt es zurückzugeben, war Julia aus dem Haus gestürmt und hatte die Tür zugeknallt.

„Du hast meinen Strohhut gestohlen!“, hatte sie noch im Weggehen geschrien, als wäre der Kettchenklau eine gerechte Vergeltungsaktion gewesen.

Warum hatte sie sich so kindisch benommen? Und warum konnte sie das Amulett nicht jetzt einfach zurückgeben? Da war Peppers Schminktisch, der überquoll vor billigem Schmuck, den sie – wenn überhaupt – einmal getragen und dann weggelegt hatte. Silberne und schwarze Armreife. Eine große, schwarze Haarspange, die eigentlich Julia gehörte. Mehrere T-Shirts, die à la Flashdance am Kragen eingerissen waren. Regenbogenfarbene Leggins. Eine schwarze Strumpfhose. Lidschatten, Puder und Rouge in einer Menge, die Julia nie im Leben aufbrauchen könnte.

Nicht dass ihre Schwester überhaupt Make-up brauchte. Wenn Julia schön war, dann war Pepper sinnlich (nach Julias Ansicht weitaus erstrebenswerter). Ihre mittlere Schwester war kurvig gebaut und jetzt, da sie älter wurde, auf eine Weise attraktiv, dass die Freunde ihres Vaters ausgesprochen dämliche Sachen sagten, wenn sie in der Nähe war.

Doch es war nicht nur die Art, wie Pepper aussah. Etwas an ihrem Auftreten zog die Leute in den Bann. Sie sagte immer, was sie dachte. Sie tat, was sie wollte. Sie zerbrach sich nicht den Kopf darüber, was andere Leute dachten. Sie war mit Sicherheit erfahrener als Julia. Sie hatte Gras schon in der sechsten Klasse geraucht. Auf einer Party letzte Woche hatte sie dann Koks geschnupft, weil jemand sagte, sie würde sich nicht trauen, was beängstigend, wenn auch ziemlich beeindruckend war. Das goldene Amulett war ein Geschenk von einem Jungen gewesen, der auf dem Rücksitz des Chevys seines Vaters mit ihr bis zum Letzten gegangen war. Zumindest hatte Pepper das behauptet, und warum sollte sie bei so etwas lügen?

Julia verstaute das Amulett wieder im Kragen. Sie streifte sich einige der silbernen und schwarzen Armreife über das Handgelenk, denn sie hatte ihre zur selben Zeit gekauft, und es ließ sich unmöglich feststellen, wem welche davon gehörten. Sie nahm die schwarze Spange. Sie ließ das gelbe Halstuch auf dem Bett und hoffte, ihre Schwester würde es unter den herumliegenden Sachen bemerken. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als sie ein leises Stöhnen hörte.

Julia furchte die Stirn bei dem vertrauten Geräusch. Hing der arme alte Labrador in einer Ecke fest und wusste nicht mehr, wie er herauskommen sollte? War eine der Katzen gerade dabei, ein Haarknäuel herauszuwürgen?

Das Stöhnen war erneut zu hören, tief und langgezogen, wie der zufriedene Laut eines Menschen, der sich genüsslich räkelt.

Julia ging in den Flur hinaus. Sie bemerkte, dass die Schlafzimmertür ihrer Eltern geschlossen war. Ein Streifen Licht fiel darunter hervor. Sie hörte das Stöhnen erneut und lief die Treppe hinunter, bevor sie es ein viertes Mal hörte und sich Säure in die Ohren gießen musste, um die Erinnerung zu tilgen.

