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Sie sind Vorstandschef, Ministerpräsident oder Schriftsteller - sie sind, jeder auf seine Weise, führende Köpfe unserer Gesellschaft. Ihre Ideen, Geschäfte und Gesichter sind bekannt. Doch was die meisten Menschen nicht wissen: Viele wichtige Persönlichkeiten unserer Zeit verbrachten ihre Kindheit auf dem Bauernhof. In diesem Buch erzählen sie sehr persönlich von dieser Zeit, lassen kleine und große Ereignisse aufleben und erklären, wie diese Erfahrungen ihren weiteren Lebensweg begleitet hat.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Ulrike Siegel (Hrsg.)
Persönlichkeiten unserer Zeit erinnern sich
an ihre ländlichen Wurzeln
... dieser Satz, weckt für alle, die in der Landwirtschaft groß geworden sind, eine ganze Flut von Bildern und Emotionen. Noch vor einer Generation fingen viele Lebensläufe damit an. Heute ist er zunehmend selten zu lesen. In Zukunft werden immer weniger Menschen auf eine bäuerliche Herkunft verweisen können.
Auf der Suche nach bäuerlichen Wurzeln in unserer Gesellschaft habe ich über einen mehrjährigen Zeitraum in Zeitungen und Magazinen die Porträts von Menschen, die heute in vielfältigen Bereichen unserer Gesellschaft im Blick der Öffentlichkeit stehen, ausgewertet. 16 Frauen und Männer mit außergewöhnlichen Lebensläufen, die auf einem Hof aufgewachsen sind und heute weit weg vom bäuerlichen Stamm leben, kommen in diesem Band zu Wort.
Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Autoren. Sie erzählen vom Aufwachsen in kleinbäuerlichen Strukturen bis hin zum Kindsein auf Gutsbetrieben, vom Erleben der Kriegsjahre mit Hunger und Mangelwirtschaft bis zum Großwerden in den Zeiten des Strukturwandels mit Technisierung und Überproduktion. Die meisten wurden als Bauernsöhne oder Bauerntöchter geboren, einige haben erst die Kriegs- und Nachkriegsjahre auf einen Hof gebracht. Ihr weiterer Lebensweg hat sie in die Politik, Kirche, Wissenschaft, Wirtschaft oder in die Kultur geführt. Manche stehen als Prominente im Rampenlicht des öffentlichen Interesses, andere tragen abseits der Scheinwerfer Verantwortung.
Aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln werfen die Autoren einen Blick auf ihre Kindheit und Jugend und gehen der Frage nach, wie das Aufwachsen auf dem Bauernhof ihren Lebenslauf beeinflusst hat. Sie beschreiben ihre bäuerliche Prägung und reflektieren den Wert bäuerlicher Sozialisation für ihr heutiges Leben.
Ich danke den Autorinnen und Autoren dieses Buches für ihre Offenheit und das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht haben, und für die Beiträge, mit denen sie einen Einblick in ihr Leben geben. Mein Respekt gilt ihnen allen, die sich trotz vollem Terminkalender die Zeit genommen haben, über ihre Herkunft zu reflektieren. Möge es ihnen damit gelingen, die Diskussion um den Verlust bäuerlicher Werte in unserer Gesellschaft anzustoßen. Und wichtiger noch, ein Interesse zu wecken an denen, die heute noch in der Landwirtschaft tätig sind und denen wir alle unsere regionalen Lebensmittel und unsere Kulturlandschaft zu verdanken haben.
November 2007
Ulrike Siegel
Osenhorst, meine Heimat. Kein Mekka des deutschen Fußballs, sondern ein kleines Dorf in Niedersachsen, unweit der A1 zwischen Hamburg und Bremen. In Osenhorst leben nur ca. 15 Einwohner, die sich auf gerade mal fünf Häuser verteilen. Darunter drei Bauernhöfe. Immerhin haben wir seit den 80er Jahren ein eigenes grünes Ortsschild und inzwischen auch drei Straßenlaternen.
In diesem Idyll bin ich aufgewachsen. Gemeinsam mit meinen Eltern und zwei Schwestern. Mein Vater war Landwirtschaftsmeister und bildete jedes Jahr zwei Lehrlinge aus, die dann jeweils für ein Jahr bei uns auf dem Hof lebten. Arbeit gab es reichlich, denn der Hof hatte eine beachtliche Größe. Wir hielten 30 Kühe, viele Rinder, mehr als 500 Schweine, Hühner, ein Pony und mindestens 10 Katzen. Dazu über 70 Hektar Acker- und Weideland.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, vermisse ich vor allem die Weite der Felder und das Gefühl von Freiheit, das in meinem Bauch kribbelte, wenn ich in der Natur herumstrolchte. Nicht zu vergessen die Abenteuer auf unserem Bauernhof. Am meisten Spaß machte, was verboten war: Strohhöhlen bauen, Beobachtungsposten auf dem Scheunendach spielen, Mama mit selbst gefangenen Mäusen erschrecken oder heimlich auf Nachbars Kühen reiten. Am Ende solch strapaziöser Tage wohlbehütet einzuschlafen, war das Schönste.
Natürlich war das Leben auf dem Bauernhof kein ganz reines Vergnügen und ich musste gleich allen anderen ordentlich mit anpacken. Die Arbeitsteilung auf unserem Hof war dabei eher klassisch. Die Frauen kümmern sich um Haushalt und Garten, die Männer um den „Rest“. Da mir dieser Rest sehr viel attraktiver als die Hausarbeit erschien, entschloss ich mich schon recht früh, meinen Vater zu unterstützen und mich mit ihm zusammen dem Treckerfahren, Rindertreiben und -füttern, der Ernte und dem Melken zu widmen.
