Keine Paraden mehr - Ford Madox Ford - E-Book

Keine Paraden mehr E-Book

Ford Madox Ford

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Beschreibung

Ehekrieg, verletzte Gefühle, Schuld und Sühne: ein fulminantes Buch, in dem ein privates und ein Weltendrama mit Donnergrollen aufeinanderstoßen. Christopher Tietjens ist ein Gentleman, wie er im Buche steht. Und deshalb hat er jahrelang die Intrigen, Eskapaden und die Untreue seiner attraktiven Gattin Sylvia so aufgenommen, wie er es auch von anderen Vertretern der höheren Gesellschaftsschichten erwarten würde: keine Szenen. Und seine eigenen Gefühle für Valentine Wannop unterdrückt, weil ein Gentleman seine Frau nicht betrügt. Und statt die Trennung öffentlich zu machen, die Tietjens nach einem hasserfüllten Streit mit seiner Frau für selbstverständlich hielt, ist er direkt in die Schützengräben Frankreichs geflohen, wo ein unbarmherziger Stellungskrieg zwischen den Alliierten und den Deutschen tobt. Doch auch hier hat Tietjens keine Ruhe: Während er inmitten einer Feuerpause versucht, sein aus vielen Nationalitäten bestehendes Ersatzbataillon für einen wichtigen Einsatz zu organisieren, erhält er die Nachricht, dass seine Frau auf dem Weg in das französische Kriegsgebiet ist. Als Sylvia in dem von verwundeten, frierenden und ausgezehrten Soldaten überfüllten Frontlager eintrifft, überzieht sie ihren Mann mit einem Sperrfeuer von Verleumdungen und Unterstellungen. Tietjens Vorgesetzter kann einen Skandal nur dadurch verhindern, dass er ihn erneut in die vordersten Einsatzlinien schickt … Band 2 der Tetralogie Ende der Paraden.

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Seitenzahl: 426

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Ford Madox Ford

Keine Paraden mehr

Band 2 der Tetralogie »Das Ende der Paraden«

Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Utz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ford Madox Ford

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Motto

Teil Eins

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

Teil Zwei

I. Kapitel

II. Kapitel

Teil Drei

I. Kapitel

II. Kapitel

Korrelation der Dienstgrade in der deutschen und englischen Armee

Inhaltsverzeichnis

Das englische Original erschien unter dem Titel »No More Parades« im Jahr 1925 bei Duckworth & Co in London.

Im Sinne der Originaltreue wurden bei der Übersetzung gewisse systematische und grammatikalische Inkonsistenzen in Kauf genommen.

Inhaltsverzeichnis

Zwei Stücke sind, die mich verdrießen

Und das dritte tut mir Zorn:

Wenn man einen streitbaren Mann

Zuletzt Armut leiden lässt

Und die weisen Räte zuletzt verachtet.

Jesus Sirach 27:1–2

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

I

Wer hier eintrat fand sich in einem unaufgeräumten, rechteckigen Raum, feucht vom warmen Schwitzwasser der Winternacht und erfüllt von dem braun-orangefarbenen Staub des Lichts. Er hatte die Form eines Hauses, wie ein Kind es zeichnet. Drei Gruppen braun bekleideter, mit messinggelben Tupfern besprenkelter Körper wurden von Lichtstrahlen aus einem durchlöcherten, mit glühender Kohle gefüllten Eimer beleuchtet, der mit einem trichterförmigen Blech abgedeckt war. Zwei Männer kauerten auf dem Boden neben dem Bunkerofen, als hätten sie aus hierarchischen Gründen kleiner zu sein; vier, zwei an jedem Ende der Hütte, waren in einer Haltung äußerster Gleichgültigkeit über dem Tisch zusammengesunken. Vom Traufenbrett über dem schwarzen Parallelogramm, das die Tür war, tropfte hartnäckig und in unregelmäßigen Abständen Feuchtigkeit wie eine gläserne, in Intervallen wiederkehrende Musik. Die beiden Männer, die neben dem Bunkerofen auf ihren Absätzen hockten – es handelte sich um ehemalige Bergleute –, begannen kaum hörbar sich im leisen Singsang eines Dialekts zu unterhalten. Es war ein anhaltendes, monotones, seelenloses Murmeln. Es klang, als ob einer dem anderen lange, lange Geschichten erzählte, auf die sein Kamerad mit tierischen Grunzlauten reagierte, um Verständnis oder Mitgefühl zu bekunden …

