Keep on running - Lauf weiter - Lois Leland - E-Book

Keep on running - Lauf weiter E-Book

Lois Leland

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Beschreibung

„Ein kleines Mädchen, ein Kleinkind, spielt mit seinem Teddybären. Es drückt ihn an sich. Dann setzt sie ihn in der Zimmerecke ab und geht zur Tür. Dreht sich um. Sieht den Bären allein ebenda sitzen. Sie schaut ihn mitleidig an, geht zurück. Nimmt ihn auf. Herzt ihn. Setzt ihn wieder ab. Geht zur Tür. Dreht sich um. Geht zurück. Nimmt ihn in den Arm. Setzt ihn ab. Verlässt ihn. Geht zur Tür. Dreht sich um. Geht zurück. Immer wieder. Immer wieder.“ Soziale Ängste, Unsicherheit, Depressionen – sie alle liegen oft begründet in den Erfahrungen und den Erlebnissen, die einen geprägt haben, vor allem als Kind. Wie es gelingen kann, sich aus dem Strudel des Negativen zu befreien, davon erzählt dieses Buch.

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Inhaltsverzeichnis

Inhalt

I. MAMA – DIE SCHULE IST ZU

II. BILDERFLUT

III. WETTERLEUCHTEN

IV. DER WEG INS LICHT

CAST

Die Achterholts

Bei Baldus – Industriebetrieb und Lehrfirma von Kristina

Bei Andachnutt

In Rosenheim

Lois Leland

Keep on running – Lauf weiter

Ein sanfter Psychothriller

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2022 FRANKFURTER LITERATURVERLAG GMBH

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE GMBH

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

Websites der Verlagshäuser der

Frankfurter Verlagsgruppe:

www.frankfurter-verlagsgruppe.de

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Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

Titelbild: Marina Shatskih/Unsplash

Lektorat: Gerrit Koehler

ISBN 978-3-8372-2645-4

Inhalt

I. MAMA – DIE SCHULE IST ZU  5

II. BILDERFLUT  47

III. WETTERLEUCHTEN  72

IV. DER WEG INS LICHT  106

CAST  130

Die in diesem Roman agierenden Charaktere sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit bereits verstorbenen oder noch lebenden Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