Es gab eigentlich immer eine Menge zu tun und auch für die seltenen Momente, in denen gerade einmal nichts zu tun war, hatte meine Mutter stets ein großes Repertoire zeitfüllender Aufgaben parat. Nichts schien ihr ferner zu liegen als Müßiggang. Sie konnte es partout nicht leiden, wenn jemand dem Nichtstun frönte oder wohlmöglich bei Tagesanbruch noch im Bett weilte – Ausschlafen war ein Tabu. Mein Vater wäre sicherlich das eine oder andere Mal gerne noch liegen geblieben, aber ihn traf das gleiche Schicksal wie uns und er musste raus aus den Federn. Das Motto meiner Mutter war und ist: Wer feiern kann, kann auch arbeiten. Nicht selten musste ich nach einer durchfeierten Nacht ohne Umwege direkt in den Stall zum Füttern.
Mein Vater dagegen ist ein sehr ruhiger Vertreter. Dennoch hatten sowohl wir Kinder als auch die Lehrlinge einen gehörigen Respekt, wenn er seinen gefürchteten Pfiff auf zwei Fingen losließ. Die Welt schien einen Augenblick zu erstarren und man wurde bei etwas ertappt, das man besser hätte sein lassen. Die Fassung verlor er allerdings nur über schlechte Manieren beim Essen.
„Gerade sitzen, nicht mit vollem Mund sprechen, beide Hände auf den Tisch und es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“ waren die nachhaltig prägenden Klassiker.
Trotz des quirligen Hoflebens drehte sich in meinem Mikrokosmos schon immer so viel wie möglich um den Fußball. Schon in der Grundschule spielte ich in den Pausen mit den Jungs auf dem Schulhof und nach Schulschluss ging es gleich weiter. Nachmittags verschwanden meine Mitschüler dann meistens zum Training in ihren Fußballverein und ich trottete unzufrieden nach Hause. Ein Mädchenfußballteam gab es weit und breit nicht – immerhin war Frauenfußball bis 1970 noch verboten. Zu Hause hielten daher entweder unsere Lehrlinge als Sparringspartner her oder ich spielte allein. Unablässig dribbelte ich auf meinem eigenen kleinen Fußballplatz, eingegrenzt von unseren beiden Schweineställen. Ein Tor habe ich selbst gebaut und sogar das Tornetz selbst geflochten. Immer wenn ein Ball gegen den Schweinestall flog, quittierten die Schweine das mit lautem Grunzen, was ich als Zustimmung interpretierte. Als ich mein Training intensivierte, entschloss sich mein Vater notgedrungen dazu, die Fenster zu vergittern. Auch die Dachpfannen und das Fachwerk mussten aufgrund meines ausdauernden „Beschusses“ immer mal wieder erneuert werden.
Als ich neun Jahre alt war, wurde in einem benachbarten Dorf dann doch eine Mädchenmannschaft gegründet. Einer unserer Lehrlinge, der aus dem besagten Dorf kam, hatte mich bei dem Trainer ins Gespräch gebracht. Dieser machte sich sogleich nach Osenhorst auf, um mich für sein neues Team zu gewinnen. Im Gegensatz zu meinen Eltern war ich natürlich sofort Feuer und Flamme. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten sich je für Fußball interessiert, geschweige denn selbst gespielt. Kurzum, sie wollten nicht, dass ich spiele. Fußball sei ganz einfach kein Sport für Mädchen. Es waren wohl weniger meine fußballerischen Qualitäten als meine Quengelei, die sie dann schließlich doch von meinem Beitritt überzeugte. Ich musste allerdings versprechen, mit sechzehn Jahren aufzuhören, da es meinen Eltern bei der Vorstellung kickender Frauen erst recht grauste.
Glücklicherweise wuchs mit der Zeit auch das fußballerische Interesse meiner Eltern. Nicht selten saß meine Mama gemeinsam mit anderen Müttern in dicke Wolldecken eingepackt am Spielfeldrand und feuerte uns lautstark an. Mit der Zeit erschlossen sich ihr die Fußballregeln von selbst und sie hatte sogar eine plausible Erklärung für Abseits: Abseits ist immer dann, wenn der Schiedsrichter pfeift und es war kein Foul- oder Handspiel. Damit lag sie fast immer richtig.
An meinem 16. Geburtstag war schließlich ans Aufhören nicht mehr zu denken. Längst spielte ich in diversen Auswahlmannschaften und meine Eltern zählten inzwischen zu meinen größten Fans. Es war aber wohl weniger der Erfolg als meine Begeisterung für den Sport, die sie nach und nach in ihren Bann zog. Diverser nationaler und internationaler Titel ungeachtet, beschreibt meine Mutter noch heute die Bezirkshallenmeisterschaft von 1984 als eines ihrer schönsten Fußballerlebnisse. Damals verschoss ich unglücklich einen Siebenmeter und sie geriet auf der Tribüne außer Rand und Band, denn dank meiner Mitspielerinnen gewannen wir am Ende doch noch.
Obwohl ich bereits mit 17 mein Debüt in der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft feierte, war meine Laufbahn als Leistungssportlerin zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt vorgezeichnet. Auch als Erwachsene liebte ich das Leben auf dem Hof und erwog nach dem Abitur durchaus, mich beruflich in der Landwirtschaft zu verwirklichen. Trotzdem liebäugelte ich natürlich weiterhin mit dem Sport. Die Entscheidung fiel, als der VfR Eintracht Wolfsburg als einer der führenden Frauenfußball-Clubs in Norddeutschland mich als Torjägerin umwarb und mir zudem einen Ausbildungsplatz als Industriekauffrau bei der Volkswagen AG anbot. Obwohl ich meine vertraute Umgebung und meinen bisherigen Verein nur ungern verließ, ergriff ich die Gelegenheit, auf dem damals höchsten deutschen Niveau Fußball zu spielen, energisch am Schopfe. Für mein Heimweh blieb in dieser turbulenten Zeit wenig Raum – wie auf einem Bauernhof gibt es auch im Sport extrem selten Momente des Innehaltens.
