Katalyse - Axel Behrendt - E-Book

Katalyse E-Book

Axel Behrendt

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Beschreibung

Es sind die sommerlichen und erlebnisreichen Tage der Hanse Sail in Rostock, die Paul bestens geeignet erscheinen, um sie mit einer Frau zu verbringen, die er erst kurz zuvor kennengelernt hat. Doch nach unbeschwerten Stunden auf dem maritimen Fest, wird er durch sie unversehens in kriminelle Ereignisse hineingezogen und mit mysteriösen Todesfällen konfrontiert, die ihn letztendlich dazu zwingen eigene Ermittlungen anzustellen. Seine anfangs etwas unbeholfene und abenteuerliche Recherche führt ihn schließlich zur Rostocker Universität und zu einem Institut, wo an Nanotechnologien geforscht wird. Was er dort entdeckt, vor allem aber die Menschen, die ihm während seiner Suche begegnen, verändern seine Sicht auf die Hansestadt und deren Bewohner auf dramatische Weise.

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Axel Behrendt

Katalyse

Kriminalroman

Rostock-Krimi

Band 1

© 2017 Axel Behrendt

Umschlag: Axel Behrendt

2. bearbeitete Auflage

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7439-3407-8 (Paperback)

978-3-7439-3408-5 (Hardcover)

978-3-7439-3409-2 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Der erste Kanonenschlag krachte heftig und ohne Vorwarnung in die morgendliche Stille dieses sonnigen Augusttages.

Sofort flüchteten ein paar Möwen wild kreischend von den Bootsstegen des Gehlsdorfer Ufers, bevor der Schall von der gegenüberliegenden Hafenkante grollend zurückrollte.

Tilda zog unwillkürlich ihren Kopf ein und hatte etwas Mühe mit ihren hohen Absätzen weiter über das Kopfsteinpflaster der alten Uferstraße zu balancieren.

Kurz darauf donnerte ein zweiter Schlag über sie hinweg, der so schmerzlich in ihren Ohren dröhnte, dass sie schwankend stehen blieb.

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und sah noch einmal auf den Weg zurück, der sie vorbei an Gärten mit uralten Obstbäumen und muffigen, zumeist aus Resten zusammengezimmerten Lauben führte, deren verrottete Teerdächer in der Morgensonne bereits anfingen zu flimmern.

Und an dem schon in die Jahre gekommenen Fährhaus, von dem man zwar einen wunderschönen Ausblick auf die Silhouette des Rostocker Stadthafens hatte, aber um dessen Lokal, mit seinem verwilderten Biergarten und dem penetranten Geruch nach verbranntem Frittierfett, Tilda stets einen großen Bogen machte.

Bei dem Gedanken, dass sie dies nun alles hinter sich lassen konnte, huschte ein feines Lächeln über ihr Gesicht, doch gleichzeitig erfasste sie wieder die Unruhe, die sie in den letzten Tagen vor ihrer Abreise aus der Stadt immer häufiger verspürte.

‚Bloß nicht zurück!‘, dachte sie, wobei ihr klar war, dass dies nun ohnehin nicht mehr infrage kam, und dass sie sich den Weg für eine mögliche Rückkehr schon vor langer Zeit selbst verbaut hatte.

Trotzdem wich die Unsicherheit der letzten Tage nicht von ihr und so stand sie für einen Moment regungslos mitten auf der Straße.

Doch der nächste Geschützdonner erschien ihr wie ein Befreiungsschlag und verdrängte alle Zweifel.

Entschlossen strich sie sich über ihren Rock und schob den Riemen ihrer Handtasche weiter über die Schulter.

Noch einmal betrachtete sie das alte Fährhaus, dann ging sie mit schnellen Schritten und ohne sich noch einmal umzusehen weiter zur Anlegestelle.

Gewaltige Rauchschwaden von verbranntem Schwarzpulver vermischten sich dort mit salziger Meeresluft, und während eine weitere Feuersalve die Luft erzittern ließ, sprang Tilda mit zusammengekniffenen Augen auf den Anleger der Fähre und presste ihre Hände fest an die Ohren.

Der Lärm wurde für sie fast unerträglich und im beißenden Qualm traute sie sich kaum zu atmen.

„He, min Dirn! Willst du nun noch mit oder willst du lieber bei den Kanonieren nachladen?“, rief ihr grinsend der alte Kapitän entgegen, nachdem der Donner verhallt war. „Jo! Die können wirklich ganz schön Krach machen! Muss früher mühsam gewesen sein, diese Dinger immer wieder nachzustopfen. Jeden Tag diese Böllerei wäre auch nix für mich, aber die Jungs scheinen ja Spaß daran zu haben.“

Er schob seine abgewetzte Mütze in den Nacken und blinzelte sie an.

Dann zog er mit einer Hand an der Reling, als wenn er damit das Schiff noch näher an die Kaikante heranholen könnte, und hielt ihr seine andere Hand entgegen.

Tilda ging darauf nicht ein, aber als sie seinen verschmitzten Blick auf ihren recht kurzen Rock bemerkte, beeilte sie sich doch auf die Fähre zu kommen.

Wortlos zwängte sie sich an ihm vorbei, setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und lehnte sich an die Kabinenwand.

Der Kapitän lächelte ihr hinterher.

Er kannte sie nicht anders.

Umständlich schaute er auf die Uhr, bevor er seinem Bootsmann das Zeichen gab die Leinen zu lösen und stieg ins Ruderhaus.

Kurz darauf legte die Fähre ab, und als sich der Rauch endgültig verzog, drängten die anderen Mitreisenden ans Heck und sahen sich das Spektakel der Kanoniere an, die wie jedes Jahr, die Hanse Sail mit ihren mittelalterlichen Geschützen begleiteten.

Aufgereiht standen Kanonen und Geschütze in allen Größen am Ufer der Gehlsdorfer Promenade und wirkten auf Tilda nun wie ein Symbol, ja fast wie ein Bollwerk, welches ihre Rückkehr für immer verhindern wollte.

Wieder wurde eine Salve abgefeuert, und während die Urlauber entzückt jubelten und die Kanoniere in ihren historischen Uniformen fotografierten, setzte sich Tilda in die kleine Kabine und schaute auf der anderen Seite sehnsüchtig aufs Wasser, wo in einiger Entfernung die Fähren nach Skandinavien beladen wurden.

Der Gedanke, dass auch sie bald dieser Route folgen würde, hatte für sie etwas Beruhigendes, und einen Moment lang hing sie ihren Träumen hinterher.

Aber noch bevor die Fähre die Mitte des Flusses erreichte, stand sie plötzlich wieder auf.

In die Euphorie des Aufbruchs mischte sich wieder die Angst, dass irgendjemand ihre Pläne noch in letzter Minute durchkreuzen könnte.

Sie schob sich zwischen den Passagieren hindurch, doch vergeblich versuchte sie vom Deck aus jemanden auf der überfüllten Uferpromenade zu entdecken, der ihr eventuell gefolgt sein könnte.

Stattdessen fiel ihr erst jetzt auf, dass sie selbst wohl auch aus größerer Entfernung viel leichter auszumachen war.

Den ganzen Morgen hatte sie versucht etwas Unauffälliges in ihrem Kleiderschrank zu finden, was ihr aber augenscheinlich nicht gelungen war.

Mit ihrem beigen Kostüm und den schlanken Absatzschuhen hob sie sich deutlich von den Urlaubern in bunten Hemden, kuriosen Kopfbedeckungen und Flip-Flops ab.

Und so sehr sie es auch liebte, wenn sich alle Augen auf sie richteten, an diesem Tag hätte sie es gerne vermieden.

So blieb sie etwas unentschlossen auf dem kleinen Deck stehen, drehte sich in den Wind und genoss die leichte Brise während der kurzen Überfahrt.

Die Sonne stand schon hoch, und die ersten Großsegler verließen mit ihren Gästen die Liegeplätze zu den täglichen Ausfahrten auf die Ostsee.

Mehrere kleinere Boote kreuzten die Fähre, und der Kapitän schoss urplötzlich aus dem Ruderhaus und fluchte laut, als ihm jemand zu nahekam und sein Vorfahrtsrecht missachtete.

Von der Festmeile auf dem Hafengelände drang allmählich Musik, und Tilda blickte suchend auf den dortigen Anleger.

Sie zuckte bei dem Gedanken zusammen, Katarina könnte nicht wie verabredet dort sein, aber ihre Sorge verflog, als sie sie zwischen den Urlaubern entdeckte.

Mit zwei Bechern Kaffee in der Hand stand sie auf der Kaimauer und wog sich leicht im Rhythmus der Musik.

