Kein Wort – Nie - Bärbel Rädisch - E-Book

Kein Wort – Nie E-Book

Bärbel Rädisch

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Beschreibung

Diese ungewöhnliche Geschichte voller Lügen, Ängste, Sorgen, Wut und Zweifel einer jungen Heranwachsenden entstand infolge einer bemerkenswerten Begebenheit: Die Autorin Bärbel Rädisch sah zufällig eine junge Frau in einer Talkshow, in der sie aus ihrem Leben erzählte. Fasziniert von der tragischen Geschichte nahm sie Kontakt zu der Frau auf und ließ sich deren Leben detailliert erzählen, um daraus einen Roman zu verfassen. Das Ergebnis: ein spannender Real-Roman, der zu großen Teilen in Bremen spielt. Nach dieser wahren Begebenheit erzählt Bärbel Rädisch die mitreißende Geschichte eines jungen Mädchens in den 1960er-Jahren, das jahrelang eine große Familienlüge geheim halten und bewältigen muss. Zufällig herauszufinden, dass die eigene Mutter gar nicht die echte Mutter ist, und dass ihre Familie jahrelang darüber schwieg, beschäftigt Josi als Kind, als Jugendliche und auch noch als junge Frau. Auf ihre Art versucht sie, mit diesem Geheimnis umzugehen, und darf gleichzeitig ihrer Familie niemals verraten, dass sie es kennt. Vertrauen jahrzehntelang von einer Lüge verdrängt, bis kein Platz mehr ist für Gefühle. Die Angst das Leben beherrscht, dann alles verlieren zu müssen.

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Bärbel Rädisch

KEIN WORT – NIE

Die tragischen Folgen einer Familienlüge

Roman

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2019 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Kai Klenner, Marieke Fischer

Satz: Kai Klenner

Umschlag: Jens Vogelsang, unter Verwendung eines Fotos von photocase.de, © winternana

Gesamtherstellung: DruckKellner, St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen

ISBN 978-3-95651-228-5

Die Autorin

Bärbel Rädisch, geboren 1942 in Wuppertal, ist gelernte Drogistin und hat in verschiedenen medizinischen Berufen gearbeitet. Heute schreibt sie als freie Mitarbeiterin des Weser-Kuriers in Bremen für die Lokalredaktion Syke. Sie hat bereits drei Romane veröffentlicht sowie zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien. Mit ihrer Kurzgeschichte »Fräulein Bergendonks Pferd« wurde sie 1995/96 Preisträgerin beim Wettbewerb der VHS Niedersachsen und 2009 Preisträgerin des Instituts für Migrationsforschung mit der Kurzgeschichte »Wenn es Morgen wird in Boipatong«, verbunden mit einer öffentlich Lesung im Haus der Geschichte in Bonn. Bärbel Rädisch lebt seit 1999 in Asendorf-Hohenmoor in Niedersachsen.

Zur Entstehung dieses Buches

Diese ungewöhnliche Geschichte voller Lügen, Ängste, Sorgen, Wut und Zweifel einer jungen Heranwachsenden entstand infolge einer bemerkenswerten Begebenheit: Die Autorin Bärbel Rädisch sah zufällig eine junge Frau in einer Talkshow, in der sie aus ihrem Leben erzählte. Fasziniert von der tragischen Geschichte nahm sie Kontakt zu ihr auf und erfuhr unfassbare Einzelheiten. Das Ergebnis: ein spannender Real-Roman, der zu großen Teilen in Bremen spielt.

Das Leben ist gar nicht so –

es ist ganz anders

(Kurt Tucholsky)

Die Welt ist ein Theaterstück,

spielt eure Rolle gut.

Ihr spielt ums Leben.

(Erich Kästner)

Teil 1

1. Kapitel

»Nein, es ist gelogen!« Josi sprang mit einem Satz von der Schaukel, stampfte mit dem Fuß auf und starrte in Richtung Haus. Aber Oma und Opa lügen doch nicht, oder? Wenn ich Mama erzähle, was ich gehört habe, wird sie sagen: »Kind, Kind, was hast du für eine blühende Fantasie.«

Aber wenn es doch stimmt?

Die Schaukel schwang auf und ab, auf und ab, als fächele sie Luft in die Schwüle, die sich unter der mächtigen Krone des Kirschbaums zusammenballte. Als Josi jetzt einen Fuß vor den anderen setzte, hatte sie das Gefühl, als hingen Gewichte daran. Zu atmen machte ihr Mühe, ihr schien, plötzlich verlernt zu haben, Luft zu holen. Die Sonne, die sie schon so oft mit einem lachenden Mund gemalt hatte, war an diesem Tag ihr Feind. Großvater wischte sich unentwegt mit seinem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn, wobei er knurrte: »Seit Wochen diese Hitze und kein Regen in Sicht. In der Zeitung steht, dieser August kommt fast an den Jahrhundertsommer von 1959 heran.«

Schlaff, als sei er verwelkt, hing in einem Johannisbeerstrauch ein roter Luftballon, der von Josis Geburtstagsfeier am Tag zuvor übrig geblieben war. Zehn Jahre alt war sie geworden. Was für großen Spaß hatte sie mit ihren Freundinnen gehabt mit Topfschlagen, Seifenblasen und Limonade, so viel jede wollte. Das Beste war das Planschbecken gewesen, das Papa immer größer und größer aufgepumpt hatte, worin sie anschließend herumtobten und gar nicht genug kriegten vom Nassspritzen.