Der größte Triumph dieses Abschnitts war sicherlich der Gewinn der Europameisterschaft 1989. Unseren hart erkämpften 4:1-Sieg feierten wir vor einem restlos ausverkauften Stadion, darunter meine Eltern, die zusammen mit 50 Fans aus Osenhorst und Umgebung in einem Charterbus angereist waren. In den folgenden Jahren begann für mich eine aufregende Reise um die Welt, zu deren sportlichen Höhepunkten die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Atlanta und eine Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen von Sydney zählt.
Meine bäuerliche Prägung wurde mir ganz besonders 1995, dem bittersten Jahr meiner Karriere, positiv bewusst, als ich verletzungsbedingt sowohl das EM-Endspiel als auch die Weltmeisterschaft von der Tribüne aus verfolgen musste. Um mir nach nur wenigen Monaten wieder meinen Stammplatz in der Nationalelf zu sichern, blieb mir nur eines: harte Arbeit, ohne zu grübeln. Gerade in dieser Zeit spürte ich auch den familiären Halt, der nicht nur meine Kindheit auf dem Bauernhof prägte.
Die ganzen Jahre war mein Leben zwar vom Fußball bestimmt, jedoch spielten auch Studium und Arbeit wesentliche Rollen, denn es galt schließlich, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Umso glücklicher war ich, dass sich zum Abschluss meiner Karriere in 2001 mein Traum erfüllte, als Profifußballerin in den USA zu spielen. So groß die Entfernung zum elterlichen Hof auch oft war, ich fühlte mich doch nie verloren. Das Leben auf dem Land hatte mich mit einer inneren Ruhe erfüllt, die ich dem Druck des Leistungssports entgegensetzen konnte. Ich wusste, wer ich bin und was ich kann, blieb trotz der aufregenden Erfahrungen bodenständig und gelassen.
Mittlerweile liegt meine Karriere als aktive Fußballerin mit 144 Länderspielen einige Jahre zurück und noch immer dreht sich mein Leben um den Frauenfußball. Ich bin glücklich, als Sponsoring-Managerin beim Deutschen Fußball-Bund Hobby und Beruf verbinden zu können. Meine damalige Entscheidung, mein Leben dem Sport zu widmen, habe ich nie bereut.
Zwischenzeitlich lebte ich in Siegen, Philadelphia und bin jetzt in Frankfurt sesshaft geworden. Ich genieße es, in der Stadt zu wohnen. Mittendrin. Der Bäcker, die Reinigung, Kneipen, Cafés, Restaurants, Museen und auch die Freunde sind zu Fuß in wenigen Minuten erreichbar. Trotzdem bin ich doch wohl zu sehr Landei, um gänzlich auf das Landleben zu verzichten. Seit Jahren besitze ich meinen eigenen kleinen Schrebergarten, in dem ich am Wochenende eine Art Miniaturlandleben führe und mich inmitten meiner Beete austobe – nach dem Ausschlafen und ohne Bolzplatz.
1968 geboren im niedersächsischen Osenhorst, macht Doris Fitschen nach dem Abitur eine Ausbildung zur Industriekauffrau mit anschließender Weiterbildung zur Systemanalytikerin und schließt 1999 ihr BWL-Studium ab.
In ihrer Fußballkarriere spielt sie für den FC Hesedorf/TuS Westerholz (1978–1988), VfR Eintracht Wolfsburg (1988–1992), TSV Siegen (1992–1996), 1. FFC Frankfurt (1996–2001) und Philadelphia Charge (2001).
Von 1986 bis 2001 bestreitet sie 144 Länderspiele in der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft.
Die Abwehr- und Mittelfeldspielerin gewinnt vier Europameisterschaften, drei nationale Meisterschaften, holt dreimal den DFB-Pokal. Bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 gewinnt sie mit ihrem Team die Bronzemedaille.
Seit 2001 arbeitet Doris Fitschen in der Marketingabteilung des DFB.
Früh übt sich …
Der Gewinn der Europameisterschaft 1997
Deutsche Schwarz-Bunte: Doris Fitschen in Osenhorst 1996 vor der Olympiade
17 Uhr – Stallzeit. Mein Vater macht die Krippen fertig. Kraftfutter scheppert rhythmisch aus dem Eimer in die Futterrinnen. „Verena, geh doch mal die Kühe holen.“ Vor der Stalltür wartet nur eine kleine Kuh-Vorhut, der Rest der Herde fehlt noch. Es ist Frühjahr, die Kühe sind erst seit wenigen Tagen wieder auf der Wiese. Ihre innere Euter-Uhr ist noch nicht auf Melkzeit gestellt – sie müssen abgeholt und zum Stall getrieben werden. Ich bin knapp sechs Jahre alt und stiefele los in Richtung Waldrand. Auf der großen Schafweide sind sie, bloß: Die verbleibende Herde macht keine Anstalten, das ausdauernde Grasen einzustellen. In die Hände klatschen, wohlmeinende Appelle, mit den Armen rudern, schreien, umkreisen, mit der bloßen Hand auf den Kuhhintern klapsen – nichts hilft. Es braucht mehr als einen Meter tobendes Kind, um 30 gestandene Milchkühe in Marsch zu setzen. Ich hätte nach Hause laufen und meinem Vater sagen können: „Hol deine Kühe selber, es klappt nicht, ich bin zu klein!“ Undenkbar. Stattdessen setze ich mich verzweifelt auf die große Schafweide und heule eine Weile. Dann gehe ich in den Wald, suche mir einen langen Stock und schaffe es tatsächlich, die Kühe mit der Kombination aus einem Meter Kind und einem Meter Stock nach Hause zu treiben.
