Karizma - Sara Gmuer - E-Book

Karizma E-Book

Sara Gmuer

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Beschreibung

Das Debüt von Sara Gmuer erstmals im Taschenbuch: Ein Rap-Roman und eine ungewöhnliche Lovestory. »So leicht und schnell und vor allem: so, so unterhaltsam.« F. A. Z. Victoria trifft Said. Beide wissen sofort: Es ist die große Liebe. Doch dann verschwindet der Rapper nach einem Gig in Südfrankreich im Meer. Victoria, mit Anfang zwanzig bereits Ex-Model mit großer Wohnung und großer Leere im Leben, ist wieder allein. Was bleibt, sind Erinnerungen und Saids Plattensammlung. Sie sucht ihn in seinen Texten und seiner Musik, und tatsächlich findet sie ihn wieder - aber anders als vermutet. Sara Gmuers rasantes Romandebüt erzählt in lässig-coolem Sound, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren – und in der Musik wiederzufinden.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »KARIZMA« von Sara Gmuer

Über das Buch

Das Debüt von Sara Gmuer erstmals im Taschenbuch: Ein Rap-Roman und eine ungewöhnliche Lovestory. »So leicht und schnell und vor allem: so, so unterhaltsam.« F. A. Z.Victoria trifft Said. Beide wissen sofort: Es ist die große Liebe. Doch dann verschwindet der Rapper nach einem Gig in Südfrankreich im Meer. Victoria, mit Anfang zwanzig bereits Ex-Model mit großer Wohnung und großer Leere im Leben, ist wieder allein. Was bleibt, sind Erinnerungen und Saids Plattensammlung. Sie sucht ihn in seinen Texten und seiner Musik, und tatsächlich findet sie ihn wieder — aber anders als vermutet.Sara Gmuers rasantes Romandebüt erzählt in lässig-coolem Sound, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren — und in der Musik wiederzufinden.

SARA GMUER

KARIZMA

Roman

hanserblau

Dem 3.9.2002 gewidmet

ICH rauchte und wartete. Rauchte auf dem Fensterbrett, am Tisch und im Bett, ich rauchte da, wo andere reden, essen und Sex haben. Essen sollte ich nicht, zum Reden hatte ich niemanden und für Sex auch nicht. Den Kummer hätte ich vielleicht wegsaufen können, die Kopfschmerzen nicht. Was solls, da wo ich herkomm, kannte man eh keine Probleme, und wenn es doch mal welche gab, dann wandte man sich an Gott, und wenn der nicht half, ging man zu Bernardo Provenzano. Mir half keiner von beiden.

Bis dahin dachte ich immer, die Hoffnung stirbt zuletzt, Bullshit, die Hoffnung verlässt dich wie eine Nutte, sobald es ernst wird, das, was wirklich bis zum bitteren Ende bleibt, ist die Wut. Und von der blieb eine ganze Menge.

Ich wär vor Hass am liebsten gestorben. Eigentlich wollte ich mehr als nur tot sein, denn tot sein hieße gelebt zu haben. Ich wollte nie da gewesen sein, weder hier noch sonst irgendwo und schon gar nicht in dieser trostlosen Stadt Immergrau, wo es jeden Tag regnete, als weinte auch der Himmel, dass ich hier war.

Ich rauchte und wartete. Mir hätten Zigaretten, italienisches Fernsehen und paar Aufträge gereicht, doch keiner buchte mich mehr, die Pariser Schauen fanden ohne mich statt, und auch die Mailänder riefen zur Modewoche nicht an.

Was blieb, waren Rai Due und die Kippen, und das ist ja nicht gerade gesund, weder für den Geist noch für den Körper. Sonst machte ich nicht viel, weder für den Geist noch für den Körper. Raus ging ich selten, wenn, dann nur um von der Telefonzelle aus meine Nummer zu wählen. Ich musste es ab und zu einfach klingeln hören, bloß um sicherzugehen, dass es an meiner Drecksagentur und nicht an meinem Handy lag, dass keiner mehr anrief.

Um die Kabine standen meistens paar Jungs, war dort so was wie die Telefonzentrale kleiner Dealer. Sie sagten, sie fänden mich geil, ich sagte Hallo und Tschüss und hatte so an den Tagen wenigstens ein bisschen was geredet. Das wars, dann schnell wieder rauf in den zweiten Stock. Die Wohnung war riesig, aber egal, ich gab noch nie was drauf, wie reich jemand ist, denn Reichtum kann auch von Geiz kommen, und dann ist er scheiße.

Über Geld redete man bei uns sowieso nicht. Ich wusste nicht, wie viel Geld mein Vater hatte, das letzte Mal, als ich ihn fragte, kaufte er mir zweihundert Quadratmeter Einsamkeit, Parkett und Marmor, in bester Lage, mitten in Berlin. Wahrscheinlich verstand er die Frage als Beleidigung oder so, und das war dann wohl seine Art zu sagen, dass die Geschäfte gut liefen.

Er selbst lebte noch in Sizilien, in einem Haus mit viel zu vielen Zimmern. Als Kind war es perfekt, manchmal versteckte ich mich einen ganzen Tag in einem davon, bis es mir langweilig wurde und ich wieder rauskroch, weil mich eh niemand fand, weil die Kindermädchen lieber auf dem Vorplatz rauchten oder mit den Feldarbeitern flirteten, anstatt mich zu suchen. Ab und zu schrien sie meinen Namen durch die Gänge, damit ich weiterhin mucksmäuschenstill im dunklen Nussbaumschrank eingepfercht blieb.

