Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Modedesignerin trifft auf Landei – manchmal kommt die Liebe in Gummistiefeln daher
Ein humorvoller Liebesroman mit viel Herz und Happy End Garantie
Modestudium weg und an der ganzen Uni gedemütigt – da kommt es Stella gerade recht, dass sie überraschenderweise den Bauernhof ihrer Großtante in einem kleinen Dorf in der Eifel erbt. Stella sieht dies als perfekte Gelegenheit, um einen Neuanfang zu wagen. Doch das Bewirtschaften eines Bauernhofs ist gar nicht so einfach, da helfen weder die selbstdesignten Gummistiefel noch die Notizen ihrer Großtante. Der wortkarge Landwirt Lukas, der den Nachbarhof besitzt, ist ebenfalls keine große Unterstützung, auch wenn er noch so attraktiv sein mag. Einzig der charmante Christian heißt Stella herzlich in der eingeschworenen Dorfgemeinschaft willkommen. Doch Stella hat eigentlich genug von Männern. Und das Erbe wird sie sowieso ausschlagen und sich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machen … oder?
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Kartoffeln, Kühe und andere Katastrophen.
Erste Leser:innenstimmen
„So einen herrlich romantischen Roman bräuchte man viel öfter!“
„Ich habe mich sofort in diese Geschichte verliebt und sie fast in einem Zug durchgelesen.“
„Die Figuren schließt man mit ihrem ganz speziellen Charme direkt ins Herz.“
„Bei dem lockeren Schreibstil taucht man sofort in das Buch ein, ist verzaubert und gefesselt.“
„Eine mehr als gelungene Mischung aus Drama, Humor und Liebe!“
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Modestudium weg und an der ganzen Uni gedemütigt – da kommt es Stella gerade recht, dass sie überraschenderweise den Bauernhof ihrer Großtante in einem kleinen Dorf in der Eifel erbt. Stella sieht dies als perfekte Gelegenheit, um einen Neuanfang zu wagen. Doch das Bewirtschaften eines Bauernhofs ist gar nicht so einfach, da helfen weder die selbstdesignten Gummistiefel noch die Notizen ihrer Großtante. Der wortkarge Landwirt Lukas, der den Nachbarhof besitzt, ist ebenfalls keine große Unterstützung, auch wenn er noch so attraktiv sein mag. Einzig der charmante Christian heißt Stella herzlich in der eingeschworenen Dorfgemeinschaft willkommen. Doch Stella hat eigentlich genug von Männern. Und das Erbe wird sie sowieso ausschlagen und sich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machen … oder?
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Kartoffeln, Kühe und andere Katastrophen.
Überarbeitete Neuausgabe August 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-656-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-182-1 Hörbuch-ISBN: 978-8-72696-412-7
Copyright © 2021, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Kartoffeln, Kühe und andere Katastrophen (ISBN: 978-3-96817-679-6).
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © eClick, © Ozgur Coskun, © Svietlieisha Olena, © NY Studio, © aimful, © by-studio, © Ruslan Suseynov stock.adobe.com: © Poprock3d Lektorat: Cara Kolb
E-Book-Version 05.07.2024, 13:02:58.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
TikTok
YouTube
Für Blacky
Als ich im März 2019 die Idee zu diesem Roman hatte, wusste ich noch nicht, wohin die Reise gehen wird. Erst recht wusste ich nicht, dass KKUAK (gesprochen „Quak“: großartige Abkürzung des Titels meiner Verlagslektorin Francesca) mein Debüt werden würde – mein erstes veröffentlichtes Buch. Und ich hätte mir auch nicht erträumen können, dass genau dieses Debüt 2023 eine Neuauflage bekommen würde! Damals wusste ich nur: Ich hatte eine Geschichte begonnen, die mir unglaublichen Spaß beim Schreiben machte. Denn ich bin selbst auf einem kleinen Bauernhof in der Vulkaneifel aufgewachsen und habe später ein FÖJ (Freiwilliges ökologisches Jahr) auf einem Biobauernhof gemacht. So konnte ich viele meiner Erfahrungen in den Roman einfließen lassen. Ja, ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass ich das ein oder andere persönliche Easteregg eingebaut habe. Zum Beispiel meine Lieblingskuh Berta, aber auch die nicht ganz so positiven Erfahrungen des Buschbohnen-Erntens … (Ehrlich, ich würde fast alles am Bauernhofleben wieder machen, nur bloß keine Buschbohnen mehr ernten! Das bitte nie wieder!)
Wie ich von der Landwirtschaft dann den Weg in die Buchhandlung – zuerst als Buchhändlerin und später mit meinen Büchern als Autorin – gefunden habe, erzähle ich übrigens hin und wieder auf Instagram und TikTok unter @susanne.esser.autorin (Susanna Kess ist ein Pseudonym).
Montag, 15. Oktober
18:30 Uhr – Kassnach
Was ist der beste Ort, um sich zu verkriechen, wenn man gerade sein Studium hingeschmissen hat, weil man eine Affäre mit dem Prof hatte und die leider aufgeflogen ist?
Richtig: ein Provinzkaff in der Eifel. In der Vulkaneifel, um genau zu sein. Oder besser gesagt: am Arsch der Welt.
Und wenn man nach dem gelben Ortsschild am Eingang geht, dann heißt dieser Ort „Kassnach” und ist ein Dorf mit nicht mal 400 Einwohnern. Ein Dorf mit einer genauso eingeschworenen wie misstrauischen Dorfgemeinde, in dem jemand Neues auch nach 20 Jahren noch als zugezogen gilt.
Hier war ich also. Am Arsch der Welt. Im Begriff mein Erbe anzutreten: einen kleinen Bauernhof mit sechs Kühen, einer Handvoll Hühnern und zwei Kartoffeläckern. Aber Moment, vielleicht sollte ich besser von vorne anfangen.
Angefangen hatte nämlich alles vor zwei Wochen mit einem Brief. Einem wichtigen Brief. Einem von der Sorte, die amtlich wirken, auch wenn sie es nicht sind: einem Brief vom Notar.
Notare Schmitt und Rottluff Dr. jur. Hendrik Rottluff Kartäuser Straße 21 56068 Koblenz
Frau Stella Schulze Gotener Straße 237 50679 Köln Koblenz, 1. Oktober
Betreff: Einladung zur Testamentsvollstreckung
Sehr geehrte Frau Schulze,
in meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker der verstorbenen Gerda Maria Habermann, geb. Müller, zuletzt wohnhaft in der Seniorenresidenz „Villa Rustica” in Niederkirst, verstorben am 17. September, lade ich Sie hiermit zur Testamentsvollstreckung am 5. Oktober um 16:30 Uhr ein.
Sollte es Ihnen nicht möglich sein diesen Termin wahrzunehmen, bitte ich Sie um Kontaktaufnahme zwecks neuer Terminvereinbarung.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. jur. Hendrik Rottluff Notare Schmitt und Rottluff
Vor 2 Wochen
Dienstag, 2. Oktober
10:00 Uhr – Köln
„Was liest du denn da?”, fragte Ida mich. Weil sie aber gerade einen Riesenbissen eines Schokoladenmuffins im Mund hatte, klang es eher nach: „Wafflieftnd?”
Nach über zwei Jahren, die ich mit Ida zusammenwohnte, verstand ich sie einwandfrei. Insgeheim nannte ich es Idisch, wenn sie so sprach. Und ich war fest davon überzeugt, dass ihre Eltern mit dem Grundsatz „Man spricht nicht mit vollem Mund” keinen Erfolg gehabt hatten. Ich glaube, das machten alle in Idas Familie so. Vor meinem inneren Auge tauchte eine Großfamilie auf – Ida mittendrin – die sich, während der Mahlzeiten, in fließendem Idisch unterhielten.
„Jetzt sag schon. Was ist das?” Ida hatte den Bissen heruntergeschluckt und sprach nun wieder so, dass es jeder Normalsterbliche verstehen konnte.
„Ein Brief”, sagte ich, während ich ebenjenen noch einmal las, um zu begreifen, was da stand.
„Das habe ich mir schon fast gedacht. Was für ein Brief denn?” Auf Zehenspitzen tänzelte Ida hinter meinem Rücken hin und her bei dem Versuch, mir über die Schulter zu schauen. Ihr Unterfangen war natürlich zwecklos: Ich war einen ganzen Kopf größer als sie.
„Eine Einladung zur Testamentsvollstreckung”, fasste ich den Inhalt zusammen.