Tilda spürte in diesem Moment einmal mehr, wie unentbehrlich Katarina für sie geworden war, und als sich Katarina zu ihr drehte, winkte sie ihr erleichtert zu.

Etwas ruppig legte die Fähre wenig später an und sofort drängelten sich die Fahrgäste an den Ausgang.

Der Bootsmann gab den Durchgang frei, und noch ehe alle von Bord waren, rückten schon die ersten Besucher vor, die wieder auf die Gehlsdorfer Seite übersetzen wollten.

Der Kapitän sah, dass Tilda enorme Mühe hatte vom Schiff zu kommen.

Während ihr resolutes Auftreten ihr sonst stets den benötigten Freiraum verschaffte, gelang ihr dies hier nicht.

Keiner der Urlauber ließ sich von ihr beeindrucken, und so wies der Kapitän seinen Bootsmann kurzerhand an, Tilda einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen.

Mit einem kurzen Nicken bedankte sie sich bei ihm und war erleichtert, als sie Katarina erreichte.

„Ist das nicht super! Ich bin total hin und weg“, legte Katarina sofort los und drehte sich wieder kurz zu den Schiffen. „Ich habe so was noch nie erlebt. Gehört habe ich ja schon immer davon, aber das hier ist wirklich imposant. Von der Fähre muss das ja toll ausgesehen haben. Warum haben wir uns das die letzten Jahre immer entgehen lassen?“

Der Rummel auf dem Markt und auf den Seglern um sie herum schien sich auch auf sie zu übertragen.

Sie wirkte aufgekratzt und wippte weiter im Rhythmus der lauten Budenmusik, die über den ganzen Stadthafen zu hören war.

Katarina war mit ihren sechsundvierzig Jahren fast zwölf Jahre älter als Tilda, und es hatte seine Zeit gebraucht, bis Tilda sich an Katarinas Gefühlsausbrüche gewöhnte.

Die darin enthaltene naive Ehrlichkeit hatte sie anfangs überrascht, später aber das Vertrauen aufgebaut, welches sie für ihre waghalsigen Pläne so dringend benötigte.

„Hast du mir auch einen Kaffee mitgebracht?“, fragte Tilda, während sie ihre Sonnenbrille hochschob und ihre Sachen zurechtrückte.

Katarina drehte sich zurück, schaute Tilda verdutzt an und schien erst jetzt zu merken, dass sie immer noch beide Kaffeebecher in der Hand hielt.

„Entschuldige Mäuschen, ich bin total von der Rolle“, sagte sie und hielt ihr lachend beide Becher hin. „Kräftigen Cappuccino oder Milchkaffee?“

„Gib mir den Cappuccino. Ich brauch heute was Stärkeres.“

Sie nahm sofort einen Schluck, musterte Katarinas Kleid und nickte anerkennend. „Siehst gut aus.“

„Wirklich? War auch verdammt teuer. Komm mit, ich zeig dir was. Ich habe noch einen Stand mit Taschen gefunden. Da ist eine kleine bei, in einem sanften weinroten Ton. Du musst mir sagen, ob die zu meinem Kleid passt.“

Tilda erschrak bei dem Gedanken, sich nun durch das Gedränge der Hafenmeile schieben zu müssen, aber Katarinas gute Laune wollte sie gerade heute, am letzten Arbeitstag vor ihrem Urlaub, nicht verderben.

„Das kostet dich einen weiteren Cappuccino“, willigte sie kurzentschlossen ein.

„Na klar“, antwortete Katarina, wohlwissend, dass Tilda generell eine Abneigung gegen fliegende Händler hatte, und so nahm sie schnell ihre Hand und zog sie hinterher.

Kaum waren sie am Stand angekommen, suchte Katarina neben der weinroten Ledertasche noch ein paar andere zusammen und hielt sie immer wieder an ihr Kleid.

Sie war so damit beschäftigt, dass sie nicht wahrnahm, dass Tilda sich abgewandt hatte und in Richtung eines Großseglers schaute, der noch fest vertäut an der Kaikante lag.

Tilda hatte einen Augenblick gebraucht, bis ihr auffiel, was nicht in dieses bunte, von quirligen Mitseglern geprägte Bild passte, und sofort spürte sie, wie ihr Puls anfing schneller zu schlagen.

Zwischen denen, die aufgeregt über die Decks liefen, stand ein Mann ruhig angelehnt an einem Mast und schaute von seinem erhöhten Platz über die Menschenmenge hinweg.

Sein weißes Haar stach von seinem dunklen Anzug ab, und Tilda war sich sicher, dass ihr dieser Mann mit seinem merkwürdigen Aussehen schon einmal begegnet war.

„Was meinst du?“, fragte Katarina und zog sanft an Tildas Hand.

Tilda drehte sich etwas benommen zurück und musterte die Kollektion.

Mit Kennerblick überflog sie die Taschen und stellte fest, dass Katarinas Auswahl ihrem Geschmack immer näherkam.

„Doch die passt am besten“, sagte sie und tippte auf das weinrote Leder.

„Ja, die ist perfekt“, strahlte Katarina und kramte in ihrer alten Tasche schon nach dem Portemonnaie.

Tilda drehte sich wieder zum Segler, aber der Mann war verschwunden.

Sie ging ein paar Schritte vom Stand weg und schaute sich um, jedoch hob sich nirgends ein dunkler Anzug von der bunten Kulisse ab.

„Ich glaube, heute kommen wir wohl zu spät“, lachte Katarina, als sie sich zu ihr drehte.

„Ist schon gut. Ich schreib dir einen Entschuldigungszettel“, ging Tilda darauf ein und versuchte sich durch ein Lächeln nichts anmerken zu lassen.

Sie wollte Katarina mit ihrer Angst nicht auch noch beunruhigen und war erleichtert, dass sie den Hafen nun schnellstens verlassen würden.

Mühsam schoben sie sich durch die Festmeile, und als sie endlich die obersten Treppenstufen der Fischerbastion erreichten, blieb Katarina kurz stehen und schaute auf den Hafen zurück.

Eine auslaufende Kogge mit ihrem großen, braunen Segel und der Rauch der Geschütze auf der anderen Uferseite zogen sie abermals in ihren Bann.

„Ist es nicht schön hier? So muss es auch im Mittelalter, zur Zeit der Hanse, ausgesehen haben“, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass der Versuch Tilda dafür zu begeistern vergeblich war.

Tilda zog sie langsam mit. „Komm. Du willst ja die nächsten Tage sowieso hier verbringen.“

„Glaubst du, wir schaffen das?“, fragte Katarina plötzlich, ohne den Blick vom Hafen zu nehmen.

„Was meinst du?“, fragte Tilda überrascht und brauchte etwas, bis ihr klar wurde, was Katarina in diesem Moment bewegte. „Natürlich! Wir sind doch mit durch. Alles ist in guten Bahnen.“

Sie blieb abrupt stehen und sah Katarina eindringlich in die Augen. „He! Sieh dich an und erinnere dich mal daran, wie du hier angefangen hast. Jetzt gib es ohnehin kein Zurück. Denk an dich! Und nur an dich! Sei bloß kein Narr!“

Katarina spürte den Druck von Tildas Hand auf ihrem Arm.

„Ich weiß“, sagte sie nach einem Augenblick ganz ruhig und strich leicht über Tildas Wange.

Sie drehte sich langsam um und wortlos gingen sie bis zur Haltestelle in der Langen Straße.

Während sie auf die Straßenbahn warteten, zeigte Katarina mit einer kurzen Handbewegung auf die Glasfassade des gegenüberliegenden Hotels.

„Irgendwo da hat Paul seinen Schreibtisch. Er hat mir so ziemlich das ganze Haus gezeigt, bis auf sein Büro“, sagte sie und zupfte sachte an Tildas Jacke. „He! Du hörst mir ja gar nicht zu.“

„Entschuldige. Ich dachte, ich hätte jemanden entdeckt.“

Aus dem Blickwinkel heraus hatte Tilda gesehen, wie jemand durch die Drehtür ins Hotel verschwand.

Sie war sich sicher, dass es der Mann auf dem Segler war, der dunkle Anzug und das weiße Haar waren zu prägnant.

Sie spürte ihre aufkommende Unruhe und war erleichtert, dass die Straßenbahn kam.

„Ich bin froh, dass wir das bald hinter uns haben“, sagte sie, und Katarina fragte sofort, ob sie damit die unzähligen Fahrgäste meinte, die sich aus der Bahn herausdrückten und in einem großen Tross zum Stadthafen zogen.

