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Obwohl Livia und Kasimir alles darangesetzt haben, ihre Ziele zu erreichen, konnten beide nicht in ihren Prüfungen glänzen. Kasimir hat seinen eigenen Rangaufstieg verhindert und Livia muss trotz aller Anstrengungen auf die Embergate-Academy wechseln – und das als Mensch. Zum Glück taucht Kasimirs Zwillingsschwester Azura auf, die Livia dabei helfen möchte, ihre menschliche Identität an der Dämonenschule geheim zu halten. Gemeinsam mit Kasimir schmieden sie einen Plan der nicht nur verhindern soll, dass der Oberdämon erfährt, dass sein Zauber Menschen in Dämonen zu verwandeln missglückt ist, sondern der obendrein zum Ziel hat, Kasimirs und Azuras Vater als Clanoberhaupt der Trickster abzusetzen. Zu diesem Zweck muss Livia über ihren Schatten springen und erneut einen Deal mit einem Dämon eingehen. Livias Freunde Cora und Justin unterstützen sie so gut sie können, denn die Gefahren lauern nicht nur hinter den Mauern der Embergate-Academy. Die Dämonin Antonia und Livias Vater Noah wollen heiraten und Livia und ihre Freunde setzen alles daran die Hochzeit zu verhindern.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
»Wage es nicht, die Rune zu aktivieren!«, ertönte eine eiskalte Stimme. Dort im Schnee stand ein pechschwarzer Schwan, und aus seinen brennend rötlichen Augen sprach blinder Zorn.
Der Zauber des Oberdämons, Livia in eine Dämonin zu verwandeln, ist missglückt. Sie muss auf die Dämonen-Academy wechseln – und das als Mensch! Livias Tarnung darf unter keinen Umständen auffliegen, sonst droht großes Unheil. Nur Livias Dämonen-Freund Kasimir ist eingeweiht. Aber dann taucht Kasimirs düstere Zwillingsschwester Azura auf, die Livia zwingt, einen teuflischen Deal mit ihr einzugehen. Livia und Kasimir schmieden gemeinsam einen gefährlichen Plan, wie sie Azura aufhalten können. Doch ihnen bleibt nur wenig Zeit: Der Tag, an dem sich alles entscheidet, rückt unaufhaltsam näher!
Viktoria Etzel
Dämonische Bestimmung
Für unseren Krümel – dieses Buch haben wir gemeinsam geschrieben
29. Februar
Das Mondlicht ergoss sich strahlend auf den freien Platz der Lichtung, als die Menge sich vor uns teilte. Nun hatten wir freie Sicht auf das, was vor uns lag.
2001
Der Oberdämon mit dem Rang A+ erwartete uns bereits, allerdings anders, als ich es von ihm gewohnt war. Anstelle eines maßgeschneiderten Anzugs trug er das zur Schau, wovor ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte: seine Tiergestalt – den mächtigen Panther.
Die Statue vor dem Haupteingang der Villa, die ihn verkörperte, war mir immer etwas übertrieben vorgekommen. Schließlich konnte eine normale Raubkatze nicht so groß werden. Ich hatte mich geirrt, das pechschwarze Ungetüm mit den eiskalten kristallblauen Augen war so groß wie ein Pony. Träge schwang sein langer Schwanz hin und her. Die runden Ohren waren gespitzt und sein Maul leicht geöffnet. Die schwebenden Flammen, die den Tempel säumten, spiegelten sich in seinen gebogenen, messerscharfen Eckzähnen.
Alles in mir sträubte sich dagegen, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen. Wieso nur hatte ich Azura davon abgehalten, uns eine Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen? Weil ich kein Feigling sein wollte. Außerdem war Kasimir an meiner Seite, und mit meinem dämonischen Pfeilgiftfrosch als Freund hatte ich bisher jede brenzlige Situation gemeistert.
Ich schluckte gegen die Angst in meiner Kehle an und trat mit hoch erhobenem Kinn vor den Oberdämon. Seine Katzenaugen weiteten sich für einen winzigen Moment vor Erstaunen. Sein Blick glitt über mich hinweg und fixierte seinen Sohn Kasimir.
»Ihr seid spät«, fauchte er drohend.
»Verzeihung, Vater. Ich habe Livia ein paar letzte Instruktionen gegeben, damit wir unverzüglich beginnen können.« Kasimirs Stimme klang fest und wie immer, wenn er mit einem anderen Dämon sprach, eine Spur gelangweilt und herablassend. Ich beneidete ihn darum. Falls der Oberdämon mich ansprechen sollte, würde ich vermutlich nur ein seltsames Quietschen herausbringen.
Aus dem Nichts machte der Panther einen jähen Satz auf uns zu. Erschrocken zuckte ich zusammen und kämpfte gegen sämtliche Fluchtinstinkte an. Völlig lautlos landete der Oberdämon auf seinen gewaltigen Pfoten. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden.
»Du hast dich verändert«, knurrte er so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. Er kam mir so nahe, dass seine Schnurrhaare meine Wange streiften.
»Ich glaube, die Verwandlung war bisher noch nicht vollständig vollzogen«, log ich und hielt dabei seinem berechnenden Blick stand.
Wenn der Oberdämon uns jetzt durchschaute, war alles vorbei. Egal, ob Plan A, B oder B+. Nichts würde uns mehr retten können, falls ich keinen überzeugenden Dämon abgab.
»Es ist 2:29 Uhr«, ertönte die Stimme eines Tricksters, den ich nicht kannte.
Abrupt wandte der Oberdämon sich von mir ab und erklomm die freiliegenden Steinstufen des Tempels. Seine kräftigen Muskeln zeichneten sich unter dem Fell ab, das ich unter anderen Bedingungen als flauschig beschrieben hätte. Am obersten Treppenabsatz angekommen, hielt der Panther inne. Er setzte sich auf seine Hinterläufe, den Schwanz um die Pfoten gekringelt.