„Was? Wer ist denn gestorben?”, fragte Ida.
„Meine Großtante Gerda.”
Ida riss die Augen auf, kaute fast fertig und sagte dann: „Das ist ja traurig.”
Ich wiegte unschlüssig meinen Kopf hin und her, was Ida zu der Aussage brachte: „Ist es nicht?”
„Ja und nein. Ich meine: Natürlich ist es traurig, dass meine Großtante gestorben ist. Aber ehrlich? Ich kannte sie kaum. Das letzte Mal hab ich sie als Kind gesehen.”
Ida steckte sich den restlichen Bissen Muffin in den Mund und wiegte nun auch den Kopf hin und her. Ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, kaute sie tatsächlich fertig, bevor sie sagte: „Okay. Ich fasse zusammen: Allgemein gesprochen ist es traurig, weil es einfach immer traurig ist, wenn jemand gestorben ist. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so traurig, weil du dich kaum noch an sie erinnern kannst und sie quasi eine Fremde für dich war. Richtig?”
Ich nickte.
„Gut, in dem Fall würde ich sagen …” Sie brach ab und begann aufgeregt auf und ab zu hopsen. „Yay!”, rief sie.
„Yay?”, fragte ich perplex.
„Yay! Eine geheimnisvolle Erbschaft! Das ist fast wie in einem Die drei ???-Hörspiel.” Sie strahlte mich an.
Dazu muss man wissen, dass Ida der größte Die drei ???-Fan war, den ich kannte. Also nicht körperlich groß, sondern groß groß. Ihr wisst schon.
„Deine Großtante hat nicht zufällig ein altes Schloss besessen? Oder eine Sammlung teurer Gemälde? Oder …”
„Da muss ich dich enttäuschen”, fiel ich ihr ins Wort. „Meine Großtante ist nicht … Ich meine, sie war nicht reich.”
Ida stellte das Hopsen ein und sah mich wieder mit großen traurigen Augen an. „Nicht?”
„Nein. Sie hatte mit meinem Großonkel einen kleinen Bauernhof. Jottweedee.” Ich seufzte.
„Jottwee… was?” Ida sah mich verständnislos an.
„Janz weit draußen, das ist Platt für …”
„Am Arsch der Welt.”
Montag, 15. Oktober
18:35 Uhr – Kassnach
„Das macht dann 41,80 Euro.”
„Wie bitte?”
„41 Euro und 80 Cent, junges Fräulein.” Der Taxifahrer neigte seinen Kopf und sah mich durch den Spiegel tadelnd an. „Oder glauben’se, die Fahrt vom Bahnhof hierher war kostenlos?”
Nur langsam löste ich meinen Blick von dem kleinen Bauernhof, der mein neues Zuhause sein würde, und kramte in der Birkin Bag nach dem Portemonnaie. Die Tasche war ein Imitat, aber ein sehr gutes, und nur ein geübtes Auge konnte den Unterschied erkennen. Ida war es natürlich sofort aufgefallen, als ich damit in unserer Kölner WG aufgetaucht war. Ich lächelte, vor Ida hatte ich noch nie etwas verheimlichen können.
„Ich hab das ja ernst gemeint: 41,80 Euro. Am liebsten heute noch. Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!”
Ich verkniff mir einen Kommentar und zog den letzten 50-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie. Wortlos hielt ich ihn dem Taxifahrer hin. Dieser wartete, ob ich noch etwas sagen würde, brummte dann unverständlich vor sich hin und suchte das Wechselgeld zusammen.
Mit den Worten „Da hat ’se so ’ne teure Tasche, aber Trinkgeld gibt ’se keins”, klatschte er mir das Geld in die Hand.
„Glauben Sie wirklich, ich hätte Geld zu viel, wenn ich hier wohne?” Ich nickte zu dem in die Jahre gekommenen Bauernhaus und dem Stall dahinter. „Und die Tasche war ein Geschenk, wenn Sie es genau wissen wollen.” Die Lüge war mir herausgerutscht, ehe ich sie aufhalten konnte, aber ich würde einem Taxifahrer nicht auf die Nase binden, dass es sich hierbei nur um ein billiges Imitat handelte. Es war schon seltsam genug, dass er überhaupt erkannt hatte, dass die Tasche (oder zumindest das Original davon) teuer war. Untersetzt und mit beginnendem Haarausfall wirkte er nicht wie jemand, der sich mit Mode im Allgemeinen und Taschen im Besonderen auskannte. In meinem Nacken kribbelte es. Das untrügliche Zeichen dafür, dass mir dieser Mann mit jeder Sekunde unheimlicher wurde.
„Bleiben Sie ruhig sitzen”, sagte ich daher und hoffte, dass ich so locker und leicht klang, wie es meine Absicht war. „Ich hole mein Gepäck einfach selbst aus dem Kofferraum.”
Der Fahrer brummte wieder. Er schien mir das mit dem Trinkgeld wirklich krummzunehmen. Ich sprang aus dem Taxi und räumte den Kofferraum aus. Zwei große Koffer und eine Stofftasche. Mehr hatte ich bei meiner überstürzten Abreise nicht gepackt. Am meisten schmerzte es mich, dass ich meine geliebte Nähmaschine in der WG hatte lassen müssen. Aber für eine Reise mit der Bahn war die wirklich nicht geeignet. Da musste ich mir noch etwas einfallen lassen. Vielleicht könnte ich Ida dafür einspannen. Also für den Fall, dass sie mir meine Abreise nicht übelnahm. Sie war nämlich spontan mit ihrer neuen Eroberung in den Urlaub gefahren und ahnte noch nichts davon, dass es mich in die Vulkaneifel verschlagen hatte, oder warum.
18:40 Uhr – Kassnach
Er war gerade mit Alma fertig, als er das Auto hörte. Mit einem Klaps auf den Hintern entließ er sie und sah ihr hinterher, wie sie sich zu den anderen Milchkühen gesellte. Lukas seufzte, nahm Melkschemel und Eimer und brachte die noch warme Milch in den gekachelten Arbeitsraum des Stalls. Den dreibeinigen Schemel stellte er wie immer in die Ecke, bevor er die Milch gleichmäßig auf die zwei fast vollen 40-Liter-Kannen verteilte. Dann ging er zum Waschbecken hinüber, wusch sich die Hände, spülte den Eimer aus und hing ihn zum Trocknen für den nächsten Tag auf.
Je eine Milchkanne in der Hand beobachtete er von der Stalltür aus die junge Frau, die in grellbunten Gummistiefeln aus dem Taxi stieg. Er schnaubte. Jahrelang hatte er sich um die alte Habermann und den Hof gekümmert. Das hatte er dem alten Heinrich Habermann auf dem Sterbebett versprochen. Wie Großeltern waren sie für ihn gewesen; wie die Großeltern, die er selbst nie hatte. Und dann hatte die Alte den Hof nicht ihm, sondern allen Ernstes dieser entfernten Verwandten vermacht! Dieser jungen Frau, die bestimmt noch nicht mal den Unterschied zwischen Weizen und Gerste kannte. Gut, rein technisch gesehen musste sie das auch nicht wissen, da Habermanns nur Kartoffeläcker hatten, aber es ging ums Prinzip. Sie war eine Städterin, darüber konnten auch die Gummistiefel nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil.
Das Taxi ließ den Motor aufheulen und brauste so schnell davon, dass es an eine Flucht grenzte. Ein Verhalten, das Lukas nur zu gut von jedem kannte, der nicht hier geboren war. Die meisten auswärtigen Leute konnten Kassnach gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Obwohl manchmal auch einige der hier geborenen das gleiche empfanden. So wie Christian, sein allerbester Freund seit Kindertagen, der es gar nicht hatte erwarten können, volljährig zu werden, damit er dieses Kaff endlich hinter sich lassen konnte. Nach Amerika war er gegangen. So weit weg wie möglich. Seit einer Woche war er wieder zurück. Und während das Dorf ihn mit offenen Armen empfangen hatte, hatte Christian gegenüber Lukas so getan, als wären die letzten elf Jahre nicht gewesen. Die Jahre, in denen er nichts von sich hatte hören lassen. Gar nichts. Sein bester Freund tat einfach so, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte er ihn nie im Stich gelassen mit …
Lukas schüttelte den Kopf. Es war keine Zeit für traurige Gedanken. Dieses Kapitel hatte er schon vor langer Zeit abgeschlossen. Jetzt wollte er der jungen Frau auf den Zahn fühlen, die bestimmt nichts anderes im Sinn hatte, als das, was eigentlich rechtmäßig seins war, herunterzuwirtschaften: den Hof der Habermanns.