Tilda wiederum war von Katarinas Unbekümmertheit überrascht, die sich schnell von der guten Laune der Sail-Besucher anstecken ließ und ausgiebig von Paul und dem Hotel erzählte.

So hörte sie Katarina nur halb zu, und je mehr sie über den Mann auf dem Segler nachdachte, umso überzeugter war sie davon, dass sie nun keine Zeit mehr verlieren durften.

Als die Straßenbahn in der Erich-Schlesinger-Straße hielt, waren sie fast die Einzigen die ausstiegen.

Nur ein paar Studenten begleiteten sie auf ihrem Weg.

Sie gingen schnell, und während Tilda sich immer wieder umschaute, rückte sie unmerklich weiter an Katarina heran.

Erst als sie das Institutsgelände erreichten, löste sie sich von ihr.

„Guten Tag, die Damen“, begrüßte sie der alte Hausmeister, der vor der Tür des Haupteinganges kniete und das Türschloss reparierte.

Tilda winkte ihm nur kurz zu und beeilte sich an ihm vorbeizukommen.

„Hallo, Karl. Wolltest du heute nicht ‚Schiffe gucken‘ gehen und selbst rausfahren?“, scherzte Katarina im Vorbeigehen.

„Nein, nein. Hab die Schicht getauscht und die nächsten Tage frei. Hab noch ‘nen Platz übrig auf meinem Angelkahn. Wenn du willst?“

„Danke. Vielleicht ein anderes Mal“, sagte sie lachend und lief Tilda hinterher.

Ihre Schritte hallten durch die leeren Flure des Instituts und kaum waren sie im Umkleideraum, schauten sich beide um, ob noch jemand auf der Toilette oder im Duschraum war.

Schnell legten sie ihre Sachen ab und zogen sich ihre Laborkittel über.

Katarina öffnete noch einmal die Tür zum Flur, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand kam, ging sie zum Schrank, zog ein Päckchen Blutentnahmeröhrchen aus ihrem Fach und setzte sich zu Tilda.

Schnell schob sie deren Ärmel hoch, legte den Stauschlauch an und desinfizierte die Stelle in der Ellenbeuge.

Der Stich der Nadel saß sofort und routiniert füllte sie alle fünf Röhrchen.

Tilda lehnte sich währenddessen an die Wand und betrachtete die vielen Einstichpunkte auf ihrem Arm.

„Heute Nachmittag ist alles vorbei“, nickte Katarina ihr verständnisvoll zu, „dann haben wir es überstanden.“

Tilda tippte auf ein Röhrchen. „Gibst du mir eins mit?“

„Was?“, fragte Katarina verwundert. „Wozu?“

„Ich brauch noch eins zum Unterschreiben“, sagte Tilda matt.

„Dann nimm von mir noch eins mit. Der Teufel wird sich über eine zweite Seele freuen. Es ist die letzte Untersuchung, dann haben wir alle Werte zusammen. Wir haben es fast geschafft!“, sagte Katarina lachend und drückte das Pflaster auf.

Schnell verstaute sie die Proben in ihrem Schrank.

„Du hättest Mediziner werden sollen“, sagte Tilda und lehnte sich zurück.

„Dazu ist es jetzt zu spät. Jetzt räumen wir erst mal kräftig ab.“

Katarina warf kurzerhand ihren Kittel über die Schranktür und drehte sich einmal schwungvoll um sich herum.

Dann stellte sie ihre Schminktasche auf den Waschtisch, zog ihren Lippenstift nach und hängte sich die neue Tasche um.

Eine Locke ihres schweren dunklen Haares fiel ihr ins Gesicht.

Nachdenklich schob sie diese zurück.

Lange musterte sie sich im Spiegel, verzog das Gesicht, hob die Nase und posierte so eine Weile vor dem Spiegel.

Tilda kam zu ihr, schaute ihr über die Schulter und umarmte sie.

„Danke“, sagte sie leise.

„Wofür?“, fragte Katarina erstaunt und musste einen Moment auf eine Antwort warten.

„Es gab Zeiten, da wollte ich unbedingt hierher. Viele Jahre hatte ich geglaubt hier meinen Seelenfrieden zu finden. Aber ich habe es satt, mich immer wieder von einem Forschungsprojekt zum nächsten zu hangeln. Nie weiß man, was nach einer Projektförderung kommt, und bei den Möglichkeiten die sich nun bieten, fällt die Entscheidung sowieso nicht schwer. Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen. Ich weiß, dass du die Stadt und alles hier magst, aber mich hält hier nichts.“

Katarina drehte sich um und umarmte Tilda.

„Aber diese Stadt wird uns für alle Zeiten verbinden, egal wo du bist.“

Für einen kurzen Moment genoss Tilda das Gefühl von Geborgenheit und lehnte sich fester an sie.

Dann rückten beide mit ihren Gesichtern ganz dicht an den Spiegel heran und strichen sich prüfend mehrmals über die gleichmäßig gebräunte Haut, auf der nicht das kleinste Fältchen und kaum eine Pore zu erkennen war.

„Ich denke, wir sind soweit“, sagte Katarina, und auch Tilda nickte zufrieden.

Plötzlich ging die Tür auf und eine Kollegin stürzte herein.

„He, ihr Turteltauben! Warum drückt ihr euch hier drinnen rum? Draußen ist doch bestes Wetter. Genießt es!“, rief sie durch den Raum und ging auf die Toilette.

Tilda und Katarina grinsten sich an und räumten ihre Sachen weg.

Dass die beiden sich sehr nahestanden, war am Institut bekannt und keiner dort nahm Anstoß an ihrer manchmal offen zur Schau gestellten Zuneigung.

Sie sahen sich nochmals um, ob sie etwas liegengelassen hatten, und verließen den Raum.

Niemand begegnete Ihnen auf dem Flur und so schlenderten sie eingehakt zu den Laboren.

„Ich geh uns noch einen Kaffee holen. Sag Janek Bescheid, dass ich ihm auch einen mitbringe“, sagte Katarina und schwenkte sofort ab.

Tilda schaute ihr einen Moment nachdenklich hinterher, bevor sie die Tür zum Labor öffnete.

Noch ehe sie den Raum betrat, hörte sie das Telefon klingeln und so winkte sie Janek nur mit einem kurzen „Hallo“ zu und lief zu ihrem Schreibtisch.

Eilig nahm sie den Hörer ab und schaltete ihren Computer ein.

Während des Gesprächs setzte sie sich auf ihren hohen Hocker, ließ die Beine baumeln und drehte sich langsam hin und her.

„Die nächste Testreihe wird verschoben“, rief sie anschließend, ohne sich umzudrehen, in den weiträumigen Laborraum, während sie gleichzeitig ein paar Daten in ihren Computer eingab. „Die Labore im linken Flügel werden gesperrt. Da muss was am Bau gemacht werden. Zu uns kommen sie dann auch noch. Gerade neu gebaut und schon wieder zu! Du möchtest deine Termine nach dem Urlaub bitte neu abstimmen.“

Sie tippte weiter, aber die anhaltende Ruhe ließ sie plötzlich aufspringen und nach Janek schauen.

Er saß in seiner Ecke fast unbeweglich vor seinem Computer und starrte auf den Bildschirm.

Nur die ruckartigen Handbewegungen mit der Maus waren zu erkennen.

Trotz des klimatisierten Raumes perlten ein paar Schweißtropfen auf seiner Stirn.

Mit seiner kräftigen Gestalt und seinem sicheren Auftreten war er stets der Ruhepol ihres kleinen Teams, nun aber wirkte er eher verstört, und Tilda merkte sofort, wie sich diese Anspannung auch auf sie übertrug.

Abrupt drehte er sich zu Tilda um, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Katarina mit dem Kaffee herein.

„Hallo, Janek“, begrüßte sie ihn und stellte das Tablett auf den großen Versuchstisch in der Mitte des Raumes ab.

Erleichtert pustete sie einmal durch und schob abermals eine Locke aus ihrem Gesicht. „Es scheint, als wären heute schon alle ausgeflogen. Die Kantine ist leer und auf den Fluren begegnete mir nur die Putzkolonne.“

Sie hantierte mit dem Geschirr auf dem Tablett, schloss die Tür und nahm erst jetzt die Stille im Raum wahr.

Janek hatte sich inzwischen wieder etwas gefangen.

Er stand auf und kam zu ihr.

„Es war wohl nur etwas zu viel die letzten Wochen“, sagte er entschuldigend und wischte sich mit dem kurzen Ärmel über die Stirn.

Katarina sah ihn erschrocken an und spürte gleichsam seine Nervosität, die sie so von ihm überhaupt nicht kannte.