»Zehn Jahre alt«, hatte Papa gesagt, als sie noch im Schlafanzug die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen ausblies. Seufzend raufte er sich die Haare und stöhnte: »Leider bist du jetzt eine junge Dame, die sonntags bestimmt nicht mehr zum Kuscheln in unser Bett kommt.«

Josi hatte gekichert, heftig den Kopf geschüttelt, sich an ihn geschmiegt und geschnurrt: »Papa, das Kuscheln ist doch das Schönste. Schade, dass nicht jeden Tag Sonntag ist.«

Mit hängendem Kopf trottete sie jetzt am Teich entlang, blieb kurz stehen, um den Zickzackflug einer Libelle zu verfolgen.

»Die Rote ist die erste Art im Jahr. Sie heißt Adonislibelle, weil es eine Blume mit rotschwarzen Blüten gibt, das Adonisröschen, also mit den gleichen Farben«, hatte Mama ihr erklärt.

»Sie sieht wie eine rote fliegende Nähnadel aus«, hatte Josi staunend gesagt.

Im Sommer zeigte Mama ihr die blauen Azurjungfern, die bis zum Herbstende surrten, dann die doppelt geflügelten dicken braun-grünen Mosaikjungfern, die kleinen Hubschraubern glichen, wenn sie über die Teichfläche schossen. »Was für schöne Namen sie haben«, fand Josi.

Vielleicht hat Mama jetzt gar keine Lust mehr, mir weiter so etwas zu zeigen und zu erklären. Sie schluckte, schlug dann wütend mit beiden Händen um sich, nicht nur wegen der Mücken, die begannen, sich auf sie zu stürzen. Als sie fast schon am Haus war, hörte sie noch immer das Quietschen der ausschwingenden Schaukelketten.

»Du wirst schon sehen, wunder dich nicht«, schienen sie zu kreischen. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und den nackten Armen und huschte durch die Tür. Die blonden Haare klebten wie ein Helm am Kopf. Noch war es eine böse Vorahnung, aber ihr Leben würde an diesem Tag einen Riss bekommen.

Gleich nach dem Frühstück war Josi an diesem Morgen in den Garten gestürmt, um nachzusehen, ob bei den Radieschen, die sie ein paar Tage zuvor mit Mama ausgesät hatte, schon grüne Spitzen durchs Erdreich lugten. Ein bisschen bohrte sie am Ende einer Reihe mit dem Finger im Boden, ob sie etwas spüren könnte, und klopfte die Erde dann vorsichtig wieder fest. Danach stromerte sie noch ein wenig herum, entschloss sich aber, weil es ihr nach kurzer Zeit schon zu heiß draußen war, lieber in ihr Zimmer zu gehen. Vom zweiten Stock sah sie hinunter auf die Straße, die Stirn an die kühle Scheibe gepresst und beobachtete das Verkehrsgetümmel aus der Vogelperspektive. Vor dem Haus bildete die stark befahrene Straße einen Gegensatz zum weitläufigen Garten auf der Rückseite. Ständig gab es etwas zu sehen, wenn man genug hatte von der Ruhe, den Rasenflächen und den Rabatten mit Blumen, die den Gemüsegarten abgrenzten, in dem Oma und Opa Tag für Tag werkelten. Was an Gemüse und Kartoffeln auf den Tisch kam, bauten die Großeltern an. Mama freute sich, dass sie das ganze Jahr die Vasen mit Blumen aus dem Garten füllen konnte.

An Regentagen, wenn sie nicht draußen spielen konnte, war es für Josi kurzweilig, das Treiben auf der Straße zu beobachten. Sie und ihr großer Bruder Jasper wetteten oft, welche Farbe das nächste Auto hätte, das um die Ecke bog, oder wie viele Minuten es dauere bis eine Straßenbahn käme, ob die Linie 10 eher da wäre als die 4, die zum Bahnhof fuhr. Manchmal gaben sie den Leuten auf dem Gehweg gegenüber Namen, weil sie sich auf eine merkwürdige Art bewegten oder auffällig angezogen waren. Die alte Frau, die täglich ihren dicken Spitz hinter sich herzog, nannten sie Frau Pott.

»Ihr Hut sieht genauso aus wie ein Kochtopf«, hatte Josi gekichert.

»Ja, sie hat gerade noch Kartoffeln drin gekocht und ihn dann aufgestülpt«, lästerte Jasper.

Sie alberten herum bis ihnen vor Lachen der Bauch wehtat.

Wie viele Leute innerhalb von zehn Minuten gegenüber in die Bäckerei gingen, zählten sie und schätzten, welche von denen gleich nebenan auch noch in der Metzgerei einkauften. Jasper hatte sogar zum Spaß eine Liste angefertigt, aus der hervorging, an bestimmten Tagen gab es tatsächlich ein derartiges Zusammentreffen eher, als an anderen.

Josi seufzte. Schon in wenigen Wochen hatte ihr Bruder für so einen Quatsch mit ihr, wie er es neuerdings nannte, keine Zeit mehr. Er würde seine Sachen packen, um in Berlin mit dem Studium anzufangen. Wie langweilig würde es ohne ihn sein.

Ein blauer Lieferwagen mit einer Leiter auf der Ladefläche holperte vorbei. Bei jeder Unebenheit in der Fahrbahn flog sie ein Stück in die Höhe. Dann bog ein Mann auf einem Fahrrad um die Ecke. Sein aufgeknöpftes Hemd wehte wie weiße Flügel hinter ihm her. Josis Zunge klebte am Gaumen. Sie lief treppab in die Küche, strich sich die Haare aus dem heißen Gesicht, schob ihren Mund unter den Wasserhahn und trank. Mama konnte das nicht leiden, aber sie sah es ja nicht. Sie kam erst gegen Abend vom Einkaufen zurück. Josi hatte keine Lust, zurück in den Garten zu Oma und Opa zu gehen. Die beiden saßen unter der Esskastanie. Oma schnippelte Bohnen und Opa wurde ungehalten, wenn man ihn morgens beim Zeitunglesen störte. Sie schlenderte weiter ins Wohnzimmer. Hier hatte Mama schon am frühen Morgen die Fenster geschlossen und die Schlagläden vorgelegt, um die Hitze abzuwehren. Hölzerne Läden, die sich wie eine Ziehharmonika vor die Scheiben falten ließen. Mama hatte ihr erzählt, dass Papa beim Kauf des Hauses überlegte, moderne Rollläden einzubauen, sich aber dann entschied, das Althergebrachte zu behalten.