Vielleicht hätte ich dort drinbleiben sollen, vielleicht hätte ich dann nicht mitgekriegt, was draußen so abging.

Meine Mama starb. Sie starb, als ich zwölf war, bei einem Autounfall. Als ich zwölf war, starb meine Mama bei einem Autounfall. Bei einem Autounfall starb meine Mama. Ich kann den Satz drehen und wenden, wie ich will, er wird nicht schöner.

Es war der siebte Unfall in der Woche, es passierte immer abwechselnd, mal im Norden der Insel, mal im Süden. Das ging hin und her, Auge um Auge, Auto um Auto. Mal lag es an der Bremsleitung, mal an einer Sprengladung.

Um mich aus der Scheiße rauszuhalten, brachte mich mein Vater nach Deutschland zu einer Schwester meiner Mutter, die aber so hässlich war, dass sie nicht wirklich ihre Schwester sein konnte. Egal, sie war nett, also war ich es auch, nannte sie Zia und versteckte meine Trauer tief in meinem Herzen. Ich hatte fürchterliches Heimweh, doch mein Vater holte mich nicht zurück.

Er sagte, er würde einen weiteren Autounfall nicht überleben, dabei hatte er gar nicht mit im Wagen gesessen, als der 600er gegen den Pfeiler krachte, der meine Mama aus dem Leben schleuderte. Ich checkte erst später, was er meinte, er hatte Angst, mich auch noch zu verlieren. Deshalb musste ich fort.

Keine Ahnung, ob das egoistisch von ihm war oder das Gegenteil davon, aber für mich war es schlimm, denn in seiner Nähe fühlte ich mich sicher, und doch musste ich weg von ihm, weil ich in seiner Nähe nicht mehr sicher war.

Mit fünfzehn beschloss ich, Deutschland zu verlassen. Doch mit fünfzehn ist man niemand, mit fünfzehn kommt man nur so weit, wie der Bus fährt.

Ich hatte keinen Bock, rumzusitzen, mit Fünfzehnjährigen rumzuhängen und mir zu überlegen, was ich später mal werden möchte, also ließ ich meine Tante Fotos von mir machen und schickte sie allen möglichen Modelagenturen. Von den meisten Agenturen kriegte ich eine Absage, vom Rest nicht mal eine Antwort. Und so fühlte ich mich hässlich wie nie zuvor, bis ein Fotograf meine Bilder sah und mich zu einem Probeshooting einlud. Aus dem Probeshooting wurden Shootings und aus Shootings irgendwann Kampagnen.

Ich war auf einmal frei. Mein Plan ging auf, das Modeln holte mich raus, nahm mich an die Hand und zeigte mir die schönsten Plätze dieser Erde. Ich reiste um die halbe Welt und machte dabei auch noch Kohle, meine eigene Kohle, doch mein Dad schickte mir weiterhin Geld, als wäre sein Geld mehr wert als meins. Das machte mich so sauer, dass ich mein Konto auflöste. Ich brauchte sein Geld nicht mehr, ich war von niemandem mehr abhängig.

Das Modeln war so was wie mein neues Zuhause, ein strenges mit vielen Regeln. Nicht alles essen, nicht alles machen, nicht alles sagen. Aber kommt halt drauf an, was man isst, wie man was macht und wem man was sagt, dann kommt man eigentlich überall klar. Die Castings waren immer gleich. Hallo, ich heiße Victoria und bin sechzehn Jahre alt, genau so, sechs Jahre lang, bis es mir keiner mehr glaubte. Die Modelaufträge wurden weniger, mein Typ war nicht mehr gefragt, ich lag den ganzen Tag nur noch im Bett rum und fühlte mich mit jedem Tag älter, hässlicher und dicker.

Ich hatte Angst, meine besten Jahre zu verschwenden, und aus Angst vor der Angst packte ich gar nichts mehr, bis mich ausgerechnet ein beschissener Schlafzimmereinrichtungskatalog aus dem Bett holte. Hurra, ich kriegte nach Monaten endlich wieder einen Job, leider aber einen, für den ich vor Kurzem nicht mal aufgestanden wäre. Aber Job ist Job, und so stand ich fünf Tage später in einem hellen Studio und lächelte in die Kamera.

Die Leute waren begeistert, sie waren hin und weg von mir. Ich dachte nur, hin und weg von hier. Sie fanden sogar süß, dass ich ständig minchia sagte, bis ich ihnen erklärte, dass minchia wörtlich übersetzt Schwanz bedeutet. Was solls, ich gab ihnen, was sie wollten, Fotos und ein bisschen Glamour für ihre todlangweilige Welt. Schätze, dass der ein oder andere von denen heute noch von dem Shoot erzählt, vielleicht, dass ich nichts vom Catering aß, dafür Alkohol trank, irgend so was halt.

Auf jeden Fall machte ich den für einen Profi unterbezahlten Job wie ein Profi und ging. Draußen regnete es in Strömen. Ich hatte nie einen Schirm dabei, und so machte der Regen meine Haare dunkler, als sie waren, und streichelte mein Gesicht. Ich genoss jeden Tropfen. Fuck, muss ich einsam gewesen sein.