»Meine treuen Untertanen«, richtete er das Wort an die wartende Menge. Ich war mir sicher, dass jeder anwesende Dämon des Tricksterclans ihn nicht nur sehen, sondern auch hören konnte, obwohl er nicht laut gesprochen hatte. Der tiefe, betörende Klang seiner Stimme reichte aus, um das Publikum zu fesseln. »Lange haben wir auf diesen Moment gewartet. Die Zeit ist gekommen, um unseren Platz an der Spitze aller Dämonenclans einzunehmen.« Der Oberdämon machte eine bedeutungsschwere Pause, in der die Menge in Jubel und Geschrei ausbrach. »Den ersten Schritt zu unserem Ziel musste ich mit meiner Familie allein gehen. Doch heute, an diesem besonderen Tag, werdet ihr alle Zeuge der zweiten Phase werden. Das Mädchen, das ihre Menschlichkeit ablegen durfte, um eine von uns zu werden, ist unter uns. Es wird in diesem Ritual beweisen, dass der Verwandlungszauber wahrhaftig funktioniert.«
Der Oberdämon meinte mich. Wie war ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten, und noch viel wichtiger: Wie kam ich da wieder heraus? Ich hatte all unsere Trümpfe verspielt. Nun würde das Glück darüber entscheiden, wie diese Sache für uns ausgehen würde.
10. November
Der Plan war völlig abgedreht und würde niemals funktionieren. Sobald ich meinen dämonischen Freund Kasimir in die Finger bekam, würde ich ihn für diese lächerliche Idee büßen lassen. Aber hatte ich eine Wahl? Nein, und an allem war nur der verfluchte Oberdämon mit dem Rang A+ schuld!
68347
Mit schweißnassen Fingern fummelte ich eine Packung Kaugummis mit Pfefferminz-Kokosnuss-Geschmack aus meiner Hosentasche.
»Bekomme ich auch einen?«, fragte Großtante Pearl und streckte mir ihre Handfläche entgegen, ohne die Augen von der Straße abzuwenden.
Ich ließ einen der etwas eingedellten Kaugummis hineinfallen, und Großtante Pearl steckte ihn in den Mund. Grinsend beobachtete ich, wie sie bei dem gewöhnungsbedürftigen Geschmack das Gesicht verzog und sich ihre runzelige Stirn in noch mehr Falten legte. Es war das erste Mal, dass ich an etwas anderes als die Dämonen dachte, seit wir uns in ihr klappriges, nach Duftstäbchen riechendes Auto gesetzt und auf den Weg zur Embergate-Academy gemacht hatten. Als wir vor etwa einer Viertelstunde die Grenze zum Dämonenviertel passiert hatten, hatte ich sogar kurz die Luft angehalten. Seit Justins und meiner Antonia-Spionageaktion war ich nicht mehr hier gewesen.
Die Embergate-Academy lag im Herzen des Viertels. Genau wie beim letzten Mal war keine Menschen… äh, Dämonenseele unterwegs. In keinem der Häuser, an denen wir vorbeikamen, brannte Licht. Das konnte diesmal aber auch an der Uhrzeit liegen. Es war immerhin kurz vor Mitternacht, und vielleicht brauchten selbst gemeingefährliche Trickster ihren Schönheitsschlaf.
Großtante Pearls und mein nächtlicher Ausflug war natürlich streng geheim. Nur meine Freunde waren eingeweiht, dass ich meiner neuen Schule einen kleinen Besuch abstatten wollte, obwohl meine Einschulung erst in zwei Tagen stattfinden würde. Und der einzige Grund dafür war, dass ich ganz dringend etwas Bestimmtes brauchte, um nicht direkt von den Dämonen als Mensch enttarnt zu werden. Ärgerlicherweise befand sich dieses Etwas IN der Embergate-Academy.
Einbrüche in das Dämonenterritorium gehörten zwar inzwischen zu meinem Spezialgebiet, meine Aufregung schmälerte das jedoch nicht. Immerhin war diesmal der Oberdämon nicht in unmittelbarer Nähe. Das hatte Kasimir mir zumindest versichert, als er vor nicht mal zwei Stunden an mein Fenster geklopft hatte, um mir von seinem haarsträubenden Plan zu erzählen. Na ja, eigentlich war es sogar der Plan seiner Zwillingsschwester Azura, und das ließ mich glauben, dass wir diesmal tatsächlich eine Chance hatten, dass alles glattlaufen würde. Mit so einer mutigen und mächtigen Dämonin an unserer Seite sollten wir keine Probleme haben. Kasimirs und meine Quote für geglückte Pläne war ja leider nicht besonders hoch.
Mich beunruhigte jedoch an Azuras Vorhaben, dass ich nicht in die Details eingeweiht worden war. Ich wusste ja nicht einmal, hinter was wir eigentlich her waren! Nachdem Azura in ihrer Tiergestalt im Park aufgetaucht war, hatte Kasimir mich sofort nach Hause geschickt, um mit ihr allein zu sprechen. Das konnte ich auch verstehen. Er hatte seine Schwester schließlich eine ganze Weile nicht gesehen. Ich hatte nur gehofft, dass er mir mehr verraten würde, als dass sie eine Idee hatte, wie wir den Oberdämon über meine missglückte Verwandlung hinwegtäuschen konnten.
»Deine Mutter hat keinen Verdacht geschöpft, oder?« Das war Großtante Pearls fünfter Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Nicht, dass ich mich nicht mit ihr unterhalten wollte … Das hätte mich sicher davon abgehalten, weiter über dieses Abenteuer nachzudenken, in das ich blauäugig hineinlatschte. Aber ich wollte Großtante Pearl lieber nicht zu sehr vom Autofahren ablenken. Mir war nicht wohl gewesen, als sie eine knallrote Brille aus dem Handschuhfach gekramt hatte, deren Gläser ihre Augen doppelt so groß wie normal erscheinen ließen.
»Ohne die sehe ich nichts«, hatte sie mich aufgeklärt, nachdem sie meinen skeptischen Blick bemerkt hatte. Als ob mich das in irgendeiner Form beruhigt hätte. Bisher war ich davon ausgegangen, dass sie nur eine Lesebrille brauchte.
»Also?«, hakte Großtante Pearl nach. Sie wandte ihren Blick nun doch von der Straße ab und schaute mich an. Ohne zu bremsen, sauste sie an einem Stoppschild vorbei.
Meine Finger krallten sich unwillkürlich rechts und links von meinen Beinen in den Autositz. »Nein, sie denkt, dass ich die ganze Nacht bei Cora bin«, beeilte ich mich zu sagen. »Schau auf die Straße, Großtante Pearl!«
»Jaja«, brummte sie. »Nur die Ruhe. Ich fahre dieses Auto schon ewig.«
Ja, genau das war das Problem!
»Hat diese Shiela sich noch mal bei deiner Freundin blicken lassen?«, fügte Großtante Pearl hinzu.