»Weißt du, ich fand, das Haus wurde vor vielen Jahrzehnten gebaut, da passt etwas ganz Modernes nicht.«

Kühle und Dunkelheit verwandelten das sonst so helle Zimmer in einen geheimnisvollen Raum. Sie setzte sich in Papas wuchtigen Lesesessel, fand es zuerst ulkig, dass sie mit den nackten Beinen in der kurzen Hose, wenn sie hin und her rutschte, auf dem Leder quietschende Töne erzeugen konnte. Nach einer Weile fühlte es sich eher eklig an, wie sich ihre verschwitzte Haut am Sitz festsaugte. Später wusste sie zuerst nicht, ob sie nur geträumt oder das Gespräch der Großeltern tatsächlich gehört hatte.

Erschöpft hatte sie sich auf den Parkettboden hinter das große Sofa gelegt, die Arme und Beine von sich gestreckt. Allmählich waren ihr die Augen zugefallen. Nach einer ganzen Weile weckte sie ein Brummer, der wohl auf der Suche nach einem Fluchtweg durch das Zimmer surrte. Dann klingelte das Telefon in der Diele. Omas eilige Schritte waren zu hören. Josi blieb still liegen, verfolgte nur den Zickzackflug der dicken Fliege mit den Augen. Hörte ihre Oma eine Zeitlang sprechen, ohne etwas zu verstehen. Dann lachte die laut, legte auf und holte noch etwas aus der Küche. Die Tür zum Garten fiel ins Schloss. Das Surren der Fliege verstummte. Sie war aus Josis Sichtfeld verschwunden. Viel später drang ein Gemurmel in ihr Bewusstsein, dann kristallisierten sich Wörter heraus, Sätze. Sie war immer noch zu schläfrig um aufzustehen, merkte aber, die Stimme der Großmutter hörte sich ängstlich an und die des Großvaters ärgerlich. Eine ganze Weile floss das Gespräch an ihr vorbei, ohne dass sie sich rührte oder zu ergründen versuchte, worüber sich die beiden unterhielten. Lange Pausen, während die Großeltern schwiegen, ließen sie wieder einschlummern.

Ein scharfes »Niemals!« der Oma und die Antwort des Opas: »Wenn er es aber so will!« schreckten sie auf und vermittelten ihr die Ahnung, irgendetwas beunruhigte die Großeltern. Die Stimmen kamen näher. Die beiden standen jetzt im Flur vor der halboffenen Tür zum Wohnzimmer. Von ihrer Mutter war die Rede, ihrem Bruder Jasper, von Papa, der Nachbarin Frau Holst, die manchmal mit schriller Stimme über die Hecke rief: »Frau Vomhoff, es ist schon zum wiederholten Mal ein Ball in meinen Garten geflogen. Ich dulde das nicht länger.«

Mama sagte dann meist nur: »Könnt ihr nicht in einer anderen Ecke Ball spielen?«, aber sie zog nur lächelnd die Schultern dabei hoch.

Josis rechter Arm begann vom Liegen auf dem harten Fußboden zu schmerzen. In ihrer Hand kribbelte es, als läge sie in einem Ameisennest.

»Das Kind ... es muss endlich die Wahrheit erfahren, und zwar die ganze Wahrheit ohne Wenn und Aber. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn durch einen dummen Zufall herauskommt, was Josi längst wissen sollte.«

Ihre Großmutter sprach schrill und abgehackt und fuhr fort: »Auch Jasper wird von Anfang an etwas nahezu Übermenschliches abverlangt.«

»Aber wer soll es dem Kind sagen?«

Josi hörte den Großvater so schwer atmen, als wäre er die Treppe zum Obergeschoss hinaufgestiegen.

»Unser Schwiegersohn glaubt ja felsenfest, der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch ist der Tag, an dem Josi volljährig wird. Ich konnte mich noch nie mit dem Gedanken anfreunden. Aber du weißt, nur unter der Bedingung den Kindern gegenüber dieses Thema unter keinen Umständen anzuschneiden, vor allem striktes Stillschweigen zu bewahren, war Frank damit einverstanden, uns hier mit ins Haus einziehen zu lassen.«

»Zumal wir von unseren Vorgängern wussten …«, ließ Oma den Satz unvollendet.

Josi wollte gerade ihr Versteck hinter dem Sofa aufgeben, fragen, wann sie denn volljährig würde, und was es überhaupt bedeute, volljährig zu sein. Was meinte Oma wohl mit Vorgängern, als sie hörte: »Dir ist klar, Eduard, die Holst ist eine Klatschtante, die nichts für sich behalten kann. Wenn sie beim nächsten Einkauf auf unsere Josi trifft, ihr womöglich auf ihre boshafte Art zuckersüß die Wahrheit unter die Nase reibt, was ist dann? Ich verstehe dich auch immer noch nicht wie du neulich zu ihr sagen konntest, wir sind bloß die Stiefgroßeltern und Simone ist nur angeheiratet.«

Jetzt, halb aufgerichtet, versuchte Josi diese merkwürdigen Sätze einzuordnen. Wörter, die bedrohlich klangen, so wie Oma sie ausgesprochen hatte. Stiefgroßeltern? Hieß das Stiefopa? Stiefoma? Sie kannte nur das Wort Stiefmutter. Böse Stiefmutter, so wie im Märchen, die ihre Kinder in den Wald schickt, ihnen einen vergifteten Apfel gibt? Sie ihrem Schicksal überlässt, egal was passiert? Immer war die Stiefmutter die Böse, fiel Josi ein.