Ich hatte keinen Bock, nach Hause zu gehen, wollte unbedingt noch was erleben, nicht schon wieder alleine sein. Also ging ich in den erstbesten Imbiss und bestellte mir ein Päckchen rote Marlboro, eine rote Cola und die Nr. 13, hinter der Bami Goreng stand.

Ich wartete noch auf meine Nudeln, als auf einmal ein klatschnasser Riese aufkreuzte. Ein Kerl so groß wie unser bester Basketballspieler, Dino Meneghin, nur um einiges dicker. Er kam rein, als würde er da wohnen, schaute mal zur Frau an der Theke, mal zu mir und zählte dabei paar Nummern auf. Ich konnte es mir nicht verkneifen und sagte: »Versuchst du mir grad deine Telefonnummer zu geben oder was?«

Wir mussten beide lachen, aber gesagt hat keiner mehr was. Wir standen einfach da und warteten geduldig aufs Essen. Als meins kam, schien in mir wieder ein wenig die Sonne, da konnte draußen das Gewitter noch so heftig toben.

Ich öffnete die Box und hatte noch nicht mal die Gabel im Mund, da stand schon die Frau vor mir, die grad eben noch hinter dem Tresen war. Sie lächelte, aber ihre Worte sagten was anderes. »Draußen essen!«

Draußen essen? Bei dem Regen, der runterfiel, hätte ich mir gleich eine Nudelsuppe bestellen können. Nach Hause gehen konnte ich aber auch nicht, ich wäre vor Einsamkeit gestorben.

Der Große kriegte alles mit. Er schaute mich an, und irgendwie schien er durch meine dicke Schale hindurch direkt in meine Seele zu sehen. Da wollte ich dann doch schnell raus, raus, um die Tränen zwischen den Regentropfen zu verstecken.

Er fragte: »Wohin gehst du?«

Ich machte auf dem Absatz kehrt und sagte: »Wohin du willst.« So wie Karrine Steffans zu Usher, als sie sich im W Hotel über den Weg gelaufen sind.

Er packte seine Tüten unter sein Karl-Kani-Shirt und führte mich mit großen Schritten Richtung Irgendwo. Manchmal soll man einfach nicht fragen.

Meine Haare hingen schwer herunter, und mein Pulli klebte wie ein nasser Lappen an meinem Körper, ich kam mir vor wie ein mageres Schulmädchen, das mit seinem Lunchpaket durch den Regen läuft, fast wie früher an der Seite meines Vaters. Wir redeten nicht viel, nur über das Wetter.

Irgendwann meinte er: »Ich bin Monte. Halb Berlin, halb Montenegro.«

»Monte, wie passend!«, grinste ich.

»Und du?«

»Victoria.«

»Geil, wie die Engel, wa?«

»Was für Engel?«

»Na, die Halbnackten! Weeßt schon, die Supermodels.«

»Ah die, nee, nur Victoria, ohne Secret. Ganz ohne Geheimnis.«

Wir liefen ein ganzes Stück bis zu einem Werksareal, alles ziemlich abgelegen, so im Stil, ich hau dich jetzt in nen Keller und hol dich in dreißig Jahren wieder raus. Durch einen Innenhof kam man zu einer großen schwarzen Tür, dahinter lag ein breiter Gang, hell beleuchtet, wie in einer Fabrik. Ein tiefer Bass prallte gegen den grauen Beton, und ich dachte an eine illegale Party. Wir kamen der Sache immer näher, und als er dann eine Tür öffnete, stand ich in einem halbdunklen Raum voller Kabel und Boxen, aber ohne Leute.

»Welcome to Big Mountains Studios!«, lachte mich Monte an, wie ein gut gelaunter Amerikaner.

Solche Studios kannte ich nur aus MTV, wenn die gerade wieder einen Rapper interviewten. Riesen-Ego, Riesen-Klappe, Riesen-Mischpult und eine Scheibe, breit wie ein Schaufenster, in der sich die Displays und blinkende Technik spiegelten. Dahinter stand irgendein Freak im Dunkeln, der gar nicht mal so schlecht auf Montes Beat rappte. Ich konnte ihn nicht sehen. Ich sah nur mich mit der weißen Plastiktüte zwischen den Reflexen im Glas.

Monte wollte mir den Typ hinter der Scheibe vorstellen, doch der kam nicht raus, der blieb in der Kabine und rappte weiter.

»Der is schon okay«, entschuldigte Monte seinen Freund. »Der hat einfach nen Knall, weeßte, wenn es nach ihm ginge, würden wir die ganze Zeit nur aufnehmen. Guck, der stresst schon rum, wenn ich kurz was essen will, aber das is halt Said, der is halt so.«

Konnte schon sein, dass er so war, für mich war ein Mann, der nicht Hallo sagt, trotzdem kein Mann. Ich setzte mich auf eine Couch, aß mein inzwischen kaltes Essen und versuchte nicht zu offensichtlich über das ganze Gesicht zu grinsen.

Zwei weitere Jungs kamen kurz rein, gaben Monte ein trockenes Shirt, stellten sich vor, standen rum und gingen wieder. Said war immer noch am Mic und rappte ununterbrochen vor sich hin. Wie ein kleines Kind drängelte er zum Weitermachen, doch Monte ließ sich nicht stressen, aß in Ruhe seine Nudeln auf, und nach dem Essen verschwand er aufs Klo. Ich blieb alleine zurück und hörte mir an, was ein Berliner Rapper zu sagen hat.