»Skylar«, verbesserte ich sie. »Und nein, hat sie nicht. Ist aber auch besser so!« Ich wäre froh, wenn ich die Dämonin, die sich in ihrer Tiergestalt als Ratte bei meiner Freundin Cora eingeschleust hatte, nie wiedersehen müsste. Obwohl Skylar die ganze Zeit gute Absichten verfolgt hatte und genau wie wir nur den Oberdämon hatte aufhalten wollen, konnte ich ihr nicht so richtig verzeihen, dass sie dabei Cora in Gefahr gebracht hatte.
»Sehr gut«, meinte Großtante Pearl zufrieden nickend. Sie hatte angeboten, für Cora ein Reinigungsritual abzuhalten, aber das war gar nicht nötig gewesen. Coras Aura war wieder strahlend rein, nachdem die Rumble Coins gelöscht worden waren. Kein Funke Dunkelheit war in Sicht. Anders als bei mir … Obwohl mein Deal mit Kasimir geplatzt war, waberte meine Aura noch immer schwarz vor sich hin, und daran konnte auch Großtante Pearls Reinigungsritual nichts ändern … wir hatten es versucht.
»Hör auf, darüber nachzudenken«, mahnte Großtante Pearl, als hätte sie genau gewusst, woran ich gerade dachte.
»Meinst du, dieses verhexte Bonbon hat irgendwas mit mir gemacht?«, platzte die Frage aus mir heraus, die mich schon seit Tagen beschäftigte. Mir wurde noch immer angst und bange, wenn ich an die kalten, erwartungsvollen Augen des Oberdämons dachte, als ich mir die teuflische Süßigkeit in den Mund geschoben hatte.
»Unsinn«, blaffte Großtante Pearl und riss bei der nächsten Kurve das Lenkrad so scharf herum, dass wir fast eine Mülltonne vom Straßenrand mitnahmen. »Der Zauber dieser Pappnase ist missglückt. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, dass du irgendwas Dämonisches an dir hast!«
»Aber meine Aura …«
»Schluss damit, wir sind da«, unterbrach sie mich. Und tatsächlich tauchte auf einmal die gigantische Silhouette der Embergate-Academy aus der Dunkelheit vor uns auf.
Großtante Pearl parkte in sicherer Entfernung. Der röhrende Motor ihrer Klapperkiste hätte vermutlich sonst jeden Schüler aufgeweckt. Neugierig spähten wir beide zur dreckigen Windschutzscheibe hinaus.
Die Embergate-Academy befand sich am Ende der Straße in einer Sackgasse. Das gesamte Grundstück wurde von einer drei Meter hohen Sandsteinmauer eingeschlossen, die über und über mit Efeu bewachsen war. Außer den spitzen Türmen, die zwischen Baumwipfeln hervorragten, konnte man von unserem Stützpunkt aus nichts von der Schule erkennen.
Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Das Ganze hier erinnerte mich viel zu sehr an die Villa Velnias. Der Oberdämon war nicht besonders kreativ in der Gestaltung seiner Gruselgebäude.
»Sieht ja einladend aus«, brummte Großtante Pearl, und ich gab ihr stillschweigend recht. Am Montag würde ich dort einziehen und den Trickstern vorspielen, dass ich einer von ihnen war. Mein Herz machte einen nervösen Satz, als ich an meine neuen Mitschüler dachte. »Wann wolltet ihr euch treffen?«
»In zehn Minuten«, antwortete ich mit einem Blick auf mein Handy.
»Wunderbar, dann haben wir noch Zeit«, sagte Großtante Pearl. Sie lehnte sich zurück und schnallte sich ab.
»Was hast du vor?«, fragte ich überrascht. Sie wollte doch nicht etwa mitkommen, oder? Sofort hatte ich ein Bild vor Augen, wie Großtante Pearl in ihrem dunkelblauen Samtjogginganzug versuchte, über die Mauer zu klettern.
»Dein kleiner Froschfreund hat mir vorhin ebenfalls einen Besuch abgestattet und mich um etwas gebeten.«
Meine Augenbrauen schnellten in die Höhe. Kasimir hatte Großtante Pearl besucht? Das konnte doch nichts Gutes bedeuten.
»Was wollte er?«, fragte ich. »Und außerdem dachte ich, dass Dämonen nicht an dich herankommen?«
»Dämonen, die etwas im Schilde führen«, stellte Großtante Pearl klar. »Er hatte gute Absichten, denn er bat mich um etwas, was euch bei eurem Einbruch nützlich sein könnte.«
Nun konnte ich meine Überraschung nicht mehr verbergen. »So was hast du?«, fragte ich.
»Du wärst erstaunt, was sich in einem langen Leben so ansammelt«, meinte sie und zwinkerte mir schelmisch zu. »Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es gegen die Magie der Dämonen ankommt, aber Kasimir hat mir versichert, dass es helfen wird.« Sie drehte sich zur Rückbank und tastete nach etwas, gab es aber schnell auf. »Wo ist denn das verfluchte Ding … Oje, mein Rücken«, grunzte sie. »Such mal nach einer Schatulle da hinten.« Großtante Pearl wedelte mit der Hand Richtung Rücksitz, und ich erspähte eine schmale Holzkiste, die in den Fußraum gerutscht war. Ich angelte nach ihr, und Großtante Pearl riss sie mir fast augenblicklich aus der Hand.
»Ah, da ist sie ja«, murmelte sie und strich liebevoll über das glatte rotbraune Holz.
»Und wie soll uns diese Kiste helfen?«, wollte ich wissen. Das Ding sah aus, als ob man es in jedem Krimskramsladen bekommen könnte.
»Nicht die Schatulle, Kindchen«, schimpfte Großtante Pearl und wackelte mit ihrem langen beringten Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Das, was darin ist.«
Hm, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Bevor ich fragen konnte, was sich denn nun in dem Kästchen befand, hatte Großtante Pearl den kleinen Metallriegel zur Seite geschoben, sodass der Deckel aufschnappte.
»Es gibt einige Gegenstände, denen nachgesagt wird, dass sie Glück bringen«, sagte Großtante Pearl mit verschwörerischer Stimme.
»So was wie Fliegenpilze und Marienkäfer? Oder hast du etwa einen Schornsteinfeger darin versteckt?«, neckte ich sie.
Großtante Pearl bedachte mich nur mit einem strengen Blick durch ihre knallrote Brille. »Alles abergläubischer Mumpitz! Das, was ich hier habe, ist eines der wenigen Dinge, die dem Träger wirklich Glück verleihen.«
»Was ist es?«, wollte ich wissen. Konnte es sein, dass Gegenstände existierten, die echtes Glück brachten? Aber wieso eigentlich nicht? Immerhin gab es auch Karma und Dämonen.