Mit einem Ruck sprang sie auf, taumelte ein wenig und griff an die Sofalehne um sich festzuhalten. Sie hatte das Gefühl, der rote Ballon, der eben noch im Garten im Busch hing, würde jetzt in ihrem Kopf sitzen und wieder aufgeblasen; er wurde groß und größer. Sie sah noch, wie ihre Oma den Kopf durch die Tür steckte und erschrocken die Hand vor den Mund schlug. Dann zerplatzte der Ballon direkt hinter ihrer Stirn.

»Mein Gott, mein Gott«, kam eine Stimme von weit her. »Kind, was hast du uns für einen Schreck eingejagt.«

Josi stellte verwundert fest, sie lag jetzt auf dem Sofa. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Wasser, in das Oma ein Tuch tauchte, es auswrang und ihr zum Kühlen auf die Stirn legte. »Du warst zu lange in der Sonne, mein Kleines, liebe Güte. Geht es dir besser? Komm, ich leg dir ein frisches Tuch auf.«

Es plätscherte in der Schüssel, die Großmutter wrang das Tuch erneut aus und schob Josi die nassen Haare aus der Stirn.

»Uns so in Angst zu versetzen«, wiederholte sie. »Da hockst du hinter dem Sofa und wir wissen es nicht. Nein, o nein, Kind.«

Josi richtete sich mit einem Ruck auf und schob die fürsorgliche Hand beiseite. »Lass mich!«

Etwas Schlimmes hatte sie gehört, doch Oma tat so, als wäre sie besorgt, weil sie zu lange in der Sonne gewesen war. Sie behandeln mich wie ein Baby, dachte Josi. Warum sagen die beiden nicht, was Frau Holst mir um Gottes Willen nicht erzählen soll? Diesen Quatsch, dass sie Stiefgroßeltern sind und Mama womöglich eine Stiefmutter. Es kann nur gelogen sein, kann nur gelogen sein!, beschwichtigte sie sich selbst und fing an zu zittern. Warum lacht Oma nicht, nimmt mich in den Arm, knuddelt mich und erklärt: »Wir haben nur Spaß gemacht.«

Sie sah in das besorgte Gesicht der Großmutter und auf die fest zusammengepressten Lippen des Opas. Immer noch sagte keiner von ihnen ein Wort.

»Ich will das nicht!«, schrie Josi, »Nimm das weg!« Sie riss sich das Tuch von der Stirn. »Ich will auch nicht, dass ihr weiter ›Josi‹ zu mir sagt. Ich bin kein Baby mehr. Ich heiße Josephine! Lasst mich in Ruhe. Es geht mir gut. Geht raus!«, schrie sie noch lauter, schlug die Decke zurück, die auf ihren Füßen lag und sprang auf. Statt des Ballons fuhren nun tausend Sterne vor ihren Augen Karussell. Erschrocken ließ sie sich wieder auf die Sofakante plumpsen.

»Aber Liebes.« Großmutters Stimme klang verzweifelt. »So beruhige dich doch.«

»Lass mich in Ruhe!« Josi rannte zur Tür, stieß sich den Ellbogen an der Türklinke, hastete mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter in den Garten. Stürzte sich wieder auf die Schaukel, schwang sich mit aller Kraft in die Höhe, wollte das, was sie gerade gehört hatte, weit hinter sich lassen.

Nur ein paar Sekunden hielt sie es auf der Schaukel aus, sprang wieder herunter, lief quer durch den Garten und starrte auf das Haus der Holsts nebenan. Die quietschenden Schaukelketten schienen jetzt noch höhnischer zu rufen: »Frau Holst weiß alles, weiß alles.«

Weinend ließ sie sich ins Gras fallen. Was sollte sie jetzt tun? Mit Mama reden? Aber Oma hatte noch hinter ihr hergerufen: »Deiner Mama sagen wir am besten nichts. Wir wollen sie nicht beunruhigen.«

2. Kapitel

Frank Vomhoff zerrte an seiner Krawatte, nestelte sie unter dem Hemdkragen hervor, hielt sie eine Weile unschlüssig in der Hand und stopfte sie schließlich in die Tasche seines Jacketts. Dabei starrte er auf die Kränze auf dem frischen Grabhügel. Ein Würgen stieg ihm in die Kehle. Er meinte förmlich zu hören, wie die Erdbrocken auf den Sarg polterten, als die Gärtner das Grab zuschaufelten, obwohl er sich davor fluchtartig von der Trauergemeinde entfernt hatte. Er grub die Zähne in die geballte Faust und stöhnte: »Carola, was mache ich ohne dich?«

Nie wieder würde er das Lachen seiner Frau hören, besonders ihr ausgelassenes Lachen, wenn sie mit den Kindern spielte.

Mit aufeinandergepressten Kiefern, um nicht laut zu schreien »WARUM?«, war es gut eine Stunde zuvor eine Qual für ihn gewesen, mit gesenktem Kopf den ewig gleichen Ausspruch des Pfarrers zu hören: »Aus Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir wieder werden. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

Beate, seine Schwägerin, hatte nach seinem Arm gegriffen, als sie merkte, wie er zitterte.

»Komm«, sagte sie dann, um mit ihm zu der nach einer Beisetzung üblichen Kaffeetafel für die Trauergesellschaft in die nahe Gaststätte zu gehen.