Wollte er sich vielleicht im letzten Moment noch aus dem Projekt zurückziehen?

Ohne ihn wäre es unmöglich ihre langgehegten Pläne zu realisieren, und ihr war klar, dass ihr Traum dann einfach platzen würde.

Nur langsam wich die Spannung aus ihren Gesichtern.

„Hast du die Probe mit?“, fragte Katarina nunmehr etwas unsicher und schaute Janek an, als wenn sie ihn daran erinnern wollte, dass sie nun nichts mehr rückgängig machen konnten. „Ich will nachher den letzten Test durchführen. Dann haben wir alle Daten zusammen.“

„Ja, natürlich“, sagte er ruhig und schien seine Gelassenheit wiedergewonnen zu haben.

Er ging zum Garderobenständer, holte die Röhrchen aus seiner Kitteltasche und hielt sie Katarina hin.

„Früher gab‘s aber immer noch ‘ne Bockwurst zur Blutspende“, scherzte er wieder in gewohnter Weise und nahm sich einen Kaffee.

Katarina steckte die Röhrchen in ihre Tasche und hielt Tilda einen Kaffeebecher hin, den sie nur zögerlich nahm.

Schweigend und gedankenversunken schauten alle drei auf die vielen Aufbauten auf dem Tisch, bevor Janek kurzerhand das Tablett beiseiteschob und ein kleines Modellauto auf einem Rondell in Bewegung setzte.

Leise drehte es seine Runden, und äußerlich verriet es nicht, welcher bahnbrechenden Antriebsmöglichkeit sie auf die Spur gekommen waren.

Und so standen sie für ein paar Minuten, wie um einen spirituellen Kreis und starrten fast hypnotisiert auf das kleine Fahrzeug, als wenn es ihnen Kraft und Zustimmung für ihre weiteren Pläne geben könnte.

Erst das kurze, aber intensive Surren von Tildas Handy riss die drei aus ihren Gedanken.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch und sah auf das Display.

Die Nummer erkannte sie sofort, umso mehr irritierte sie die Nachricht. „17 Uhr, Stadthafen Liegeplatz 71.“

Ihr war klar, dass der Zeitpunkt ihrer Abreise immer näher rückte, aber sollte es nun doch noch kurzfristige Änderungen geben?

Katarina fing Tildas unruhigen Blick auf und stellte rasch ihren Becher auf den Tisch.

„Ich fahre ins Labor in die Schillingallee und lasse unsere Blutproben prüfen. Ich brauche dafür eine Weile. Falls ihr mich sucht, wisst ihr wo ihr mich findet.“

Sie sah beide kurz an und merkte, dass jeder seinen eigenen Gedanken hinterherhing.

„Ist schon gut“, sagte Tilda, als sie Katarinas Zögern bemerkte. „Ich muss auch noch mal ins Archiv und bin dann in meinem Büro. Bleibst du hier Janek?“

Er nickte nur und schaltete das Modellauto aus. Kurz nach Katarina verließ auch Tilda das Labor.

Vor dem Archiv blieb sie jedoch stehen und drehte dann zum Haupteingang ab.

Der Hausmeister konnte sich nicht erinnern, dass Tilda ihn in alle den Jahren schon einmal direkt angesprochen hatte, umso mehr überraschte ihn die übermäßige Freundlichkeit, mit der sie auf ihn zukam.

„Hallo, Herr Langer. Vielleicht können Sie mir helfen. Sie kennen sich doch bestimmt im Stadthafen aus. Wissen Sie, wo der Liegeplatz 71 ist?“

„Ja, ich glaub schon“, überlegte er, während er die letzte Schraube am Türschloss festzog. „Warten Sie, dat heb ick gliek.“

Er sprach mit einmal etwas Platt, was ihm immer passierte, wenn er nervös wurde.

Schwerfällig stand er auf, schob einen Keil unter die Tür und ging mit leicht gekrümmten Rücken vorweg.

„Kommen Sie mit. In der Werkstatt habe ich einen Plan der Hanse Sail. Da sind die Liegeplätze drauf“, sagte er hastig.

Aus seinem Spind holte er eine alte Ledertasche, stellte sie vor sich hin und fing nachdenklich an zu plaudern.

„An der 84 steht der Holzkran. Und der letzte Platz am Silo ist was in den Neunzigern. Die 71 muss also in Richtung Werft sein. Also ich meine, was mal eine Werft war. Is ja nix mehr übriggeblieben, alles platt gemacht. Nur den Kran der Helling steht noch, aber auch nur noch auf dem Rest seines Fundaments. Ist wirklich nicht mehr viel da, von Kai und Pier. Im Wochentakt haben die dort die Pötte für die Russen vom Stapel gelassen. Naja, eine Halle steht noch. Da ist jetzt ein Einkaufscenter drin. Die Krananlagen haben sie ja drinnen, Gott sei Dank, nicht abmontiert. Na, und dann de niegen Wohnungen dort unten, mit dem vielen Glas!“

Er bemerkte Tildas Ungeduld und beeilte sich seine Tasche zu öffnen, die mit einem dicken Lederriemen gesichert war.

„Naja. Die sind ja auch nicht schlecht anzuschauen. Aber für mich wär das nix, dass mir de Lüd in die Stube kieken.“

Er holte ein Prospekt der Hanse Sail aus seiner Tasche, schlug es auf und tippte mit dem Finger drauf.

„Hier, sehen Sie. Da ist die 84, da wo der Holzkran steht. Und da runter beim Fähranleger, da lag mal son groten Pott, die ‚Georg Büchner‘, die sie dann beim Abschleppen auf der Ostsee haben absaufen lassen, diese Halsafsnieder! Also da ist die 71. Sie können das Prospekt mitnehmen. Ich hab noch eins.“

„Danke“, sagte sie leise und schaute auf den Plan der Liegeplätze. „Also direkt neben der Fähre.“

„Genau“, fügte der Hausmeister hinzu. „Soll ja auch tolles Wetter am Wochenende werden, das richtige zum Segeln.“

„Ja“, sagte sie und winkte wie zur Bestätigung mit dem Prospekt. „Das richtige Wetter für eine Seereise.“

*

Nachdem Katarina und Tilda das Labor verlassen hatten, ging Janek noch einmal seine letzten Berechnungen durch.

Er war so in die Auswertung der Ergebnisse vertieft, dass er das schwache Klopfen an der Tür gar nicht wahrnahm, und als der Haustechniker plötzlich im Raum stand, zuckte er überrascht zusammen.

Janek erinnerte sich daran, dass ihm dieser junge Mann erst vor ein paar Tagen als neuer Mitarbeiter der IT-Abteilung vorgestellt wurde.

„Entschuldigung, Dr. Jablonski. Ich hatte mehrere Male geklopft. Es hatte sich niemand gemeldet“, rechtfertigte sich der Techniker etwas unbeholfen. „Soll ich später nochmal wiederkommen?“

„Nein, nein. Was brauchen Sie denn?“, fragte Janek noch etwas irritiert.

„Ich brauche nichts. Ich komme wegen dem Update für die Rechner im Labor.“

„Was für ein Update?“

„Wir installieren eine neue Sicherheitssoftware in unser gesamtes System. Dazu muss ich auch Baugruppen an einigen Rechnern tauschen und diverse Einstellungen ändern“, sagte der Techniker und legte sein Werkzeug auf einen freien Laborplatz. „Das wird aber eine Weile dauern.“

„Davon weiß ich gar nichts. Muss das ausgerechnet heute sein?“, fragte Janek und konnte nur mit Mühe seinen Unmut unterdrücken.

„Wäre schon gut, aber ich kann auch erst noch ein paar andere Labore fertigmachen.“

„Ja, das wäre mir schon lieber, da ich mitten in einer Versuchsreihe stecke. Können Sie das nicht generell auf die nächste Woche verschieben?“

„Oh, das geht auf keinen Fall. Ich muss das bis Montagfrüh abgeschlossen haben. Befehl von ganz oben. Mir wurde zudem gesagt, dass hier schon alle im Urlaub sind“, sagte der Techniker und schaute Janek abwartend an.

„Was drängt die Herren der Direktion denn so zur Eile? Funktionieren unsere alten Sperren nicht mehr?“

„Mehr oder weniger schon, aber wir versuchen das System wirklich wasserdicht zu machen. Es ist das Sicherste, was der Markt momentan anbietet. So kommt garantiert keiner mehr an Ihre Forschungsergebnisse heran.“

Janek spürte, wie ihm die Situation allmählich unbehaglich wurde, dennoch machte er sich sofort klar, dass er daran wohl nichts mehr ändern konnte.

