Kein Leben ohne Minibar - Will Wiles - E-Book

Kein Leben ohne Minibar E-Book

Will Wiles

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Beschreibung

Wiles zeigt, welche Abgründe sich hinter den glatten Fassaden unserer modernen Welt auftun

Neil Double hat einen ungewöhnlichen Beruf: Stellvertretend für zahlungswillige Kunden besucht er Konferenzen und Messen. Dieses anonyme Leben zwischen Flughafenlounge und Hotelzimmer ist wie geschaffen für diesen eigensinnigen Einzelgänger, besonders die globale Hotelkette Way Inn hat es ihm angetan. Neils Welt gerät jedoch aus den Fugen, als er spätnachts an der Hotelbar auf die geheimnisvolle Frau trifft, der er schon einmal unter höchst bizarren Umständen begegnet ist. Bei ein paar Whiskys erzählt sie ihm von geheimnisvollen Vorgängen im Way Inn. Als die schöne Unbekannte plötzlich verschwindet, landet Neil auf der Suche nach ihr in einem aberwitzigen Alptraum, der ihn immer tiefer in die endlos labyrinthischen Flure des auf einmal gar nicht mehr so vertrauten Hotels führt.

Der neue Roman von Bestsellerautor Will Wiles ist eine packende Geschichte zwischen Horror, Spannung und britischem Humor.

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Seitenzahl: 425

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Way Inn« im Verlag Fourth Estate, an imprint of HarperCollinsPublishers, London.

Der Leitspruch von Jorge Louis Borges wird mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags zitiert.Jorge Luis Borges, Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen.Das Aleph. Übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, München 2000.

1. AuflageCopyright © 2014 by Will WilesCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015bei carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlag: semper smile, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-14679-5www.carlsbooks.de

Für Hazel und Guy, mit meiner Liebe

»Das Haus hat den Umfang der Welt, besser gesagt, es ist die Welt.«

JORGE LUIS BORGES, Das Haus des Asterion

ERSTER TEIL DIE MESSE

DAS DISPLAY DES Radioweckers zeigte die wenig erbauliche Zahlenfolge 6:12. Keine vier Stunden, nachdem ich ins Bett gegangen war, konnte ich auf einmal nicht mehr schlafen. Es war gestern spät geworden, weil ich noch in der Bar gewesen war. Und diese Frau wiedergetroffen hatte.

Abgesehen von den roten Leuchtziffern – 6:13 – war es stockfinster im Raum. Taghell dagegen stand mir vor Augen, dass ich meine Traumfrau wiedergesehen und sogar mit ihr gesprochen hatte. Mir schien, als wäre mein Gedächtnis jahrelang mit nichts anderem beschäftigt gewesen, als diese Frau aus dem Einerlei des Alltags herauszudestillieren. Unsere erste Begegnung war so bizarr gewesen, dass sie mir im Nachhinein vollkommen irreal erschien; vielleicht aber schmückte ich sie in der Erinnerung auch nur über die Maßen aus, um mir die flirrende Exotik dieser Traumgestalt zu bewahren. Und nun war sie plötzlich wieder leibhaftig aufgetaucht, in vollkommener Übereinstimmung mit ihrer idealisierten Version. Die Amazonenstatur, die blasse Haut, die roten Haare – auch in Fleisch und Blut hatte es noch etwas Unwirkliches an sich, dieses Idealbild einer Frau. Wenige Stunden nach unserem Wiedersehen kam es mir schon wieder wie ein Traum vor. Ein Traum, der mittendrin unterbrochen worden war … von Maurice. Maurice hatte mir alles verdorben.

Noch mal einzunicken schien ohnehin nicht ratsam. In einer Dreiviertelstunde würde der Wecker klingeln, und ich hatte wahrlich keine Lust, gleich am ersten Tag zu verschlafen und ohne Dusche und Frühstück zum Messegelände zu hetzen.

Das Hotelzimmer war gut geheizt, der Teppich weich und warm unter den Füßen. Es war unheimlich still, nur die Klimaanlage summte leise, und irgendetwas schwer Fassbares lag in der Luft, eine elektromagnetische Spannung, wie ein unterschwelliges Echo. Oder war es nur das Vibrieren des Trommelfells nach dem abrupten Aufschrecken aus dem Tiefschlaf? Draußen war es sicher kalt. Ich zog die Gardine auf, konnte aber nicht viel erkennen. Den dumpf orangefarbenen Widerschein der Autobahn unter einem düsteren Himmel, und am Horizont ein Blinken roter Lichter, das vage an eine Ölraffinerie erinnerte. Vielleicht der Flughafen – Radartürme, Funkantennen.

Ich knipste das Licht an. Mokkafarbener Teppich, würfelförmiger schwarzer Sessel, Schreibtisch mit Stuhl aus Chromstahl und Rattan, Flachbildschirm an der Wand und natürlich irgendein fades abstraktes Bild. Alles exakt wie in jedem anderen Hotelzimmer, in dem ich je gewesen war – austauschbar, vertraut, unverbindlich, keinem bestimmten Stil oder kulturellem Umfeld zuzuordnen. Anscheinend wurden die Farben in Hotelzimmern danach ausgesucht, wie sie in künstlichem Licht wirkten, denn die Geschäftsleute, die dort logierten, bekamen die Zimmer kaum je bei Tageslicht zu sehen. Dieses Prinzip galt dann wohl auch für die Kunst an der Wand. Wieder musste ich an die Frau in der Bar denken und daran, was sie über die Bilder gesagt hatte. Das unterschwellige Surren schien mir inzwischen ein bisschen vernehmlicher geworden zu sein – bestimmt war es die Klimaanlage oder die Minibar unter dem Schreibtisch. Es war ein wohltuendes Geräusch, geradezu beruhigend; ich war von hoch entwickelter Technik umgeben, die einzig und allein meiner Bequemlichkeit zu dienen hatte.