Vor 10 Tagen
Freitag, 5. Oktober
15:05 Uhr – Im Zug
Die Landschaft flog nur so an mir vorbei, während der Regionalexpress Fahrt aufnahm. Troisdorf und Bonn hatten wir bereits hinter uns gelassen und endlich kam der Rhein in Sicht. Anderthalb Stunden, so lange dauert es mit der Regionalbahn von Köln bis nach Koblenz. Genug Zeit, um darüber zu grübeln, was Großtante Gerda mir wohl vermacht hatte und wer noch alles dort sein würde. Meine Mutter – deren Tante Gerda ja gewesen war – war nicht geladen worden und auch sonst hatte keiner meiner näheren Verwandten einen Brief vom Notar erhalten.
Spitzfindig hatte meine Mutter bemerkt, dass Tante Gerda schon immer ein wenig verschroben gewesen sei. Am Ende würde ich bloß die mottenzerfressene Garderobe bekommen, weil meine Mutter ihr in einem ihrer seltenen Telefonate gesagt hatte, dass ich Modedesign studierte. Um ehrlich zu sein, hatte ich den starken Eindruck, dass meine Mutter lediglich eifersüchtig war, weil sie nicht zur Testamentsvollstreckung eingeladen worden war.
Ida hingegen hatte mich in den letzten drei Tagen mit immer abenteuerlicheren Ideen rund um die Erbschaft amüsiert. Angefangen bei teurem Schmuck (vorzugsweise Juwelen) über einen besonders gezüchteten Bullen (weil ich sie noch einmal daran erinnert hatte, dass meine Tante nur einen Bauernhof besessen hatte) bis hin zu einem geheimen Goldschatz (von unermesslichem Umfang versteht sich). Für Ida war das alles wie eine neue und unglaublich spannende Die drei ???-Folge: Die drei ??? und die geheimnisvolle Erbschaft der Gerda Maria Habermann.
Mein Handy vibrierte und auf dem Sperrbildschirm erschien der Hinweis, dass ich eine neue WhatsApp von PTM erhalten hatte. Mein Herz begann zu hüpfen. Ich vergewisserte mich, dass im Zugabteil niemand hinter mir saß, bevor ich mein Handy entsperrte, um die Nachricht lesen zu können. Aus gutem Grund hatte ich es so eingestellt, dass mir auf dem Sperrbildschirm nicht die Vorschau der tatsächlichen Nachricht angezeigt wurde. So war ich jederzeit sicher vor neugierigen Blicken. Hinter PTM verbarg sich nämlich niemand Geringerer als Professor Ted Mosby.
Nein, kleiner Scherz, es war nur Professor Tobias Munch, aber er ähnelte Ted Mosby – der Hauptfigur aus der Serie How I met your mother – so sehr, dass ihn jeder so nannte. Dass er mir schrieb, hatte nichts mit dem Studium zu tun. Na ja, fast nichts. Wir hatten uns nämlich durch mein Studium kennengelernt. Und er war nicht irgendein Professor, er war mein Professor.
Du hast recht gehabt, es war eine gute Idee auf den Drachenfels zu klettern.
Mein bereits hüpfendes Herz hämmerte und ich lockerte meinen Loop-Schal.
War ja auch von mir.
Stimmt, Du hast immer die besten Ideen. Und noch besser war hinterher …
Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine Affäre mit meinem Prof hatte? Egal, das Blut schoss mir jedenfalls in die Wangen und ich zerrte den Loop-Schal über meinen Kopf. Jetzt war mir definitiv warm. Kurz überlegte ich, was ich darauf antworten konnte, und schickte schließlich nur ein Küsschen: :-*.
Sehen wir uns gleich noch?
Bin unterwegs. Melde mich, wenn ich wieder zurück bin. Wie lange hast Du Zeit?
Meine Frau ist heute mit einer Freundin im Kino. Bis 22 Uhr sind wir sicher.
Mein Magen drehte sich, so wie immer, wenn Tobias seine Frau erwähnte. Ja, richtig gelesen: Nicht nur, dass ich eine Affäre mit meinem Prof angefangen hatte, er war obendrein auch noch verheiratet. Unglücklich zwar, aber verheiratet.
Ich kämpfte gegen das Übelkeitsgefühl an und schrieb: Ok. Bis nachher. Dann sperrte ich mein Handy wieder und steckte es hastig in meine Tasche. Leise Zweifel schwirrten durch meinen Kopf. Ob das wirklich so eine gute Idee war mit Tobias. Meinem verheirateten Professor. Aber dann musste ich wieder daran denken, wie schön der Ausflug am Tag der Deutschen Einheit gewesen war. Tobias und ich als Paar in der Öffentlichkeit. Gut, man könnte über die Qualität der Öffentlichkeit streiten, da wir auf dem Wanderweg den Drachenfels hinauf nur Touristen oder Familien mit Kindern angetroffen hatten, aber es war definitiv mal etwas anderes als unsere heimlichen Stelldichein gewesen. Dabei hatte es meine ganze Überredungskraft benötigt, Tobias davon zu überzeugen, etwas zu unternehmen, was Kleidung voraussetzte. Alle meine vorigen Vorschläge hatte er abgelehnt, aber dann hatte ich mir sein Faible für alte Sagen und Legenden zunutze gemacht und den Drachenfels am Rhein vorgeschlagen. Das hatte er nicht ablehnen können, wo hier der Nibelungensage nach einst ein fürchterlicher Drache gehaust hatte, der von niemand anderem als dem Helden Siegfried getötet worden war. Außerdem war es weit genug von Köln entfernt, um keinem unserer Bekannten in die Arme zu laufen, und trotzdem noch nah genug für einen Tagesausflug. Was er seiner Frau erzählt hatte, wo er den ganzen Tag war, darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. Wenn ich mit Tobias zusammen war, blendete ich das aus, sonst hätte ich mich selbst nicht mehr ertragen können.
Im Inneren meiner Tasche vibrierte mein Handy erneut. Diesmal hatte ich eine Nachricht von Ida:
Neue Erbschafts-Theorie: Die gute Gerda vermacht dir ihre wertvolle Briefmarkensammlung und darin enthalten ist die Blaue Mauritius.
Ich rollte die Augen nach oben.
Ja klar.
Warte! Ich hab noch eine: Du erbst ein altes Rezeptbuch und die Rezepte sind eigentlich Zaubertränke und du kannst dir dann alles hexen, was du möchtest.
Ich unterdrückte ein Kichern.
Ich glaube, du vermischst Bibi Blocksberg mit den Drei ???.
Neben den Drei ??? war auch Bibi Blocksberg hoch bei Ida im Kurs.
Ruf mich einfach an, wenn du beim Notar fertig bist.
Mach ich. :-*
16:05 Uhr
Koblenz
„Schön, dass Sie es einrichten konnten, Frau Schulze. Nehmen Sie doch bitte Platz.” Notar Dr. jur. Rottluff stellte sich als ein Mann mittleren Alters heraus, durchtrainiert und gar nicht mal so unattraktiv. In meinem Kopf waren Notare bisher immer steinalt und hutzelig gewesen. Man lernt ja nie aus. Auf meiner imaginären Liste für Stereotypen strich ich Notar aus.
Wie angeboten nahm ich auf einem der beiden Sessel vor dem großen Schreibtisch Platz. Es war noch weit vor halb fünf. Für meine Reise mit der Deutschen Bahn hatte ich ordentlich Luft eingeplant. Sicher ist sicher. Aber entgegen der landläufigen Meinung über den Nahverkehr war der Zug auf die Minute pünktlich gewesen und ich zu früh. Seelisch und moralisch machte ich mich für den Small Talk bereit, den ich jetzt bestimmt mit dem Notar führen würde, bis die restlichen Erben eintreffen würden und war mehr als überrascht, dass Dr. Rottluff direkt mit der Testamentsvollstreckung begann: „Zuerst muss ich Ihre Personalien überprüfen, dann werde ich das Testament von Frau Habermann verlesen und …”
„Warten wir nicht auf die anderen?”, unterbrach ich ihn.
„Die anderen?” Dr. Rottluff zog die Stirn in Falten.
„Die anderen Erben”, sagte ich.