»Nein, lass mich los«, mit diesen Worten hatte er ihren Arm abgeschüttelt und sich schnellen Schrittes vom Grab entfernt, ohne auf ihr gerauntes »Wohin willst du denn?«, zu antworten. Ihm wäre unerträglich gewesen, dass nach kurzem Schweigen der Drang der Familie und der Freunde sich in Gesprächen Bahn brechen würde, Normalität einkehren zu lassen, trotz der Fassungslosigkeit und Trauer. Von jeher hasste er dieses Ritual nach Beisetzungen zusammenzusitzen mit Kaffee, Butterkuchen, Schnittchen mit Wurst, Käse und Schinken. Er könnte nicht einen Bissen hinunterwürgen, wenn die Unterhaltung an den Tischen begänne.

Zuerst würde in gedämpftem Ton über das gesprochen, was unbegreiflich schien, Erinnerungen wachgerufen, wie lebhaft die Verstorbene noch vor wenigen Wochen, ja vor Tagen, am Telefon plauderte, welche Begebenheiten im Gedächtnis waren. Frank hörte förmlich Cousine Leonie: »Wisst ihr noch, was für einen Spaß wir immer mit Carola hatten bei der Kirschenernte. Wenn wir alle zum Pflücken kamen, nur um uns wie alberne Kinder aufzuführen.«

»Ja, am besten war das Wettspucken mit den Kirschkernen. Wie ausgelassen haben wir uns benommen. Immer schaffte sie es am weitesten.«

»Unfassbar ihre Technik beim Spucken«, eine andere.

»Und ich werde nie vergessen, wie wir einmal Drachen bastelten, mit Kind und Kegel aufbrachen, um sie auf einem abgeernteten Acker steigen zu lassen. Carola hatte den ganzen Kram besorgt: Leisten, Schnüre, Kleber, Papier, damit wir Väter unseren Kindern mal zeigen, womit wir früher gespielt haben, vor allem was es für Spaß bringt, wenn man etwas selbst macht, vor allem wenn es dann hinterher auch noch funktioniert.«

»Du hast Recht, Felix. War das da, wo der Acker so moderig war, dass die Schuhe im Matsch stecken blieben?«

»Was für großartige Feste konnte Carola auf die Beine stellen. Einfach phänomenal«, seufzte ihre Schwes-ter Beate. »Wenn sie Einladungen in die Hand nahm, kamen auch immer alle. Sie deichselte es, dass keiner nein sagen konnte. Wie oft hat sie einfach was aus dem Hut gezaubert.«

»Und jetzt? Unfassbar«, war eine andere Stimme zu hören.

Bildlich stand Frank der Fortlauf der Szenen vor Augen. Tränen, verstohlenes Naseschnauben. Erschrecken, dass man plötzlich zu heiter miteinander plaudert. Verstummen. Die Stille hängt abrupt wie eine schwere Last im Raum zwischen den Pfeilern, die die Decke im Gastraum stützen. Unwillkürlich scheint der ein oder andere der Trauergäste sich zu ducken, starrt stumm in die flackernden Kerzen auf dem Tisch. Allmählich kommt die Unterhaltung wieder in Gang, nimmt an Lautstärke zu. Besteckgeklapper. In einer Ecke auf einmal ein Lachen, jemand ruft nach der Bedienung, will Kaffee nachgeschenkt haben. Ein anderer steht auf, Stühle werden gerückt. Verwandte, die sich lange nicht gesehen haben, ergreifen die Gelegenheit, miteinander zu sprechen.

»Onkel Julius, ewig haben wir nichts voneinander gehört. Das muss mehr als ein Jahr her sein. Schon ein trauriger Anlass bei dem wir uns hier treffen, aber so ist das Leben.«

Ein verschämtes unterdrücktes Lächeln, ein Schulterzucken wegen der Zweideutigkeit des Satzes. Tod und Leben im gleichen Atemzug genannt, so dicht beieinander. Die Bedienung nickt den Trauergästen aufmunternd zu, geht herum, schenkt Korn aus einer eisgekühlten Flasche ein, die jetzt vom Atem beschlägt. Sie geht von Tisch zu Tisch. Fast jeder trinkt ein Glas, spült seine Beklemmung mit dem scharfen Schnaps durch die Kehle. Erleichterung bei den Freunden, es hat keins der eigenen Familienmitglieder getroffen. Die ersten stehen auf.

Bei der Verabschiedung kehrt wieder verschämte Stille ein. Hastig murmelt jeder ein paar Abschiedsworte.

»Wir sollten uns unbedingt einmal aus einem fröhlicheren Anlass treffen, nicht nur bei Beerdigungen.«

Dann kehrt jeder erleichtert in seinen Alltag zurück. Wie ein Film läuft das Geschehen vor Franks innerem Auge ab.

Bis zum Einbruch der Dämmerung war er zwischen den Gräbern umhergewandert, hatte dabei nahezu das gesamte Areal des Riensberger Friedhofs durchquert. Mancher Besucher, der mit der Grabpflege beschäftigt war, warf einen scheuen Blick auf den Mann, der mit seinen Gedanken völlig entrückt schien und keinen Gruß erwiderte. Der auf die Grabsteine starrte, auf Geburts- und Sterbedaten. Suchte er etwas? Franks Augen wanderten über Marmor- und Sandsteinstelen oder schlichte Holzkreuze. Sein Blick blieb an von Bildhauern gestalteten Monumenten und Figuren hängen, die es auf alten Gräbern zuhauf gab. Mancherorts stieß er auf steinerne Engel, überlebensgroß mit mächtigen Flügeln, viele bedeckt von einem Pelz aus Moos, der über Jahrzehnte gewachsen war. Das Haupt mit Efeu umsponnen, richteten sie den Blick in die Ferne oder gen Himmel. Auf Kindergräbern fanden sich Putten. So klein wie Luzie gewesen sein musste, die hier ruhte. Nur drei Jahre alt war sie geworden, las Frank. »Leb wohl, kleiner Engel«, stand da geschrieben. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Überladener Blumenschmuck erdrückte manche Gräber, wild wucherte Unkraut auf anderen. Von der Natur zurückerobert, widersetzte es sich der Ordnung des Ortes. Missachtete exakt geharkte Wege mit Kiesmuster und mit dem Lineal gezogene Buchsbaumquadrate. Hier und da stand ein Schild mit dem Hinweis an die Angehörigen, sich bei der Friedhofsverwaltung zu melden. Frank sah das alles, suchte jedoch weiter vergeblich ein bestimmtes Datum. Weder in Goldschriften noch in Steinlettern fand er die Jahreszahl mit dem Geburtsjahr seiner Frau. Warum musste Carola so früh sterben? Warum mit gerade 40 Jahren, voller Hoffnung auf das Leben mit dem zweiten Kind, mit Josephine, die Tochter, auf die sie so sehnlichst gewartet hatten.