Ein ungeheures, majestätisches Teetablett donnerte mit einem den ganzen Himmel bis an den schwarzen Ring des Horizonts erfüllenden Gebraus zur Erde. Zahllose Stücke Eisenblechs sagten »Pack. Pack. Pack.«. Kurz danach bebte der Lehmboden der Hütte, Trommelfelle wurden eingedrückt, geballter Lärm regnete durchs Universum, gewaltige Echos stießen die Männer umher – nach rechts, nach links oder nach unten auf die Tische, und ein Geprassel wie von Feuer im Unterholz ungeheurer Wälder wurde zum Dauergeräusch der Nacht. Als er den Kopf über den Bunkerofen beugte und Licht daraus auf ihn fiel, waren die Lippen eines der beiden Männer auf dem Boden unglaublich rot und voll und redeten und redeten ohne Unterlass …

Die beiden Männer auf dem Boden waren walisische Bergleute, von denen der eine aus Rhondda Valley und unverheiratet war; der andere, aus Pontardulais, hatte eine Frau, die eine Wäscherei betrieb, seitdem er – kurz vor dem Krieg – aufgehört hatte, unter Tage zu gehen. Die zwei Männer an dem Tisch rechts von der Tür waren Sergeant-Majors; der eine kam aus Suffolk und hatte bereits sechzehn Jahre Dienstzeit als Sergeant in einem regulären Regiment hinter sich. Der andere war ein Kanadier englischer Abstammung. Die beiden Offiziere am anderen Ende der Hütte waren Captains, der eine ein junger Berufsoffizier, in Schottland geboren, aber in Oxford ausgebildet; der andere, schon fast mittleren Alters und von massiger Statur, war aus Yorkshire und gehörte zu einem Milizbataillon. Der eine Meldegänger auf dem Boden war wütend, weil der ältere Offizier ihm verweigert hatte, Urlaub zu nehmen und nach Hause zu gehen, um herauszufinden, warum seine Frau, die ihre Wäscherei verkauft hatte, vom Käufer noch nicht das Geld bekommen hatte; der andere dachte gerade an eine Kuh. Sein Mädchen, das auf einer Bergfarm oberhalb von Caerphilly arbeitete, hatte ihm wegen einer komischen Kuh geschrieben: eine schwarz-weiße Holsteiner – eine weiß Gott komische Kuh. Der englische Sergeant-Major war wegen der notgedrungenen Verspätung für sein Ersatzbataillon den Tränen nahe. Bis man es in Marsch setzte, würde es Mitternacht werden. Es sei nicht richtig, die Männer so hinzuhalten. Die Männer hätten es nicht gern, warten zu müssen und hingehalten zu werden. Es mache sie unzufrieden. Sie mochten es nicht. Auch könne er nicht verstehen, warum der Quartiermeister nicht genug Kerzen für die Schutzlampen vorrätig habe. Es gebe keinen Grund, die Männer warten zu lassen, sie hinzuhalten. Sie müssten bald etwas zum Abendessen bekommen. Würde dem Quartiermeister nicht gefallen. Würde sich richtig ärgern. Müsste Abendrationen beschaffen. Würde seine Abrechnungen durcheinanderbringen, und zwar gewaltig. Zweitausendneunhundertvierunddreißig Abendessen zu jeweils eineinhalb Penny. Aber es sei nicht richtig, die Männer bis Mitternacht hinzuhalten, noch dazu ohne Abendessen. Es mache sie unzufrieden, zumal sie doch zum ersten Mal an die Front müssten, die armen Teufel.