„Frau Schulze, es gibt keine anderen Erben. Sie sind Alleinerbin.”
Montag, 15. Oktober
18:50 Uhr – Kassnach
Ich sah mich auf dem verlassenen Hof um. Da war ich also. Ich – Stella Schulze – im Begriff mein neues Leben als Bäuerin anzufangen. In Kassnach, einem Ort, von dem die Welt bisher noch nicht gehört hatte. Ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war? Andererseits war alles besser als der Shitstorm, der gerade in Köln abging.
Wie hatte ich mich nur darauf einlassen können? Eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der auch noch doppelt so alt war wie ich? Und obendrein noch mein Professor. Also gewesen war: mein Professor gewesen war. Denn ich hatte nicht vor wieder an die Uni zurückzukehren. Großtante Gerdas Vermächtnis (das klang doch viel besser als „Bauernhof”) war ein Wink des Schicksals gewesen. Wenn ich ehrlich war, war ich überhaupt nicht glücklich mit meinem Modedesignstudium. Ja, ich liebte es zu nähen und neue Schnitte zu entwerfen, aber mit diesem ganzen Haute-Couture-Kram hatte ich noch nie etwas anfangen können. Meine Entscheidung für das Studium war der romantischen Vorstellung davon entsprungen. Die Realität war da eine ganz andere.
Und als hätte ich es kommen sehen – also nicht den Teil mit aufgeflogenen Affäre, sondern den Teil mit dem Bauernhof – hatte ich mir erst in diesem Frühjahr eigene Gummistiefel designt. Wenn das mal nicht Schicksal war.
Motiviert reckte ich mein Kinn. (Nicht, dass jemand da gewesen wäre, um es zu sehen, aber die Geste zählt.) So gestärkt hievte ich erst den einen und dann den anderen Koffer zur Eingangstür des kleinen Bauernhäuschens und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel, als sich eine große Hand schwer auf meine Schulter legte.
Habt ihr schon mal einen Cartoon gesehen, in dem die Comicfigur meterhoch in die Luft springt, weil sie sich so erschreckt hat? Jetzt musste ich am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlte. Ich machte einen Satz. Ja gut, natürlich nicht meterhoch, aber ich machte einen Satz.
Als ich wieder auf dem Boden angekommen war, musterte ich den Grund, der aus mir offensichtlich eine Cartoon-Figur gemacht hatte: Vor mir stand ein Mann – schätzungsweise Anfang 30, dunkle Haare, dunkle Augen, Gummistiefel und Arbeitsoverall – mit einem unglaublich grimmigen Gesichtsausdruck. Es kam mir fast so vor, als würde er mit dem Grinch konkurrieren wollen und wenn wir Winter gehabt hätten, hätte ich mir das sogar geglaubt. Neben ihm standen zwei große Milchkannen.
„Stella Schulze?” Er sagte meinen Namen nicht, er spuckte ihn fast aus. Trotzdem kam ich nicht umhin zu bemerken, dass seine Stimme angenehm dunkel war. Ich wusste nicht, warum er so motzig war, aber was er konnte, konnte ich schon lange. Wie eben auf dem Hof, reckte ich wieder mein Kinn und fragte patzig zurück: „Wer will das wissen?”
Eine seiner Augenbrauen hob sich unmerklich an. „Lukas Munnebach”, sagte er, und es schien mir, als wäre seine Stimme ein kleines bisschen freundlicher. Aber wirklich nur etwas. Ich überlegte. Munnebach. Der Name sagte mir was. Munnebach, Munnebach. „Sie sind derjenige, der in der letzten Zeit nach dem Hof gesehen hat, richtig?”
Ein knappes Nicken.
„Dann … äh, Dankeschön?” Wieso musste ich es wie eine Frage formulieren?
„Kriegen Sie das hin?” Er nickte unbestimmt in Richtung des Stalls.
„Äh. Was?” Es war etwas an ihm, das mich aus der Fassung brachte, aber ich konnte nicht genau sagen, was es war. Der unfreundliche Ton? Der grimmige Blick? Die großen Hände? Bei diesen Gedanken musste ich an das Märchen von Rotkäppchen denken: Großmutter, warum hast du so große Hände? War Lukas Munnebach am Ende der böse Wolf?
„Die Kühe und Hühner versorgen”, unterbrach er meinen Gedankengang. „Melken, Eier einsammeln, die Kartoffeln ernten. Das Übliche halt.” Er sprach jede Silbe überdeutlich aus, als würde er annehmen, dass ich mit Begrifflichkeiten wie Kühe, Hühner oder Kartoffeln nichts anfangen könnte.
„Ich habe jede Folge von Bauer sucht Frau gesehen”, antwortete ich, „und außerdem habe ich das hier.” Aus meiner Tasche zog ich zwei handgeschriebene Kladden hervor und hielt sie in die Luft. „Ich denke, ich komme klar.”
Wieder hob er kaum merklich eine Augenbraue. „Diese Woche kann ich Ihnen noch alles zeigen” sagte er, als hätte er mich nicht gehört. „Ab nächster Woche geht die Ernte los, da habe ich keine Zeit mehr.” Er nahm die beiden Milchkannen und drehte sich ohne ein Grußwort um.
„Ich sagte, ich komme schon klar”, rief ich ihm hinterher.
„Morgen früh, 6:00 Uhr, dann melken wir erst mal die Kühe”, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
„Ich hatte gesagt, dass ich klarkomme. Sie brauchen nicht …”
„Pünktlich!”
Vor 10 Tagen
Freitag, 5. Oktober
16:20 Uhr – Koblenz
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie wieder unterbreche, aber ich muss noch mal nachfragen: Ich bin Alleinerbin?”
„So hat es Frau Habermann in ihrem Testament festgelegt. Ausdrücklich.” Dr. Rottluff fixierte mich. „Können wir fortfahren?”
Ich nickte.
„Dann verlese ich nun das Testament.” Der Notar sortierte einige der vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Blätter, räusperte sich und begann: „Testament und letzter Wille von Gerda Maria Habermann, geborene Müller.” Er machte eine Pause. „Ich, Gerda Maria Habermann, geboren am 27. Februar 1930 in Koblenz, bestimme im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte Stella Gertrude Schulze, geboren am 26. Juli 1996 in Köln, zu meiner alleinigen und ausschließlichen Erbin. Ich ordne für meinen Nachlass die Testamentsvollstreckung an. Zum Testamentsvollstrecker ernenne ich Notar Dr. jur. Hendrik Rottluff. Gezeichnet, Gerda Maria Habermann, Kassnach.”
Ich schluckte. Das Ganze klang furchtbar amtlich. Und erdrückend. Alleinerbin. Ich? Jetzt musste ich mich auch räuspern. „Verstehe ich das richtig, dass meine Großtante mir alles vermacht hat, auch den Bauernhof?”
„Das ist richtig.” Der Notar nickte bei diesen Worten.
„Aber warum eine Testamentsvollstreckung? Es gibt ja nichts zu verteilen, oder so.”
„Nun.” Bildete ich mir das ein oder war Dr. Rottluff plötzlich verlegen? „Ihre Großtante hatte zu dem Erbe noch Anweisungen hinterlassen. Sehr genaue Anweisungen.”
„Anweisungen?”
Wieder nickte der Notar. Dann zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm zwei Kladden und einen alten Schlüsselbund hervor. Beides legte er vor mich auf den Tisch. Ich musterte die Sachen. Die beiden Kladden waren handschriftlich beschrieben.
„Was ist das?”
„Das”, sagte der Notar und deutete auf die Kladden, „sind die genauen Anweisungen Ihrer Großtante, wie Sie den Bauernhof zu führen haben.”
„Wie bitte?”
„Uhrzeiten, Maßangaben, Zeiträume für Saat und Ernte, Ihre Tante hat alles ganz genau festgelegt.”
17:10 Uhr – Koblenz
Es tutete einmal und Ida war am Apparat. Ich grinste. Wie ich sie kannte, war sie bestimmt wie ein aufgeregtes Huhn vor dem Telefon auf- und abgehüpft und hatte sich dabei vor lauter Aufregung in die geballten Fäuste gebissen.
„Jetzt sag schon, was hast du geerbt? Sag schon.”
„Ida …”
„Sag schon! Sag schon!”
Ich musste lachen und bekam erst mal kein Wort raus.
„Atmen, Stella. Atmen nicht vergessen. Ein. Aus. Ein. Aus. Gut. Und jetzt sag endlich.”