Das Prinzip „Küheholen“ wird mich mein Leben hindurch begleiten. Im Verborgenen eine Strophe heulen, Zähne zusammenbeißen, Plan aushe-cken, Problem lösen. Aus einem Moment schmerzlicher Überforderung wird die Erfahrung, die Lage aus eigener Kraft in den Griff bekommen zu haben. Das lernt man auf dem Bauernhof. Zumindest auf unserem, wo so viel Arbeit war, dass ich mich irgendwie dafür zuständig fühlte, anfallende Aufgaben alleine zu lösen.
In meiner Familie wechselte eine Bauerngeneration die andere ab. Schwarz-Weiß-Fotos von aufrecht-knorrigen Gestalten gibt es bis Urur-opa Heyer, der mit dem Spazierstock auf der Bank thronte (vermeintlich wusste er um die Verdienste des Stocks beim Küheholen). Die ursprünglich aus dem Rheinland stammende Familie hatte ein paar Generationen einen eigenen großen Hof in Mecklenburg bewirtschaftet, bevor sie fliehen musste. Mein Vater kam als evangelisches Flüchtlingskind zurück ins katholische Rheinland und baute seitdem einen Pachtbetrieb direkt an der belgischen Grenze bei Aachen auf. Morgens vor der Grundschule molk er schon alle Kühe und übernahm sehr jung den Hof. Das erklärt die bei uns vorherrschende Stimmung. Irgendwie waren wir immer im Aufbaufieber. Mit meiner Mutter heiratete er kein „Buure Mädsche“, sondern eine Frau, die keine Erfahrung mit den Rheinischen Schwarzbunten, dafür aber ein Faible für Schönes hatte. Das sorgte anfangs für Konflikte: So pflückte meine Mutter beim Rinderumtreiben auch mal Blumensträuße am Wegrand. Blumenpflücken! Ausgerechnet bei der Hochgeschwindigkeits-Hochkonzentrations-Disziplin Rinderumtreiben! Etwas Abwegigeres kann sich kein eingefleischter Bauer vorstellen. Dafür fehlte bei uns nie die farblich passende Tischdekoration bei großen Essen. Auch wenn sie nie eine besonders ausgeprägte Liebe zur Kuh entwickelte, war meine Mutter doch loyal zum Hof und arbeitete voll mit.
Mittenrein geboren wurde ich, einziges Kind, sehr gewünscht, Mamas Tochter, Papas Sohn. Und dann gab’s da noch die Kujen. Kujen hießen sie in guten Momenten, in schlechten waren es die „Kraggen“. Gemeint sind etwa 40 Milchkühe – stoische wiederkäuende schwarz-weiße Gebirge mit Euter, wenig Anteil nehmend am Gang der Welt. Mit Rindern und allen Jungtieren kamen wir in besten Zeiten auf 120 Stück Vieh. Mein Vater, ganz Vollblutbauer, kannte sie alle mit Namen und konnte den Stammbaum jeder Kuh aufsagen. Bis heute spricht er mit jedem Tier, das er trifft. Dennoch gab es zu den Kühen keine romantische Nähe, wie Städter sich das ausdenken, sie waren auch Wirtschaftsfaktor. Im Falle einer Notschlachtung musste er ihnen mit dem besonders dicken Küchenmesser zum Ausbluten den Hals durchschneiden. Glücklicherweise geschah das nur sehr selten.
Zur Familie gehörten ansonsten noch Katzen, ein Esel namens Blacky und der Star im Stall: Hilde. In ihrer Jugend war Hilde auf Leistungsschauen eine Art Top-Model: Sie erreichte 44 von 45 möglichen Punkten für Körperform und Euter. Im Alter brachte sie es dann noch auf den Milchleistungs-Lebensrekord als erste 100.000-Liter-Kuh der Region. Meine Eltern veranstalteten als stolze Züchter ein Fest mit 200 Gästen, bei dem die anwesende Hilde tolle Geschenke bekam: eine Kuhglocke, einen Riesen-Rundballen mit entsprechender Schleife, einen Zuckerrüben-Präsentkorb, Hilde getöpfert, Hilde als Strohpuppe ...
Als einzige Kuh im Stall sollte die verdiente Hilde eines natürlichen Todes sterben. Daraus wurde nichts: Im nach Kuhkriterien biblischen Alter von 16 Jahren kullerte sie einen Hügel hinunter und landete auf dem Rü-cken liegend im Bach. In heller Aufregung wurde ein Bagger bestellt, der sie freilegte, um sie aus dem Wasser zu wuchten. Die geborgene Hilde hat sich davon aber nicht mehr erholt, brach sich kurz darauf ihr osteoporose-geschwächtes Rückgrad und musste eingeschläfert werden.
So sehr sich all das nach heiler Welt anhört, sind meine Bauernhof-Erinnerungen nur strichweise heiter. Denn da gab es einen Knackpunkt: Arbeit. Zu viel Arbeit für zwei Erwachsene. Obwohl sich meine Eltern selten beklagten, habe ich als Kind diese nie enden wollende Arbeit als bedrücckend erlebt. Irgendwie erinnere ich mich an ein permanentes Müssen. Egal, ob Liebeskummer aus- oder die Welt zusammenbricht: Die Kühe müssen gemolken werden – und zwar morgens und abends. Arbeit ist erste Priorität. Nicht später. Nicht jammernd. Jetzt. Sofort. Ohne Diskussion. Egal, wie schön ein Fest war, um 17 Uhr sprang Firma Bünten auf, kein Entrinnen – Melkezeit. Mein Vater versuchte blendend gelaunt, die Stimmung oben und uns bei der Stange zu halten: „Hanni, hast du auch so Bock auf Kujen?“
Mein Vater hatte einen 15-Stunden-Tag. Vor 22 Uhr abends kam er selten ins Haus – und das sieben Tage die Woche. Neben dem eigenen Zuchtbetrieb fuhr er morgens und abends noch als Besamungstechniker von Hof zu Hof. Mein Vater, der „Kälbchenmacher“ – in der Pubertät hat mich das wirklich in Nöte gebracht. Oder wie würden Sie Ihren Freunden die rheinisch-joviale Ansage auf dem Anrufbeantworter erklären: „Liebe Kunden, am ersten Weihnachtstag macht der Bulle Urlaub, ab morgen wird dann wieder besamt.“?