Aber egal wie, er musste vor seiner Abreise noch wichtige Daten zusammenbekommen.

„Können Sie das vielleicht morgen erledigen? Dann bin ich mit der Serie durch.“

„Spätestens morgen um zwölf. Sonst schaff ich das nicht.“

„Gut. Dann bis morgen 12 Uhr.“

Kaum hatte der Techniker das Labor verlassen, ging Janek zum Fenster und machte es weit auf.

Die Klimaanlage schaltete sich aus, und in die sommerliche Ruhe, die auf dem Institutsgelände lag, mischte sich nur das leise Brummen eines Rasenmähers aus der nahen Gartenanlage.

Mehrmals atmete er tief durch, wodurch es ihm wieder leichter fiel klarer zu denken.

‚Warum nur diese Eile mit dem Update?‘, überlegte er, und es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass sie diese überstürzte Aktion vielleicht selbst ausgelöst haben könnten.

Ja, vielleicht ging es nicht nur darum potenziellen Gefährdungen vorzubeugen, sondern eine bekannte und konkrete Sicherheitslücke zu schließen?

Einen Augenblick dachte er darüber nach, dann schloss er das Fenster und das leise Summen des Lüfters setzte wieder ein.

Er schaute auf die Uhr und nachdem er sich ausgerechnet hatte, wie viel Zeit ihm blieb, tippte er zügig die nächste Datenreihe ein.

Angespannt arbeitete er weiter, bis Katarina und Tilda am Nachmittag zurückkamen.

Beide wunderten sich, dass er noch immer in seinen durchgeschwitzten Sachen im Labor saß.

„Du machst noch weiter?“, fragte Tilda. „Ich dachte, wir hätten die Testreihe abgeschlossen?“

Janek hielt inne und rieb sich mit den Händen erschöpft übers Gesicht.

„Ich muss noch ein paar Reihen nachprüfen. Ab morgen Mittag geht hier nämlich nichts mehr. Wir bekommen ein neues Sicherheitssystem für unsere Computer und ich vermute, dass wir in Kürze auch nicht mehr auf alle Laufwerke im System zugreifen können. Ich hoffe, ihr habt alle Daten zusammen?“

Tilda suchte ihren Hocker und sackte darauf fast zusammen.

Auch Katarina brauchte einen Moment, bis sie sich gefasst hatte. „Ist nun mal heute so. Alle versuchen ihre Systeme sicherer zu machen. Reine Routine. Wir sind ja sowieso ab morgen im Urlaub.“

„Meint ihr, die wissen hier Bescheid? Haben wir was übersehen?“, fragte Tilda und fing mit einmal an auf ihren Nägeln zu kauen.

Janek blickte sie an und registrierte mit Unbehagen ihre Nervosität. „Mach dich nicht verrückt!“

Katarina zögerte etwas, dann holte sie einen Speicherstick in Form einer Kreditkarte aus ihrer Tasche und legte sie in Tildas Hand.

„Die Werte sind erfolgversprechend. Alle Daten sind so, wie wir es uns vorgestellt haben. Ich hoffe du kommst damit voran.“

Tilda schaute nachdenklich darauf und schob ihn dann in das Seitenfach ihres Schminketuis.

Sie saßen noch einen Moment wortlos zusammen, dann stand Katarina auf und zog Tilda an sich.

„Drück uns die Daumen, sonst weiß ich auch nicht weiter“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

„Ich melde mich, sobald ich erste Ergebnisse habe“, sagte Tilda. „Das wird aber frühestens in zwei Wochen sein. Vertrau mir. Wir schaffen das schon. Und genieß deinen Urlaub hier.“

Janek reagierte überrascht, als Katarina dann auch ihn umarmte und einen Kuss auf die Wange gab.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte sie und schien ihren Frohsinn wiedergewonnen zu haben. „Jetzt sind wir fast so was wie Blutsbrüder. Na oder so ähnlich. Ich wünsch dir viel Spaß bei deiner Bergtour zu Hause. Wir sehen uns bald wieder. Und wenn was ist, könnt ihr mich jederzeit anrufen.“

Sie wartete keine Antwort ab und beeilte sich aus dem Labor zu kommen.

Tilda und Janek verharrten noch einen Augenblick, dann stand auch Tilda auf und räumte ihre Sachen zusammen.

„Ich mach auch Schluss und werde zusehen, wie ich unser Blut in Gold verwandeln kann.“

„Wir sind keine Monster Tilda. Das, was wir machen, könnte allen zugutekommen. Da bau ich drauf. Pass auf dich auf.“

Beim Abschied spürte sie die Kraft in Janeks Händen, jedoch verriet die Länge des Händedrucks auch seine Unsicherheit.

*

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wurde Janek klar, dass er es nicht mehr schaffen würde, alle Berechnungen durchzuführen und so entschloss er sich, nur noch die wichtigsten Testreihen durchlaufen zu lassen.

Wieder tippte er Daten in seinen Computer ein und startete das Simulationsprogramm.

Plötzlich verspürte er ein wenig Hunger.

Da er nun fast eine halbe Stunde bis zum nächsten Zwischenergebnis hatte, ging er in die Kantine und zog sich aus dem Automaten eine Packung Kekse und einen Kaffee.

Die Nachmittagssonne durchflutete den Raum und ließ Janek die Anspannung der letzten Zeit etwas vergessen.

Er dachte an seinen bevorstehenden Urlaub in seinem Heimatort am Rande der Hohen Tatra.

Wie schon in den Jahren zuvor, hatte er mit seinem Vater auch für dieses Jahr eine neue Route durch die Berge geplant.

Während dieser Zeit spürte er stets, wie eng er mit den Bergen und den Menschen dort verbunden war, und nichts sehnte er mehr herbei, als den Tag, an dem er endlich in die Firma seines Vaters einsteigen konnte.

Er wusste, dass es ihm auch nach dieser Tour wieder schwerfallen würde nach Deutschland zurückzukehren.

Aber noch brauchte er die Zeit für seine Forschungen und die Möglichkeiten dazu boten sich ihm vorerst nur hier.

Auch der kurze Abstecher zu einem Kongress in den nächsten Tagen, diente letztendlich nur dem Ziel, dem Familienbetrieb daheim dauerhaft eine Zukunft zu sichern.

Als er wieder im Labor war und auf die Auswertung seiner Simulation schaute, glaubte er zunächst er hätte sich verrechnet.

Was er auf dem Bildschirm sah, übertraf seine Erwartungen bei Weitem.

Er kontrollierte nochmals alle Eingaben, veränderte bestimmte Parameter und ließ das Simulationsprogramm ein zweites Mal durchlaufen.

Die Werte waren unverändert.

Er war selbst überrascht, dass er der Lösung seines Problems nun auf so einfache Weise nähergekommen war.

‚Ich schick euch alle in die Wüste!‘, dachte er bei sich und schlug mit der Faust triumphierend in die Luft.

Nochmals gab er verschiedene Werte ein und startete das Programm ein weiteres Mal, um jeden Irrtum auszuschließen, aber die Ergebnisse blieben unverändert.

Nun war er seinem Zeitplan plötzlich weit voraus und er würde den morgigen Tag gar nicht mehr benötigen.

Bis in die Abendstunden prüfte er alle Resultate, dann übertrug er die Daten auf einen Stick, verschlüsselte sie und löschte mehrere Dateien auf seinem Rechner.

Am Versuchstisch löste er die Arretierungen an den Aufbauten und schob ein paar Teile willkürlich zusammen.

Er fühlte sich erleichtert und schaute sich um, ob er noch irgendetwas vergessen hatte.

Einen kurzen Moment blieb er vor dem Modellauto stehen und strich andächtig mit der Hand darüber.

Dann drückte er den Hauptschalter aus und verschloss das Labor.

*

Tilda hatte schon kurz nach Katarina das Institut verlassen, obwohl ihr bis zum Treffen noch reichlich Zeit blieb.

Doch sie wollte nach den Geschehnissen des Tages nicht länger als nötig im Labor ausharren und fuhr mit der Straßenbahn zum Kröpeliner Tor.

Beim Aussteigen schaute sie wieder direkt auf das Hotel und dachte für einen kurzen Moment an den Mann, der ihr schon auf dem Segelschiff im Hafen aufgefallen war.

Konnte es wirklich sein, dass man ihnen so dicht auf den Fersen war?

Auch wenn sie Janek und Katarina absolut vertrauen konnte und sie stets vorsichtig agierten, musste es doch etwas gegeben haben, was sie übersehen hatten.

Tilda war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie erschrocken aufschrie, als ihr ein Luftballon an den Kopf knallte.