Der kanadische Sergeant-Major war in Unruhe wegen eines schweinsledernen Notizbuchs. Er hatte es im Materialdepot in der Stadt gekauft. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er es auf eine Parade mitnähme, um dem Adjutanten eine Meldung oder sonst etwas daraus vorzulesen. Sehr schick sähe es aus auf der Parade, wenn er kerzengerade und groß dastünde. Aber er konnte sich nicht erinnern, es in seinen Kleidersack gepackt zu haben. Am Körper hatte er es nicht. Er griff in seine rechte und in seine linke Brusttasche, seine rechte und seine linke Schoßtasche, in alle Taschen seines Mantels, der in Griffweite an einem Nagel hing. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob der Mann, der ihm als Bursche diente, dieses Notizbuch in den Kleidersack gepackt hatte, obwohl er es ihm versicherte. Es war sehr ärgerlich. Sein derzeitiges Notizbuch, in Ontario gekauft, war ausgebeult und eingerissen. Er zog es nicht gerne heraus, wenn ein Offizier des Empire nach etwas aus einer Liste fragte. Würde einen falschen Eindruck von den kanadischen Truppen hinterlassen. Sehr ärgerlich. Er war Auktionator. Wenn alles so weiterging, glaubte er, würde es halb zwei sein, bis sie die Truppe zum Bahnhof gebracht und verladen hätten. Aber es war sehr ärgerlich, nicht sicher sein zu können, ob das Notizbuch eingepackt war oder nicht. Er hatte sich vorgestellt, beim Appell kerzengerade und groß einen guten Eindruck zu machen, wenn der Adjutant etwas aus einem Bericht wissen wollte. Er hielt es für sicher, dass jetzt, da sie in Frankreich waren, ihre Adjutanten Offiziere des Empire sein würden. Es war sehr ärgerlich.

Ein gewaltiges Krachen hatte jedem dieser Männer einzeln und der gesamten Gruppe Dinge von unerträglicher Intimität mitzuteilen. Nach diesem todbringenden Gespeie glichen alle anderen Geräusche einer rauschenden Stille, schmerzhaft für Ohren, in denen laut der Puls jagte. Der junge Offizier sprang mit einer heftigen Bewegung auf und griff nach seinem schweren Koppel, das an einem Nagel hing. Der Ältere machte einen langsamen Schritt zur Seite und streckte über den Tisch hinweg eine Hand nach unten aus. Er sah, dass der jüngere Mann, der vorgesetzte Offizier, fast die Beherrschung verlor. Der jüngere, unerträglich erschöpfte Mann sagte etwas heftig Beleidigendes zu seinem Genossen, unhörbar für diesen. Der Ältere entgegnete etwas heftig Einsilbiges, ebenfalls unhörbar, und streckte seine Hand weiter über den Tisch. Der alte englische Sergeant-Major sagte zu seinem Untergebenen, Captain Mackenzie habe wieder einen seiner Anfälle, doch niemand konnte hören, was er sagte, und er wusste es. Er spürte, wie sich in seinem mütterlichen, von Mitgefühl für seine zweitausendneunhundertvierunddreißig Schützlinge erfüllten Herzen wie eine schwere Müdigkeit das Bedürfnis regte, seine Fürsorge auch auf den Offizier auszudehnen. Zu dem Kanadier sagte er, Captain Mackenzie, den gerade wieder für eine Weile der Wahnsinn gepackt habe, sei der beste Offizier in der Armee Seiner Majestät. Und im Begriff, sich wie ein verdammter Narr zu benehmen. Der beste Offizier in der Armee Seiner Majestät. Keiner besser. Besorgt, schneidig, tapfer wie ein Held. Und voller Rücksicht für seine Männer in der vordersten Linie. Man mochte es nicht glauben … Irgendwie empfand er es als Plackerei, einen Offizier bemuttern zu müssen. Einem Lance-Corporal oder einem jungen Sergeant, der gerade am Durchdrehen war, konnte man seine Ratschläge direkt durch den Schnurrbart zukeuchen. Einem Offizier jedoch musste man dergleichen durch die Blume sagen. War schwierig. Gott sei Dank, dass sie in dem anderen Captain einen verlässlichen Mann hatten, der kühlen Kopf behielt. Sprichwörtlich alt und gut.

Es wurde totenstill.

»Haben die Kerle verloren, jawohl«, ließ der Melder aus dem Rhonddatal seine Stimme alarmierend klar vernehmen. Auf die Giebel der Baracken, die man durch die Tür sehen konnte, zuckten grelle Lichter herab.