I. MAMA – DIE SCHULE IST ZU

Am Abend vor meinem siebten Geburtstag rief mein Vater Steckerlfisch mich zu sich, schenkte mir meine erste Armbanduhr und erklärte mir die Zeit. Ich lief sodann nach draußen zum Spielen in den Wendekreis unserer Straße und zeigte den anderen Kindern, die dort spielten, meine Uhr und ließ sie bewundern. Später gab es dann Streit. Jedoch nicht wegen der Uhr. Aus einem anderen Grund gerieten wir in Streit. Ich spürte, dass die anderen mich in die Enge treiben würden, blickte auf meine Armbanduhr, auf der zwanzig vor acht war, und sagte: „Ich muss um Viertel vor acht zu Hause sein.“ Da ließen mich die anderen Kinder dann gehen. Walnuss packte schon seit Tagen Koffer und Kisten. Ich begriff, dass wir umziehen würden. Mein Vater Steckerlfisch packte nichts ein. „Kommt Papa denn nicht mit?“, fragte ich Walnuss. „Weißt du, dein Vater und ich verstehen uns nicht mehr so gut. Deshalb trennen wir uns. Deine Schwester Butterblume und du – ihr beide kommt natürlich mit mir.“ Sie sagte das alles sehr sachlich. Aber ich spürte, dass es in ihr brodelte. Am ersten Tag in der Großstadt ging ich auf den Hinterhof des grauen Mietshauses hinaus, in dem wir uns eine Zweizimmerwohnung teilten. Dort war eine große Wiese und später ein Abenteuerspielplatz. Als wir einzogen, hing jedoch nur ein Plastikseil von einer Teppichstange herab. Das war weit und breit das einzige Spielgerät. Ich setzte mich in die Schlinge des Seils und schaukelte. Dann kam ein Kind und sagte: „Bist du neu hier?“ Ich nickte. Das war mein erster Tag in der großen Stadt. Während der Zeit, als wir noch als vollständige Familie zusammen lebten, stiftete mein Vater Steckerlfisch meine vier Jahre jüngere Schwester Butterblume häufig dazu an, mich zu ärgern. Er ermunterte sie dazu, von meinem Schokoriegel abzubeißen. Als ich dasselbe bei ihr tat, bekam ich Druck von Steckerlfisch. Geschlagen hat er mich jedoch nur selten. Er konnte das ganz gut verbal. Es kam so weit, dass ich sogar dann Angst vor meinem Vater hatte, als er gar nicht anwesend war. Auch in der großen Stadt – nach der Trennung von Walnuss –, besuchte Steckerlfisch uns manchmal und brachte uns Kindern Geschenke mit, Fernsehcharaktere aus der Sesamstraße oder so. Er arrangierte das dann stets so, dass Butterblume den Helden und ich den Verlierer bekam. So bekam sie den Ernie, ich dagegen den Bert; sie die Biene Maja – ich den Willi. Manchmal gingen die Eltern mit uns in den Wald, wo wir gelegentlich Fotos machten. Steckerlfisch posierte gern mit Butterblume für das Familienalbum. Einmal sagte Walnuss: „Nimm Kristina doch auch einmal für ein Foto.“ Walnuss entstammte ursprünglich der gehobenen Mittelschicht. Ihr Vater – der alte Yorman – war nach dem Krieg in leitender Stellung beim Bundesvermögensamt tätig. Nebenbei arbeitete er gelegentlich als Dolmetscher. An Heiligabend spielte der alte Yorman Geige, und seine Frau, Mutter Yorman, und die beiden Töchter Walnuss und Heidemarie sangen dazu Weihnachtslieder. Für Walnuss’ Puppen gab es von Mutter Yorman selbstgestrickte Puppenkleider. An Sonntagen gab es zwei Koteletts. Eines davon bekam der alte Yorman. Von dem anderen Stück nahm Mutter Yorman den Knochen zum Abnagen. Sie hatte in ihrer Jugend davon geträumt, Archäologin zu werden. Und nun war sie eben dies: eine Knochenjägerin. Das mittlere Stück Fleisch wurde zwischen den beiden Töchtern aufgeteilt. Die Baumanns waren das genaue Gegenteil der konservativen und verklemmten Yormans, die sich für Bürgerliche hielten. Die Baumanns waren zwar zweifelsfrei und eindeutig proletarisch – dafür aber weltoffen. Amalia Baumann betrog ihren Mann mit den Busfahrern aller regionalen Buslinien in und um Feldham herum, einer Vorstadt von Münster, wo wir damals