Die Dusche war erfrischend und half zumindest, die Müdigkeit zu ignorieren. Ich zog den Way-Inn-Bademantel über, ging ins Zimmer zurück und rubbelte mir mit dem Way-Inn-Handtuch die Haare trocken. Der Fernseher war an, zeigte aber lediglich die Grußformel, die mich bei meiner Ankunft gestern Abend empfangen hatte.

WILLKOMMEN MR. DOUBLE

Darüber prangte das Firmenlogo, ein geschwungenes W im offiziellen Rot. Ein Gruppenfoto von Way-Inn-Angestellten, oder auch Models, die Way-Inn-Angestellte darstellten, lächelte zu mir auf. Darunter waren Zimmerservice- und Pay-TV-Nummern aufgelistet. Die Empfehlung des Tages im Restaurant war gebratener Lachs. Das Wetter für heute und morgen: Nebel und Regen. Temperaturen knapp über null. Ich griff zur Fernbedienung und schaltete auf BBC-News 24.

Der Himmel hatte sich aufgehellt, aber die Aussicht war dadurch nicht besser geworden. Das dicke Lärmschutzglas tauchte die Landschaft in grünliches Aquariumslicht. Milchiger Nebel hüllte alles ein. Mein Zimmer im zweiten Stock blickte auf einen Parkplatz hinaus, dahinter ein Maschendrahtzaun, und hinter dem Zaun ein Baugelände, auf dem etliche Stapel orangefarbener Absperrungen und ein halbes Dutzend weißer Kleinlaster langsam im Matsch versanken. Ganz rechts verlief eine Straße entlang einer künstlich aufgeworfenen, mit kümmerlichem Unkraut bewachsenen Böschung, hinter der man die Lichter der Autobahn sah. Sie spiegelten sich auch in den wassergefüllten Reifenspuren, die all die Fahrzeuge in dem aufgeschürften Gelände hinterlassen hatten; unter dem Matsch wartete die trostlose Ödnis darauf, neu gestaltet zu werden: noch mehr Lampen, noch mehr Parkplätze, noch mehr Fensterfronten.

Manche Leute hätten diese Aussicht wohl deprimierend gefunden. Ich nicht. Was ich der Frau gestern in der Bar gesagt hatte, war die reine Wahrheit: Ich liebe Hotels. Ich liebe es, in einem Hotelzimmer aufzuwachen. Die Anonymität, die Austauschbarkeit, die Tatsache, dass dieses Zimmer praktisch überall sein könnte – gerade das, was andere bedrückt, bereitet mir Freude. Ich liebe Hotels, seit ich zum ersten Mal eines betreten habe.

Ich zog mich an und ließ mich dabei aus reiner Gewohnheit von den Fernsehnachrichten berieseln. Hatte ich sowieso alles schon mal gehört. Katastrophen aus aller Welt, zerquetschte Menschen, wehklagende Frauen irgendwo, wo es heiß war, ein amerikanischer Krankenwagen, kastenförmig, orange-weiß, alles irgendwie zu grell, in dem typisch amerikanischen TV-Stil. Dann wieder vertrautes britisches Bildmaterial, Blumen an einem Straßenschild, Tränen im Blitzlicht, Suche nach Augenzeugen. Die Nachrichtensprecherin blickte auf und schien für einen Sekundenbruchteil überrascht von der Kamera. Das Weltwetter. Eine Liste von Metropolen mit Zahlen daneben, kleine Piktogramme, die Sonne oder Sturm anzeigten, die Welt auf eine Datenreihe reduziert. Ich klappte meinen Laptop auf, und er erwachte zum Leben. Fett gedruckt sprangen die vielen ungelesenen E-Mails ins Auge. Manche für die Allgemeinheit bestimmt – Einladungen, Pressemitteilungen, Rundmails. Andere betrafen nur mich: Flug- und Hotelbuchungen. Weitere Meldungen, permanent auf den neuesten Stand gebracht, erwarteten mich in meinen Feedreadern. Für einen Moment war mir alles gegenwärtig, alles in Reichweite, aber dann fing das WiFi-Symbol an zu flackern, und die Verbindung brach ab. Ich klappte meinen Laptop zu. Der Fernseher war noch an – eine Palme peitschte im Wind, umtost von fliegendem Unrat, und prompt fiel die Kamera aus. Mist. Der Nachrichtensprecher blickte auf, sah mich eindringlich an und nannte mir die Anzahl der Toten. Ich klaubte meine Keycard aus dem Plastikhalter an der Wand, und das Zimmer erlosch.

Mein Spiegelbild, unendlich vervielfacht und zu einem gesichtslosen grauen Nichts aufgelöst an einem fernen, verbogenen Horizont.

Der Aufzug hielt, weich abgefedert. Meine unzähligen Spiegelbilder wandten sich voneinander ab. Die Tür glitt auf und offenbarte die hell erleuchtete Lobby und einen schmerbäuchigen Schnauzbart, der mich anstarrte, als könnte er es nicht fassen, dass ich seinen Aufzug benutzte.

»Sorry«, murmelte ich reflexartig und trat hinaus.

Im Aufzug hatte leise Musik gespielt, so leise, als ob sie gar nicht zum Hören gedacht wäre. Aber wenn man sie nicht hören sollte, wozu sie dann überhaupt spielen? Damit keine Stille aufkam vielleicht, um den Aufzugpassagier vor der Isolation zu bewahren, genau wie die Spiegel ihn mit einem unendlichen Heer an geklonten Gefährten versahen. Ich aber hatte die Musik gehört, und als die Tür aufging, fiel mir plötzlich ein, was es war: Jumping Jack Flash, in einer entfetteten Easy-Listening-Instrumentalversion.