Schon glaubten sie, der Sohn würde ohne ein Geschwisterchen aufwachsen. Mehr als zehn Jahre hatten sie gehofft. Dann wurde Carola zum zweiten Mal schwanger. Eine viel bewusstere Schwangerschaft hatten sie erlebt. All ihre Ärzte versicherten: »Bei ihrer körperlichen Verfassung wird es eine problemlose Entbindung«, wischten Carolas und seine Ängste vom Tisch.

»Man hört so viel Negatives bei Schwangerschaften um die Vierzig«, wagte Carola zu äußern.

Wie vorhergesagt, gab es keine Probleme. Zu ihrer großen Freude erfüllte sich ihr Wunsch: ein Mädchen! Eine Zukunft im Glück lag vor ihnen. Bald würde Josi ihren zweiten Geburtstag feiern. Frank war tagelang durch die Spielwarengeschäfte gestreift, kaufte neben einem knallroten Ball, einer Spieluhr und einem Clown als Hampelmann schließlich noch einen Bär auf Rädern, auf dem die Kleine reiten konnte.

»Meinst du nicht, dass sie sich vor dem zotteligen braunen Vieh ein wenig fürchten wird?«, hatte Carola gefragt.

»Meine Tochter kennt keine Furcht«, der Kommentar des stolzen Vaters.

Nun würde Carola den zweiten Geburtstag der Tochter nicht mehr erleben, nicht den dritten, keinen ihres Sohnes Jasper. Hatte ihre Kinder verlassen müssen. Ihn zurückgelassen in tiefer Verzweiflung.

Vorbei die besonderen Stunden zu zweit abends bei einem Glas Wein, die sie im Lauf der Jahre dem Alltag abgerungen hatten, mit der Lieblingsmusik Carolas aus der Oper Thais im Raum. Wie oft hatten sie aneinandergeschmiegt den Tönen der Violine gelauscht, untermalt von der Harfe, Klänge, die sich ins Ohr schmeicheln, gefolgt von Bass und Celli, um dann in einem Furioso des Orchesters den Raum zu füllen, ihn fast zu sprengen. Donnerhall der Pauken und Becken, sämtliche Streicher jubilierend. Geballte Kraft, die den Körper vibrieren lässt, bis schließlich eine Violine den Part erneut übernimmt, die übrigen Instrumente noch einmal aufbegehren, sich am Ende der Violine beugen, die allein mit ihrem Schmelz die bittersüße Melodie ausklingen lässt. Mit einem verklärten Lächeln im Gesicht hatte Carola ihm später einmal nach dem Besuch eines Sommerkonzerts in Knoops Park die Zeilen des Musikkritikers im Kulturteil der Zeitung zugeschoben. »Musikalisch passte die ›Meditation‹ aus Jules Massenets ›Thais‹ bestens. Die ruhig fließende, vibrato-veredelte Geigenstimme dialogisierte sinnierend mit fein perlenden Harfenarpeggien, derweil das Orchester einen zart gewebten Klangteppich erstellte. Ein Moment purer Romantik.«

»So kann ein Fachmann ausdrücken, wie schön meine Lieblingsmusik klingt«, hatte sie gesagt.

Frank hörte das ein oder andere Stück immer mal wieder, am liebsten Jazz. Auch für einen gerade gängigen Song war er zu haben, aber mit Klassik war er kaum in Berührung gekommen. Als er zum ersten Mal Carola beobachtete, wie sie in klassischer Musik aufging, fing er an, sich für Opern und Orchesterwerke zu interessieren.

Nach einem langen Arbeitstag in seiner Firma war er nach Hause gekommen. Sein »Hallo, ich bin da« hatte Carola nicht gehört, weil das Zimmer erfüllt war von Klängen. Mit dem Rücken zur Tür saß sie in ihrem Lieblingssessel, die Knie unter das Kinn gezogen, sog die Musik förmlich in sich auf. Da hörte er es zum ersten Mal, ihr Lieblingsstück, »Meditation« von Jules Massenet. An den Türrahmen gelehnt, wartete er, bis der letzte Ton verklungen war. Staunend betrachtete er seine Frau, wagte kaum zu atmen, um sie nicht zu stören. Später sagte er ihr: »Du hast mit einer solchen Hingabe gelauscht, dass ich fast eifersüchtig wurde. Lachhaft, nicht wahr? Aber nichts und niemand existierten in diesem Augenblick für dich außer dieser Musik. Du warst außerhalb der realen Welt.«

Ihn wunderte, dass dieses Stück den Titel »Meditation« trug, obwohl es dermaßen kraftvoll war, nicht in der einschläfernden Weise daherkam, wie er sich Meditationsmusik vorstellte, die etwa in esoterischen Zirkeln gehört wurde oder in diesen Wellness-Oasen, die neuerdings aus dem Boden schossen.