Meine Mutter zog auf dem Hof voll mit. Für Frauen erschien mir die Landwirtschaft immer als besondere Doppelbelastung, die – anders als bei den Jungbauern – nicht durch die Faszination des Traktors aufgewogen wurde. Neben der Stallarbeit morgens und abends gab es einen aufwendigen Haushalt mit vielen Essensgästen, Wäsche und Putzerei. Es war vollkommen normal, meine Mutter um 21 Uhr noch bügeln oder Torten für den Besuch am Wochenende backen zu sehen.
Als einziges Kind war ich natürlich auch gefordert und mit dem Alter wuchsen die Aufgaben. Ab etwa dem fünften Lebensjahr ging ich abends mit in den Stall, spielte mit Kühen und Katzen, kehrte aber auch den Futtertisch ab, warf Heu vom Heuboden, machte den Stall sauber, streute Sägemehl, kraulte schwierige Kuh-Kandidatinnen beim Melken – und bekam bald meine eigene Disziplin: die Kälber. Das Melken übernahmen fast ausschließlich meine Eltern. Darüber war ich insgeheim erleichtert. Schließlich wurde ich den Verdacht nicht los, dass mich ausgeliefert am Euter hockend eines Tages eine „Schläger“-Kuh frontal ins Gesicht treten würde.
Die Kälber aber empfand ich schon sehr jung als mein Fachgebiet. Sie wurden – für die Zeit damals fortschrittlich – mit überdimensionalen Nuckel-Eimern gefüttert und mussten dazu ihre Köpfe durch verschließbare Eisengitter stecken. Professionelles Kälberfüttern war hohe Kunst. Die Nuckel-Eimer funktionierten unterschiedlich gut, sodass manche Kälber früher fertig waren und den anderen die Milch streitig machten. Jetzt setzte mein ausgeklügeltes System ein: Starken Kälbern schlechtere Eimer geben, verfressene beim Nachbarn räubernde Kälber mit der Kraftfutterkelle auf die Schnauze hauen, gute und schlechte Eimer in Windeseile im vollen Fütterungsprozess austauschen, Störenfriede aus dem Gitter aussperren, ohne die anderen zu verjagen. Selbst wenn es nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit war, mussten Aufgaben auf dem Hof mit vollem Einsatz zuverlässig erfüllt werden. Auch das war eine tägliche Bauernhof-Lektion für das Leben danach. Heikler war da die Versorgung der frisch geborenen Kälber, die in Einzelboxen am letzten Hofwinkel im Wald standen. Sie bekamen unter roter Wärmelampe eine Nuckelflasche. Dabei musste ich dem Wald den Rücken zudrehen, der im Winter zur Stallzeit stockdunkel war. Dunkelheit machte mir Angst. Ich hatte lange diffuse Vorstellungen, dass mir eine Schar Vampire geradezu im Nacken hing. Dennoch hätte ich meinen Eltern nie etwas gesagt. Sie hatten einfach zu viel Arbeit – und so absolvierte ich Fütterung und Kälber-Durchfall-Check so zügig wie möglich. Zu spät erkannter Kälberdurchfall war eine höchst ernste Angelegenheit, die bei den „Frischlingen“ tödlich enden konnte. Da lernt man schon als Kind, sich verantwortlich zu fühlen. Bis heute gehe ich an keinem Kalb vorbei, ohne es unauffällig auf Durchfall zu prüfen.
Irgendwie standen wir alle immer unter Strom. Das galt ganz besonders für die schlimmste Jahreszeit, den Sommer. Sommer, das war nicht Eis oder Freibad, sondern die Saison für die Top 3 des geballten Bauernhof-Grauens:
Top 1 – Rinderumtreiben: Eine vollkommen unberechenbare Masse springlebendiger Jungrinder verlässt zum ersten Mal den Stall oder die Hauswiese, um über einen Waldweg zur entfernten Großweide getrieben zu werden. Dabei drehen sie komplett durch, walzen bisweilen Zäune nieder und nutzen jede Möglichkeit, in den Wald auszubrechen. Sind sie einmal durchgegangen, kann niemand so schnell rennen wie ein Rind. Die Nerven aller nebenherlaufender Zweibeiner liegen blank, es gibt eine Riesenschreierei und nur eine Chance: Denken wie ein Rind und schneller bei möglichen Schlupflöchern sein.
Top 2 – Strohballenstapeln: Zuerst auf dem Anhänger und dann auf dem Schuppen schwere Strohballen packen, deren Kordeln in die Hände schneiden und deren pieksende Halme einen aussehen lassen wie ein zerstochener Junkie. Nicht murren, sondern packen und es hassen.
Top 3 – Heuzeit an der Höllenschleuder: Am Anfang steht die quälende Gewissensfrage: Mähen oder nicht mähen? Kommt Regen oder bleibt es trocken? Dann Heuwenden und „auf Reihen machen“, den ganzen Sonntag, sechs Stunden ohne Pinkelpause, dabei treffen sich alle anderen gerade auf der Kirmes. Heimlich auf dem Trecker heulen, Zähne zusammenbeißen, gerade Reihen ziehen. Oder am Heugebläse stehen, während unaufhaltsam Ladewagen für Ladewagen anrollt, das Sommergewitter im Nacken. Aufpassen, dass keine verborgenen Steine in diese heulende Höllenschleuder gelangen und sie zerschlagen. Und immer in Sorge sein, dass das Mörderding unsere kleinen Kätzchen schreddert, die sich manchmal unter den Heuresten ducken.