Feuchte Polymere hingen in der Luft. Das Hotel war nagelneu, und die Chemikalien, mit denen die Polster und Teppiche imprägniert waren, gasten noch in der Lobby aus. Fabrikfrische Oberflächen strahlten unter Dutzenden von LED-Lampen. Es war ein langer, schlauchartiger Raum, der den Haupteingang mit einem der Innenhöfe verband. Diese Innenhöfe waren als Zen-Gärten gestaltet, ein leeres Viereck aus Bänken um eine nackte Kiesfläche, einem trüben kleinen Tümpel und ein paar kunstvoll angeordneten, runden Steinen, die dunkel und glitschig vom Regen waren. Ich habe schon in mindestens zwanzig Way-Inn-Hotels logiert, aber noch nie irgendwen in diesen Innenhöfen meditieren sehen. Sie dienen nur zum Rauchen. Aber das ist typisch für diese Hotels, alles ist zweckentfremdet – Meditationsgärten, in denen keiner meditiert, Sessel, in denen keiner sitzt, Schubladen, in denen nichts liegt außer einer Bibel, die man nicht liest. Ich frage mich, wer eigentlich diese Schuhputzautomaten benutzt.

Gegenüber von der Rezeption waren Tische auf Böcken aufgestellt, an denen PR-Blondinen ihres Amtes walteten. Leute in Business-Outfits und leise Unterhaltungen füllten den Raum zwischen den PR-Damen und den Hotelangestellten, die mit dem Einchecken der Gäste, Koffertragen, Lächeln, Zettelausteilen und Händeschütteln beschäftigt waren. Hinter der Glaswand zum Restaurant herrschte reger Betrieb. Auf einem Banner über den PR-Tischen stand zu lesen: HIERKÖNNENSIESICHANMELDEN.

Also gut. Ich schlenderte hinüber, selbstsicher, unerkannt, und fühlte mich wie zu Hause. Diese Momente des ersten Kontakts zwischen mir und dem anvisierten Event sind mir immer ein Genuss. Die Leute wissen noch nicht, wer ich bin, wozu ich hier bin. Ich aber weiß alles über sie.

Die Blondine strahlte mir über einem Laptop und einer Auslage identischer Broschüren entgegen. »Guten Morgen«, sagte ich und hielt ihr meine Visitenkarte hin. »Neil Double.«

Sie nahm die Karte, sah sie sich kurz an und tippte etwas in den Laptop. Obwohl ich ihren Bildschirm nicht sehen konnte, wusste ich genau, was sie vor Augen hatte – mein Foto und die persönlichen Daten, die schon vor einem halben Jahr in ein Online-Formular eingegeben worden waren. »Mr. Double«, sagte sie mit einem leicht spanischen Akzent, und ihr Lächeln war nun ein paar Grad wärmer. »Willkommen bei Meetex.«

Eine weiß kartonierte Zunge wand sich aus dem Drucker, der mit ihrem Laptop verbunden war. Mit routiniertem Griff riss sie die Karte ab, schob sie in eine Plastikhülle mit einem Trageband und reichte sie mir. »Die brauchen Sie, um im Messezentrum rein und raus zu kommen«, erklärte sie. Ich nickte und versuchte durch routinierte Gelassenheit zu vermitteln, dass ich die Prozedur schon oft durchlaufen hatte, allein dieses Jahr sicher schon ein Dutzend Mal. Sie aber redete immer weiter, unerbittlich darauf konditioniert, ihren einprogrammierten Text abzuspulen, nicht anders als der kleine Drucker, der vor ihr stand. »Hängen Sie die Karte am besten um den Hals – wenn Sie einem Aussteller Ihre persönlichen Daten hinterlassen wollen, können sie mit diesem Code hier eingescanned werden.« Ein QR-Code prangte mit dem üblichen kryptisch codierten Quadrat neben meinem Namen und dem meines nicht minder undurchsichtigen Arbeitgebers: NEILDOUBLECONVEX.

»Alles klar«, sagte ich.

»Einfach umhängen«, wiederholte sie fürsorglich und zeigte auf das Band, als könnte man diese dottergelbe Scheußlichkeit übersehen, auf der in fortlaufenden schwarzen Lettern METACENTREMETACENTREMETACENTRE stand.

»Alles klar«, sagte ich und stopfte die Karte in meine Jackentasche.

»Die Busse fahren viertelstündlich und halten direkt vor dem Eingang. Und hier noch Ihr Willkommenspräsent.« Sie händigte mir eine der Broschüren aus und strahlte mich an wie eine LED-Lampe.

Ich erwiderte das Lächeln. »Vielen Dank.« Ich meinte es sogar ehrlich. Es kann nie schaden, sich mit dem Personal gutzustellen. Vermutlich würde ich sie nie wiedersehen, aber sicher war sicher. Sie anzubaggern, wäre allerdings Zeitverschwendung – die Damen durften meist ihren Posten nicht verlassen und waren überaus eingespannt. Auch diese hier strahlte bereits den nächsten Kunden an, der hinter mir stand. Obwohl sie einen Stapel hässlich gelber Plastiktaschen zu vergeben hatte, bot sie mir keine an, was mich freute; offensichtlich konnte man mir ansehen, wie wenig Wert ich auf derlei windige Accessoires legte.