„Tschuldigung“, sagte ein kleines Mädchen und blinzelte sie lächelnd an.

Tilda war völlig irritiert, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, wurde sie von den Fußgängern mitgerissen und kam erst auf der anderen Straßenseite zum Stehen.

Sie ordnete ihr Kostüm und sah die Treppe zum Stadthafen hinunter.

Beim Anblick der übervollen Hafenmeile und der dröhnenden Musik, die von den Bühnen schallte, entschloss sie sich auf einer etwas ruhigeren Nebenstraße zum Fähranleger zu gehen.

Unterwegs wurden ihre Schritte immer langsamer, bis sie schließlich stehen blieb.

Sie sah sich die Menschen an, die lachend und gut gelaunt zum Hafen gingen, aber niemand schien sich für sie zu interessieren.

Sie nahm es erleichtert auf und ging dennoch etwas unsicher weiter.

Als sie den Kabutzenhof erreichte, hatte sie noch eine halbe Stunde bis zum Treff.

Sie bummelte an den Ständen entlang, ohne dabei den Fähranleger aus den Augen zu verlieren, was angesichts der vielen Besucher nicht ganz einfach war.

Der Wind hatte nachgelassen und zwischen den engen Verkaufsständen staute sich die aufgeheizte Luft.

Wieder fühlte sich Tilda in ihrem Kostüm etwas deplatziert und schaute angespannt auf ihre Armbanduhr.

Unaufhörlich strömten Besucher auf die Festmeile.

Tilda wich im letzten Moment einem Betrunkenen aus, der beinahe auf sie zufiel.

„Sorry, Lady“, johlte ihr der Mann mit einer gewaltigen Schnapsfahne entgegen. „Kann ich Sie auf ‘nen Drink einladen?“

Tilda wollte etwas erwidern, aber sie bekam kein Wort heraus.

Verstört presste sie ihre Handtasche an sich und sah dem Mann nur entgeistert hinterher, der sich schon wieder weggedreht hatte und schwankend seinen Kumpanen folgte.

Die Minuten verrannen.

Als ihr Handy klingelte, erschrak sie so heftig, dass sie es fast aus den Händen verlor.

Wieder war die Nachricht nur kurz, aber Tilda wusste sofort Bescheid. „Hermannstraße 4962“.

Sie überlegte, was diese Verschiebung ausgelöst haben könnte, aber noch bevor sie den Gedanken zu Ende bringen konnte, fiel ihr Blick auf einen weißen Haarschopf, der aus einiger Entfernung direkt auf sie zusteuerte.

Tilda sackte intuitiv in die Hocke.

Ihr Herz raste und mit einmal spürte sie, wie nah die Gefahr war.

Die Leute um sie herum sahen sie erstaunt an und so hantierte sie unbeholfen an ihrem Schuh.

Sie hatte nie an die Möglichkeit gedacht sich eine Art Fluchtweg zu lassen und wusste für einen Moment nicht, was sie machen sollte.

Durch eine Lücke hindurch entdeckte sie auf dem naheliegenden Parkplatz ein Taxi.

Kurzentschlossen stand sie auf und ohne sich noch einmal umzudrehen eilte sie zum Wagen.

Sie stieg ein und versank sogleich in den Sitz.

„Fahren Sie mich in die Hermannstraße, zur Packstation! Also diese gelbe Box beim Einkaufsmarkt! Und dann nach Gehlsdorf, in die Fährstraße!“, sagte sie hastig.

Der Fahrer drehte sich zu ihr um und setzte zu einer Frage an, aber Tildas Blick ließ ihn umgehend verstummen und so fuhr er zügig los.

Direkt vor der Packstation ließ sie das Taxi halten. Tilda schob die Chipkarte in das Bedienfeld und tippte mit fahrigen Fingern die vier Zahlen vom Handy ein.

Sie zuckte zusammen, als die Klappe mit einem Ruck aufsprang.

Wie immer war der Brief ohne Anschrift und Absender, und sie fragte sich zum wiederholten Male, wie ihr Bote es auch in der Vergangenheit stets geschafft hatte, die Nachrichten so in eines der Fächer zu bekommen.

Sie nahm das Kuvert, stieg zurück ins Taxi und wedelte unwirsch mit der Hand, als Zeichen loszufahren.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Fahrer nichts sehen konnte, öffnete sie den Umschlag und zog ein Fährticket für den nächsten Tag nach Dänemark heraus.

Das feine Lächeln vom Morgen huschte wieder über ihr Gesicht.

Es war nur ein Ticket für die Hinfahrt.

Es gab kein Zurück.

2

Paul stand noch etwas schläfrig auf dem Balkon und atmete intensiv die kühle Morgenluft, die frisch und unverbraucht vom Meer herüberströmte.

Von seiner Wohnung aus sah er über die flachen Dächer von Dierkow hinweg zum Turm der Petrikirche, auf dessen Kupferplatten sich das matte Licht der aufgehenden Sonne widerspiegelte.

Er genoss die Ruhe die noch über dem Viertel lag und nur ab und zu von dem schwermütigen Schrei einer Möwe durchbrochen wurde.

Langgezogen hallte er durch das Karree der Plattenbauten.

An seinem freien Tag hätte er lieber länger geschlafen, aber die Gedanken an das bevorstehende Treffen mit Katarina hatten ihm nun eine weitere unruhige Nacht beschert.

Noch am Abend zuvor hatte er für einen Moment daran gedacht alles abzusagen, doch die Leichtigkeit mit der Katarina ihn darum gebeten hatte, das Wochenende der Hanse Sail gemeinsam zu verbringen, verdrängte diesen Gedanken wieder sehr schnell.

Schon bei ihrer ersten Begegnung, wenige Wochen zuvor, war es ihm nicht gelungen sich ihrem Charme zu entziehen.

Er erinnerte sich an diesen Tag noch in allen Details, als Katarina für ein Meeting ihres Instituts einen Tagungsraum suchte und dabei auch das Hotel anfragte, in dem er als Verkaufsmitarbeiter arbeitete.

Länger als üblich führte er sie damals durch das gesamte Haus.

Als sie schließlich auf der Dachterrasse standen und er ihr ausführlich etwas über die Stadt und den Hafen erzählte, erwähnte er auch die bevorstehende Hanse Sail.

Zu seinem Erstaunen gestand ihm Katarina, dass sie zwar schon mehrere Jahre in der Stadt lebte, jedoch von dem Segelevent bisher kaum etwas mitbekommen hatte.

Und als sie sich ein paar Tage später zufällig in der Stadt trafen und er bei einem Kaffee weiter von den alten Seglern schwärmte, brauchte Katarina nicht viel, um ihn zu überreden sich die Sail gemeinsam anzuschauen.

Es wunderte ihn noch immer, dass er ohne zu zögern darauf eingegangen war.

Vielleicht war es ihre ungezwungene und dennoch fast elegante Art, die ihn so faszinierte.

Doch auch nach einem weiteren Treffen und längeren Telefonaten musste er sich eingestehen, dass er nicht viel mehr über sie erfahren hatte, außer, dass er mit seinen achtundvierzig Jahren nur ein wenig älter war als sie.

Er spürte die Distanz, die zwischen ihnen geblieben war, und je näher das gemeinsame Wochenende rückte, umso schwerer fiel es ihm sich selbst die Frage zu beantworten, wohin das alles führen würde.

So blieben ihm also die kommenden drei Tage, um darauf endlich eine Antwort zu finden.

Mehrfach hatte er alles durchgeplant, dann doch wieder verworfen, und hoffte nun einfach darauf, dass sich die Dinge schon irgendwie finden würden.

Einzig die Segeltour mit dem Schoner „Anouk“ hatte er fest gebucht.

Paul rasierte sich besonders gründlich und musterte sich für einen Augenblick im Spiegel.

Er wusste, dass man ihm sein Alter nicht unbedingt ansah, aber dass auch sein unruhiges Leben einige Spuren hinterlassen hatte.

Während er sich einen Grünen Tee kochte und frühstückte, las er nebenbei im Internet die aktuellen Nachrichten über die Stadt, die in diesen Tagen besonders üppig ausfielen.

Rostock würde wieder einen Rekord bei den Schiffsanläufen der Kreuzfahrtreedereien erreichen und seine Bedeutung als Standort für die Produktion von Windkraftanlagen weiter ausbauen.

Zur Hanse Sail erwartete man mehr als eine Millionen Besucher und der Wetterbericht sagte sonniges und warmes Wetter voraus.

‚Die drei bis vier Windstärken würden ideal zum Segeln sein‘, dachte Paul, und so nahm ihm diese gute Nachricht wenigstens etwas von seiner Nervosität.