»Eine Hasenpfote«, eröffnete mir Großtante Pearl freudestrahlend.
»Igitt!«, rief ich. »Das meinst du nicht ernst, oder? Du hast einem süßen, kleinen Kaninchen eine Pfote abgesäbelt?« Mir wurde schlecht, wenn ich nur daran dachte, so etwas Furchtbares mit mir herumzuschleppen.
»Unsinn, Kindchen!«, knurrte Großtante Pearl. Sie klappte den Deckel des Kästchens nach hinten auf und zog eine silberne Kette hervor. Sie reichte mir das Schmuckstück, und ich hob den Anhänger, der daran baumelte, näher an die Augen, damit ich im schwachen Licht des Mondes etwas erkennen konnte. Der Silberanhänger war geformt wie eine Hasenpfote.
»Eine Kette? Und die soll Glück bringen?«, fragte ich. Den skeptischen Unterton konnte ich mir nicht verkneifen.
»Nicht die Kette«, widersprach Großtante Pearl. »Der Anhänger! Er ist aus echtem Silber, das im Vollmondlicht gebadet wurde.«
Silber? Vollmond? Machten wir Jagd auf Werwölfe, oder was?
»Jetzt veralberst du mich aber«, brummte ich und ließ die Hand mit der Kette darin sinken.
»Was denkst du denn von mir!«, rief Großtante Pearl empört. »Mit diesem Schätzchen habe ich bisher jedes meiner Pokerspiele gewonnen! Der Anhänger verliert nur irgendwann seine Wirkung, je nachdem, wie viel Glück man braucht. Dann benötigt man einen starken, wolkenlosen Vollmond, um seine Kraft wiederherzustellen. Allerdings funktioniert das Aufladen nicht immer. Eine Garantie gibt es nur an einem Freitag, den 13., aber dieser Tag kommt nur ein paarmal im Jahr vor. Das, was ihr heute vorhabt, wird sicher die ganze Kraft des Anhängers aufbrauchen, geh also vorsichtig damit um. Kasimir habe ich ebenfalls gewarnt, dass das Glück nicht endlos halten wird.«
Es verunsicherte mich, dass Kasimir glaubte, wir würden den Einbruch trotz Azuras Rang B nicht ohne eine Extraportion Glück überstehen. Es gefiel mir immer weniger, dass ich keine Ahnung hatte, was uns in der Embergate-Academy erwarten würde.
»Und er glaubt wirklich, dass dieser Anhänger helfen wird?«
Großtante Pearl nickte. »Dämonen wissen genau, dass es solche Gegenstände gibt. Besonders Trickster können ihre Anwesenheit fühlen, deswegen wusste Kasimir auch, dass sich einer in meinem Besitz befindet. Pass gut auf ihn auf! Wenn er dir abhandenkommt, werde ich zum ersten Mal seit dreißig Jahren beim Poker verlieren.« Sie ließ ihr bellendes Lachen ertönen. Mir war jedoch nicht danach zumute einzustimmen. In was hatte der Giftzwerg mich da nur wieder hineingeritten?
Mit bangem Blick starrte ich den roten Rücklichtern von Großtante Pearls Auto nach. Sie würde unser Fluchtfahrzeug weiter weg parken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sobald sie außer Sichtweite war, wandte ich mich der Schule zu. Jetzt gab es nur noch mich und die Dämonen. Ich stand im Schatten der Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite und spähte zu dem Tor hinüber, welches ich in zwei Tagen als Schülerin der Embergate-Academy durchschreiten musste.
Es ist das Glück des Pechvogels, vom Unglück verfolgt zu werden.
So stand es in silbernen, verschnörkelten Buchstaben an der höchsten Spitze des Torbogens. Was für ein lächerlicher Spruch! Es hatte mir nicht einmal Glück gebracht, von meinem dämonischen Unglücksfrosch verfolgt zu werden. Im Gegenteil, meine Freundschaft zu Kasimir und unser missglückter Deal hatten mich hierhergeführt, an die Schwelle der Dämonenschule.
Und jetzt kam Kasimir auch noch wie üblich zu spät. Ich linste erneut auf mein Handy. Mitternacht rückte immer näher. Seufzend wippte ich auf den Fersen auf und ab und rieb mir über die Arme. Irrte ich mich, oder war es hier im Dämonenviertel kälter als im Rest der Stadt?
Ich wickelte den dicken Schal enger um meinen Hals. Zum Glück hatte ich meine Erkältung unter Kontrolle bekommen. Großtante Pearl hatte mir eine richtig widerliche Kräuterpackung zusammengebraut. Nachdem ich sie als Tee getrunken und mir mit den Kräutern die Brust eingerieben hatte, fühlte sich mein Körper wieder wie auf Werkseinstellung zurückgesetzt. Ich wusste nicht, woraus ihre Spezialmischung bestand, aber vermutlich wollte ich das auch gar nicht wissen. Hauptsache, es hatte geholfen! Es wäre wirklich albern gewesen, wenn mich ein kleiner Schnupfen verraten hätte.
Geräuschvoll atmete ich aus, und mein Atem schwebte als Dunstwolke vor meinem Gesicht.
»Gehen wir jetzt rein, oder willst du hier Wurzeln schlagen?«, ertönte auf einmal eine Stimme in meinem Rücken, die mich erschrocken herumfahren ließ.
Ich hatte kaum Zeit zu realisieren, dass ich den orange und türkis gemusterten Pfeilgiftfrosch kannte, der mir gegenübersaß, da war er auch schon verschwunden. An seiner Stelle stand nun ein Junge, der etwa einen halben Kopf kleiner war als ich und mich frech angrinste. Trotz der Kälte trug er nur einen Hoodie, dessen knallrote Farbe sich von all dem Novembergrau abhob. Lässig verschränkte der Junge die Arme vor der Brust und sah mir herausfordernd entgegen.
»Verdammt, du hast mich zu Tode erschreckt, Giftzwerg!«, japste ich. Mit zitternden Fingern strich ich mir eine Strähne meiner dunklen Haare hinters Ohr. »Wie lange beobachtest du mich schon, hm?«
»Noch nicht lange«, gab Kasimir grinsend zurück. »Ist ganz schön langweilig, dir dabei zuzusehen, wie du die Schule anstarrst.«
»Haha«, brummte ich.