Frühstück gab es im Restaurant, das durch eine mobile Glaswand von der Lobby abgetrennt war. Flexible Raumaufteilung, nach Bedarf jederzeit neu konfigurierbar. Das Buffet war üppig mit Backwaren, aufgeschnittenem Obst und Getreideflocken bestückt. Glänzende Edelstahlcontainer schwitzten wie Roboter unter Volldampf. Auf etlichen Flachbildschirmen liefen Nachrichten ohne Ton, mit Untertiteln. Zeitgeschehen-Karaoke. Aus einer Kanne neben den Glaskaraffen mit Orangen-, Grapefruit- und Tomatensaft goss ich mir Kaffee in eine nicht eben großzügige Tasse und lud mir eine Aprikosen-Quarktasche und eine Handvoll Zuckertütchen auf den Teller. Dann begab ich mich auf die Suche nach einem Sitzplatz. Das Restaurant war halb voll, ringsum herrschte lebhafter Betrieb. Wenn ein Hotel mit Gästen aus aller Welt gefüllt ist, die alle an der gleichen Handelsmesse teilnehmen, kann das Frühstück alle möglichen diplomatischen Hürden bereithalten. Ich bin kein geselliger Typ, und beim Frühstück bleibe ich grundsätzlich lieber für mich. Doch so etwas fiel hier nicht weiter auf – das Stimmengewirr verschleierte die Tatsache, dass viele hier allein saßen und in ihre Laptops, Smartphones oder Zeitungen vertieft waren. Am ersten Morgen geht es meist noch ein bisschen steif zu, bevor die Leute sich für zwei, drei Tage anfreunden und spontane Allianzen bilden, so haltbar wie Kaugummiblasen. Trotzdem musste ich auf der Hut sein, dass ich keinen übersah, der mich wiedererkannte. Auf anderen Messen traf ich vielleicht ein-, zweimal im Jahr die gleichen Leute, aber diese hier war anders. Diesen Leuten hier begegne ich dauernd, überall; einige kenne ich allmählich, und schlimmer noch, sie kennen mich. Für meinen Job ist es wichtig, unverbindlich und ungebunden zu bleiben – das verstehen die Leute nicht. Sie sehen sich gern als »Gemeinschaft«, sie genießen es, »Beziehungen« zu pflegen. Keine Gemeinschaft schließt mich mit ein. Doch das kann ich niemandem erklären; besser, ich sage überhaupt nichts. Adam hatte mich angewiesen, mich möglichst unauffällig zu verhalten.

Während ich mich im Raum umsah, musste ich mir doch leicht geniert eingestehen, dass es mir nicht nur darum ging, all den Leuten höflich auszuweichen, sondern auch, die rothaarige Frau wiederzusehen. Aber ich hatte kein Glück. Sie war nicht im Restaurant.

Ich erspähte einen guten Platz – eine Reihe kleiner Tische an einer langen weißen Lederbank, ebenso passend für Gruppen wie für einzelne Gäste. Zwei Leute saßen dort, die ich wiedererkannte, und unsere Bekanntschaft war oberflächlich genug. Die Firma, die Phil hier vertrat, baute Scanner für Barcodes und QR-Codes. Ich hatte mich früher schon mal länger mit ihm unterhalten, um diese Art von Technologie besser verstehen zu lernen. Seine Begleiterin kannte ich nur flüchtig – sie hieß Rosa oder Rhoda, möglicherweise auch Rhonda, und arbeitete als Datenanalystin. Ich setzte mich und nickte ihnen zu – nicht zu freundlich, nicht zu reserviert. Sie lächelten zurück und fuhren mit ihrer leisen Unterhaltung fort. Hatten die etwa was miteinander? Phil war gut fünfzehn Jahre älter als Rosa/Rhonda, und der Trauring saß ihm wie festgeschweißt am Finger, aber das hieß noch gar nichts. Auf Messen scherte man sich nicht groß um Konventionen; es war mehr wie ein Karneval unter Businessleuten, bei dem die üblichen Hemmschwellen herabgesetzt und die gesellschaftlichen Grenzen durchlässig waren. Schlimmstenfalls konnte es da so exzessiv zugehen wie bei triebgestautem Wassergetier, das nur einmal im Leben in eine explosionsartige Verfolgungs- und Fortpflanzungswut gerät. Hinterher hockten die Beteiligten dann matt und satt im Zug oder Flieger heimwärts, und wenn sie die Brieftaschen zückten, dann nicht, um noch mehr Drinks, Austern oder Lapdance zu bezahlen, sondern um die Fotos ihrer Kinder wieder nach außen zu drehen. Was in Vegas, Mailand, Shanghai oder Luton passierte, das blieb auch dort, gut aufgehoben wie die munteren Herrschaften in ihren Way-Inns, Hiltons, Sofitels, wo vorurteilsfreie, gesichtslose Arbeitsbienen ihre Bettwäsche wechselten.

Doch die Körpersprache zwischen Phil und seiner Begleiterin schien meine Vermutung nicht zu bestätigen. Während ich so tat, als blätterte ich in der Infobroschüre, beobachtete ich die beiden aus dem Augenwinkel – und ich bin natürlich sehr geübt darin, Leute unauffällig zu beobachten. Es gab keine verstohlenen Berührungen, keinerlei vielsagendes Lächeln. Sie gingen freundschaftlich locker miteinander um und redeten über Geschäftliches – Datenerfassung, Gesichtsscanner, RFID-Systeme, Technologien zur Auffindung gelöschten Datenmaterials. Nichts davon widersprach dem, was ich bereits von ihnen wusste.

Da ich ohnehin schon das Messeprogramm vor mir liegen hatte, beschloss ich, ihm auch mal ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen und mir zu überlegen, was der Tag für mich bereithielt. Einige Punkte auf der Tagesordnung wurden von meinen Klienten als verpflichtend angesehen – Alltagskost wie »Tagungen in Zeiten des Sparzwangs« und »Aufkommende Bedrohungen für die Messeindustrie«, aber es war auf jeden Fall sinnvoll, ein paar weitere Veranstaltungen zu besuchen, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Niemand erwartete einen umfassenden Bericht von jeder einzelnen Veranstaltung – es gab drei Messehallen verschiedener Größe im MetaCentre, in denen gleichzeitig Vorträge stattfanden, und dazu noch etliche Nebenveranstaltungen in eigens dafür vorgesehenen Räumlichkeiten des Hotels. Alles, was ich brauchte, war eine Kostprobe, die ein bisschen über das absolute Minimum hinausging. »Fallstrick oder Sprungbrett: Messestandort und Vertragsbindung.« Bindung unbedingt vermeiden, sagte ich mir. »China hautnah: Eventmanagement im Fernen Osten«. Das klang schon verheißungsvoller. Womit ich nicht meine, dass ich erwartete, es interessant zu finden. Ich bin nur als Beobachter hier. Was mich interessiert, ist nicht unbedingt das, was meine Kunden interessant finden. Die Vorträge auf solchen Messen sind nämlich fast immer furchtbar langweilig. Wenn es nicht so wäre, hätte ich keinen Job. Und gerade der langweilige Aspekt dieser Veranstaltungen ist das, was mich daran fasziniert. Ich sauge alles auf wie ein Schwamm, langweilige Hotels, langweilige Frühstücke, langweilige Leute, langweilige Vögeleien, langweilige Vorträge und Produktpräsentationen, und dann … berichte ich. Diese Leute, die um mich herumsitzen, diese Leute, deren Aufgabe es ist, die Messen zu planen und zu organisieren, auf denen ich mein Leben verbringe – wenn sie wüssten, was ich da tue und was ich persönlich von ihrer Tätigkeit halte, wären sie bestimmt nicht sonderlich erfreut.