»Schließ die Augen«, hatte sie gesagt, als sie das Stück beim nächsten Mal eng aneinandergeschmiegt gemeinsam hörten. »Lass die Bilder kommen, die diese Musik in dir auslöst. Für mich ist sie wie das Gemälde eines Expressionisten, der mit gewaltigen Pinselstrichen Grün gegen Blau setzt und Rot in Violett verschwinden lässt. Du siehst vielleicht eine Landschaft, einen Stierkampf, Maschinen oder eine Straße in New York. Lass dich darauf ein.«

Nie zuvor hatte er sich intensiv mit Musik befasst, aber als er von Carola an dem Abend beim Zuhören nicht die Augen lassen konnte, fand er vereint, was das Wesen seiner Frau ausmachte: Zärtlichkeit, Kraft, Hingabe, Stärke und vor allem Leidenschaft. Die Musik spiegelte ihren Charakter wider, als habe der Komponist, der doch lange vor ihrer Zeit dieser Oper Leben einhauchte, sie gekannt und ihr ein Geschenk gemacht. Genau wie das Schicksal ihn beschenkt und ihm jetzt wieder entrissen hatte, was er liebte.

Warum? Warum? Einzig dieses Wort kreiste in seinem Hirn. Ließ ihn zwischen Wut und Verzweiflung taumelnd die Zähne aufeinanderpressen bis ihn der Kiefer schmerzte.

Menschen mit schwachem Herz starben am Herzinfarkt, vielleicht noch Manager, die sich verausgaben. Carola aber hatte ein großes Herz gehabt, kein krankes. Nie war bei ihr ein Herzleiden diagnostiziert worden.

Nun stand er nach über einer Stunde wieder an ihrem Grab, erschöpft vom Umherwandern auf dem Friedhof, verzweifelt vom Versuch, eine Erklärung für ihren Tod zu finden. Die vielen Blumen und der Geruch nach frischer Erde zu seinen Füßen ekelten ihn an. Weiße Gerbera, weiße Lilien, weiße Rosen, Carolas weiße Lieblingsblumen. Vergeblich diese Fülle, an der sie sich nicht mehr freuen konnte. Sein Sarggebinde, die weißen Calla, hatten der Erde schon längst Tribut gezollt. Erde zu Erde.

»Ein letzter Gruß«, »In Liebe«, »Unvergessen« las er auf den Kranzschleifen, die von den Gärtnern akkurat ausgerichtet worden waren. Abrupt wandte er sich ab. Warf am Ende des Weges einen Blick zurück. »Leb wohl«, flüsterte er und wusste, nie wieder würde er hier stehen.

3. Kapitel

»Frank, ich trage mich mit dem Gedanken, wir sollten auf der Deutschen Industriemesse in Hannover ausstellen, was hältst du davon?« Der Prokurist der Firma Steuerungstechnik Vomhoff, Thomas Breuer, strich sich die Haare aus der Stirn und sah fragend in Richtung des zweiten Schreibtischs im Büro. Zuvor hatte er in atemberaubender Geschwindigkeit auf die Tasten der Rechenmaschine gehämmert. Jetzt schob er seinem Gegenüber einen Hochglanzprospekt zu. Mit erwartungsvollem Blick sah er Frank an. »Wir sind zwar nur eine kleine Firma auf dem Sektor der Steuerungstechnik, aber neulich unterhielt ich mich mit einem Zulieferer, der reinweg ins Schwärmen geriet, welche Kontakte sich auf einer Messe aufbauen ließen. Selbst wenn man nicht zu den Großen im Land zählt, können sich unsere Umsätze sehen lassen.« Er deutete auf den langen Additionsstreifen, den die Maschine ausgespuckt hatte.

Frank Vomhoff sah auf und musterte den Freund, der nicht nur den Betrieb in der Zeit seiner verzweifelten Trauer an seiner Stelle am Leben gehalten hatte, der ihm auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite stand. Kein Wort hatte er fallen lassen, es würde ihm zu viel, oder gar sein Freund müsse sich als Chef am Riemen reißen, als er nach Carolas Tod fast die ganze Last der Betriebsführung übernommen hatte. Nicht nur Tage, nein, Wochen war Frank nicht fähig gewesen zu seiner alten Form zurückzukehren. Thomas hatte die Mitarbeiter im Betrieb motiviert, ihr Bestes zu geben, darauf vertraut, dass Frank dieses Tief überwinden würde. Ihre Freundschaft war dadurch noch gefestigter.

»Hannover-Messe? Warum nicht. Man müsste eine Kosten-Nutzen-Analyse erstellen. Unsere Buchhaltung kann sich ja mal daransetzen. Wir köcheln möglicherweise wirklich zu sehr im eigenen Saft«, antwortete Frank.

»Ich glaube, abgesehen von der Kundenaquise, wenn du mal aus dem Laden hier rauskämest, täte dir das gut.«

Thomas stand auf und setzte sich auf die Schreibtischkante.

»Du hockst von morgens bis abends in deinem Büro, selbst an Sonn- und Feiertagen, nur um zu Hause nicht an Carola erinnert zu werden. Ein Tapetenwechsel, Gespräche mit Kollegen aus der Branche, ja selbst ein, zwei Nächte mal in einem anderen Bett zu verbringen, wären kein Nachteil.«

Thomas hatte erlebt, wie Frank fast zusammenbrach unter der Last, nicht nur seine Frau zu verlieren, sondern auch noch allein die Verantwortung für zwei kleine Kinder zu tragen. Sich dann auch noch von der so sehr ersehnten Tochter zu trennen. Sie nach kurzer Überlegung in die Hände seiner Schwägerin zu geben, die in den USA lebte, war ein weiterer Schicksalsschlag gewesen. Die Schwester seiner Frau wollte zurückfliegen, da blieb keine lange Zeit, die Entscheidung zu überdenken. Einerseits konnte er sich vorstellen, wie erleichtert Frank gewesen war, die Verantwortung für die Zweijährige abzugeben, andererseits bedeutete es, Frank hatte einen weiteren Verlust zu verkraften gehabt. Jetzt, nach fast einem Jahr, wäre die Zeit reif, sich neuen Anforderungen zu stellen. Eine Ablenkung geschäftlicher Art könnte Frank über den Schmerz hinweghelfen, ihn abhalten vom ständigen Grübeln.