wohnten. Aber es kam selten vor, dass ihr Mann Haribert sie dabei erwischte. Wenn er sie jedoch erwischte und noch dazu in flagranti, konnte es vorkommen, dass die Fäuste flogen – und auch die Fernseher aus dem Fenster –, bis der Peterwagen kam. Meine Mutter Walnuss lernte meinen Vater Steckerlfisch beim Autoscooter auf dem Jahrmarkt kennen, Anfang 1966. Sie sah gut aus. Er sah gut aus. Und so kam es, dass sie sich ineinander verliebten. Dann kamen die ersten Petting-Annäherungsversuche auf dem Rücksitz seiner alten Ford-Karre, und recht bald danach dann mehr. Mutter Yorman warnte ihre Tochter, ja aufzupassen. Dass die Babys nicht vom Storch gebracht wurden, sondern von etwas anderem kamen. Steckerlfisch und Walnuss spielten das Spiel und schossen ein Tor. Unfreiwillig. Im Mai 1966 heirateten meine Eltern dann. Meine Mutter in einem schwarzen Kostüm. Ich kam im September 1966 zur Welt. „Das ist eine Yorman!“, soll mein Vater gesagt haben. Und während meiner ersten Lebensjahre stellte sich dann heraus, dass er mich, sein Kind, ablehnte. Nach Feierabend – er arbeitete damals noch regelmäßig als Handlungsreisender im Außendienst einer Bekleidungsfirma – stand er oft in seinem langen beigen Popelinemantel im Flur unserer Wohnung in Feldham vor mir. So groß und mächtig, dass ich mir noch kleiner vorkam, als ich es ohnehin schon war. Er beugte sich dann zu mir herab. Er hat mich nur selten auf den Arm genommen. Er hat mich am Boden abgefertigt. Einmal brachte er mir eine orangefarbene Taucherbrille mit, die ich in den Sandkasten auf der Wiese hinter unserem Haus mitnahm. Dort füllte ich sie mit Sand und leerte sie wieder aus. Immer wieder. So lernte ich schon im Alter von drei Jahren, extravagant zu sein. Meine Eltern fuhren zu jener Zeit manchmal mit mir – meine kleine Schwester Butterblume war damals noch nicht auf der Welt – in ein nahegelegenes Waldstück, wo meine Eltern spazieren gingen und mit mir spielten. Man konnte dort auch Ponys für Kinder mieten, aber die finanzielle Lage meiner Eltern war zu der Zeit bereits angespannt. Und deswegen konnten wir uns derlei Luxus nicht leisten. Auf dem Weg dorthin – ich saß meist hinter meinem Vater auf dem Rücksitz – malte ich mit Wachsmalkreide den Vordersitz von hinten an. Ich war wohl damals schon ein gestörtes Kind. Angst vor Strafe hatte ich dabei keine. Die Angst stellte sich erst ein, als mein Vater den Wagen im Wald geparkt hatte. Ich lief dann gleich weg. Mein Vater rief immer nach mir. Und so war es auch. Er hatte die beschmierten Sitze gesehen, und es gab Stress mit ihm. Trotzdem machte ich es immer wieder. Nun, meinte Filu, der Psychiater, ist das nicht merkwürdig? Die Angst kam bei Ihnen, Kristina, immer erst, nachdem Sie etwas angestellt hatten. Normalerweise hat man doch Angst, bevor man etwas Verbotenes tut, nicht wahr? Doch halt, ich werde doch erst später in die Handlung eingeführt. Sie, Kristina, kommen doch erst wesentlich später zu mir in die Praxis, nach Ihrem Weggang von Andachnutt, der großen Nutte. Mit etwa fünf Jahren bekam ich mein erstes Fahrrad. Die Sache hatte nur einen Haken: Das Fahrrad hatte keine Bremse. So kam es, dass meine Mutter hinter mir herlief und den anderen Kindern in der Straße zurief: „Haltet sie auf! Haltet sie auf!