Meine Eltern würden jetzt sagen: Du hattest eine schöne Kindheit, andere Bauernkinder mussten viel mehr arbeiten als du. Stimmt! Schule und Hausaufgaben gingen immer vor. Trotzdem war meine Kujen-Kindheit ganz sicher nie eins: unbeschwert. Auch wenn die Erwachsenen das wohl anders empfanden: Mir erschien ein Bauernhof als permanente Überforderung aller vorhandenen Kräfte – immer zu wenig Menschen für zu viel Arbeit, immer Angst davor, dass sich die unterschwellige Anspannung entlädt. Als Einzelkind fühlte ich mich für alles zuständig. Kein großer Bruder zum Streiten, wer denn heute in den Stall geht, weil man mal keine Lust hat. Stattdessen hieß es die Antennen ganz weit ausfahren: Wann kippt die Stimmung? Was kann ich tun, um die Situation vorher zu retten?
Die schlimmste Angst war die, faul zu sein. Faul sein galt als Todsünde. Beim kleinsten Verdacht tat sich der Himmel auf und man wurde unweigerlich vom Blitz getroffen. Am Wochenende länger als 9 Uhr morgens im Bett lesen war faul sein. Als kleines Kind musste ich den Kaffeetisch gedeckt haben, wenn meine Eltern aus dem Stall kamen. Jedem seine Aufgabe. Ich horchte auf die Melkmaschine und versuchte, den Moment abzupassen, an dem sie stotternder klang und sich das Ende der Melkzeit abzeichnete. Oder aber die Situation, wenn ich einmal die Woche mit dem Esel und einer Ladung neuer Bücher vom Bücherbus nach Hause kam. Durch den Wald hörte ich schon das Signal der Melkmaschine, das rief: „Umziehen! Stallzeit!“ Dabei hätte ich so gerne einmal sofort mit dem Lesen angefangen wie die Nachbarskinder. Einmal faul sein! Dass die Nachbarskinder irgendwie unbekümmerter aufwuchsen, merkte ich auch in der Grippezeit. Sie durften krank sein, wir Bauern nicht. Mit einem Mörderschnupfen saß ich tagelang apathisch im zweiten Schuljahr, bis die Lehrerin meine Eltern bat, mich doch zu Hause zu lassen. Meine Mutter war zu besorgt gewesen, dass ich in der Schule etwas verpassen könnte. Krankheit war ein unerhörter, unnötiger Zustand, der wenig Mitleid verdiente und schnellstens vorübergehen musste. Mein Vater griff bei jeder Grippe zu Antibiotika und ging noch mit hohem Fieber in den Stall. Wer außer ihm hätte auch sonst die schwere nasse Silage füttern sollen? Für einen Arbeitgeber müssen Mitarbeiter mit Bauernhof-Sozialisierung ein wahrer Traum sein.
Freudlos war unser Leben aber nie. Viermal am Tag wurde gemeinsam gegessen, das waren lustige rheinische Runden mit vielen Menschen am Tisch. Ich erinnere mich noch gut an den Nachmittagskaffee, an dem mein Vater entdeckte, dass meine Mutter holländische Butter gekauft hatte (der holländische Bauer war der Feind!). Abends beim Melken hinter den Kühen war die Familie immer gut beieinander. Während die Milch zischend bei den Kühen in die Gehänge schoss, wurde geklönt und alles Wesentliche geklärt. Bis heute ist mir nicht klar, wo meine Eltern die Kondition herholten – nicht nur zum Arbeiten, auch zum Feiern. Jedes Wochenende kamen Gäste und einmal jährlich gab es das große Bünten-Waldfest. Als traditioneller Höhepunkt wurde die singende Gästeschar mit dem Trecker durch den Wald gefahren – und dann der Anhänger mitsamt feierfreudiger Gemeinde gekippt. Abends nach dem Stall gab’s auch mal Spargelessen für 20 Personen bei uns im Garten. Spargel, der geschält werden musste! Für 20 Personen! Welche bürgerliche Existenz mit gepflegtem Acht-Stunden-Tag und Wochenende bringt für so etwas Energie auf?
Bauernhof war Druck und Ernst, aber auch zupacken, Verantwortung übernehmen, selbstständig arbeiten und bewusst die eigene Laufbahn angehen. Jeder ist allein verantwortlich für seinen Erfolg oder sein Scheitern, also darf es keine Angst vor dem Machen geben – das lehrt der Hof als kleinstes Wirtschaftsunternehmen.
Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kam, ausgerechnet Reporterin werden zu wollen. Mit zehn Jahren etwa stand mein Berufswunsch jedenfalls fest wie ein Fixstern am Himmel. Vorher hatte ich „Modeschöpferin“ erwogen und meinen Barbies Taschentuchkleider geschneidert. Die Kujen kamen jedenfalls keine Sekunde in Erwägung. Wahrscheinlich ist mir die Idee mit dem Journalismus beim Scheißeschieben gekommen, dieser meditativsten aller Bauernhoftätigkeiten, bei der ich mein Leben strukturierte. Scheißeschieben war das Kuhstallsäubern. Der leere Stall wurde mit einem Wasserstrahl abgespritzt und die Scheiße mit einem Gummischieber in die Gitterroste geschoben. Je nach Witterungslage mussten auch fette Würmer in Schach gehalten werden, die aus der Unterwelt des Güllekellers kamen und langsam über den Stallboden krochen. Beim Scheißeschieben also keimte die Vorstellung vom bewegten Journalistenleben. Eine rasende Reporterin wollte ich sein, immer dort unterwegs, wo die Mülltonnen brennen und das Leben tobt. Einen wehenden Trenchcoat würde ich tragen, wahrscheinlich mit Hut, den Block in der Hand, in der Manteltasche das Mikrofon mit der Aufschrift „wichtig!“ Ein schillerndes Leben musste das sein, fern von Kuh, Kalb, Rind und vermeintlich ländlichem Idyll. Scheißeschieben macht verwegen!