Idas Rat folgend atmete ich tief durch. Dann sagte ich: „Alles.”
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
„Ida?”, fragte ich vorsichtig. „Bist du noch da?”
„DAS IST JA DER HAMMER!”, brüllte mir Idas Stimme entgegen. Wer hätte gedacht, dass in so einer kleinen Person so viel laute Stimme stecken konnte? Ich zog das Handy von meinem Ohr weg. Nach wie vor war Idas brüllende Stimme daraus zu vernehmen. Man hätte meinen können, sie hätte gerade im Lotto gewonnen oder Bibi Blocksberg persönlich getroffen, statt von meiner Erbschaft zu erfahren. Dabei wusste ich noch gar nicht, ob ich mich über das unverhoffte Erbe freuen sollte. Meine erste Reaktion im Büro des Notars unterschied sich deutlich von Idas. Ich wollte das alles nicht. Was sollte ich mit einem Bauernhof? Den ich – den genauen Anweisungen meiner Großtante zufolge – auch noch mutterseelenallein bewirtschaften durfte. In harter Arbeit von morgens bis abends, wenn ich die Uhrzeiteinträge in den Kladden richtig deutete. Ich als Bäuerin in der Eifel. Ja klar. Die leise Stimme meines kindlichen Ichs, die sich genauso wie Ida darüber freute, ignorierte ich.
Ich schirmte den Lautsprecher des Handys mit der Hand ab und holte es langsam wieder zu mir heran. Dann hielt ich es wie ein Butterbrot vor mich und sagte laut und deutlich: „Ida! Mach mal eine Pause.” Sofort wurde es still am anderen Ende und ich wagte es, das Handy wieder normal ans Ohr zu halten. Erneut holte ich Luft. „Ich weiß noch gar nicht, ob ich das Erbe überhaupt antreten soll”, sagte ich langsam. Die Stille am anderen Ende blieb bestehen.
„Ida?”, fragte ich vorsichtig.
Immer noch nichts.
„Ida? Komm schon”, versuchte ich es erneut.
Ich vernahm ein Seufzen und dann sagte Ida: „Stella, du bist manchmal eine richtige Spielverderberin, weißt du das eigentlich?”
Montag, 15. Oktober
19:05 Uhr – Kassnach
Fassungslos sah ich diesem Grinch von einem Menschen hinterher. Je eine große Milchkanne rechts und links marschierte er strammen Schrittes vom Hof hinunter und bog in den nächsten Feldweg ab. Stramm war übrigens auch das richtige Wort für seinen Hintern, wobei es mich ärgerte, dass ich genau das beim Anblick des weggehenden Lukas Munnebach hatte denken müssen. Ich war nicht hier für eine neue Männergeschichte, ich war hier wegen einer alten. Das Thema war erst mal durch für mich.
Ich drehte mich wieder zu dem alten Bauernhaus um und machte da weiter, wo Ihre Griesgrämigkeit, Sir Lukas von Knackarsch, mich zuvor unterbrochen hatte: Ich kramte nach dem Schlüssel.
Endlich gefunden musste ich ganz schön ruckeln, um den Schlüssel in das Schloss der alten Holztür zu bekommen. Die leichten Erschütterungen ließen die trockenen Blüten und Blätter aus dem vertrockneten Kranz an der Tür nur so herunterrieseln. Mit einem lauten Geräusch schabte das Holz über die alten schwarz-weiß Fließen. Es roch muffig nach abgestandener Luft und ich schmeckte Staub auf meiner Zunge. In meiner Erinnerung war das Haus riesig gewesen, aber jetzt musste ich feststellen, dass es klein und verwinkelt war. Nacheinander holte ich meine beiden Koffer ins Haus und ging erst in die Küche und danach ins Wohnzimmer, um dort jeweils die Fenster zu öffnen, damit das Haus und auch ich atmen konnten. In der Regalwand im Wohnzimmer stand ein Foto von Großtante Gerda, ihrem Mann Heinrich und mir. Ich nahm es und ließ mich auf das alte Sofa fallen. Staub quoll aus den Polstern hervor und ich musste mehrmals kräftig husten. Mit der Hand wedelte ich den Staub beiseite, der sich im Sonnenlicht träge drehte und schillerte. Ich hatte dieses Bild noch nie gesehen. Es musste bei meinem letzten Besuch auf dem Hof entstanden sein. Mein siebenjähriges Ich strahlte mit Großtante und Großonkel um die Wette. Ich sah glücklich aus. Wir alle sahen glücklich aus. Warum war ich danach nie wieder hier gewesen? Ich wusste es nicht.
Ich ließ das Bild sinken und blickte mich im Wohnzimmer um. Großtante Gerda war von der Häkeldeckchen-Fraktion gewesen. Überall waren sie in verschiedenen Größen und Formen zu sehen: auf dem Fernseher, auf dem gekachelten Sofatisch, in der Regalwand, auf der Rückenlehne eines Sessels. Als Kind hatte ich diese Deckchen wunderschön gefunden. Aber Geschmäcker ändern sich ja bekanntlich. Kurzentschlossen stand ich auf und sammelte sie ein. Dann kam mir in den Sinn, dass meiner Großtante die Einrichtung vermutlich gefallen hatte, also nahm ich sie alle wieder und legte jedes Einzelne sorgfältig an seinen Platz zurück. Solange ich nicht komplett umdekorieren würde, konnten die Häkeldeckchen an ihrem Platz bleiben.
Vor 10 Tagen
Freitag, 5. Oktober
18:30 Uhr – Im Zug
„Nächster Halt: Bonn – Hauptbahnhof. Sie erhalten Anschluss an …” Mit monotoner Stimme erfolgte die Ansage. Für die letzten Stationen, die der Zug passiert hatte, hatte ich mir aus Langeweile ein kleines Spiel überlegt: Ich versuchte zu erraten, auf welcher Seite der Ausstieg war. Bei Bonn Hauptbahnhof tippte ich auf links.
„… der Ausstieg ist in Fahrtrichtung rechts.” Mist. Verloren. Schon wieder. Glücksspiel war wirklich nicht meine Sache. Aber wie sagte man so schön: Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Oder ging der Spruch andersrum?
Die Regionalbahn wurde bei der Einfahrt in den Bahnhof langsamer, im Zug wurde es dafür hektisch. Bücher und Handys wurden in Taschen verstaut. Jacken und Schals wurden gegriffen. Ich konnte sogar zwei Schirme zählen, die wohl von sehr pessimistisch eingestellten Leuten trotz des Sonnenscheins mitgenommen worden waren. Wie ein großer Lindwurm drängten sich die bepackten Menschen durch den Mittelgang zu den Ausstiegstüren, dabei hatte der Zug noch nicht angehalten.
Ich sah zum Fenster hinaus und betrachtete die auf dem Bahnsteig Wartenden, an denen der Zug immer langsamer vorbeifuhr. Allesamt wirkten sie mindestens so gelangweilt wie ich. Warum hatte ich mir kein Buch oder wenigstens eine Zeitschrift eingepackt. Bei anderthalb Stunden Fahrzeit wäre das wirklich gut gewesen. Auf der Hinfahrt war ich so aufgeregt gewesen, Langeweile hatte keine Chance gehabt. Da hatte ich auch noch nicht gewusst, dass ich einen kompletten Bauernhof mit Tieren und allem Drum und Dran erben würde. Na ja, genau genommen hatte ich ihn noch nicht offiziell geerbt. Dr. Rottluff war so freundlich gewesen, mich darüber aufzuklären, dass ich laut Gesetz sechs Wochen Zeit hatte, in denen ich das Erbe „ausschlagen” konnte. Was im Klartext bedeutete: Wenn ich nicht innerhalb dieser Zeit einen amtlichen Wisch unterschrieb, dann war der Bauernhof mein. Nachdem der Notar mir diese Information offenbart hatte, hatte ich natürlich sofort gefragt, ob er nicht so ein Ich-möchte-mein-Erbe-ausschlagen-Formular greifbar hätte, damit ich das direkt unterschreiben könnte. Aber Dr. Rottluff hatte darauf bestanden, dass ich mindestens vier Wochen warten solle. Ich solle nichts überstürzen und mir diese Wochen als Bedenkzeit nehmen. Hof und Tiere wären so lange versorgt, der Landwirt vom Nachbarhof würde in der Zeit danach sehen. Bedenkzeit, genau so hatte er es genannt. Als ob ich das bedenken müsste! Ich rollte mit den Augen und zog mein Handy aus der Tasche. Nichts. Keine WhatsApp, keine E-Mail, keine Nachricht: gar nichts. Seufzend steckte ich es zurück und sah wieder den Menschen zu. Der Zug hatte angehalten und das hektische Gedränge verdichtete sich an den Zugtüren. Kurz kam alles zum Stillstand, dann löste sich der Pfropf und die Menschenmassen strömten aus dem Zug heraus und neue wieder herein.