“ Ich hatte viele Unfälle. Einmal fuhren wir zu mehreren Kindern im Kreis auf einem Wendeplatz herum. Alle in eine Richtung. Nur ein Junge fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Und Sie können sich sicher schon vorstellen, was dann passierte. Dazu brauchen Sie nicht einmal besonders viel Phantasie! Die ablehnende Haltung meines Vaters mir gegenüber sollte sich ändern, sobald ich in die Schule kam. Denn dort stellte sich bald heraus, dass ich zu den besten Schülern gehörte. Dass ich einen brauchbaren Verstand hatte, imponierte meinem Vater. Fortan beachtete er und förderte mich, indem er mich in meiner Schullaufbahn bestärkte und mich anspornte. Schon während der Grundschulzeit plante er mit Walnuss Abitur und Studium für mich. Für mich war diese Fügung schulischen Erfolgs ein wahrer Glücksfall. Hatte ich doch nun endlich meine Existenzberechtigung innerhalb der Familie. Ich konnte dort überleben. Wäre es nicht so gekommen und hätte ich die Schule nicht gehabt, ich wüsste nicht, was aus mir geworden wäre. Wahrscheinlich wäre ich kriminell geworden und hätte Kaugummiautomaten geknackt wie einige Kinder aus der Nachbarschaft, um so die Aufmerksamkeit meiner Eltern zu erregen. Durch die Schule entstand ein Hauch Liebe zwischen mir und meinem Vater. Nein. Nicht Liebe. Man konnte es nicht Liebe nennen, aber Sympathie eben. Ich wollte nicht geliebt – ich wollte bewundert werden. Und mein Vater gab mir nun endlich die Anerkennung, nach der ich mich lange gesehnt hatte. Abitur sollte ich machen und dann studieren. Ich wusste nicht, was das genau war, aber mir gefiel die Art, wie er meine Zukunft plante. Für mich tat sich durch die Schule ein neues Gefühl auf, das ich vorher nicht gekannt hatte und das sich mit der Zeit immer mehr verfestigte: Verheißung nämlich. Jenes untrüglich auf die Zukunft eines Menschen gerichtete Gefühl, dass mir Zuversicht, mehr noch: die Gewissheit, gab, dass aus mir etwas werden würde. Von jungen Jahren an verkehrte ich in den Elternhäusern derjenigen Mitschüler aus den Dutzenden in der Schule, die ebenso hohen charakterlichen wie intellektuellen Ansprüchen genügten. Freilich ohne dass mir dies in meinen jungen Jahren bewusst war. Nicht berechnend wählte ich diese Spielkameraden aus. Die Kontakte ergaben sich mehr oder weniger intuitiv. Je mehr ich in diesen zudem meist recht wohlhabenden Häusern verkehrte, desto mehr wuchs in mir der Wunsch heran, es diesen Leuten gleichzutun. Sie waren von einer Ruhe und Gelassenheit, Eigenschaften, die so anders waren als Walnuss’ Art, die jeden Tag aufs Neue verbissen um jeden Groschen und jede Krume Brot kämpfte. Die Ehen dieser Menschen hielten meist, und die Sorglosigkeit, die diese Leute ausstrahlten, faszinierte mich. Mehr noch. Sie machte mich neidisch. Da gab es Obst zu essen und Fruchtsaft, und die Kinder durften sich auch selbst am Kühlschrank bedienen. Das auch außerhalb der regelmäßigen Mahlzeiten. Etwas, das es selbst bis in mein junges Erwachsenenalter hinein bei uns zu Hause nicht gab. Wir mussten immer fragen. Ich kann mich aber daran erinnern, dass Walnuss nicht immer so verbissen gewesen war. Aus meinen ersten Kindheitsjahren kannte ich sie als eine lebenslustige junge Hippie-Frau mit weichen Cordmänteln, in die ich mich hineinkuscheln konnte, und eine Mutter, die locker und verständnisvoll war. Doch die Jahre, in denen sie nach ihrer Scheidung von Steckerlfisch zunehmend in der Sozialhilfe stagnierte, ohne daran nachhaltig etwas ändern zu können, denn sie fand keinen Mann und Vater für uns, ließen sie zunehmend hart werden. Und dann war da kein Platz mehr für Schwächen, sei es für unsere oder für ihre eigenen. Steckerlfisch hat Walnuss schon vor meiner Geburt betrogen. Doch immer wieder schaffte er es, dass sie bei ihm blieb. Als ich noch klein war und es meine Schwester noch nicht gab, hatte er eine Zeit lang eine Beziehung zu Lisa Utz, einer jungen Verkäuferin aus einem Schreibwarenladen. Als ihn Walnuss daraufhin zur Rede stellte und ihm mit Scheidung drohte, nahm er sie in den Arm und küsste sie. Zärtliche Koseworte erklangen. „Ach was soll’s. Was die Utz kann, kann ich schon lange“, sagte Walnuss sich und gab sich hin. Walnuss wurde zum zweiten Mal schwanger, und