Der Schritt raus aus der Deckung begann mit dem Wechsel aufs Gymnasium. Vorher war ich im nahe gelegenen Belgien auf die Dorf-Grundschule gegangen. Bauern hatten in Belgien ein denkbar schlechtes Image als tumbe stinkende Trampel mit Gummistiefeln voller Scheiße. Auch wenn ich definitiv nicht so aussah, war das sehr verletzend. Ich werde nie vergessen, wie meiner belgischen Tanzstundenliebe vor Schreck der Kiefer entgleiste, als ich beiläufig einflocht, ich sei vom Bauernhof. Der belgische Grundschullehrer konnte meine Eltern überzeugen, dass ich unbedingt aufs Gymnasium gehen müsste. Also fuhr ich jeden Morgen nach Aachen in die Stadt und erlebte mein blaues Wunder: Meine neuen Lehrer, gerade die der 68er-Generation, sprangen vor schierer Begeisterung über ein Bauernkind im Klassenverband fast über ihr Pult. Von Stigma zu Status – ich war irritiert. Ich sollte die Erste in meiner Familie sein, die Abitur und Universitätsabschluss machte, beides mit Eins, das war mir wichtig. Ohne dass Noten bei uns zu Hause ein Thema waren, hatte ich den Leistungsgedanken meiner Eltern tief verinnerlicht. Irgendwie war es ein tröstliches Gefühl, besser abzuschneiden als meine Freundinnen – allesamt höhere Töchter, die ihre Ferien in feinen Sprachinternaten verbrachten. Dennoch musste ich nie den Vorwurf hören, ein Streber zu sein. Mein Ehrgeiz war nicht rücksichtslos und die anderen Kinder akzeptierten ihn. Ich glaube, er war einfach authentisch. Im Grunde habe ich all die Jahre unbewusst eins gemacht – den Aufstiegskampf meines Vaters, des Pächters unter besitzenden Bauernsöhnen, auf anderer Ebene fortgeführt.
Das Abitur rückte näher. Journalistin wollte ich also werden, immer noch. Beim Melken tagte hinter den Kühen der Familienrat. Meine Eltern hatten Bedenken. Wenn ich denn schon nicht die Kujen übernehmen wollte, woran ich 19 Jahre lang keinen Zweifel ließ, könnte ich dann nicht wenigstens auf Lehramt studieren? Mein Vater sah mich in seinen Wunschträumen bei der Raiffeisen-Bank, meine Mutter als Europasekretärin im blauen Kostüm in Brüssel. Hier schlug die ehrenvolle Stunde meiner Eltern als Unterstützer, ihr großer Verdienst: Sie haben mich einfach machen lassen und mir nicht reingeredet. Bauernhof, das war eben auch Eigenverantwortung. Jeder ist sein Glückes Schmied, solange er ordentlich anpackt.
Noch in der Schulzeit schreibe ich erste Artikel bei der Aachener Volkszeitung. Der Stundenlohn liegt etwa bei zwei Mark, zum Glück darf ich umsonst Mamas Auto benutzen. Alle sind stolz, wenn morgens etwas von mir in der Zeitung steht. Mit 19 moderiere ich meine erste Radio-Sendung beim Belgischen Rundfunk, mit 21 mache ich den ersten Fernsehbeitrag im ZDF. Alle anderen freien Mitarbeiter sind zehn Jahre älter. Beim Weg dorthin greift wieder das Prinzip „Küheholen“, nur dass diesmal auf öffentlich-rechtlichen Toiletten geheult wird. Ein preisgekrönter Kameramann weigert sich, mit mir Jungspund zu drehen. Später lässt er sich meinen handgeschriebenen Anfänger-Drehplan mit Widmung versehen und hebt ihn als Andenken auf. Oder der tränenreiche Besuch bei den sanitären Anlagen eines WDR-Studios. Eine Sekretärin putzt mich in laufender Konferenz vor allen anderen runter: Mein Parfum sei unerträglich, es habe etwas von nassem Hund. Passende Antworten auf solche Attacken hat meine christliche Bauernhof-Erziehung nicht vorgesehen. Stattdessen Zähne zusammenbeißen und weiterkämpfen. Vier Jahre später werde ich der Redaktionsleiterin ein Festanstellungsangebot ausschlagen.
Studium in der Großstadt Köln, das bedeutet die erste eigene Wohnung – endlich! – und Sicherheitsabstand zu den Kujen. Unser Hofverpächter organisiert wohlmeinend einen Waldspaziergang mit seiner akademischen Schwiegertochter, die mir Bauernkind erklären soll, wie Studieren funktioniert. Sie erzählt von Scheinen und Zwischenprüfungen und davon, dass man auch mal ein Semester schlunzen könne. Schlunzen? Undenkbar! Ich studiere zügig, moderiere am Wochenende regelmäßig Radio-Frühsendungen in Belgien und verbringe die kompletten Semesterferien mit Praktika – am liebsten im Ausland.