»Ach, mach nicht so ein Gesicht«, meinte er und stupste mir gegen die Schulter. »Das wird eine total einfache Nummer. Wir gehen da rein, holen das Teil und verschwinden wieder.«
»So einfach, dass du Großtante Pearl extra um einen Glücksbringer bitten musstest, hm?«
Schuldbewusstsein schlich sich auf Kasimirs Gesicht. »Na ja, man kann ja nie wissen. Du … äh … hast die Hasenpfote, oder?«
Als Antwort zog ich das Kettchen aus dem Kragen meiner Jacke hervor. Der silberne Anhänger glänzte im Mondlicht, und Kasimirs Augen weiteten sich für einen Moment.
»Cool! Ich hab noch nie eine aus der Nähe gesehen«, meinte Kasimir. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, als müsste er sich zurückhalten, sie zu berühren, und musterte die Hasenpfote neugierig.
»Aber du kannst sie fühlen, dachte ich?«
Kasimir nickte. »Ja, schon, aber deine schwarze Aura überdeckt ihre Schwingungen«, sagte er. »Und das ist gut!«, beeilte er sich hinterherzuschieben, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Deine Aura hilft uns zu verstecken, dass du kein Dämon bist!«
Ich biss die Zähne zusammen und stopfte die Kette zurück unter meine Jacke. Warum nur war meine Aura immer noch schwarz? Egal, was Großtante Pearl sagte, dieses Dämonenbonbon musste etwas mit mir angestellt haben! Ob ich mich vielleicht doch in einen Dämon verwandelte … nur sehr langsam? Bei dem Gedanken kroch es mir eiskalt den Rücken hinunter.
»Also, können wir los?«, riss Kasimir mich ins Hier und Jetzt zurück. »Wir sollten uns besser beeilen, wenn wir die Mitternachtsstunde nutzen wollen.«
»Warum ist das so wichtig?«, wollte ich wissen und verdrängte meine Angst, irgendwann als fieser Trickster zu enden.
»Na, das ist die Geisterstunde«, sagte Kasimir grinsend. »Also Primetime für Dämonen. Unser Karma hinterlässt dann am wenigsten Spuren, und wir wollen doch unerkannt bleiben, oder nicht?«
»Na logisch«, seufzte ich. Das Letzte, was ich wollte, war, vor meiner Einschulung bei einem Regelverstoß ertappt zu werden. Einbruch und Diebstahl waren sicher auch an einer Dämonenschule verboten. »Dann leg mal los. Ich bin bereit.« Erwartungsvoll drehte ich mich Kasimir zu. Einen Moment lang starrten wir uns stumm an.
»Ähm … und wofür? Soll ich einen Zaubertrick vorführen?«
»Nein, du Dussel! Du sollst mich in einen Frosch verwandeln!«
»Oh«, meinte Kasimir, als bei ihm der Groschen fiel. »Oh, nein, das funktioniert hier nicht.«
»Was soll das denn heißen?« Erwartete er etwa, dass ich da in meiner menschlichen Gestalt reinmarschierte? Dann würden wir doch sofort entdeckt werden!
»Die Embergate-Academy wurde mit Karma erbaut. Sie … hm … wie soll ich es ausdrücken … sie fühlt Karma, und jeder Schüler hat einen individuellen Karmaabdruck, wie ein Fingerabdruck. Wenn ich versuche, dich mit Karma hinter meiner Froschgestalt zu verstecken, wird die Academy es merken und Alarm schlagen. Täuschungen jeglicher Art funktionieren nicht. Das soll verhindern, dass sich Dämonen aus anderen Clans einschleichen.«
»Und wie zum Teufel sollen wir dann damit durchkommen, dass ich kein Dämon bin?«, rief ich mit quietschiger Stimme. »Das ist doch die größte Täuschung aller Zeiten!«
»Pst, nicht so laut, Livia! Willst du die ganze verdammte Schule aufwecken? Ich hab doch gesagt, wir haben einen Plan«, knurrte Kasimir.
»Du meinst, Azura hat einen«, widersprach ich ihm und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ja, okay … Sie hatte die Idee, aber sie braucht uns, um ihn durchzuziehen!«, gab er zähneknirschend zu. Es gefiel ihm wohl nicht, dass seine kleine Schwester die bessere Pläneschmiederin war. »Du kannst mir in der Sache vertrauen, okay?«
»Das würde mir leichter fallen, wenn ihr mir endlich sagt, um was es eigentlich geht! Ich weiß ja nicht mal, was wir eigentlich stehlen wollen und wozu ich unbedingt mitkommen muss! Seid ihr zu zweit nicht viel unauffälliger?«
»Na ja …«, druckste Kasimir herum.
»Jetzt rück schon raus mit der Sprache! Ich dachte, diese Geheimniskrämerei hätten wir hinter uns!«
»Azura meinte, ich soll es dir nicht sagen, damit du aus lauter Panik keinen Rückzieher machst«, murmelte Kasimir verschämt und vermied es, mir in die Augen zu schauen.
Mir klappte der Mund auf. Das hatte sie nicht wirklich gesagt! ICH war es gewesen, die vor nicht mal zwei Wochen ihrem teuflischen Vater die Stirn geboten hatte, während sie sich versteckt gehalten hatte. Und jetzt wurde ich als Angsthase abgestempelt?
»Tja, dann wird sie sich aber wundern«, knurrte ich. Es ärgerte mich maßlos, dass sie so über mich dachte. Ich war vielleicht nicht so mächtig wie sie, aber nutzlos war ich auch nicht. »Ich hau nicht ab, wenn’s brenzlig wird, aber ich will verdammt noch mal wissen, worauf ich mich einlasse«, fügte ich hinzu.
Kasimir seufzte. »Das hab ich ihr auch gesagt, aber sie … sie traut dir nicht so richtig. Sie glaubt, es ist das Beste, wenn du so wenig wie möglich weißt. Sie hat nur wegen der Hasenpfote zugestimmt, dass du mitkommst.«
Ich schnappte empört nach Luft. Sie traute mir nicht? Wieso? Ich hatte ihr überhaupt keinen Anlass gegeben, so über mich zu denken!