Kurz nach Carolas Tod befürchtete Thomas, der Freund würde alles hinwerfen, ihre gemeinsame Arbeit zunichtemachen, die Jahre für den Aufbau der Firma, die Sorgfalt bei der Personalauswahl, Dinge preisgeben, die ihnen wichtig waren, sich vom Schicksal besiegen lassen. Thomas erinnerte sich, dass Frank mit dem Gedanken spielte, das Haus zu verkaufen, die Stadt zu verlassen. Zum Glück war er dem Rat der Familie gefolgt, seinen Sohn nicht vollends zu entwurzeln, seine Befindlichkeit in diesem Fall hinter das Wohl von Jasper zurückgestellt, dachte Thomas und machte noch einen Vorstoß. Er hatte den Eindruck, jetzt wäre ein offenes Wort angebracht.

»Auf diesen Messen soll es ja die ein oder andere hübsche Dame geben, die Besuchern Auskunft gibt oder für das leibliche Wohl sorgt und weiß der Teufel was. Vielleicht wartet gerade dort eine auf dich, die dich auf andere Gedanken bringt. Das ist doch kein Leben, so wie du es seit Monaten führst.«

»Carola ist gerade ein Jahr tot. Ich brauche keine Dame, die mich auf andere Gedanken bringt.« Und mit schneidendem Ton fügte Frank hinzu: »Außerdem gibt es keine zweite Frau für mich, die ihr das Wasser reichen könnte.«

Er presste die Lippen aufeinander und die beiden Falten an seinem Mund kerbten sich noch tiefer ein.

»Sag niemals nie! Ich rede ja nicht von einer neuen Frau, sondern von ein bisschen Abwechslung und Ablenkung.«

Thomas stand auf, trat hinter den Freund und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Unabhängig davon siehst du vor Ort, was die Konkurrenz so treibt. Wann hat man schon mal die Möglichkeit, quasi ein wenig Betriebsspionage zu betreiben und wenn sich Nützliches mit Praktischem verbinden lässt, ist das nicht verkehrt. Auf unserem Sektor geht die Entwicklung rasend schnell weiter. Augen und Ohren auf zu halten ist das Gebot der Stunde.«

»Hör auf mit deinen Sprüchen. Eine andere Frau. Was sollte das für eine Frau sein? Lass mich in Ruhe. Jede würde ich mit Carola vergleichen.«

Mühsam hatte Frank seit dem Tod seiner Frau eine Wand um sich errichtet, die ihn von Gefühlen abschirmte. Jasper gegenüber erwähnte er mit keinem Wort die tote Mutter, hatte Carolas Eltern gebeten, nicht böse zu sein, weil er alle Fotos und Gegenstände entfernte, die im Haus an Carola erinnerten. »Es ist zum Besten des Jungen«, betonte er immer wieder. Die Lampe mit dem honiggelben gläsernen Schirm wie eine Blüte, die sie so geliebt hatte, die sie nach zähem Feilschen dem Antiquitätenhändler am Fedelhören abgerungen hatte, war von ihm in den Keller verbannt worden. Sie zu zertrümmern oder wegzuwerfen, hatte er nicht übers Herz gebracht. Der triumphierende Gesichtsausdruck Carolas war ihm in zu lebhafter Erinnerung, als sie das umkämpfte Stück auf den von ihr ausgewählten Platz stellte.

»Vielleicht sollte ich dich auch mal auf meine Lieferanten ansetzen«, hatte er lachend zu ihr gesagt, »damit sie auf meine Preisvorstellungen eingehen«, als sie jubelnd wie eine Siegerin mit der Lampe als Trophäe nach Hause gekommen war.

Wie dankbar war er anfangs gewesen, dass die Schwiegereltern von Bonn nach Bremen zogen, um sich um den Enkel zu kümmern. Bis er deren Fürsorge nicht mehr ertragen konnte. Sie nahmen ihm die Luft zum Atmen, im Bemühen, das Andenken an die Tochter hochzuhalten. Nicht ein Tag verging, an dem sie nicht von Carola sprachen. Jedes noch so nichtige Geschehen wurde mit ihr in Zusammenhang gebracht. Kleinste Begebenheiten bei jeder Gelegenheit erwähnt.

Vor kurzer Zeit hatte Gerda Reschke, die neue Haushälterin, so etwas wie Mutterpflichten übernommen. Sie sorgte für ein warmes Mittagessen, hatte ein Auge auf Jaspers Hausaufgaben und ging selbst zu Eltern-abenden in der Schule. Er hörte kein Wort von ihr, dass er sich mehr um den Sohn kümmern müsse, keinen Vorwurf, er arbeite zu viel. Womöglich hat sie Angst, ich könnte ihr das fürstliche Gehalt kürzen, dachte er manchmal, schalt sich aber sofort, diese Frau kann ich gar nicht hoch genug bezahlen.

In den ersten Wochen vermied er es, mit seinem Sohn allein zu sein, saß bis in die Nacht im Büro, nur um nicht am Bett beim Gutenachtkuss Fragen des Zehnjährigen beantworten zu müssen, wo Mama jetzt wäre und ob sie nicht doch wiederkäme. Er wusste, er war ein Feigling, aber er selbst haderte noch zu sehr mit dem Schicksal. Er aß kaum und anfangs spielte er mit dem Gedanken, auf dem Nachhauseweg auf der kurvenreichen Strecke am Botanischen Garten das Auto einfach gegen einen Baum zu lenken.