Ein Büschel Plastikfolie ragte aus einer Fuge an der Unterseite meines Tisches. Er war wohl gerade erst frisch ausgepackt. Chemiedunst stieg von der weißen Lederbank auf, nur leicht überdeckt von den Frühstücksdüften. War es echtes Leder oder Kunstleder? Die Weichheit der Textur, die übergroße Schmiegsamkeit fühlte sich künstlich an, extra dazu entworfen, beste Lederqualität nachzuahmen, ohne sie zu besitzen, aber so genau konnte ich das auch nicht unterscheiden. Neu war es auf jeden Fall. Alles neu für ein neues Hotel. Unzählige identische Stühle und Tische in unzähligen identischen Hotels. Es ist echtes Big Business, all diese Tische und Stühle herzustellen, all die Quadratkilometer an Teppichboden, die da angeboten und gekauft werden – diese Messen besuchte ich natürlich auch. Wenn das Leder echt war, müsste die Ausstattung all der zahllosen Way-Inn-Hotels ein gigantisches Rindersterben bedeuten. Doch ich erinnerte mich, was die Frau über die Bilder in der Bar gesagt hatte, und stellte mir stattdessen eine einzige Riesenhaut von einem einzigen unendlichen Tier vor …

Sie hatte die Bilder fotografiert. Es war spät gewesen, schon nach Mitternacht, und ich hatte noch schnell etwas trinken wollen, bevor ich auf mein Zimmer ging. Einer von der Nachtschicht servierte mir meinen Whisky und ging zurück in die Halle, wo er sich leise mit dem Kollegen an der Rezeption unterhielt. Ich hatte bemerkt, dass ich in der abgedunkelten Bar nicht allein war, ohne mich weiter darum zu kümmern. Was mich aufblicken ließ, war der Blitz ihrer Kamera. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, zu ihr hinzuschauen, weil ich wusste, dass ich sie schon einmal gesehen hatte – und viel zu müde für die subtileren Formen der Höflichkeit, ließ ich die Chance verstreichen, sie unbemerkt zu beäugen; sie blickte vom Display ihrer Kamera auf und ertappte mich.

Wir hätten uns schon mal getroffen, sagte ich – na ja, nicht direkt getroffen, aber ich hätte sie schon mal gesehen. Sie erinnerte sich an den Vorfall. Wie hätte sie so etwas vergessen können? Natürlich war ich ihr als bloße Randfigur damals nicht weiter aufgefallen, und ich erwartete auch keine Entschuldigungsfloskel dafür, dass sie mich nicht erkannte; aber ich fand es doch etwas bizarr, dass sie keinerlei Erklärung dafür anbot, was da nun eigentlich passiert war. Dass sie die Sache einfach so auf sich beruhen ließ, brachte das Gespräch auf irgendwie beklemmende Weise zum Stocken, also wechselte ich lieber das Thema und fragte sie, warum sie die Bilder fotografierte.

Bloß so ein Hobby, sagte sie. Die Bilder hingen überall im Hotel – in den Zimmern, im Restaurant, in der Lobby, in der Bar. Und so sei es in jedem Way Inn, lauter Variationen eines abstrakten Musters: netzartig verflochtene, schoko- und kaffeefarbene Wellenlinien und gerundete Formen, einander überschneidende Kreise, Bögen, Tangenten, alles undurchschaubar und auf nichts verweisend. Ich hatte sie noch nie richtig wahrgenommen – sie waren nicht zum Anschauen da, sondern nur dazu, Leerräume zu füllen, ohne abzulenken oder zu stören. Eine Art Pseudokunst, die am besten wirkte, wenn sie schmückte, ohne aufzufallen. Sie sollte nur zeigen, dass jemand sich um die Wände gekümmert hatte, damit der Hotelgast davon unbehelligt blieb. Nun, da sie meinen Blick darauf lenkte, sah ich, dass sie recht hatte – die Bilder waren allgegenwärtig. Wie viele insgesamt? Als sie anfing, es mir vorzurechnen, konnte ich es kaum glauben.

»Tausende«, sagte sie augenzwinkernd, als vertraute sie mir ein pikantes Geheimnis an. »Zehntausende. Das Way Inn hat mehr als fünfhundert Filialen weltweit. Keine hat weniger als hundert Zimmer. In jedem Zimmer hängt mindestens ein Bild. Dazu noch die Gemeinschaftsräume. Bars, Restaurants, Fitnesscenter, Business-Suiten, Konferenzräume, und natürlich die Flure … Es könnten hunderttausend Bilder sein. Wenn nicht noch mehr.«

Ich konnte ihr nachempfinden, wieso sie sich so gern über diese Größenordnungen ausbreitete – es war ja auch schier unfassbar. Wo kamen die Bilder her? Wer malte sie? Für Möbel, Teppiche, Beleuchtungskörper gab es Fabriken – aber für Kunst? Es waren ja keine Drucke; man sah die Pinselstriche auf den Farbflächen. Jedenfalls war es viel zu viel Arbeit für einen einzelnen Maler.