»Beruhig dich, okay?«, fügte Kasimir schnell hinzu, bevor ich etwas sagen konnte. »Sie traut niemandem außer Skylar und mir.«
Da war ich mir nicht so sicher. Immerhin hatte sie Skylar darauf angesetzt, Kasimirs Rangaufstieg zu verhindern, anstatt selbst Kontakt zu ihm zu suchen. Vertrauen sah für mich anders aus. Vielleicht hatte sie den Verdacht gehabt, dass Kasimir inzwischen mit dem Oberdämon zusammenarbeitete? Dann kannte sie ihren Bruder aber schlecht! Er hatte alles riskiert, um sie zu beschützen.
»Azura ist einfach vorsichtig. Sie muss erst sichergehen, dass du auf unserer Seite bist. Bei dem Plan darf einfach nichts schiefgehen«, sagte Kasimir eindringlich.
»Das weiß ich doch«, brummte ich. »Ich will schließlich nicht, dass dein gruseliger Vater spitzbekommt, dass seine Bonbons nicht funktionieren!«
»Nicht nur das. Es gibt eine Menge, was wir vor ihm verbergen müssen.« Stimmt, Kasimirs verpatzten Rangaufstieg hätte ich fast vergessen. Beides ging Hand in Hand, wenn einer von uns aufflog, tat es der andere auch. »Vielleicht müssen wir …«, er verstummte. »Egal, das hat Zeit … zumindest noch ein bisschen.«
Mir gefiel der vorsichtige Unterton in seiner Stimme nicht. »Was heckt ihr beide sonst noch aus, Giftzwerg?«, bohrte ich nach.
»Später«, murmelte er.
»Nein, jetzt!«, rief ich.
»Azura wartet«, wich Kasimir mir aus. »Ich … wir erzählen dir alles nach dem Einbruch, versprochen! Aber jetzt müssen wir wirklich los!«
Endlich sah er auf und begegnete meinem zornigen Blick. Meine Wut verebbte jedoch sofort, als ich das schlechte Gewissen in seinen gelben Augen sah. Kasimir hatte mir nie etwas Böses gewollt, und darauf musste ich vertrauen.
»Dann sag mir wenigstens, was wir stehlen und warum ich unbedingt mitkommen muss«, lenkte ich ein.
Kasimir schenkte mir ein dankbares Lächeln. »Na gut. Ich … ich hab vielleicht ein bisschen geflunkert, was die Hasenpfote betrifft«, meinte er mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
»War ja klar«, brummte ich. »Also?«
»Sie ist keine Unterstützung, um auf Nummer sicher zu gehen. Wir sind auf das Glück der Pfote angewiesen. Ohne sie funktioniert der Plan nicht, und da Dämonen sie nicht berühren können …«
»… muss ich als Mensch mit der Hasenpfote mitkommen«, vollendete ich seinen Satz mit einem tiefen Seufzer.
»Jap, sorry.«
»Und was genau ist so gut in der Academy versteckt, dass wir eine Glückspfote brauchen, um es stehlen zu können? Da kamen wir ja leichter in das Labor vom Oberdämon rein.«
»Es ist ein magisches Artefakt. Es ist sehr selten, und nur Dämonen mit dem Rang B oder höher können es überhaupt einsetzen.«
»Was ist es?«, hauchte ich angespannt in die Dunkelheit.
»Ihr Menschen kennt es als Glücksrad«, antwortete Kasimir.
»Du veralberst mich, oder?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Wie sollte uns eine bunte Plastikscheibe dabei helfen, den Oberdämon zu täuschen? Er würde sich kaum von meiner Menschlichkeit ablenken lassen, indem wir ihn in ein Spiel verwickelten, bei dem man billige Jahrmarktpreise gewinnen konnte.
»Nicht so ein Glücksrad, wie du es dir vorstellst«, schob Kasimir hinterher. Ob er sich auch gerade seinen Vater dabei vorgestellt hatte, wie er mit einer Zuckerwatte in der Hand und einem albernen Grinsen im Gesicht an einem knallbunten Glücksrad drehte, um ein Plüschtier zu gewinnen?
»Und wie soll ich es mir vorstellen?«, hakte ich nach.
»Später«, wiederholte Kasimir. »Wir haben wirklich schon genug Zeit verplempert. Du erfährst schon noch alles, wenn …« Er brauchte seinen Satz nicht zu beenden … wenn Azura der Meinung war, dass man mir vertrauen konnte. Toll, dass ich jetzt zwei Dämonen an der Backe hatte, die nicht richtig mit der Sprache rausrückten.
»Sorry, dass ich Fragen habe, wenn ich mit zwei Trickstern in eine unheimliche Dämonenschule einbreche, mit nichts bewaffnet außer einer Halskette«, grummelte ich.
Kasimir grinste, erwiderte jedoch nichts. Auf leisen Sohlen huschte er über die Straße und bedeutete mir, ihm zu folgen. Für einen Moment gehorchten mir meine Gliedmaßen nicht, doch dann atmete ich einmal tief durch und lief ihm hinterher.
Das drei Meter hohe Tor war geschlossen. Ich fragte mich sofort, ob wir hinüberklettern mussten wie in der Villa Velnias und ob es ähnlich fiese Sicherheitsvorkehrungen gab. Ich erinnerte mich noch sehr genau an meinen peinlichen Flug über die Mauer. Bevor ich Kasimir danach fragen konnte, schwang das Tor bereits auf und hieß uns willkommen. Kasimir schritt unter dem silbernen Torbogen hindurch, aber ich zögerte. Das war doch zu einfach, oder?
»Komm schnell«, zischte Kasimir mir zu und winkte dabei hektisch.
Eilig huschte ich ihm hinterher, und das keine Sekunde zu früh, denn schon schlossen sich die Flügel des Tores in meinem Rücken mit einem leisen Klicken.
»Das war knapp«, brummte Kasimir. »Du musst immer dicht bei mir bleiben. Die Türen öffnen sich nur für Schüler und Lehrer der Academy, und du bist erst offiziell ab Montag eingeschrieben. Außerdem bin ich mir gar nicht sicher, ob es bei dir überhaupt funktioniert. Das Tor reagiert auf Karma.«
Mit einem Kloß im Hals nickte ich und widerstand der Versuchung, zurück zum Tor zu rennen und daran emporzuklettern, nun wo ich mit den Dämonen eingesperrt war.
»Schau nicht wie eine Maus, die gleich von einer Katze verspeist wird«, flüsterte Kasimir augenrollend. »Es ist nicht verschlossen. Wir können jederzeit wieder hinausgehen.«
Noch, dachte ich, während ich Kasimir den gewundenen Pfad entlang folgte. Der Kies knirschte viel zu laut unter meinen Sohlen. Ob es eine gute Idee war, auf die Eingangstür zuzulaufen? Sollten wir uns nicht lieber in den Farnen und Büschen am Wegesrand verstecken?