an Scheidung war nicht mehr zu denken. Eines Tages rief bei uns zu Hause eine Frau an, die den Sohn meiner Mutter zu sprechen verlangte. Es stellte sich heraus, dass es Lisa Utz war. Sie erwartete ebenfalls ein Kind von meinem Vater. Ob Lisa Utz am Telefon nur so tat, als wüsste sie nicht, dass Vater verheiratet war, oder ob sie es tatsächlich nicht wusste, hat meine Mutter nie herausgefunden. Aber es war sehr verletzend für sie. So oder so. Im Herbst 1970, ebenfalls im September wie ich auch, kam meine Schwester Butterblume zur Welt. Ich war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Und so haben wir weiter Familie gespielt. Als ich fünf war, musste ich wegen einer Operation ins Krankenhaus. Seit meiner Geburt litt ich an einem muskulären Schiefhals. Der rechte große „Kopfnicker“ auf der rechten Halsseite war bei mir verkürzt, so dass sich mein Kopf zur rechten Seite neigte, was mir auf frühkindlichen Fotoportraits stets ein kesses, neckisches Aussehen verlieh. Nun sollte also diese Halssehne entfernt werden. Deshalb musste ich für zwei Wochen in die Klinik. Für mich waren diese zwei Wochen die Hölle. Zum einen, weil die erlebte Zeit für ein Kind nachweislich um ein Vielfaches länger ist als für einen Erwachsenen. Zum anderen, weil die Besuchszeiten Anfang der siebziger Jahre sehr restriktiv gehandhabt wurden. Meine Eltern durften mich nur zweimal in der Woche besuchen, mittwochs und samstags. Die Zeiten dazwischen kamen mir jedes Mal wie eine Ewigkeit vor. Mehr noch: Immer wenn meine Angehörigen gingen, hatte ich starke Ängste des Verlassen-Werdens. Ich glaubte, meine Eltern würden nicht wiederkommen. Doch sehr schnell fand ich heraus, dass jedes Mal, wenn ich weinte, die Krankenschwester mit einem Eis kam. Da waren noch zwei andere Mädchen im Krankenzimmer. Eines davon, die elfjährige Martina, die aufgrund eines Unfalls einen Schambeinbruch erlitten hatte, stieß schon einmal ihren Nachttisch gegen mein Bett, als ich gerade frisch operiert war. Walnuss und Mutter Yorman, die zu Besuch da waren und das mitbekamen, halfen mir nicht. Walnuss begründete dies später damit, dass sie und Mutter Yorman dachten, dass, wenn sie einschritten, Martina alles nur noch schlimmer machen würde. Filu sagte dazu: Und deswegen konnten Sie sich später in ihrem Leben nicht wehren, immer dann, wenn andere Menschen eine Grenze bei Ihnen überschritten. Sie blieben stumm, auch dann, wenn andere Sie noch so kränkten, Sie herumstießen, Ihnen Gemeinheiten antaten. Mama hatte im Leben alles immer nur hingenommen. Nie wehrte sie sich gegen das, was ihr angetan wurde. Sie hielt immer auch die andere Wange hin. Nie versuchte sie, etwas daran zu ändern. Zumindest war das in den frühen Jahren unserer Kindheit so. Walnuss lehrte mich auch, anderen Kindern gegenüber nachzugeben. Eines Tages hielt mir ein Mitschüler im Unterricht ein Messer an die Kehle. Ein anderes Mal brannte mein Schultisch. Selbst die Lehrer halfen mir nicht. „So sag doch etwas“, zischte mir eine Freundin zu. Doch ich konnte einfach nicht. Aber was sollte das? Immer wieder damals und auch während meines späteren Lebens machte ich die Erfahrung, das sich Nettsein nicht lohnt. Je netter man zu anderen Menschen ist, desto mehr kriegt man eins auf die Schnauze. Doch je mehr man sich wehrt und um sich schlägt, desto mehr bekommt man auf die Schnauze. Aber vielleicht meinten die Kollegen an den vielen Arbeitsplätzen, die ich später hatte, auch, dass es mir nicht zustand, die Schnauze aufzureißen, weil ich beruflich unfähig war. Mein Vater setzte uns Kinder manchmal gefährlichen Situationen aus. Er betrieb auch einen regelrechten „Sensationstourismus“ mit uns. So gingen oder fuhren wir mit dem Auto zu Schauplätzen von Unfällen und