Ich starrte aus dem Fenster, während der Zug aus dem Dunkel des Bahnhofs ins Licht fuhr; ließ die Häuser und Straßen und später auch die Felder an mir vorbeirauschen. Dann atmete ich tief durch und holte die beiden Kladden meiner Großtante hervor.
„Auszuführende Arbeiten im Jahreskreis” stand auf dem einen geschrieben und „Kontakte und wichtige Daten” auf der anderen. Ich blätterte durch die Erste:
… ab Mitte Februar die frühen Kartoffelsorten (Sieglinde, Cilena, etc.) zum Vorkeimen bereit machen. Dazu die Knollen flach nebeneinander in Holzkisten legen (nur eine Schicht!) und bei warmen Temperaturen in die Sonne, bei Kälte in den Lagerraum stellen. Bis Ende März sollten sich genug Triebe gebildet haben. Dann können die Kartoffeln gesetzt werden …
Ich blätterte weiter.
… die späteren Sorten (z.B. Linda oder Secura, etc.) werden Mitte Mai nach den Eisheiligen gesetzt. Hier ist kein Vorkeimen nötig …
Ich unterdrückte ein Gähnen. Die Eisheiligen. Wer oder was sollte das denn sein? Irgendwie musste ich an die Kinder denken, die Anfang Januar zum Dreikönigstag an jeder Haustür klingelten. Ob die Eisheiligen auch so etwas waren? Eigentlich passte der Name ja besser zu der Veranstaltung am Anfang des Jahres. Im Januar gab es schließlich Eis und Schnee, nicht im Mai. Ich schüttelte den Kopf. Eisheilige, im Mai, so ein Unsinn.
Mein Handy vibrierte. Ich hatte eine neue WhatsApp von PTM.
Und? Wie sieht’s aus?
Ich sah auf die Uhr.
Bin etwa um 19:30 Uhr da.
Was machst du eigentlich gerade?
Ich überlegte kurz.
Einen Bauernhof erben.
Einen Bauernhof?!?
Erklär ich dir nachher.
Ich steckte das Handy wieder weg und seufzte. Ich konnte es ja selbst nicht glauben, dass ich einen Bauernhof geerbt hatte. Oder erben würde, wenn ich nicht bald etwas dagegen unternahm. Warum hatte ich mich nur von Dr. Rottluff dazu überreden lassen, abzuwarten, bevor ich mein Erbe ausschlug? Wenn ich in der WG angekommen war, würde ich das Ganze in Ruhe googeln. Bestimmt konnte man ein Ich-möchte-mein-Erbe-ausschlagen-Formular irgendwo als Vorlage runterladen. Genau, das würde ich tun. Ich würde das Formular ausfüllen und dann würde ich Dr. Rottluff vor vollendete Tatsachen setzten. Ich lächelte, endlich hatte ich einen Plan. Bedenkzeit. Ha!
19:45 Uhr – Köln
„Bäuerin Stella”, Tobias schüttelte sich vor Lachen. „Deine Großtante hatte Humor, das muss man ihr lassen.”
Ich verzog den Mund. Es war eine Sache, dass ich mich nicht als Bäuerin sah und erst recht keinen eigenen Bauernhof haben wollte. Eine andere Sache war es, dass Ida mich deshalb eine Spielverderberin nannte. Aber dass Tobias sich jetzt königlich darüber amüsierte und sich auf meine Kosten lustig machte, das war etwas ganz anderes. Er sollte doch zu mir halten.
„Hör auf damit. So lustig ist das nicht.”
„Doch, ist es.” Er lachte noch immer.
„Ich meine es ernst, Tobias. Hör bitte auf.” Mein Versuch, wie eine vernünftige Erwachsene zu klingen, wurde von ihm mit noch mehr Gelächter quittiert. Na toll, das versprach ein heiterer Abend zu werden. Entnervt rollte ich mich von ihm weg.
„Komm wieder her. War nicht so gemeint.” Mit einer Hand versuchte er meinen Arm zu greifen, aber ich war schneller: Flink sprang ich aus dem Bett, sammelte meine Klamotten vom Boden auf und begann, mich wieder anzuziehen.
„Ach, komm. Wirklich. Stell dich doch nicht so an.”
„Doch, ich stelle mich an”, sagte ich, während ich den Slip hochzog. „Ich bin nicht hierhergekommen, damit du dich über mich lustig machst.” Ich angelte nach meinem BH.
„Stella, du musst doch zugeben, dass es lustig ist. Ich meine: Du als Bäuerin. Komm schon.” Er setzte sein bestes Hundewelpen-Gesicht auf. Ich hakte den BH im Rücken zu. Tobias legte den Kopf schief. Mist. Damit kriegte er mich jedes Mal.
„Na gut”, sagte ich gedehnt und ging wieder zum Bett hinüber, setzte mich aber nur auf die Kante. Mit Schwung warf Tobias beide Arme um mich und zog mich wieder zu sich ins Bett.
„Das ist viel zu viel Stoff, wenn du mich fragst”, sagte er, öffnete meinen BH und küsste meinen Hals. Mitten im Kuss begann er wieder zu lachen.
„Ernsthaft? Hast du immer noch nicht genug darüber gelacht?” Erneut rollte ich mich von ihm weg und ließ meinen Blick durch das Zimmer wandern. Das Gästezimmer von Tobias und seiner Frau. Sofort begrüßte mich das nur allzu bekannte Übelkeitsgefühl, das mich immer überfiel, wenn ich daran dachte, dass Tobias verheiratet war. Und hier – im gemeinsamen Haus der beiden – war es zehnmal schlimmer. Tobias jammerte immer darüber, dass ich auf das Gästezimmer bestand. Ihm wäre das normale Bett – das Ehebett! – lieber gewesen. Warum? Weil er das Gästezimmer dann im Anschluss immer aufräumen musste, die Laken glattziehen und die Plumeaus aufschütteln musste, während er sein Bett immer so zerwühlt hinterließ, dass das eh niemandem auffallen würde. Aber nicht mit mir. Ich hatte auch meine Prinzipien.
„Stella …” Garantiert machte er wieder einen auf Hundewelpen.
„Nein”, sagte ich bestimmt, drehte mich zu Tobias um und sah ihm fest in die Augen. „Wie soll das jemals etwas Richtiges und Festes mit uns werden, wenn du dich bei jeder Gelegenheit über mich lustig machst.”
Schlagartig verschwand das Hundewelpen-Gesicht und ich hatte nicht mehr Tobias vor mir. Jetzt war Professor Munch anwesend, der die Aufgabe hatte, einem seiner Studenten etwas Unerfreuliches möglichst schonend beizubringen. Ich stöhnte. „Sag mir nicht, dass du es dir wieder anders überlegt hast.”
So ging das schon seit Monaten. Immer wieder schwankte Tobias zwischen: Für dich verlasse ich meine Frau; Ich wechsle meine Stelle; Du wechselst die Uni und ich komme mit. Und dann wieder: Das kann ich meiner Frau nicht antun; Wir sind schon so lange ein Paar; Ich bin noch nicht bereit für etwas Neues. Wie es aussah, waren wir mal wieder bei der zweiten Kategorie angekommen. Ich biss die Zähne aufeinander.
„Hör zu, Stella. Es ist alles nicht so einfach im Moment”, sagte Tobias mit Professorenstimme.
Ja, definitiv die zweite Kategorie.