Nutten machen nen Weichen hart

Du machst nen Harten weich

Wir sind Wild at Heart

Ich glaube an Afterlife

Blabla, klar, er rappte über Frauen, was sonst. Ich sagte mir, solang der nicht meine Mutter ficken will, ist alles okay. Ist doch so, heute erzählt jeder Dreizehnjährige, dass er Mütter fickt.

Er machte weiter, und langsam kam es mir so vor, als würde er über mich rappen. So was durfte ich eigentlich gar nicht denken, aber egal, wusste ja keiner.

Sie killt den Raum mit nur einem Blick

Kommt rein, ich schwör, ihr Vibe is sick

Ey, Bruder, sag, was macht sie hier?

Ich würd sterben für ne Nacht mit ihr

Sie hört kein Rap, sie hört R & B

Kennt nicht Yo! MTV Raps auf MTV

Scheiß drauf, ich werd für sie kämpfen

Kann mehr als böse schaun und Arme verschränken

Da musste er selber lachen, machte aber gleich weiter.

Lichter aus, doch ich seh dich

Du willst alles — kriegst immer zu wenig

Ey, bleib hier, ich hab, was du brauchst

Kühlschrank ist voll, alles aufs Haus

Okay, dachte ich mir und ging zum Kühlschrank, in dem tatsächlich paar Heineken standen. Das nennt man wohl interaktives Rappen.

Und dann fragte er so nebenbei: »Habibti, bringst mir bitte auch ein Bier?«

Ich schaute wahrscheinlich komisch, strich mir verlegen die Haare aus dem Gesicht, stand dann aber auf und holte noch eine Flasche raus. Machte ich sogar gerne, denn so konnte ich mir den Player mal anschauen.

Ich ging in die Kabine und gab ihm das Bier, aber zum Schauen gab es leider nichts, es war stockdunkel. Er hörte zum ersten Mal auf zu rappen, und es wurde still, wir berührten uns nicht, doch ich spürte ihn überall. Ich atmete seine Luft. Seine Luft war die beste, die ich je geatmet hatte.

»Hey …« Es klang schön, wie er es sagte.

Ich stand schon einen Tick zu lang dort, wollte nicht raus, aber wie ein Idiot einfach stehen bleiben ging auch nicht. Wahrscheinlich wusste er das und kam deshalb einen Schritt auf mich zu. Ich hielt den Atem an.

Die Dunkelheit machte mich unsichtbar, doch seine Hände fanden mein Gesicht, strichen langsam über mein Haar, den Hals entlang, über den Nacken bis zu meinen Brüsten.

Es gibt Männer, die glauben, der Weg zu einer Frau führt über ihre beste Freundin oder über die Mutter, stimmt nicht, der Weg geht über die Brüste. Näher ans Herz kommt man nicht ran.

Said schien das zu wissen und spielte es gegen mich aus, seine Hände immer genau da, wo sie sein mussten, mir immer einen Moment voraus. Er fasste mich an der Taille, seine Finger gruben sich in mein Fleisch, und er hob mich hoch, als gäbe es die Schwerkraft nicht. Meine Schenkel um seine Hüfte. Meine Lippen leicht offen, als wollten sie was Dreckiges sagen. Meine Lider halb geschlossen. Meine Wimpern zwischen seinen Haaren. Mein Atem kurz wie diese Sätze.

Ich wusste nicht, wer er ist, ich wusste gar nichts, wusste nur, dieser Mann macht mit mir, was er will, aber mit so einer sanften Entschlossenheit, dass ich vor Glück fast starb.

Monte kam rein, nicht zu uns, nur in den Vorderraum. Wir konnten ihn sehen, er uns aber nicht. Er blieb kurz stehen und ging dann raus. Ich sprang zurück aufs Sofa. Mein Gehirn war durchgefickt. Monte kam wieder rein, schaute mich verwirrt an und fragte, wo ich denn gewesen sei.

»Eine rauchen«, sagte ich, und das Thema war vom Tisch.

Er setzte sich in den schwarzen Ledersessel und schraubte am Mischpult rum. Ich packte meinen Müll zusammen, und er meinte: »Ach komm, jetzt wos spannend wird, lass ich dich sicher nicht gehen.«

Okay, ich ließ den Satz im Raum stehen, so wie mich auch.

Ich solle es mir bequem machen und mir aus dem Kühlschrank was zu trinken holen. Voll das Déjà-vu. Ich holte mir einen Becher und machte mir einen Gin Tonic.

Monte stellte die Geräte ein, Said blieb im Dunkeln, und ich setzte mich wieder auf die Couch. Ich träumte vor mich hin und tat, als würde ich Monte bei der Arbeit zuschauen. Männer mögen das angeblich. Ohne Scheiß, die stehen sogar drauf, wenn man ihnen beim Schraubenanziehen zuschaut.

Ich wär am liebsten für immer geblieben, aber je länger ich das tat, umso wahrscheinlicher wurde es, Said ein zweites Mal zu begegnen. Und was dann?

Ich überlegte nicht weiter, packte mein Zeug, tippte Monte auf die Schulter und schickte unauffällig einen Kuss Richtung schwarze Scheibe.