»Kein Grund«, sagte sein Kumpel aus Pontardulais ziemlich weinerlich in seinem heimatlichen Singsang, »uns, verdammt noch mal, mit ihren verdammten Suchscheinwerfern anzuleuchten, damit uns die dreckigen Hunnenflieger richtig gut sehen können. Ich will meine gottverdammte kleine Hütte auf den gottverdammten Mumbles wiedersehen. Sie vielleicht ja nicht, aber ich.«

»Nicht so viele Kraftausdrück, O Nine Morgan«, sagte der Sergeant-Major.

»Sage ich auch immer, Morgan«, gab O Nine Morgans Kumpel noch drauf. »Muss jedenfalls ’ne komische Kuh gewesen sein. ’ne schwarz-weiße Holsteiner war’s …«

Es schien, als würde der jüngere Captain es aufgeben, der Unterhaltung zu folgen. Er stützte beide Hände auf die Decke auf dem Tisch. Er rief:

»Wer zum Teufel sind Sie, mir Befehle zu erteilen? Ich bin Ihr Vorgesetzter. Wer zum Teufel … Oh, bei Gott, wer zum Teufel … Niemand erteilt mir Befehle …« Seine Stimme wurde schwach und versagte. Er spürte, wie seine Nasenflügel sich ungewöhnlich blähten, sodass die Luft, die er einsog, kalt war. Er fühlte sich von einer dunklen Verschwörung in die Enge getrieben. Er rief: »Sie und Ihr dreckiger Zuhälter von einem General! …« Er spürte das Verlangen, mit seinem scharfen Stechmesser gewisse Kehlen durchzuschneiden. Das würde die Last von seiner Brust nehmen. Das »Setzen Sie sich«, das die schwerfällige Gestalt ihm gegenüber ausstieß, lähmte ihn jedoch. Er empfand unglaublichen Hass. Hätte er doch nur seine Hand bewegen und das Messer greifen können …

O Nine Morgan sagte:

»Der Mistkerl, der meine gottverdammte Wäscherei gekauft hat, heißt Williams … Wenn ich mir vorstelle, es könnte Evans Williams von Castell Goch sein, würd ich desertieren.«

»Hat einen Hass auf ihr Kalb gekriegt«, sagte der Mann aus Rhondda. »So schnell guckste nicht, da isses schon passiert …« Keiner hörte zu, worüber die Offiziere sich unterhielten. Offiziere unterhielten sich nur über uninteressantes Zeug. Was konnte in eine Kuh fahren, dass sie ihr Kalb hasste? Oben in den Bergen hinter Caerphilly? Am Morgen im Herbst war manchmal der ganze Berghang von Spinnennetzen überzogen. Wie gesponnenes Glas glänzten sie in der Sonne. Die Kuh musste verhext sein.

Der junge Captain beugte sich über den Tisch und setzte zu einem langen Vortrag über Dienstalter und Rangunterschiede an. Beide Seiten vertretend, diskutierte er mit sich selbst, wobei er außerordentlich schnell sprach. Seine Beförderung sei nach Gheluvelt im Amtsblatt veröffentlicht worden. Die des anderen erst ein Jahr später. Es treffe zu, dass der andere ständiger Kommandeur jenes Depots sei, er selbst der Einheit aber nur mit der Zuständigkeit für Verpflegung und Disziplin attachiert. Das berechtige den anderen jedoch nicht, ihm zu befehlen, sich zu setzen. Was, zum Teufel, meinte der andere wohl damit, wollte er wissen? Er begann, schneller denn je über eine Kreisfläche zu reden. Sobald deren Umfanglinie sich durch die Auflösung eines Atoms völlig schlösse, würde das Ende der Welt eintreten. Im Millennium würde niemand mehr weder Befehle erteilen oder entgegennehmen. Bis dahin werde er Befehle natürlich befolgen.