Besorgt lugte ich über Kasimirs Schulter. Doch außer dem dicht bewachsenen, dschungelartigen Grundstück rechts und links und dem immer größer werdenden Gebäude war in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen.
»Kasimir«, begann ich, aber er bedeutete mir, still zu sein, und ich klappte den Mund wieder zu. Jetzt trennten uns nur noch wenige Schritte von der doppelflügeligen Eingangstür aus dunkelbraunem Holz. Ich konnte mich jedoch nicht auf das konzentrieren, was vor uns lag, denn etwas in meinem Rücken zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Kasimir«, wiederholte ich eindringlicher, als ein dunkler Schatten neben uns durch das Gebüsch huschte. Ich spürte den bohrenden Blick eines fremden Augenpaares. Gänsehaut überzog meinen Körper, aber ich traute mich nicht, den Kopf zu drehen, um nach dem Wesen Ausschau zu halten.
»Kasimir«, zischte ich nun mit so deutlicher Panik in der Stimme, dass er innehielt und sich zu mir umwandte.
»Was ist denn? Wir … Azura!«
Ich wirbelte herum und sah, wie sich ein schlanker, schwarz gefiederter Schwanenhals zwischen ein paar Farnwedeln hindurchschob. Saphirblaue Augen blitzten belustigt, als ich versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.
»Verdammt!«, fluchte ich. »Ich dachte, es wäre jemand hinter uns her!«
»Was kann ich dafür, dass ihr Menschen so schreckhaft seid«, antwortete Azura mit einem Klickern ihres roten Schnabels.
Das war ganz schön eingebildet von jemandem, der eigentlich gern ein Mensch wäre … aber typisch für einen Dämon! Sie wusste vermutlich nicht, dass Kasimir mir dieses Geheimnis über sie verraten hatte.
Ich setzte gerade zu einer patzigen Antwort an, da packte Kasimir mich am Handgelenk und zog mich hinter sich her zu dem dichten Blattwerk. Bestimmend drückte er mit seiner freien Hand den Schwan zurück ins Gebüsch und trampelte ihm mit mir im Schlepptau hinterher.
»Wir wollten uns doch drinnen treffen«, flüsterte Kasimir mit besorgter Miene.
»Ging nicht anders«, erwiderte Azura. »Die Eingangstür lässt mich nicht rein. Entweder war ich schon zu lange nicht mehr hier, oder …«
»… oder unser Vater hat deinen Schlüssel deaktiviert«, wisperte Kasimir mit entsetzt geweiteten Augen.
Azura neigte zustimmend den Kopf.
»Lass uns hoffen, dass es Ersteres ist und die Academy einfach einen schlechten Tag hat.«
»Aber wenn nicht, dann …«, setzte Kasimir an, aber Azura unterbrach ihn mit einem Wedeln ihrer Flügel.
»Ein Problem für einen anderen Tag«, sagte sie bestimmt. »Es gibt auch gute Neuigkeiten. Der Hüter der Artefakte ist heute Nacht nicht in der Schule. Wir können uns also das Ablenkungsmanöver sparen«, fuhr sie fort.
Kasimirs Miene wechselte von besorgt zu erstaunt. »Woher weißt du das?«
»Skylar«, antwortete sie, und mir rutschte ein leises Schnauben raus. Skylar spielte also noch immer Azuras Handlangerin.
»Was?« Azura richtete den Blick ihrer leuchtenden Augen auf mich, und für eine Sekunde glommen sie so rötlich auf wie ihr Schnabel.
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Unwillkürlich wich ich zurück. Heute Vormittag am Teich hatten die definitiv nicht rot geglüht.
»Nichts«, winkte ich ab.
Azura beobachtete mich noch einen Moment, aber dann wandte sie ihren Blick wieder ihrem Bruder zu. »Skylar hat mir berichtet, dass der Hüter der Artefakte mit unserem Vater zu seiner Reise aufgebrochen ist.«
Kasimirs Mund klappte vor Überraschung auf. »Er … er hat diesen alten Kauz mitgenommen? Wozu?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Azura kopfschüttelnd. »Es macht mir mehr Sorgen, dass er vielleicht die eine oder andere Schutzmaßnahme hinterlassen hat.«
»Was ist denn ein Hüter der Artefakte?«, mischte ich mich ein und sah zwischen den Zwillingen hin und her.
»Er ist ein sehr mächtiger und alter Dämon, der direkt dem Oberdämon unterstellt ist«, erklärte Kasimir. »Seine Aufgabe ist es, die magischen Artefakte, die mit unserem Karma zusammenhängen, aufzubewahren und nur auf Geheiß des Oberdämons rauszugeben.«
»Also hat das Glücksrad auch irgendwas mit eurem Karma zu tun«, schlussfolgerte ich.
»Du hast ihr von dem Rad erzählt?« Azura sah Kasimir vorwurfsvoll an.
Was war denn nur los mit ihr? Wir standen doch auf derselben Seite! Okay, sie kannte mich überhaupt nicht, aber Kasimir und ich waren Freunde. Vertraute sie ihrem Bruder etwa wirklich nicht?
»Ja«, sagte er schulterzuckend. »Aber noch nichts Genaues. Das wollten wir ja zusammen machen.«
Azura nickte langsam, und mir kam der Verdacht, dass sie mir eigentlich nichts erklären wollte. Was hatte ich nur getan, dass sie mir so misstraute?
»Also?«, fragte ich, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Was genau ist das für ein komisches Glücksrad?«
»Es ist eine App«, erlöste Kasimir mich und tippte vielsagend auf das Display des Karmamessers an seinem Handgelenk. »Je höher ein Rang eines Dämons ist, desto mehr können diese Uhren. Wir müssen die App auf Azuras Karmawatch installieren, damit wir sie nutzen können. Und genau genommen ist es kein Glücksrad, sondern ein Unglücksrad.«
»Und was kann die App?«, hakte ich nach.
»Sie bedient sich an meinem Karma«, antwortete Azura, als wäre damit alles erklärt, aber ich verstand gar nichts. Wie sollte das funktionieren? Und vor allem, wie sollte es uns helfen?
»Ein paar mehr Infos vielleicht?«, meinte ich händeringend.