Es war mitten in der Nacht, mitten in Wedding, niemand auf der Straße, nur ab und zu ein Auto, das durch den liegen gebliebenen Regen glitt. Ich war glücklich, denn was immer das gewesen sein mochte, es fühlte sich gut an.

Ich wollte auf einmal auch was können, aber was nur? Ich beneidete Said, dass er was hatte, wofür er lebte, dass er sein Talent nicht vergeudete, sondern es erkannt hatte und wie ein Verrückter daran arbeitete. So sollte es sein.

Ich dachte den ganzen Nachhauseweg über mögliche Talente in mir nach, doch da war einfach nichts Besonderes.

Und so fiel ich dann ins Bett und dachte mit einem Lächeln im Gesicht, wenigstens schlafen, schlafen, das kann ich.

DEN nächsten Tag verbrachte ich zur Hälfte im Bett. Ich wollte nicht aufstehen, denn ich wusste, was ich tun würde, und irgendwie fand ich es krank, im Internet nach einem Typen zu suchen, den ich nicht mal kannte.

Nachmittags gestand ich mir ein, krank zu sein. Es wurde eine kleine Zeremonie, Kaffee und Zigaretten, andächtiges Warten — keine Ahnung, auf was — und dann nervöses Klicken Richtung Wahrheit.

Ich gab Rapper und Said ein und kriegte gleich unzählige Links. Interviews. Tourdaten. Homepage. Myspace. MP3-Downloads.

Ich zog mir seine Songs rein. Es ging um Straße, Alltag, Brüder, Drogen und Clubs. Das Übliche. Nur ein Track war anders. Da gings um die Seele und ob sie bei einem bleibt, wenn man ununterbrochen an jemanden denkt, oder ob sie zu der geht, die einem den Kopf fickt.

Ich scrollte durch seine Fotos. Ich wollte wissen, ob er mir gefällt, auch wenn ich das eigentlich schon längst wusste, sein Körper breit, aber nicht zu sehr, das kurze Haar wahrscheinlich schwarz, der Dreitagebart vielleicht rasiert.

Das erste Bild war ein Porträt, seine Augen dunkel wie sein Haar, der Blick abcheckend, als wäre ich vor der Kamera und nicht er. Der Kopf leicht schief, die Nase sicher schon mal gebrochen, das eine Auge fordernd, das andere verletzlich. Minchia, der Mann sah gut aus. Vielleicht zu gut, denn einen Clown zu vergessen wäre sicher einfacher gewesen.

Ich fand noch endlos viele Bilder, starrte auf die Fotos und hörte erst damit auf, als ich mir einbildete, er könnte es merken.

Meine Mutter hatte immer gesagt, Bussen und Männern soll man nie nachlaufen, es komme immer ein nächster. In Italien stehen sowieso die Männer Schlange, nicht umgekehrt, da wird noch gekämpft, gepfiffen und erobert. Nicht mal im kalten Mailand muss man was dafür tun, die kommen einfach, da bleibt keine alleine. Aber ich war eben in Berlin, und auf meine Mutter hatte ich noch nie gehört.

Ich wollte alles wissen, wann er online war, wer ihm schreibt, wem er schreibt, wer seine Top Friends sind, und, und, und, einfach alles. Ich überlegte sogar kurz, mir selbst ein Myspace-Profil anzulegen, doch Gott sei Dank war mir das zu anstrengend.

Irgendwann schlief ich vor dem Rechner ein, und als ich aufwachte, beschloss ich, den Mann zu vergessen. So konnte es nicht weitergehen, einem Kerl hinterherzustalken, mit dem ich ein Mal was hatte, war mehr als scheiße. Meine Mutter hatte wohl doch recht.

Ich kroch ins Bett und blieb drei Tage lang drin, aß nichts, trank nur Tee. Am vierten Tag wurde es mir langweilig. Ich öffnete eine Flasche Amarone und machte für meine Verhältnisse was ziemlich Soziales, nämlich online gehen. Myspacedotcomslashsaid. Über seiner Seite schwebte ein großes Banner. Said live im Clubhaus.

Erst dachte ich, geil, da werd ich hingehen und mir den Typ krallen! Zwei Minuten später dachte ich weiter und sah mich wie einen Depp alleine rumstehen. Ich kannte dort ja keinen. Ich kannte den Club nur von Erzählungen, und zwar von Erzählungen einer Frau, die ich auch nicht wirklich kannte. Wir hatten uns erst ein Mal getroffen, zufällig, im Waschsalon. Ich hatte wie immer zu viel Zeit und sie zu wenig. Ich saß dort rum, verfluchte mich, immer noch keine Waschmaschine gekauft zu haben, und wartete, bis meine Wäsche fertig war oder sonst was passierte. Sie kam rein und füllte eine Trommel nach der anderen. Ich schaute ihr zu, und weil Leute spüren, wenn man sie beobachtet, drehte sie sich zu mir um und sagte: »Sag mal, kannst du mal auf mein Zeug aufpassen? Muss kurz rauf zu meinem Kleinen.«

Ich sagte: »Okay, mach ich«, und hätte auf der Stelle mein Leben mit ihrem getauscht. Sie war ganz sicher nicht einsam, wer so viel Wäsche zu waschen hat, kann nicht einsam sein.

Als sie wieder runterkam, hatte sie einen Kaffee für mich dabei. Wir redeten übers Schleudern und Weichspülen, ich hätte mich sogar über die Finanzkrise unterhalten, Hauptsache, ein bisschen was geredet.