„Igitt“, murmelte sie und schwang sich hastig auf ihr Fahrrad. „Igitt, igitt, igitt.“

Während der gesamten Rückfahrt dachte sie angestrengt an alles mögliche, nur nicht an elterlichen Sex. Die Iran-Contra-Anhörungen, für die Julia die Schule geschwänzt hatte, um sie sich daheim gemeinsam mit ihrem Vater im Fernsehen anzusehen. Der erste Hund, den sie gehabt hatte, Jim Dandy, ein Golden Retriever, der dauerhaft hinkte, weil, wie ihr Vater sagte, „irgendein Vollidiot dachte, der Hund kennt die physikalischen Gesetze, und ihn unangeleint auf der Ladefläche seines Pickups mitfahren ließ.“ Die Party zu Sweetpeas dreizehntem Geburtstag letztes Jahr, und wie begeistert sie alle gewesen waren, dass sie endlich das Teenageralter erreicht hatte (bis auf ihre Mutter, die aus dem Bierglas ihres Mannes getrunken hatte und gefühlsduselig geworden war.) Wie Grandpa Ernie nach dem Sonntagsessen immer seine Gitarre hervorgeholt hatte, und wie sie dann alle tanzten, egal, was er spielte, auch wenn niemand das Stück kannte.

Als Julia wieder auf dem Campus eintraf, war es genau Mittag. Sie kettete das Fahrrad vor dem Tate Student Center an und lief zu ihrem Spenser-Seminar. Professor Edwards dozierte bereits an seinem Rednerpult und sah Julia streng an, als sie in den Raum hetzte.

„Tut mir leid“, sagte sie und marschierte schnurstracks zu ihrem Platz. „Ich habe meine Arbeit vergessen und musste umkehren und sie holen.“ Sie wollte sich setzen, aber er hielt sie auf.

„Bringen Sie sie mir.“ Er hatte die Hand ausgestreckt und bedeutete ihr durch ein Winken, sie solle schnell machen, er meine es ernst.

Julia trat den elend langen Gang zu Professor Edwards’ Pult an und drückte ihm ihre zwölfseitige Arbeit in die Hand. Tipp-Ex-Flecken sprenkelten den maschinengeschriebenen Aufsatz wie Schorf. Sie drehte sich um wollte wieder zu ihrem Platz gehen, aber er sagte: „Bleiben Sie hier, das dauert nicht lange.“

Sie stand vor seinem Pult, während er ihre Arbeit las, und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie rieb sich die Hände. Sie sah keinen von ihren kichernden Mitstudenten an. Professor Edwards wiederum sah Julia nicht an. Er hielt den Kopf gesenkt und blätterte mit ruckartigen Bewegungen aus dem Handgelenk die Seiten um. Manchmal nickte er. Häufiger schüttelte er den Kopf.

Edwards war jünger als die meisten ihrer Dozenten, wahrscheinlich Mitte Dreißig, aber auf seinem Kopf gab es eine kleine kahle Stelle, über die die Mädchen redeten – nicht weil sie ihn weniger attraktiv machte (Professor Edwards war unbestreitbar sehr attraktiv), sondern weil sie wussten, sie konnten sie als Waffe gegen ihn einsetzen, falls er je einen Annäherungsversuch bei ihnen unternahm.

Der Herr Professor stand nämlich in dem Ruf, gern mal etwas zu versuchen. Es gehörte zu den Ratschlägen, die an jeden neuen Studentenjahrgang weitergegeben wurden: Geh nicht unter The Arch durch, sonst schaffst du deinen Abschluss nicht, sieh zu, dass du nie mit Professor Edwards allein bist, es sei denn, du willst es, dass er peinliche Bemerkungen macht, zum Beispiel wie hübsch du bist, wie toll dein Hintern ist, wie vollkommen deine Brüste sind und wie nah beim Campus seine Wohnung liegt.

„Wie heißt der Mönchsorden, der sich den Kopf kreisförmig rasiert?“, hatte Nancy Griggs gefragt, als sie den Tipp von einer älteren Studentin bekamen.

„Franziskaner?“, hatte Julia geraten und war sich sicher, ihre Mutter hätte so etwas gewusst. Aber wenn sie ihre Mutter danach fragte, würde ihr Vater wahrscheinlich mit einer Schrotflinte im Spenser-Seminar auftauchen.

„Also“, hatte Nancy geraten. „Wenn er dich anmacht, fragst du ihn, ob er ein Franziskanermönch ist, wegen der kahl rasierten Stelle auf seinem Kopf.“

Wenn, nicht falls. Alle Mädchen gingen davon aus, dass Professor Edwards eine Schwäche für Julia hatte.