Azura stieß einen winzigen Seufzer aus. »Die App zeigt das an, was ihr Menschen unter einem Glücksrad versteht. Wir Trickster nennen sie Unglücksräder. Wenn man das Rad dreht, bleibt es auf einem von Dutzenden Feldern stehen, die Zugang zu besonderen Zaubern bieten. Zu Beginn gibt es sehr viele verschiedene, aber eher schwache Zauber. Man muss das Unglücksrad hochleveln. Je öfter man es benutzt, desto weniger, aber dafür mächtiger werden die Zauber. Es ist reiner Zufall, welches Feld erdreht wird, deswegen ist es keine zuverlässige Methode.«
»Vor allem, weil sich die App nach dem Benutzen erst wieder aufladen muss«, fügte Kasimir hinzu. »Man kann diesen Zustand zwar beschleunigen, das kostet allerdings richtig viel Karma!«
»Und warum wollen wir diese App dann unbedingt benutzen?«, wollte ich wissen. Für mich klang das nach ziemlich kompliziertem Hokuspokus.
»Weil die App unter den richtigen Umständen von einem Menschen mitbenutzt werden kann. Sie ermöglicht dir das Einsetzen von Karma als Nicht-Dämon«, erklärte Azura.
»Krass«, rutschte mir heraus. »Echt jetzt? Dann kann ich wie ihr …« Ich beendete meinen Satz nicht, sondern wedelte mit der Hand, als würde ich einen Zauberstab halten.
»In Maßen«, bremste Azura mich. »Mit Karma umzugehen, ist kein Kinderspiel. Nicht umsonst lernen wir es in der Schule. Man muss genau wissen, was man tut und sollte es nicht leichtfertig einsetzen.«
»Na ja …«, murmelte Kasimir und grinste mich von der Seite an. »Karma macht schon Spaß … Du wirst ein paar coole Sachen anstellen können.«
»Kasimir!«, mahnte Azura.
»Könnt ihr euch vielleicht auf eine Antwort einigen«, meinte ich energisch, musste mir aber ein Lachen verkneifen. Die Aussicht, selbst Karma einsetzen zu können, war ziemlich verlockend.
»Du wirst keine solche Macht haben wie ein Dämon«, nahm Azura mir prompt den Wind aus den Segeln. »Du bekommst am Montag eine eigene Karmawatch. Sie gehört zur Grundausstattung an der Academy. Da du aber kein Dämon bist, ist sie für dich nutzlos. Es gibt aber die Möglichkeit, zwei Karmawatches miteinander zu koppeln. Wir werden also deine Uhr mit meiner verbinden und …«
»… und so kann ich dein Karma nutzen?«, fiel ich ihr aufgeregt ins Wort.
»Nicht ganz«, sagte sie kopfschüttelnd. »Du wirst nur die Zauber ausführen können, die wir mit dem Unglücksrad erspielen. Denn zum Drehen des Rades benötigt man kein Karma. Das kannst du also selbst tun. Die App führt den Zauber selbstständig mit meinem Karmakontingent aus. Beides führt dazu, dass wir ein Schlupfloch gefunden haben, wie du vortäuschen kannst, ein Dämon zu sein.«
Ich ließ Azuras Worte kurz sacken. Diese Unglücksrad-App klang fast zu schön, um wahr zu sein.
»Und was ist der Haken an der Sache?«, wollte ich wissen und sah zwischen Kasimir und Azura hin und her. Mir entging nicht, dass die Zwillinge einen kurzen Blick tauschten.
»Nun ja … es gibt einen Grund, warum die Unglücksräder selten von Trickstern verwendet werden«, meinte Kasimir.
»Und der wäre?«
»Die Magie ist ziemlich unberechenbar«, erklärte Azura. »Man weiß nie, auf welchem Feld man landet, und manchmal bieten die Zauber … Interpretationsspielraum.«
»Was bedeutet das?« Meine Euphorie hatte sich inzwischen wieder verabschiedet.
»Man hat keine Kontrolle darüber, wie die App den Zauber ausführt. Man muss hoffen, dass in etwa das passiert, was man sich erhofft«, sagte Azura. Sie schien im Gegensatz zu mir nicht besonders besorgt darüber zu sein.
»Vielleicht ist das aber gar nicht schlimm«, versuchte Kasimir, mich zu beruhigen. »Du bist schließlich ganz frisch verwandelt und eine absolute Neuheit in der Dämonenwelt. Wir können uns bestimmt damit rausreden, dass dein Karma dadurch etwas unberechenbar ist.«
»Super«, brummte ich. Dann war ich nicht nur die Neue, sondern auch noch die gefährliche Neue, weil ich vielleicht aus Versehen die Schule dem Erdboden gleichmachen würde.
»Haben wir eine Alternative?«, wollte ich wissen.
»Klar, du könntest zu unserem Vater gehen und ihm sagen, dass seine Kinder ihm in den Rücken gefallen sind«, sagte Azura sarkastisch. »Du verrätst, dass ich mich monatelang vor ihm versteckt habe, um nicht bei seinen fiesen Plänen mitmischen zu müssen, und dass Kasimir aus demselben Grund seine Rangaufstiegsprüfung verhauen hat. Dann kann unser Vater einen neuen Versuch starten, die Bonbons herzustellen, und du wirst am Ende wirklich noch in einen Dämon verwandelt. Ist es das, was du willst?«
Nein, das war so ziemlich das Letzte, was ich jemals wollen würde.
»Hab’s verstanden«, knurrte ich. »Es gibt keine Alternative. Also, wie kommen wir an diese App ran? Gibt es so eine Art dämonischen App-Store?«
»Schön wär’s, dann könnten wir uns den Einbruch sparen«, meinte Kasimir und vergrub seine Hände in der Bauchtasche seines Hoodies. Er hatte es vermieden, mich oder seine Schwester anzuschauen, während sie mich zurechtgewiesen hatte. Ich wusste, dass er sich ziemliche Vorwürfe machte, weil er fast dazu beigetragen hatte, dass der Oberdämon seine fiesen Pläne vorantreiben konnte.
»Die App ist auf einer Chipkarte«, erklärte Azura. »Sie muss in meine Karmawatch eingelegt werden.«
»Und die Chipkarte ist vermutlich bei diesem Hüter?«, fragte ich.
»Genau. Er bewahrt sie im Kabinett der Artefakte auf«, sagte Kasimir.
Na, das klang ja richtig spaßig. Was mir in der gruseligen Dämonenschule noch gefehlt hatte, war ein unheimliches Kabinett, in dem magischer Firlefanz versteckt wurde.