Von seiner Wohnung bis ins Stadtzentrum war es nur ein kurzes Stück, doch viel früher als nötig fuhr er los und schaute immer wieder ungeduldig auf die Uhr.

Er stellte sein Auto in die Tiefgarage des Hotels und schlenderte langsam den Kiesweg zum Kanonsberg entlang, wo sie sich um zehn Uhr treffen wollten.

Die Minuten verrannen, jedoch konnte er Katarina zwischen den vielen Menschen, die zum Hafen gingen, nicht entdecken.

Und mit einmal kam es ihm wieder sonderbar vor, dass mit ihr alles so unkompliziert gelaufen war.

Er verspürte die aufkommenden Zweifel, aber er kam nicht dazu weiter darüber nachzudenken, denn plötzlich merkte er, wie hinter ihm jemand den Rhythmus seiner Schritte aufnahm.

Als er sich abrupt umdrehte, schaute er in das lachende Gesicht von Katarina.

Noch bevor er etwas sagen konnte, zog sie ihn an sich heran und küsste ihn auf die Wange.

„Da bin ich. Kann‘s losgehen?“

Paul fühlte sich vom intensiven Duft ihres Parfüms fast ein wenig benommen und brauchte einen Moment um zu reagieren.

„Na klar“, brachte er nur kurz heraus.

„Dann nimmst du mich so mit?“, fragte Katarina, schob ihre Sonnenbrille hoch und drehte sich einmal um sich selbst.

„Du siehst umwerfend aus“, sagte Paul, und sie schien ihm das als ehrliches Kompliment abzunehmen.

Ihr sandfarbenes Kleid hob sich leicht von ihrer gleichmäßig gebräunten Haut ab und bildete zu ihrem dunklen Haar und der weinroten Ledertasche einen harmonischen Kontrast.

Katarina folgte Pauls Blicken auf ihre flachen Schuhe. „Ich habe mir extra bequeme angezogen, denn bei dem Wetter und den Massen wird eine Wanderung durch den Hafen wohl eine Herausforderung.“

„Nun, ich bin mir sicher, dass dir alle Platz machen werden“, sagte Paul und machte dabei ein leichte Verbeugung.

„Es ist toll, dass du dir frei genommen hast und mich über die Hanse Sail führst“, sagte sie und nahm Pauls Hand. „Bin wirklich gespannt. Unser Labor hat nun auch erst mal Urlaubspause. Meine beiden Kollegen sind außer Landes. Janek will in den heimischen Bergen wandern und Tilda ist irgendwo an der Adria zum Tauchen. Ich werde nur faul am Strand liegen, lesen und ein paar Tage zu meiner Mutter fahren. Dies ist heute also ein perfekter Auftakt. Und danke, dass du so grandioses Wetter bestellt hast. Das warst du doch, oder?“

„Natürlich! Ich habe dir ja erzählt, dass ich unseren Gästen auch immer bestes Wetter verspreche. Haut wohl meistens hin, zumindest hat sich bei mir noch nie jemand beschwert.“

Katarina blieb nicht lange stehen, sondern zog Paul direkt auf den Aussichtspunkt, kletterte auf eine Kanone und verfolgte von dort das farbenprächtige Schauspiel der Windjammer an der Hafenkante.

Und während die Schiffe ihre ersten Passagiere aufnahmen und die Segel setzten, erzählte Paul ihr nebenbei etwas über die alte Befestigungsanlage und die Geschichte der Stadt.

Katarina hörte ihm zu und spürte seine Begeisterung, die ihr schon aufgefallen war, als sie auf der Dachterrasse des Hotels standen.

„Du magst die Stadt, nicht wahr?“, fragte sie unvermittelt und überraschte Paul damit.

Er brauchte einen Moment um zu antworten, denn er war sich nicht ganz sicher, worauf die Frage abzielte.

„Ich mag die Orte, an denen es Menschen gibt die ich mag. So wie diesen heute hier“, gab er lächelnd zurück und fühlte, dass sie mehr als diese Antwort erwartete.

„Aber ja“, fügte er schnell hinzu. „Rostock ist schon eine tolle Stadt. Hat doch eine beachtliche Entwicklung durchgemacht. Du erlebst es ja selber. Vor ein paar Jahren hätte niemand daran gedacht, dass in dieser Stadt einmal Spitzentechnologien entwickelt werden. Wie ich gehört habe, zählt euer Institut, mit dem was ihr macht, zu den führenden in der Welt.“

„Ja, schon“, sagte Katarina nachdenklich und sprang von der Kanone herunter. „Es stellt sich nur die Frage, inwieweit auch die Beteiligten davon profitieren.“

Paul sah sie erstaunt an und war sich unschlüssig, ob er sie richtig verstanden hatte.

„Du meinst euch als Mitarbeiter?“

„Ja“, sagte Katarina knapp, während sie die Segelschiffe fotografierte.

„Naja, vielleicht hast du recht. Es ist schon wichtig, dass alle gleichermaßen mitkommen, sonst färben uns die, die wir zurücklassen, auch noch ein“, sagte Paul schließlich unverbindlich und zeigte dabei auf die Graffiti an den neu gestalteten Anlagen.

Er wollte nicht den Hauch einer Unstimmigkeit aufkommen lassen und hielt ihr seine Hand entgegen.

Sie lächelte ihn an und ließ sich von ihm die Treppe herunterführen, wo sie sich plötzlich in dem großen Pulk von Menschen wiederfanden, die ebenfalls zur Festmeile drängten.

Sie schoben sich mit ihnen durch den Eingangsbereich und Paul zog sie danach sofort seitlich weg zu einem Getränkestand.

„Fast alles hier war bis zur Wende Grenz- und Sperrgebiet. Es ist immer noch ein eigenartiges Gefühl heute hier so unbeschwert rüberzugehen“, sagte er, nachdem sie sich einen Eiskaffee geholt hatten und an den Seglern entlangspazierten.

Paul erzählte weiter ausgiebig über die alten Kräne, den kohlenbefeuerten Eisbrecher und die Reste des Umschlaghafens, während Katarina ihm immer neue Fragen stellte, es sich jedoch auch nicht nehmen ließ, jeden Verkaufsstand ausgiebig zu inspizieren.

So brauchten sie für das Stück bis zum Werftdreieck fast zwei Stunden, und Paul stellte erleichtert fest, dass sein Zeitplan trotz des langsamen Fußmarsches aufgegangen war.

Als sie dort ankamen, kletterte Katarina kurzerhand auf den Sockel des Denkmals und riss die Arme hoch.

„Entschuldige, aber es ist einfach toll hier“, jubelte sie laut und stieg, nachdem sie sich einmal umgeschaut hatte, wieder herunter.

„So könnte mir das gefallen. Immer das Wasser vor der Nase und keiner kann dir den Blick verbauen. Außer, wenn ein Segler vor deinem Wohnzimmerfenster ankert“, sagte sie und zeigte auf die Schiffe, die direkt vor den Wohnungen angelegt hatten.

Paul war selbst darüber erstaunt, dass das Fahrwasser dort so tief war, dass auch Großsegler festmachen konnten.

Die hohen Masten ragten noch über die neuen Häuser hinaus.

Katarina zog ihn dorthin und Paul merkte, dass sie von der imposanten Atmosphäre wirklich beeindruckt war.

Sie setzten sich auf die unterste Stufe der langgezogenen Hafenterrasse und schauten dem Treiben auf dem Wasser eine Weile zu.

Katarina rückte mit einmal ein Stück näher an Paul heran, doch im selben Augenblick stand er auf und griff nach ihrer Hand.

Er merkte sofort, dass sie seinen plötzlichen Aufbruch anders deutete und hockte sich schnell wieder hin.

„Komm, ich habe eine kleine Überraschung für dich.“ Für einen Moment sahen sich beide in die Augen und Paul spürte Katarinas Verlangen, diese stimmungsvolle Atmosphäre am Wasser länger auskosten zu können.

Langsam zog er sie mit und ließ ihre Hand nicht mehr los.

Nur mit viel Mühe gelang es ihm, Katarina durch die Menschenmenge zu ziehen, bis sie ans Ende der Kaikante ankamen.

Hinter dem letzten Großsegler legte gerade ein kleiner Schoner an, und Paul schob Katarina direkt vor die schmale Gangway.

Katarina schaute noch auf den Bootsnamen und überlegte, was der Name „Anouk“ bedeuten könnte, als sie von einem brummigen aber freundlichen „Hallo“ begrüßt wurde.