An den Wochenenden füttere ich nun viel lieber die Kälber, weil es nicht mehr der allabendliche Zwang ist. Eines Abends kommt mir eine Idee und ich gehe schnurstracks von den Kälbern zu unserem Flurtelefon. Da stehe ich nun in der Dreckschleuse des Hofes, in Gummistiefeln, Stallklamotten und mit dem unvermeidlichen Jeans-Hütchen auf dem Kopf, das die Haare vor dem Duft von „Silo Royal“ schützt. Ich lasse mir bei der Auslandsauskunft die Nummern der UNO in New York und Genf geben und telefoniere durch die Welt, während nebenan die Melkpumpe wummert. „Can I make a stage by you?“ In schlechtem Spontan-Englisch will ich mich um ein Praktikum (französisch „stage“) bemühen, leider heißt der Satz übersetzt eher „Darf ich bei Ihnen eine Bühne bauen?“. Unzählige Male werde ich verbunden, irgendwann versteht man mich dann doch draußen in der Welt: Ich bekomme ein Formular zugesandt und nach zwei Jahren auf der Warteliste einen Praktikumsplatz bei der UNO in Genf, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Angekommen im riesigen Palais des Nations verstehe ich, warum die Wartezeit so lang war. Außer mir bestehen die Praktikanten fast ausschließlich aus Kindern hoher internationaler Angestellter, deren Eltern ihre Beziehungen spielen ließen. Unsere Hauptaufgabe ist es, Zeitungsartikel auszuschneiden. Ich verstehe mich prima mit den höheren Töchtern, auch wenn ihre Themen ein wenig einseitig sind: Pferde und angemessene Verlobungsringe – daumennagelgroße Smaragde oder Rubine, von Diamanten umkränzt. Auf den endlosen Fluren des Palais lerne ich nicht nur, in hohen Schuhen zu laufen und den Dresscode vorauszuahnen, sondern wieder mal, dass die Kujen selbst hier nachwirken. Während die anderen Praktikanten unserer Abteilung weiter Zeitungsartikel ausschneiden, merkt meine Chefin schnell, dass ich anpacken und selbstständig arbeiten kann. Als sie am Ende meines Praktikums in Urlaub geht, verzichtet sie auf eine Vertretung und lässt mich zwei Wochen alleinverantwortlich die Betreuung wichtiger Besucher übernehmen. Zurück in Deutschland bietet mir die UNO einen Job an. Ich lehne ab, um nicht mein Studium abbrechen zu müssen.
„Mehr Glamour“ heißt in den Studienjahren die Gegenbewegung zum Bauernhof. Ich will raus in die Welt, sauge alles Mondäne, Kosmopolitische auf, suche den Kontrast zum heilen überschaubaren Wald- und Wiesenkosmos. Eine Reisende zwischen den Welten will ich sein. Da draußen warten Abenteuer, die Tür dorthin öffnen selbst organisierte Praktika und mancher Sprung ins kalte Wasser. Ich starte jedes Mal allein in einer fremden Stadt, bin oft überfordert, letztlich aber immer erfolgreich, mir meinen Teil der Welt und neue Freunde zu erobern. Was für ein sattes großes Glücksgefühl! In Brüssel bringe ich es wochenlang zum beliebtesten Zwischenschnitt im belgischen Fernsehen: Ein 19-jähriges Lieschen im Blümchenkleid zwischen all den grauen Herren auf der Pressekonferenz des Premierministers, da freut sich jeder Kameramann. Dann Paris, regelmäßige Urlaubsvertretung für einen Hörfunk-Korrespondenten. Paris ist ein Hauch unverschämter Bohème. Jeden Morgen hole ich mir eine Mousse au Chocolat aus dem Kühlschrank und esse sie im Bett. Anschließend wird stramm gearbeitet – auch mal 42 Stunden am Stück. Als bei der Prêt-à-Porter-Woche die Chanel-Schau an mir vorbeirauscht, klirrt mein Kopf vor Glück. Angekommen! Drei Monate New York, Hauptstadt der Welt. Für die Deutsche Presse Agentur berichte ich von der Massenhochzeit der Moon-Sekte und von rauschenden Suzanne-Bartsch-Partys. Morgens in Alphabet-City neben abgeschminkten Drag Queens frühstücken und auf der Lower East Side lässig als „local“ durchgehen – die Kühe sind weit weg.
Mit 25 fahre ich ganz allein ein halbes Jahr nach Indien. Mit einem Journalistenstipendium in der Tasche will ich in tibetischen Flüchtlingslagern recherchieren und Reportagen über den Dalai Lama im Exil machen. Mein Vater weint auf dem Bahnsteig. Indien ist zu viel und zu fremd, er hat das Gefühl, er sieht mich nie wieder. Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich ihn weinen sehe. Ich bin schockiert. Dabei haben mich meine Eltern eigentlich gut auf die Welt vorbereitet. Wir waren ein offenes Haus, bei uns dockten alle an: Waisenkinder, Schüler vom Stadt-Land-Austausch, einsame Bühnenbildner-Azubis, Belgier, die auf dem Bauernhof Deutsch lernen wollten, Ferienkinder, Generationen von Jungs mit Treckerträumen – alle ab zu Büntens nach Sief, alle saßen bei uns am Tisch.
Es hat lange gedauert bis zur Erfahrung, dass harte Arbeit und Talent allein nicht reichen und die Bauernhofprägung einem auch mal im Weg stehen kann. Im WDR-Volontariat, dem letzten Schliff der Journalistenausbildung, ist es so weit. Andere in meiner Gruppe, allen voran die drei Jungs, beanspruchen mit enormem Selbstbewusstsein den Platz in der ersten Reihe trotz geringerer Leistung. Zum ersten Mal setzt sich nicht automatisch Powern durch, nicht Geradlinigkeit und katholische Bescheidenheit, sondern Strippenziehen, sich gut verkaufen und die Fähigkeit, auf der Klaviatur der Hierarchien zu spielen. Unsere Kujen hatten keine Hörner mehr, Konkurrenz und Kampf waren selten. Die zweite gewaltige Erfahrung war die, dass Hochleistungssport seine Grenzen hat. Ich war inzwischen Redakteurin beim ARD-Morgenmagazin, machte beglückende Urlaubsvertretungen in Paris und Washington und arbeitete, wie ich es vom Hof gewohnt war – ohne Schmerzgrenze. Manche Kollegen arbeiteten sechs Stunden am Tag, ich dagegen manchmal 18. Bis zum Kollaps. Ich musste lernen, Nein zu sagen, mich nicht immer für alles zuständig zu fühlen und Kräfte gezielt einzusetzen. Mein Mann hat mir beigebracht, loszulassen und z. B. sonntags einfach mal den Tatort zu schauen. Ich musste entspannen lernen.