Bevor sie wieder rauf zu ihrem Sohn, ihren Brüdern, Onkeln und Tanten oder Männern ging, meinte sie, ich solle sie mal im Clubhaus besuchen kommen, und weil sie der erste normale Mensch war, der mir in Berlin über den Weg lief, fragte ich: »Clubhaus?«

»Ja, du musst da mal vorbeikommen, geilster Laden, sag Bescheid, dann schreib ich dich auf die Liste.«

Das wars. Mehr wusste ich nicht, aber das reichte, um mir irgendwelche Flausen in den Kopf zu setzen, raus in die Abenddämmerung zu gehen und Richtung Waschsalon zu laufen.

Ich wusste nicht mal genau, was ich wollte, doch, eigentlich wusste ich es schon. Ich wollte Said.

Der Waschsalon war noch offen, auch wenn er nicht danach aussah. Oben brannte Licht, ich ging zwischen den Waschmaschinen in den Hausflur und dann die Treppen hoch.

Wirklich wohl fühlte ich mich dabei nicht, aber ich hatte ja nichts zu verlieren, höchstens ein bisschen Zeit, eineinhalb Sendungen auf Rai Due, die sie nachts eh wiederholten, also lief ich weiter durchs Treppenhaus bis in den dritten Stock. Da wohnte sie. Die Kinderschuhe vor der Tür zeigten wie ein Wegweiser in die Wohnung.

Ich stand unschlüssig im Flur rum, alle zwei Minuten im Dunkeln, wusste nicht, ob ich klingeln, und schon gar nicht, was ich dann sagen sollte. Erst als ich zum wer weiß wievielten Mal nach dem Lichtschalter tastete, klingelte ich, halb extra, halb versehentlich. Die Tür öffnete sich, und die schöne Mama stand vor mir. Im ersten Moment schien sie überrascht, mich zu sehen, im zweiten umarmte sie mich so herzlich, wie man es in Deutschland nur zu besonderen Anlässen tut.

Sie und ihr Sohn waren grad beim Essen.

»Ich wart draußen«, sagte ich. Aber sie ließ mich nicht, ich musste rein und mitessen. Ich hatte keinen Hunger, und rauchen durfte man in ihrer Wohnung nicht, also trank ich Wein.

Sie redete mit mir, als würde sie mich kennen, dabei wusste sie nichts über mich, außer dass ich keine Viskose mag und meine Unterwäsche aus Seide ist. Was man halt so mitkriegt, wenn man in Waschsalons die Wäsche wäscht.

Gegen zehn brachte sie den kleinen Alou zu Bett, und ich durfte endlich in der Küche rauchen. Langsam entspannte ich mich, und irgendwann, lange nach Mitternacht, wurde aus Wein Wodka und aus zwei Fremden fast so was wie Freunde.

Eigentlich wollte ich sie ja wegen eines Jobs im Clubhaus fragen, vielleicht vergaß ich es, vielleicht passte es auch einfach nicht mehr, keine Ahnung, jedenfalls fragte ich nicht, so, wie sie mich auch nicht fragte, warum ich denn eigentlich gekommen war. Wir ließen das einfach aus.

Mein Vater sagte immer, ich solle hinhören, wenn es still wird, weil jede Pause voller nicht gesagter Worte ist. Er hatte recht, das Wesentliche liegt in dem, was man nicht sagt, in dem, was man auslässt, was man nicht für nötig hält zu fragen, was man verschweigt, nicht in dem, was man erzählt, erzählen tut man Märchen.

Ich blieb, bis die Kippen ausgingen, dann tippte ich elf Zahlen in mein Handy, speicherte sie unter Aliyah, lief zur Tanke und dann nach Hause.

Am nächsten Morgen klingelte mein Telefon. Zuerst dachte ich an meine Drecksagentur, dann an Said, und dann erinnerte ich mich, so was wie eine Freundin zu haben. Oh Mann, fühlte sich das gut an. Ich erzählte ihr von meinem Agenten, der mir keine Jobs mehr brachte, was ja auch wahr war, und tat so, als ginge mir das Geld aus.

»Geht uns allen gleich«, meinte sie, »Scheißkohle, aber ey, kannst bei uns anfangen, brauchen eh noch Leute an der Bar.«

»Okay, cool, wann?«

»Wann du willst, komm einfach vorbei.«

Abends ging ich einfach vorbei. In der Halle standen ziemlich viele Leute rum, nicht Gäste, eher Lieferanten und welche von einer Putzfirma samt ihren Familien.

Aliyah stellte sie mir alle vor, Mohamed, Mustafa, Ahmed, Khalil, egal, ich konnte mir eh nicht alle merken. Aliyah nannten sie Ali, als wäre sie eine von ihnen, und ich war einfach die Neue.

Sie zeigten mir das Getränkelager, den Backstagebereich und was es sonst noch so gab. Ich versuchte mir irgendwas zu merken, schaute aber ständig zur Bühne und stellte mir vor, Said würde drauf stehen und für mich rappen.

»Morgen is hier die Hölle los, Said in da hooouse!«, lachte Ali, und als würde sie meine Gedanken hören, meinte sie noch: »Kannst morgen gleich anfangen.«

Ich sollte aufpassen, was ich denke, dachte ich und fühlte mich gleich wieder ertappt. Also dachte ich an eine grüne Wiese, da war ich safe.