»Es gibt keinen Maler«, sagte sie, »nicht in dem Sinne. Es ist ein industrieller Prozess. Eine riesige Leinwand, die über ein Fließband rollt. Dann wird sie in Stücke geschnitten und gerahmt.«

Sie zeigte mir die anderen Fotos auf ihrem Display, und das rhythmische Blip-blip-blip ihrer Memory Card begleitete ihre Ausführungen. Sie war sehr groß, größer als ich mit meinen eins zweiundachtzig, und ihre roten Haare fielen mir fast ins Gesicht, während sie sich in eigenartiger Intimität über mich beugte. Die Bilder schnippten in schneller Reihenfolge vorbei, sehr hell im Halbdunkel der Bar. Immer die gleichen neutralen Farben. Die gleichen verschwommenen Rundungen und Formengebilde. Psychedelische Sepiatöne. Ein einziges riesiges Endlosgemälde, das wie Teigmasse übers Fließband rollte, um in exakte Rechtecke gestanzt, gerahmt und an die zahllosen Wände eines Hotelkonzerns gehängt zu werden … Schon irgendwie trostlos.

»Warum?«, fragte ich. »Warum etwas sammeln, das auf die Weise zustande gekommen ist? Was ist daran so interessant?«

»Nichts. Vom einzelnen Bild her betrachtet überhaupt nichts. Man muss den Gesamtzusammenhang sehen.«

»Na, spät geworden gestern?«

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich merkte, dass die Frage an mich gerichtet war, und zwar von Phil. Seine Unterhaltung mit Rosa (oder Rhonda) war zum Erliegen gekommen. Sie tippte konzentriert auf ihrem Smartphone herum. Weder lesend noch lauschend war ich in einen Stand-by-Modus gerutscht und ins Träumen geraten.

Ich versuchte mich zusammenzureißen. »Einigermaßen«, gab ich zurück. »Habe erst um Mitternacht eingecheckt.« Und dann hatte ich mich mit der Frau unterhalten – wie lange wohl? –, bis Maurice dazwischenfunkte und mich noch länger aufhielt. Fensterlose Hotelbars, von denen aus man es nicht weit zum Bett hat, lassen einen schnell die Zeit vergessen.

»Ich bin seit gestern Morgen da«, sagte Phil. »Wir stellen aus, da hat’s natürlich bis zuletzt noch jede Menge Stress gegeben … Bin selber erst spät ins Bett gekommen. Aber tipptopp geschlafen. Hast du ein gutes Zimmer?«

Ich bejahte. In Wirklichkeit ist es mir völlig schnuppe, ganz so, wie die anonymen Hoteldesigner es vorgesehen haben. Gleichgültig ist gut genug. »Es ist ja ein nagelneues Haus.« Immer die gleichen Gesichter, der gleiche Smalltalk. Leute wie Phil – harmlos, ohne besondere Eigenschaften, allein schon der Name die Quintessenz von Normalität. Einmal hatte ich einem Phil gegenüber durchblicken lassen, er habe die Art von Namen, den ein Kind bekomme, wenn alle anderen schon vergeben seien. Er fand das nicht lustig und meinte, das könne man von meinem Namen, Neil, ja wohl genauso sagen.

Phil verdrehte die Augen. »Viel zu neu für meinen Geschmack. Wie bei diesen Gruselgeschichten von Ferienhotels, wo die halben Wände fehlen und das Fitnesscenter noch voller Zementmischer steht.«

Auf mich machte das Hotel einen ausgezeichneten Eindruck – neu, das ja, aber voll funktionstüchtig, als wäre es schon seit Jahren in Betrieb. »Gibt’s hier ein Fitnesscenter?«

»Keine Ahnung«, sagte Phil. Er spießte einen rotzgrünen Melonenschnitz mit der Gabel auf, besann sich dann eines Besseren und ließ ihn auf dem Teller liegen. »Aber die Fußgängerbrücke gibt es ganz sicherlich nicht, die ist nämlich noch nicht fertig. Das Hotel ist fertig, das Messezentrum ist fertig, aber die verdammte Brücke, die sie verbinden soll, die ist noch im Bau. Deswegen muss man hier den Bus nehmen, um zur Messe zu kommen.« Wieder wurde der Melonenschnitz vom Teller gelupft, und diesmal verschwand er in Phil, der mich beim Kauen enttäuscht ansah.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte ich und tippte auf das Informationsmaterial vor mir, das einen Lageplan der Messehallen enthielt, so übersichtlich aufgereiht wie die Icons auf einem Desktop. »Das Messezentrum ist nur zwei Minuten von hier entfernt, und man muss trotzdem den Bus nehmen?«

»Weil eine breite Autobahn dazwischenliegt«, nickte Phil. »Und die muss man halt erst umfahren. Gestern haben wir den halben Tag lang im Bus gehockt oder auf den Bus gewartet.«

»Wie öde«, sagte ich. Und freute mich schon drauf. Diese Art von Langeweile gehört einfach dazu, und wenn sie doch einmal überhand nimmt, finde ich immer irgendeine nette Ablenkung. In diesem Fall war es Rhoda, Rosa oder wie sie heißen mochte; sie pickte immer noch auf ihrem Smartphone herum, aber mit sichtlich nachlassendem Enthusiasmus, wie ein Raubvogel, der allmählich die Lust an seiner toten Maus verlor. Kurze Haare, niedliche Stupsnase – wirklich hübsch, die Kleine, und ich konnte mich vage erinnern, ihre Gesellschaft schon bei anderer Gelegenheit genossen zu haben. Wenn man anstehen oder in Bussen herumsitzen musste, dann am besten in ihrer Nähe. Sie spürte meinen Blick und sah auf, mit einem kleinen, vorsichtigen Lächeln.

Hinter Rosa schlurfte eine vertraute Gestalt in Richtung Frühstücksbuffet. Maurice. Ein Wunder, dass er um die Zeit überhaupt schon auf war. Der Rücken seines beigen Sakkos war eine einzige Knautschzone. Er trug noch dieselben Klamotten wie gestern, gewahrte ich zu meinem Entsetzen. Hoffentlich hatte er wenigstens geduscht. Aber vielleicht würde er ja nicht herkommen, vielleicht würde er sich heute an jemand anderen hängen. Er nahm ein Teilchen aus dem Korb, schnüffelte dran und legte es wieder zurück. Eine Kaffeetasse und ein Teller balancierten schrecklich schief in seiner Linken. Mein fasziniertes Starren brachte Rosa dazu, sich nach ihm umzudrehen – und genau in dem Moment sah Maurice auf und entdeckte uns. Wahrscheinlich machten wir einen einladenden Eindruck, denn er wirbelte zu unserem Tisch wie eine Windhose aus Sperrmüll. Trotz seiner – unserer – kurzen Nacht glänzte er vor Munterkeit und Schweiß.