„Ich bin Fritz, der Käpt’n. Freu mich, dich an Bord zu haben. Wir sagen übrigens immer ‚du‘ an Deck.“

Paul war schon über die Bordwand gesprungen und stand nun hinter dem Kapitän.

Beide lachten sie an und machten mit ihren Händen eine einladende Geste aufs Schiff zu kommen.

Katarina brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, und ging vorsichtig über die wackligen Stufen.

„Die Überraschung ist dir wirklich gelungen. Ich war noch nie auf so einem Dampfer“, sagte sie zu Paul und merkte, wie sich das Gesicht des Kapitäns etwas verzog.

„Tragen Sie, also du, mir das nicht nach. Ich bin, wie ihr sagt, eine Landratte und habe keine Ahnung, was das für ein Schiff ist, aber vielleicht kannst du mir da weiterhelfen?“

Fritz zog die Gangway ein und ging zum Vorschiff. „Na, erst mal sehen wie viel Windstärken du verträgst“, rief er dabei gutgelaunt übers Deck.

Sein Bootsmann hatte bereits die Vorderleine gelöst und Paul half die Achterleine mit an Bord zu nehmen.

„So junge Frau, nun komm mal ans Steuerrad, damit ich dir zeigen kann, wohin die Reise geht.“

„Später vielleicht, wenn wir auf dem Ozean sind und du Hilfe brauchst“, gab Katarina scherzend zurück.

Es waren noch ein paar Gäste an Bord, und Katarina und Paul gingen herum und begrüßten alle.

Paul lehnte sich anschließend an die Reling und war erleichtert, dass die Überraschung für Katarina gelungen war.

Die „Anouk“ legte sofort ab und schob sich langsam aus dem Hafenbecken.

Katarina verfolgte das Manöver aufmerksam und als sie merkte, dass die Urlauber an der Kaikante den Schoner als besondere Attraktion fotografierten, posierte sie aus Spaß und umarmte den Kapitän.

Auch sie hatte ihre kleine Kamera dabei und hielt alles fest.

Besonders die neu entstandenen Wohnungen schienen es ihr angetan zu haben, denn sie fotografierte sie aus mehreren Perspektiven.

„Gefallen dir die Wohnungen oder doch eher die Segler davor?“, fragt Paul und sah sie von der Seite an.

Sie ließ sich mit der Antwort etwas Zeit.

„Ich hatte immer von einer Wohnung am Wasser geträumt, aber es nie für möglich gehalten. Könntest du dir vorstellen, darin zu wohnen?“, fragte sie und merkte, wie ihn diese Frage verwirrte.

„Habt ihr ‘ne Prämie bekommen?“

„Nein, nein. Nur rein hypothetisch“, wehrte sie ab, aber Paul kam es so vor, als würde sie es nicht nur so dahinsagen.

Doch er kam nicht mehr dazu weiter nachzufragen, denn die dröhnenden Motoren eines startenden Wasserflugzeugs zogen die Aufmerksamkeit aller an Bord auf sich.

Katarina machte wieder ein paar Fotos und ehe Paul reagieren konnte, hielt sie den Apparat auch auf ihn.

„Ja, eine Wohnung mit Blick auf die Warnow wäre schon toll“, sagte er, während Katarina mehrmals den Auslöser drückte. „Ich glaube es gibt nichts Schöneres, als morgens aufs Wasser zu schauen und ein Schiff langsam dahingleiten zu sehen. Und ich werde sowieso lieber vom Möwengeschrei, als von einer Kirchenglocke geweckt. Wer träumt nicht davon? Obwohl ich auch schon Urlauber kennengelernt habe, die sich über die Möwen beschwerten. Sie seien zu laut, machen zu viel Dreck und klauen ihnen das Essen aus den Händen.“

„Was? Wirklich?“, fragte Katarina ungläubig.

„Ja, wirklich. In Warnemünde musste sogar ein Fütterungsverbot ausgesprochen werden. Nachdem die Möwen jahrelang von den Urlaubern praktisch Vollpension bekamen, fingen die Möwen an, dies auch einzufordern und schnappten sich schon mal einen Heringshappen aus den Händen der Leute. Möwen können richtig aggressiv werden und sie sind sehr schlau. Du brauchst nur was in die Luft zu schmeißen und ruckzuck sind sie bei dir. Viele werfen ihnen dann etwas zu, in der Hoffnung sie damit wieder los zu werden, ohne zu wissen, dass die Möwen dann erst recht bei ihnen bleiben und ständig auf mehr Futter warten.“

„Also, so wie de Lüd“, warf Fritz dazwischen. „Je mehr de bekommen, umso mehr wollen de auch haben, und nix dafür tun.“

Er hielt einen Holzkasten in der Hand und verteilte kleine Schnapsflaschen an Bord.

„Nun werden wir erst mal die bösen Seegeister vertreiben, sonst kommt vielleicht noch Sturm auf heute.“

Katarina öffnete den Verschluss, stieß mit ihm an und leerte sie in einem Zug.

Dann wandte sie sich zu Paul, der sein Fläschchen noch nicht geöffnet hatte. „Moment!“, rief sie Fritz hinterher. „Ich brauch noch eine.“

Fritz lachte und warf ihr noch eine zu.

Katarina drehte sie schnell auf und stieß mit Paul an.

„Danke, dass du das hier organisiert hast. Es ist wundervoll“.

Sie gab Paul einen Kuss, wobei er wieder etwas unbeholfen reagierte.

Sie schien nicht zu bemerken, dass Paul nur an der Flasche genippt hatte, aber er wollte es vermeiden überhaupt etwas zu trinken, um einen klaren Kopf zu behalten.

„Ich freue mich, dass es dir gefällt. Warte bis wir auf der Ostsee sind und du das Panorama von Warnemünde sehen kannst. Das ist einfach überwältigend.“

Wieder schauten alle einem Wasserflugzeug hinterher, welches laut klatschend auf den Wellen landete und an einem provisorischen Steg Gäste aufnahm.

„Hier war einmal eine der größten Fischfangflotten der Welt angesiedelt“, erzählte Paul weiter, als sie kurz darauf am Fischereihafen vorbeifuhren, und zeigte auf das kleine Hafenbecken mit seinen alten Fischhallen.

„Es stank hier immer nach Fischmehl. Den Geruch habe ich noch heute in der Nase. Stand der Wind ungünstig, zog das auch bis zum Werftgelände hin, dort wo heute die neuen Wohnungen stehen. Undenkbar, zu früheren Zeiten, dort zu leben. Nach irgendwas stank es damals immer in der Stadt, entweder kam es von der Fischfabrik oder vom Klärwerk.

Dort, wo während der Hanse Sail die Geschütze am Gehlsdorfer Ufer stehen, war früher die Rostocker Mülldeponie. Ständig brannte es dort und die Rauchschwaden zogen direkt über die Altstadt. Aber das ist alles Geschichte. Es ist schon unglaublich, wie schnell sich das Wirtschaftsprofil einer Stadt ändern kann. Gestern noch Schiffbau und Fischfang, heute Hightech-Forschung und Windenergie auf offener See.“

„Na mal sehen, wie lange die noch gebraucht wird“, lächelte Katarina vielsagend.

„Was meinst du? Windenergie? Das fängt doch erst richtig an. Mittlerweile ist das hier der Motor der Wirtschaft schlechthin. Fundamente für Offshore-Windkraftanlagen, riesige Kräne für Montageschiffe und Spezialschiffbau. Wir kommen nachher am Seehafen vorbei, da zeige ich dir ein paar Firmen, die sich hier niedergelassen haben.“

„Naja. Der Zeppelin erschien seinerzeit auch als das Transportmittel der Zukunft, und als die Welt dachte, die Technologie sei ausgreift, war sie im Prinzip schon wieder veraltet. Wer weiß was passiert, wenn in ein paar Jahren das letzte Rotorblatt montiert ist.“

Die Bestimmtheit ihrer Antwort irritierte Paul, aber er wollte das Thema auch nicht zu sehr vertiefen.

Und auch Katarina schien kein Interesse daran zu haben, weiter über die wirtschaftlichen Ambitionen der Stadt zu sprechen.

Sie rückte zwei Sitzkissen auf einer kleinen Bank zurecht und zog Paul zu sich.

Er sah sie an, während sie die Augen schloss und sich in die Sonne drehte.

Ihre schönen Gesichtszüge und ihr gleichmäßiger Teint beeindruckten ihn ein weiteres Mal.

Irgendwann hatte sie ihm erzählt, dass sie vor ihrer Arbeit am Institut für die Kosmetikbranche gearbeitet hatte, und im Stillen fragte er sich, ob sie wohl auch etwas gegen seine Augenränder tun könnte.