Dienstag, 16. Oktober
5:55 Uhr – Kassnach
Es war noch dunkel, als Lukas über die Felder zum Hof der Habermanns ging. Die beiden leeren 40-Liter-Kannen schepperten im Takt seiner Schritte. Im Stillen fluchte er vor sich hin. Warum nur hatte er sich von dem Notar aus Koblenz dazu überreden lassen, dieser jungen Erbschleicherin bei den Arbeiten auf dem Hof zu helfen? Warum nur? Gut, er hatte nur für eine Woche zugesagt. Auf mehr hatte er sich nicht eingelassen. Aber ehrlich gesagt bereute er das jetzt schon. Wenn die alte Habermann der Meinung war, dass ihre Großnichte Alleinerbin des Hofes sein sollte, dann hieß das ja wohl, dass die Alte der Meinung war, dass ihre Großnichte den Hof allein versorgen konnte. Nach dieser Logik gab es keinen Grund zum Habermann-Hof zu gehen, während bei ihm auf dem Hof die Arbeit liegenblieb. Sein Lehrling David würde zwar gleich mit dem Melken der fünfzig Kühe beginnen, aber er war unglaublich langsam bei der Arbeit. Bei dem Gedanken fluchte Lukas laut. Er wusste, dass er froh sein konnte, überhaupt einen Lehrling zu haben – wer wollte heutzutage noch Landwirt werden? – aber auch das tröstete nur wenig darüber hinweg, dass David wirklich jede Aufgabe im Schneckentempo erledigte. Da nützte selbst der moderne Melkstand kaum etwas, in dem acht Kühe gleichzeitig mit Maschinen gemolken werden konnten.
Wenn er also gleich auf dem Habermann-Hof damit fertig war, würde er auf seinem eigenen Hof die Melkarbeiten übernehmen und David mit dem Erntehelfer aufs Feld schicken. Lukas schüttelte den Kopf, er war wirklich gespannt, wie sich die junge Frau im Stall anstellen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihr die anstrengende Arbeit des Melkens so leicht von der Hand ging.
Lukas hatte sein Ziel fast erreicht und stutzte: Der Habermann-Hof lag in völliger Dunkelheit da. Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte ihr doch gesagt, dass er vorbeikommen würde. Mit großen Schritten stürmte er auf die Tür des Bauernhauses zu, ließ die Kannen fallen und hämmerte so fest mit den Fäusten dagegen, dass der verwelkte Blumenkranz mitsamt dem rostigen Nagel herunterfiel. Er kümmerte sich nicht darum, hämmerte noch fester. Keine Reaktion. Er klingelte. Sturm. Keine Reaktion. Dann hämmerte er mit der einen Hand und klingelte gleichzeitig mit der anderen. Immer noch keine Reaktion. Lukas stieß einen lauten Wutschrei aus. Wie fest konnte man denn bitte schlafen? Bei ihm auf dem Hof wartete die Arbeit und die feine Dame aus der Großstadt lag noch in den Federn. Sollte sie doch sehen, wie sie zurechtkam. Er sammelte die Kannen ein und verließ den Hof, rannte mit großen Schritten durch die Dunkelheit.
Es schepperte und dann klapperte es laut. Lukas blieb stehen. Einer der Milchkannendeckel war heruntergefallen. Bei seinem Anblick musste er plötzlich an Alma, Elsa, Berta, Lise, Hanni und Isolde denken und daran, dass der Städterin bestimmt nicht in den Sinn kam, die Kühe in den nächsten Stunden zu melken. Wenn er den Notar richtig verstanden hatte, war sie eine Studentin und er wusste, was man über Studenten sagte: Die schlafen den halben Tag. Nein, das konnte er den armen Milchkühen wirklich nicht antun. Er stellte die Kannen ab, schloss die Augen und rieb mit einer Hand darüber. Dann holte er tief Luft, hob den Deckel vom Boden auf und griff wieder nach den Kannen. Schnaubend und fluchend ging er zurück. Die Kühe hatten sich die ganze Misere nicht ausgesucht. Sie sollten nicht darunter leiden müssen.
Beim Anblick des immer noch dunklen Hofes musste Lukas den starken Impuls unterdrücken, einfach wieder zu gehen. Was bildete sich diese Studentin bloß ein? Er eilte zum Stall hinüber. Dort angekommen stellte er die Kannen in den Arbeitsraum und machte die Lichter an. Dann ging er in die Futterkammer und füllte einen großen Eimer mit Kraftfutter.
Die sechs Kühe lagen noch angekettet auf ihren Plätzen. Als Lukas mit dem Futter hereinkam, rappelten sie sich auf und reckten ihm und vor allem dem Eimer in seiner Hand gierig die Schnauzen entgegen.
„Ist ja schon gut, meine Süßen. Immer mit der Ruhe. Ihr bekommt alle was.” Lächelnd verteilte er das Kraftfutter in der Trogrinne. „Nicht so viel auf einmal, Berta.” Er klopfte der dicken Kuh sanft gegen den Hals und kraulte Hanni zwischen den Hörnern. Dann stellte er den Eimer zurück in die Futterkammer und ging in den Arbeitsraum. Dort wusch er sich gewissenhaft die Hände, nahm Melkschemel und Milcheimer und trug diese in den Stall. „So, meine Damen. Los geht’s.”
Vor 10 Tagen
Samstag, 6. Oktober
15:30 Uhr – Köln
„Wie bitte?” Ich nahm den Fuß vom Antriebspedal meiner Nähmaschine und sah auf.
„Ich habe gesagt, dass ich jetzt packe”, verkündete Ida. Dabei hüpfte sie von einem Bein aufs andere, was mich an den kleinen Kobold Pumuckl denken ließ. Auch wenn Ida natürlich sonst keinerlei Ähnlichkeit mit ihm hatte. Wobei … der Schalk saß ihr auch ganz schön oft im Nacken.
„Warum musst du denn packen?”, fragte ich.
„Weil ich mit Miguel ans Meer fahre.”
„Miguel? Ist das nicht der Achtsamkeits-Guru?”
„Er ist kein Guru. Stella! Nur weil du die Sache mit der Achtsamkeit nicht verstehst, heißt das noch lange nicht, dass das irgendwas Esoterisches ist.”
„Du meinst wie dein Ausflug in die Welt des Wahrsagens?”
„Ja, gut, das war esoterisch. Aber das ist schon lange her.”
„Drei Monate nennst du lang?”
„Ewig!”
„Und was wollt ihr da machen am Meer? Jeden Tag von morgens bis abends Rosinen kauen?” Nachdem Ida Miguel kennengelernt hatte, war sie mir tagelang auf die Nerven gegangen, ich solle unbedingt einmal ganz achtsam eine Rosine essen.
Eine Rosine! Achtsam! Das Ganze sollte eine Meditation sein.
Mal davon abgesehen, dass ich gar keine Rosinen mochte, konnte Ida mich bis heute nicht überzeugen, dass das „eine ganz tolle Erfahrung” sein sollte. Angeblich würde sich der Geschmack der Rosine positiv verändern, wenn man stundenlang darauf herumkaute. Äh. Achtsam! Also achtsam darauf herumkaute. Sie hatte mich mit diesem neuen Hobby fast in den Wahnsinn getrieben. Aber ich war standhaft geblieben.
Ida hatte aufgehört zu hüpfen und sah mich wieder mit diesem Blick an, den sie immer aufsetzte, wenn sie fand, dass ich „doof” war. (Idas O-Ton, nicht meiner.)
„Nein”, sagte sie, „wir werden einfach alles ganz achtsam angehen. Wir lassen auch unsere Handys und Tablets und so hier. Kein Internet, kein Fernsehen. Kein gar nix. Das absolute Detox!” Sie klatschte in die Hände und strahlte wieder über das ganze Gesicht. Ich rollte nur mit den Augen. Ida neigte dazu, innerhalb eines einzigen Augenblicks von einem Extrem ins andere zu fallen.
„Und was ist mit deinen Hörspielkassetten und CDs? Du willst mir doch nicht sagen, dass du deine geliebten Drei ??? und die liebe Bibi Blocksberg hierlassen willst?”
Ida biss sich auf die Unterlippe. Fast schien es mir, als hätte sie noch nicht so weit gedacht.
„Mist”, entfuhr es ihr.
Sie hatte definitiv noch nicht so weit gedacht. „Und was machst du jetzt?”, fragte ich.
Ihre Unterlippe wurde langsam weiß.
„Ida?”
„Ich ruf Miguel noch mal an.” Und weg war sie.
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder der Nähmaschine zu. Wenn ich in Ruhe weiterarbeiten konnte, dann würde ich heute Abend schon in meinem neuen Sommerkleid ausgehen können. Mit einer Hand strich ich über den Stoff. Er war weich und glatt zugleich und hatte einen fließenden Fall. Und das Beste daran: Der Stoff passte ganz hervorragend zu der Tasche, die ich letzte Woche genäht hatte.
16:05 Uhr – Köln
„Stella! Hey, Stella! Steeeeeellaaaaaa!”