sonstigen Unglücksfällen, wann immer sich derlei Dinge in unserer näheren Umgebung ereigneten. Hatte es beispielsweise irgendwo gebrannt, waren wir vor Ort. Einmal erlebten wir, wie Feuerwehrleute eine verstörte ältere Dame noch im Morgenmantel aus ihrem aufgrund eines Kurzschlusses brennenden Bauernhaus am Stadtrand führten. Ein anderes Mal besichtigten wir einen ausgebrannten Reisebus auf dem Standstreifen einer in der Nähe vorbeiführenden Autobahn. Ich wette darauf, dass mein Vater auch mit uns in den Bus geklettert wäre, sofern dies möglich gewesen wäre. Doch es war Gott sei Dank nicht möglich. Allein die Vorstellung, dass in dem verkohlten Bus, der bis auf das Gestell heruntergebrannt war, Leute qualvoll umgekommen sein könnten, war für mein kindliches Gemüt schon zu viel. Das Schlimmste, an das ich mich jedoch erinnern konnte, war der Brand in einem alten Fachwerkhaus in der Innenstadt von Feldham, das in seinem Erdgeschoss eine Eisdiele beherbergte. Ein tragisches Unglück, bei dem drei Menschen starben. In einem Zeitungsbericht hieß es damals, der verschmähte Liebhaber der Ehefrau des Eisdielenbesitzers habe aus Rache das Feuer gelegt, indem er nachts den Inhalt eines Benzinkanisters dort ausschüttete, ansteckte und so den Tod der über der Eisdiele lebenden Familie des Eisdielenbesitzers verursachte. Obwohl er den Tod dreier Menschen aus Rachsucht in Kauf genommen hatte, so war in der Zeitung zu lesen, konnte man ihm in einem späteren Gerichtsverfahren den Vorsatz der Tötung mangels Beweislast nicht nachweisen. Er erhielt eine den Umständen nicht gerecht werdende vergleichsweise milde Haftstrafe. Zu mild, wie manche Bürger der Stadt fanden. Die Leute sprachen damals davon, dass bei dem Brand eine solch große Hitze entstanden war, dass selbst das Münzgeld in der Kasse der Eisdiele schmolz. Als Butterblume und ich gemeinsam mit Steckerlfisch einige Tage später an der Unglücksstelle eintrafen, hatte man schon mit dem Abriss des durch das Feuer baufällig gewordenen Hauses begonnen, von dem man wegen der Spurensicherung nur noch das untere Stockwerk hatte stehenlassen. Ich kann mich nebulös daran erinnern, dass vor den Überresten des Hauses Kisten ohne Deckel standen, in denen menschenähnliche Wesen lagen, die Köpfe wie Drahtgitter hatten. Bilder, die mich noch lange verfolgen sollten. Es handelte sich wohl allem Anschein nach um die entstellten Leichen der Hausbewohner, wie mir erst sehr viel später, im Erwachsenenalter nämlich, klar wurde. Während meiner Kindheit litt ich häufig an Albträumen, die mit Bränden und Feuer zusammenhingen. Einmal kam in einem solchen Traum vor, dass unsere Wohnung brannte, wir jedoch noch die Chance hatten zu entkommen. Walnuss, so träumte ich, weigerte sich aber mitzukommen. Sie wollte in den Flammen umkommen. Ich fand diesen Traum entsetzlich. Jahre später erzählte ich davon meinem Arzt Filu. Er schaute vor sich hin, wirkte nachdenklich. Dann sagte er:Woran denken Sie, liebe Kristina, bei dem Begriff „Feuer“? Nun, die Macht über das Feuer unterscheidet den Menschen vom Tier. So ist es doch, nicht wahr, gab ich zurück.Ja. Ich will jedoch auf etwas anderes hinaus, sagte Filu. Was bedeutet „Feuer“ noch? Ich überlegte. Dann sagte ich: Große Gefahr, Hitze, Verbrennen, Tod, qualvoller Tod. Wenn man nicht aufpasst und nicht richtig mit dem Feuer umgeht, meinte ich.Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass Feuer auch Leidenschaft bedeutet? Und Ihre Mutter in Ihrem Traum, konnte es nicht sein, dass sie, indem sie sich freiwillig dafür entschied, in dem brennenden Haus zu bleiben, sich für die brennende Leidenschaft entschied, auch wenn dies bedeutete, dass sie alles für diese Leidenschaft riskieren, ja opfern, wollte, alles, selbst ihr Leben?