Ich gestehe es ungern, aber Maurice und ich sind gewissermaßen Kollegen. Was wir tun, ist nicht das Gleiche. Wir sind nicht gleich. Wir sind lediglich Teil des gleichen Ökosystems, so wie ein Unterseeboot mit Jacques Cousteau an Bord sich im gleichen Ökosystem aufhält wie eine Seegurke. Maurice war als Reporter für ein Wirtschaftsmagazin von Messe zu Messe unterwegs, also trafen wir uns immer wieder in den gleichen Ausstellungshallen, Vortragssälen, Hotels, Bars, Restaurants, Bussen, Zügen und Flughäfen. Und in all diesen vielfältigen Rahmen agierte er stets als Chaot, betrank sich, verlor sein Gepäck, vergaß seinen Pass, schnarchte in Zugabteilen. Nachdem wir uns so oft über den Weg liefen, hatte Maurice den Eindruck gewonnen, er und ich wären Freunde. Aber da irrte er sich gewaltig.

»Morgen, Morgen allerseits«, strahlte er, setzte seinen Kaffee und den Teller voller Backwerk ab und nahm mir gegenüber Platz. Ich lächelte ihm zu; was auch immer ich über ihn denken mochte, so innig ich mir auch wünschte, er möge mich in Ruhe lassen, wollte ich ihn doch nicht vor den Kopf stoßen. Er war zwar eine Nervensäge, aber keine Bedrohung.

»Bin wirklich froh, dich hier unten zu sehen, alter Knabe«, sagte Maurice, was ihn nicht daran hinderte, gleichzeitig Kaffee zu schlürfen und in ein Croissant zu beißen. Krümel flogen. »Habe mir gestern schon Sorgen um dich gemacht. Du bist so schnell ins Bett verschwunden, ich dachte fast, du überlebst die Nacht nicht, Alter.«

»Ich war müde«, entgegnete ich knapp.

»Oder«, zwinkerte Maurice und rückte mir unangenehm dicht auf die Pelle, »du hattest es eilig, das Zimmer von dieser netten jungen Dame zu finden!« Er lachte begeistert über seinen eigenen Witz, ein heiseres, rasselndes Raucherlachen.

»Ach was«, sagte ich. Frotzeleien sind nicht so mein Ding. Woher nahm man die Fähigkeit, sich mit freudigem Elan an völlig sinnlosem Wortgeplänkel zu beteiligen? Vermutlich wurde es einem durch entsprechende väterliche Zuwendung und engmaschige Gruppendynamik im Arbeitsumfeld antrainiert, aber darin hatte ich wenig Erfahrung. Auf Messen sah ich ständig, wie alte Bekannte sich wieder begegneten, und was sie dabei für einen albernen Zirkus aus Schulterklopfen, Rippenpüffen, Verbalinjurien und Anzüglichkeiten aufführten.

»Was für eine nette junge Dame denn?«, mischte Phil sich ein, sichtlich belustigt über meine verlegene Miene. Rosas/Rhodas Miene war weniger leicht zu durchschauen: peinlich berührt bis angewidert? Enttäuscht, eifersüchtig gar? Ich hoffte, es wäre Letzteres, allein schon von der Möglichkeit beglückt.

»Neil hat da gestern in der Bar so eine Zuckerschnecke angebaggert …« Maurice hielt inne, die Hände in dramatischer Mea-culpa-Geste erhoben, und wandte sich an Rosa: »… Entschuldigung, eine Frau kennengelernt, wollte ich sagen.«

»Herrje, Maurice.« Kopfschüttelnd sah ich zu Rosa und Phil. »Ich hab gestern zufällig eine Bekannte getroffen und mich mit ihr unterhalten, als Maurice aufkreuzte. Natürlich hat sie bei seinem Anblick sofort Reißaus genommen.«

Maurice schmunzelte. »Na, ich weiß nicht, du hast jedenfalls ganz schön hingerissen ausgesehen. Tut mir leid, wenn ich dir die Tour vermasselt habe.«

»Herrgott, Maurice, jetzt mach aber mal ’nen Punkt.«

»Du lässt dir wohl nicht gern in die Karten gucken, Neil«, feixte Phil.

»Es war nur eine Bekannte«, unterstrich ich noch mal eigens für Rosa/Rhoda.

»Sicher, sicher«, sagte sie und stand auf, das Smartphone gezückt wie eine Nur-weg-von-hier-Freikarte. »Entschuldigt mich.«

»Wie heißt sie denn eigentlich, deine Bekannte?«, wollte Maurice wissen.

Mir wurde mulmig zumute. Ich wusste nicht, wie sie hieß. Gegen jede Wahrscheinlichkeit war ich der einzigen wirklich bemerkenswerten Person wiederbegegnet, der einzigen von all den Tausenden, die ständig meinen Weg kreuzen, und hatte es doch glatt versäumt, mich ihr vorzustellen oder nach ihrem Namen zu fragen. Ich hatte unser nächstes Wiedersehen dem Zufall überlassen, obwohl ich die Chance gehabt hätte, unserer flüchtigen Bekanntschaft eine dauerhafte Basis zu geben. Als Maurice in der Bar auftauchte, war es mit der momentanen Vertrautheit zwischen uns vorbei gewesen, noch ehe ich sie zu meinem Vorteil hätte nutzen können. Und jetzt konnte ich Maurices Frage nicht beantworten. Sicher war ihm mein Zögern nicht entgangen.