Als ich ging, war es schon spät und das Ganze perfekt. Nur noch einmal schlafen, und ich würde ihn wiedersehen, als wäre es Schicksal oder Fügung oder so.

Am nächsten Tag stand ich ewig am Fenster, schaute dem Hausmeister beim Fegen zu und wartete auf den Abend. Um neun Uhr zog ich meine Lieblingsjeans und ein weißes Shirt an, steckte ein Briefchen Koks in die Hosentasche und stieg in ein Taxi.

Im Club angekommen, wollte ich gleich wieder nach Hause. Keine Mohameds, keine Ahmeds, keine Aliyah, dafür übertrieben viele Fremde, die alle durch den Laden stressten. Ich stand rum wie ein Depp, rauchte, versuchte möglichst nicht im Weg zu sein und war es trotzdem. Solang Said mich nicht so aufgeschmissen sehen würde, war mir das eigentlich auch egal. Doch wie das so ist, kam in dem Moment Monte mit seinen Leuten um die Ecke. Said konnte nicht weit sein. Ich dachte, scheiße, oder gar nichts und stolperte, bevor sie mich sahen, durch die erstbeste Tür.

Da war ich dann in der Küche. Winzig klein, übertrieben stickig, voller Typen, aber ich war zumindest in Sicherheit. Halbwegs.

Ich sagte: »Woah, das ist ja hier ein Fall für den Arbeitsschutz«, und hatte die Jungs gleich auf meiner Seite. Sie lachten, und irgendwie erinnerte mich das an früher, als ich Model war, backstage während der Shows, viele Leute, wenig Raum, keine Zeit, zu viele Sprachen und zu viel Stress. Also genau richtig. Und dann raus auf den Laufsteg. Alleine, im Kopf ist es still. Man spürt jeden Muskel, überlegt, was passieren würde, wenn man einfach losschreien würde, lässt es dann aber sein und läuft brav die Runde zu Ende.

Ali platzte in die Küche und stürzte sich gleich aufs Catering.

»Iss den Künstlern nicht das ganze Essen weg!«, schnauzte sie einer an.

»Jaja, allet klar«, grinste Ali mit vollem Mund und umarmte schnell jeden der Jungs. Dann nahm sie meine Hand, und ich folgte ihr sechsunddreißig Treppenstufen Richtung Himmel. Die nannten das dort oben wirklich so, Himmel, Zutritt nur für Auserwählte.

Ich schaute runter in den sich füllenden Saal und kam mir vor wie Gott, ich sah alles und jeden, aber keiner sah mich. So wie Gott eben, der alte Voyeur. Der Club hatte was von einer Oper, mein Vater hätte wahrscheinlich gleich angefangen, I puritani zu singen.

Ali stellte sich hinter die Bar. »Die gehört heute uns«, und grinste, »nichts zu tun, alles sehen, saufen umsonst und keine Opfer im Weg.«

Besser hätte es nicht kommen können. Danke Gott, danke, mein Freund, lächelte ich. Die Bar war schon aufgefüllt. Sie zeigte mir, wo was stand, und öffnete auch gleich eine Flasche Taittinger. Sie wurde mir immer sympathischer, und ich begriff auch langsam, dass sie hier mehr als nur Freundin war, nämlich so was wie Barchef.

Während wir Champagner tranken, wurde es unten eng. Als wir beim dritten Glas waren, sahen die Leute wahrscheinlich nicht mal mehr ihre eigenen Schuhe, und beim vierten hatte ich eine mehr oder weniger brillante Idee.

»Ali, sag mal, wer von den Küchenjungs is der beste?«

»Alle cool.«

»Ja schon, aber wer …« Ich machte es anders. »Wem vertraust du wirklich, wen würdest du nen Tag lang auf deinen Sohn aufpassen lassen?«

»Moses.«

»Na, geht doch«, lachte ich und sprang auf.

»Vergiss den, der ist viel zu klein für dich!«, schrie sie mir grinsend hinterher.

»Groß genug für was ich vorhab«, rief ich zurück, verschwand im Getümmel und stolperte durch die Menge bis an die rettende Küchentür. Wieder in Sicherheit, fragte ich, wer von ihnen Moses sei. Fünf von sieben sagten: »Hier!«, vier davon waren aber offensichtlich groß, sodass ich ohne Weiteres den echten identifizierte. Sherlock, Baby, Sherlock!

Ich zog ihn zur Seite, schrieb was auf eine Serviette, faltete sie schön und bat ihn, sie mit der nächsten Catering-Ladung backstage zu Said zu bringen.

»Seh ich aus wie ein Postbote?«, lachte mich Moses aus.

»Alter, ich meins ernst.«

»Wie jetzt, bist du ein Groupie oder was?«

»Was für ein Scheißgroupie, Alter?!«

Ich war schockiert, ich hatte ihn ja nur um einen kleinen Gefallen gebeten, und er fuhr mich an, als hätte ich sonst was gefragt.