Kennt ihr Endstation Sehnsucht, diesen Film aus den 50ern mit Marlon Brando? Irgendwann in diesem Drama steht Brando vor der Tür und brüllt eben genau das, was Ida jetzt aus dem Flur schrie. Wir hatten den Film vor einiger Zeit zusammen gesehen, weil Ida der Meinung war, dass man einen Film gesehen haben sollte, wenn eine der Hauptfiguren den gleichen Namen trug wie man selbst. Natürlich hatten wir deshalb auch alle Michel aus Lönneberga Filme gesehen, weil Michels Schwester doch Klein-Ida heißt. Wenn ihr mich fragt, fand ich jeden einzelnen Michel-Film besser als Endstation Sehnsucht. Wie dem auch sei. Das „Hey, Stella” hatte sich seither bei uns eingebürgert.
Ich rollte die Augen, stand von der Nähmaschine auf und ging in den Flur. Ich wusste ganz genau, dass Ida sonst nicht mit ihrer Darbietung aufhören würde. Als sie mich sah, begann sie wieder auf- und ab zu hüpfen. Woher sie immer die Energie und gute Laune nahm, war mir manchmal rätselhaft. Neben ihr auf dem Boden stand eine kleine Reisetasche.
„Wie lange fahrt ihr denn weg?”
„Zwei Wochen. Zum Semesterbeginn bin ich wieder da.” Sie quietschte. „Ist das nicht toll?”
„Zwei Wochen? Ida, wo ist denn der Rest von deinem Gepäck?”, fragte ich mit Blick auf die kleine Tasche.
„Das ist alles. Mehr brauche ich nicht. Wir werden nicht ausgehen oder so. Wir werden die Ruhe genießen und …”
„… alles achtsam machen”, vollendete ich ihren Satz. „Und was ist jetzt mit deinen Hörspielen?” Wie vorhin in meinem Zimmer biss sich Ida auf die Unterlippe.
„Ich hab noch mal mit Miguel gesprochen und …” Sie verstummte und ich zog die Augenbrauen hoch. „Die bleiben hier”, sagte sie schnell.
Ida ohne ihre Hörspiele? Ein Ding der Unmöglichkeit. „Bist du dir da ganz sicher?”, fragte ich vorsichtig.
Wie auf Knopfdruck begann Ida wieder zu strahlen. Weg war der Zweifel, den ich eben auf ihrem Gesicht gelesen hatte. „Das wird so eine tolle Erfahrung, Stella! Du solltest auch mal ein bisschen mehr achtsam sein.”
„Mir geht’s gut.”
„Bist du dir da ganz sicher? Wenn du ein bisschen achtsamer mit dir selbst umgehen würdest, würdest du vielleicht einsehen, dass eine Beziehung mit einem verheirateten Mann nicht so optimal ist.”
„Tobias ist unglücklich verheiratet.”
„Das ist immer noch verheiratet! Und außerdem ist er dein Professor!”
Wie genau waren wir denn jetzt so schnell in diese Grundsatzdiskussion gerutscht? Ida war die einzige, die von mir und PTM wusste. Ich hatte es ihr zwar nicht erzählen wollen, aber da hatte ich meine Rechnung ohne Idas Spürsinn gemacht. Sie hatte mir das Ganze fast auf den Kopf zugesagt. Also, dass ich eine heimliche Beziehung hatte, nicht, wer es genau war. Aber dann hatte Eins das Andere ergeben und schließlich hatte ich Ida doch alles erzählt. Ihre Reaktion war anders ausgefallen, als ich es erwartet hatte. Ida konnte meine Begeisterung überhaupt nicht verstehen und ehrlich gesagt verurteilte sie mich sogar dafür. Das lag mir schon seit einer Weile schwer im Magen.
„Ida, willst du jetzt wirklich davon anfangen?”
Sie presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander. „Nein”, sagte sie schließlich.
Dann klingelte es an unserer Wohnungstür und plötzlich ging alles ganz schnell. Miguel kam herein, grüßte, nahm wie selbstverständlich Idas Tasche und verschwand wieder zur Tür hinaus. Ida fiel mir um den Hals, drückte mich fest und ehe ich mich versah, war auch sie durch die offene Tür verschwunden. Ich wollte diese gerade schließen, als ich Ida aus dem Treppenhaus rufen hörte: „Wenn was ist, wir sehen uns in zwei Wochen. Du weißt ja: Achtsam! Ohne Handy!”
„Viel Spaß”, rief ich und schloss kopfschüttelnd die Wohnungstür. Wie ich Ida kannte, würde sie in zwei Tagen wieder hier sein. Das würde sie doch nie im Leben aushalten. Ohne ihr Handy und ohne Justus, Peter, Bob und Bibi?
Ich ging zurück in mein Zimmer und setzte mich an die Nähmaschine. Ida und ihr neuer Achtsamkeitswahn. Sie übertrieb mal wieder maßlos.
Mein Handy vibrierte. Ich nahm es zur Hand. Es war eine Nachricht von Nina, das konnte nichts Wichtiges sein. Wir hatten einen Kurs in der Uni zusammen. Ohne mir die Nachricht anzusehen, legte ich mein Handy wieder zur Seite. Dann sah ich auf die Uhr: Zwanzig nach vier. So langsam musste ich mich mit dem Nähen beeilen.
Ich war noch nicht weit gekommen, da vibrierte mein Handy erneut. Ich hatte eine WhatsApp von Simon. Es vibrierte wieder. Diesmal war es eine Nachricht von Tina und dann kam noch eine von Alex. Was war denn los? Seufzend ließ ich von der Nähmaschine ab und entsperrte mein Handy. Währenddessen erreichten mich neue WhatsApp. Alle Nachrichten hatten den gleichen Inhalt: Ich solle mir sofort den neuesten Post von UniLeaks auf Instagram ansehen.
16:40 Uhr – Köln
UniLeaks hatte gleich mehrere Fotos von mir und Tobias auf einmal gepostet. Mit jedem Links-Swipe bekam ich mehr zu sehen. Das Erste zeigte uns beide händchenhaltend auf dem Drachenfels. Das Zweite und Dritte küssend, immer noch am selben Ort. Das Vierte …
Ich schlug eine Hand vor den Mund, während mein Magen sich aufbäumte: Das vierte Bild zeigte mich und Tobias im Auto. Leicht bis wenig bekleidet in eindeutiger Pose. Scheiße. Scheißescheißescheiße. Scheiße!
Der Beschreibungstext von UniLeaks darunter lautete:
UniLeaks präsentiert Euch heute: Modestudentin Stella mit unserem Lieblingsprof Ted Mosby.
Auf den ersten Blick waren nur zwei Kommentare zu lesen …
- Mit der würde ich auch gerne mal nen Ausflug machen.
- Was für ein heißes Gerät. Also das Auto. ;)
… und obwohl ich ganz genau wusste, dass es keine gute Idee war, klickte ich auf „Alle 256 Kommentare ansehen”:
- Was für eine Schlampe!!!
- Ist Professor Ted Mosby nicht verheiratet?
- Ja! Ist er!!!
- OMG!
- Wo sind’n die da?
- In nem Auto.
- Scherzkeks. Ich meine auf den Bildern vorne.
- Drachenfels, wenn ich mich nicht täusche.
- Nett.
- Ja, ich würd sie auch nicht von der Bettkante schubsen. Oder sagt man hier besser: nicht vom Autositz schubsen?
- Im Auto! Alter. Das will ich auch. @dukriegstdietürdienichtzu_92 was sagst du?
- Krass. Bin dabei.
- Hure!
- Ich fass es nicht! Ted ist ja als Prof ganz nett, aber der ist doch bestimmt doppelt so alt wie die.
- Wie blöd muss man sein, sich dabei ablichten zu lassen?
- Guckt euch das mal an @sternensand_8797 @the_real_zuckerhütchen @studygirl_1996
- Mit der will ich auch mal ne Runde auf dem Rücksitz drehen. Oder zwei.
- So eine Schlampe!
- Der gute Professor ist übrigens nicht nur verheiratet, seine Frau ist auch noch schwanger!!!
- Echt?
- Ja. Mit ihrem ersten Kind! Hat er letzte Woche in der Vorlesung erzählt. Und er hat sich so süß dabei gefreut.
Das war’s. Mehr konnte ich nicht lesen. Mein Magen revoltierte. Im letzten Moment drehte ich mich von der Nähmaschine weg und kotzte auf den Boden.