»Dann könntest du nämlich bei den Organisatoren der Messe eine Nachricht für sie hinterlassen. Die machen sie bestimmt ausfindig.«

»Sie ist nicht der Messe wegen hier«, gab ich zurück, erleichtert, seiner Fragerei endlich ausweichen zu können.

»Nicht der Messe wegen hier?« Maurice riss verdutzt die Augen auf. Sein Mienenspiel wirkte immer gnadenlos übertrieben. Nur wenn er sich unbeobachtet wähnte, blickte er stumpf und ausdruckslos vor sich hin. »Da ist sie aber wohl die Einzige im ganzen Hotel! Du lieber Gott, aus welchem Grund kann man sich hier denn sonst noch rumtreiben?«

»Sie ist bei Way Inn angestellt.«

»Ach so, Zimmermädchen?«, grinste Maurice, und Phil wieherte kurz auf.

Ich lächelte nachsichtig. »Sie hilft der Firma, Standorte für neue Hotels zu finden – vielleicht überprüft sie hier gerade das Resultat.«

»Also ist sie die Schuldige«, meinte Phil. »Sucht sie immer so triste Orte am A. d. W. aus?«

»Ich denke, das Messezentrum und der Flughafen haben auch was damit zu tun.«

»Aha, ja, ja«, ließ Maurice sich vernehmen. Ohne Vorwarnung duckte er sich plötzlich unter den Tisch und fing an, in seiner Aktentasche zu kramen. Als er wieder auftauchte, hielt er ein verknittertes Magazin in der Hand, aufgeblättert an einer Stelle, die mit einem Haftzettel markiert war. Es war das Summit, Maurices Arbeitgeber, und den Artikel über das Messezentrum, den er uns stolz präsentierte, hatte er selbst verfasst. MASSENZIRKUSMESSE, lautete der Titel.

»Ich bin schon mal hier gewesen, als es sich noch im Bau befand«, erklärte Maurice und tippte auf das Foto, das eine Luftaufnahme vom MetaCentre zeigte, eine weiße Raute, umgeben von viel brauner Erde und gelben Bauwagen wie wimmelnden Läusen. »Bin da schon überall im Schutzhelm rumgestapft. Es ist riesig. 115 000 Quadratmeter Grundfläche, 15 000 mehr als das ExCel Centre. Tausende von Jobs und ein Katalysator für Tausende weitere. Wirtschaftswachstum im Turbogang.«

Ich hörte noch die sanfte Stimme meiner nächtlichen Barbekanntschaft: Unternehmenskultur der Superlative, Chancenoptimierung, Entwicklungsschub … dieser einlullende Singsang. Ich sehnte mich in mein Zimmer zurück.

»Hast du da auch schon hier gewohnt?«, fragte Phil.

»Nee, bin noch am selben Tag zurückgeflogen. Das Haus hier ist doch nagelneu. Wurde erst vor ein, zwei Wochen eröffnet, extra für die Messe.«

»Heißt es jedenfalls«, murmelte ich, nur um mich auch mal wieder zu beteiligen, da man der Konversation im Moment doch nicht entkommen konnte, dieser unentwegt klappernden Geselligkeitsmühle, die am laufenden Band leere Worthülsen produzierte. Während Phil sich noch einmal über den unvollendeten Zustand der Fußgängerbrücke und unsere tragische Abhängigkeit von Bussen ausließ, widmete ich mich weiter meinem Frühstück. Maurice nahm die Nachricht von den Bussen mit eindrucksvollem Augenrollen auf, aber es sah nicht danach aus, als würde ihm dieser Umstand größeres Ungemach bereiten.

»Die Sache ist die«, sagte er, als würde er ein kosmisches Gesetz verkünden, »wo es Busse gibt, da wird rumgehangen.«

Ich hatte keinen Grund, hier weiter rumzuhängen. Mein Kaffee war ausgetrunken, mein Zoll an die Geselligkeit entrichtet.

»Entschuldigt mich«, sagte ich und verließ den Tisch.

Mein Zimmer war noch nicht hergerichtet, und die höher gestiegene Sonne konnte auch nicht viel gegen das Grau in Grau vor den Fenstern ausrichten. Das ungemachte Bett, die grabsteinartige schwarze Fläche des Fernsehers, der Sessel mit dem achtlos darübergeworfenen Hemd – all das wirkte nur wie eine verwischte Skizze in dem fahlen Licht. Bevor ich die Keycard in den dafür bestimmten Schlitz an der Wand schob, was die Lichter und all die anderen elektronischen Annehmlichkeiten des Raums aktivieren würde, ging ich ans Fenster und sah hinaus. Man konnte nicht einmal erkennen, wo die Sonne war. Schattenloser Dunst entzog allem die Farbe und löste alle Konturen auf. Die dicke getönte Scheibe verstärkte noch das Gefühl von Klaustrophobie, von Abgeschlossenheit. Ich musterte den Fensterrahmen mit seiner raffiniert versiegelten Doppelverglasung, die gegen Lärm und Temperaturschwankungen isolierte, sodass jedes Zimmer des Hotels mit seinem eigenen idealen Mikroklima versorgt war.

Noch ein Blick in die Runde, während ich den kleinen Raum durchquerte – der hellste Punkt war die rote Digitalanzeige des Radioweckers auf dem Nachttisch. Ich schob die Karte in den Schlitz, und der Raum erwachte zum Leben. Geschickt kaschierte Glühbirnen, Lampenschirme in matten Erdtönen. Börsenkurse tickerten nonstop über den Fernsehbildschirm. Im Bad begann der Ventilator zu surren. Ich putzte mir die Zähne und trat vom Waschbecken zurück, um mir das Bild über dem Schreibtisch anzusehen, das einzige Beispiel für die hoteleigene Fabrikkunst in meinem Zimmer. Die Bilder in der Bar waren mir gestern Abend so seltsam bedrohlich erschienen – doch wenn ich mich recht entsann, lauerte die Bedrohung weniger innerhalb der Rahmen als außerhalb.

ENDE DER LESEPROBE