»Minchia, was redest du von Groupie, du Penner«, legte ich los, »wenn, dann seid ihr meine Groupies, so siehts aus. Das hier is Kindergarten für mich, was is schon Rap aus Deutschland? Ganz ehrlich, ihr träumt davon, da hinzukommen, wo ich schon war, und ich mein nicht die Malediven und so, nee, Mann, ich red von all den Covers, auf denen ich war, von der ganzen Kohle, ja. Hast dir wahrscheinlich schon einen runtergeholt auf mich. Da schaust du blöd, ja? Also halt die Fresse, du hast keine Ahnung, so siehts aus. Und glaub mir, ginge es mir um Fame, würde ich mir definitiv was anderes holen als nen abgefuckten Berliner Rapper.«

Kurz gesagt, ich redete einen Haufen Scheiße und zeigte dem armen Mann eine meiner schlechtesten Seiten.

Er schaute mich mit offenem Mund an und irgendwann kam: »Mann, hast du ne Fresse! Siehst voll niedlich aus und dann so ne Fresse, Mann, ich will kein Stress mit dir, halleluja!«

Er nahm eine Platte voller Häppchen und legte die Serviette drauf.

»Was hast denn so Wichtiges draufgeschrieben?«

»Dass die Seele im Körper ist wie ein Organ, irgendwo tief drin, zwischen Herz und Rippen, und nicht dort, wo die Gedanken sind. Verstehst du?«

»What the fuck erzählst du da?«

»Vergiss es.«

Ich hörte noch ein »Halleluja«, dann verschwand er Richtung Backstage. Es gibt Sachen, die bereut man, noch bevor sie geschehen. Das war eine davon. Ich betete, Moses würde die Serviette verlieren und meinen Ausbruch vergessen.

Ich lief schnell wieder rauf zu Ali, als könnte ich das, was gerade passiert war, einfach abhängen. Hinter mir lassen. Ganz schnell wieder nüchtern werden. Ging natürlich nicht. Das unangenehme Gefühl klebte an mir fest, nur runterspülen, das ging, und als würde sie schon wieder meine Gedanken lesen, schenkte Ali Champagner nach.

An der unteren Bar war die Hölle los. Die Leute prügelten sich um die Drinks, während es bei uns oben immer noch ruhig war. Wer es zu uns rauf schaffte, hatte es geschafft, oder besser gesagt, wer es geschafft hatte, schaffte es zu uns rauf. Der Rest, eigentlich alle, musste unten bleiben, dafür sorgten zwei durchtrainierte Kampfsportler am Treppenaufgang.

Auf der Bühne tat sich was. Vor der Bühne tat sich noch viel mehr. Dann wurde alles schwarz, und auf einmal dröhnte der Bass durch den ganzen Club, Scheinwerfer erstrahlten wie tausend Sonnen, und Said und sein Bruder stürmten die Bühne.

Die Mädchen hätten am liebsten gleich ihre Shirts ausgezogen. Ich hatte mich vorhin wohl ein bisschen überschätzt. Hier drin war ich niemand. Hier drin war er ein Star.

Die Jungs aus der Küche kamen alle zu uns hoch und machten Lärm, als wären sie selbst auf der Bühne. Wir kippten einen Shot nach dem anderen, und spätestens, als Moses sich oben ohne an den Balkon hängte und mit den Füßen über den Köpfen der anderen schwebte, bemerkte uns ganz sicher auch Said. Zwei Jungs hängten sich dazu und machten Klimmzüge. Ali spritzte die nackten Oberkörper mit Champagner voll. Der Club schien zu explodieren, wir schrien, tanzten und lachten uns halb tot. Mir war alles egal. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Bühne aufs Geländer, rutschte langsam nach hinten, ließ mich fallen und hing wie eine Fledermaus weit oben im Club. Die Eisenstange fest in meinen Kniekehlen, fing ich an, Sit-ups zu machen, und jedes Mal, wenn ich hochkam, kippte mir jemand Wodka in den Mund.

Die Leute unten tobten, wussten wahrscheinlich nicht, ob das Teil der Show war oder ob wir einfach nur paar Spinner waren. Irgendwann zerrte mich Ali wieder rauf, das Blut schoss viel zu schnell zurück in meinen Körper, und alles, wirklich alles drehte sich. Nach paar Minuten war ich wieder da. Gott sei Dank, denn eigentlich war ich ja zum Arbeiten hier. Das schien aber keinen zu interessieren und mich schon gar nicht.

Dann wurde es ruhiger, fast kein Licht mehr. Die Leute holten Feuerzeuge raus, und auf der Bühne stand nur noch Said. Ich dachte, was denn jetzt los?, und ganz ehrlich, insgeheim hoffte ich weiß Gott was, auf einen Song nur für mich oder so.

Es kam tatsächlich ein Liebeslied, bloß war es ein Liebeslied an alle Frauen. An alle?! Die Antwort kam über die Boxen.

Love all — ob trouble und broke

Playboy oder Cover der Vogue

Den Frauen, die am liebsten ihre Shirts ausgezogen hätten, brauchte man das nicht zweimal zu sagen. Sie kletterten auf die Bühne und tanzten um ihn rum, als wären sie dabei, ein Homevideo für YouPorn zu drehen. Ich konnte nicht hinschauen und tat es trotzdem.

Der Saal rastete aus, die Jungs aus der Küche lachten sich tot, und Moses stand die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. Es kam mir vor wie eine öffentliche Hinrichtung. Gott, war das peinlich. Aber nicht genug. Der Scheißliebessong ging zu Ende, und er verschwand mit den Mädchen hinter die Bühne. Minchia, bin ich naiv, dachte ich, während mein Blick den Champagner suchte.