Den älteren Offizier belastete das Kommando schwer. Eine unvernünftig große Einheit, ein unfähiges, aus untauglichen, dauernd ausgetauschten Subalternoffizieren zusammengesetztes Hauptquartier, arbeitsunwillige Unteroffiziere, Mannschaften, die fast gänzlich aus den Kolonien kamen und nicht gewohnt waren, mit fast nichts auszukommen, dazu die Abhängigkeit von einem Depot, das sich, weil es schon lange bestand, ausschließlich als Teil einer britischen Einheit verstand und deshalb verübelte, dass er überhaupt etwas anforderte, erschwerten ihm den Alltag schon beträchtlich. Außerdem hatte er noch private Schwierigkeiten. Erst vor Kurzem hatte er das Lazarett verlassen; in dem Zelt, in dem er wohnte und das er sich von dem Sanitätsoffizier geliehen hatte, der auf Urlaub in England weilte, wurde es erstickend heiß, wenn der Paraffinofen an, und unerträglich kalt und feucht, wenn er aus war. Der Bursche, dem der Sanitätsoffizier die Verantwortung für die Hütte übertragen hatte, erwies sich als dumm. Und die deutschen Luftangriffe hörten gar nicht mehr auf in letzter Zeit. Im Stützpunkt drängten sich die Männer dichter als Sardinen. In der Stadt konnte man sich nicht bewegen. Einheiten mit dem Auftrag, Ersatzbataillone zusammenzustellen, waren angewiesen, so unauffällig wie möglich vorzugehen. Ersatzbataillone durften nur nachts hinausgeschickt werden. Wie aber konnte man ein Ersatzbataillon nachts in Marsch setzen, wenn wegen der Luftangriffe alle zehn Minuten für zwei Stunden das Licht ausging? Jeder Mann hatte neun verschiedene Formulare mit Zusätzen, die von einem Offizier unterschrieben werden mussten. Es war ja richtig, dass die armen Teufel einwandfrei registriert werden mussten. Doch wie sollte man das durchführen? Er hatte zweitausendneunhundertneunundvierzig Männer, die er in dieser Nacht hinausschicken musste und neun mal zweitausendneunhundertneunundvierzig ist zwanzigtausendneunhundertsechsundvierzig. Sie konnten oder wollten ihm keine eigene Prägemaschine für die Erkennungsmarken überlassen, aber wie hätte man vom Waffenmeister des Depots erwarten können, zusätzlich zu seinen normalen Aufgaben fünftausendneunhundertachtundachtzig Erkennungsmarken zu stanzen?

Der andere Captain fuhr fort, unzusammenhängendes Zeug zu brabbeln. Tietjens mochte sein Gerede über den Kreis und das Millennium nicht. Als einigermaßen vernünftiger Mensch hörte man dergleichen mit Unbehagen. Möglich, dass es das Anfangsstadium eines finalen, gefährlichen Wahnsinns war … Aber er wusste nichts über den Burschen. Zu dunkelhaarig und gut aussehend war er, wahrscheinlich auch zu leidenschaftlich, um auf den ersten Blick für einen guten aktiven Offizier gehalten zu werden. Doch nach seinen Orden und Auszeichnungen zu schließen musste er ein guter Offizier sein. Der General sagte das auch und hatte nebenbei wissen lassen, dass er den Preis des Vizekanzlers für Latein gewonnen habe. Er fragte sich, ob General Campion wusste, was unter einem Preisträger des Vizekanzlers für Latein vorzustellen war. Wahrscheinlich nicht, denn er hatte seiner Mitteilung diesen Hinweis auf eine Art zugefügt, wie ein Häuptling bei den Wilden sich seinen barbarischen Schmuck umhängt. Wollte er demonstrieren, was für ein kultivierter Mann er, General Lord Edward Campion, eigentlich war? Man konnte nie wissen, wo überall die Eitelkeit ihr Haupt erhob.

Dieser Bursche also war zu dunkelhaarig und gut aussehend für einen guten Offizier: Aber er war ein guter Offizier. Das war die Erklärung. Unterdrückte Leidenschaft treibt sie in den Wahnsinn. Er musste sich seit 1914 immer nüchtern, diszipliniert, geduldig, kontrolliert gegeben haben – vor einer Kulisse aus Höllenfeuer, Krach, Blut, Schlamm, alten Konservendosen … Tatsächlich stellte sich der ältere Offizier den Jüngeren wie in einem Entwurf für ein lebensgroßes Porträt vor – aus unerfindlichem Grund breitbeinig vor einer Wandtapete stehend, die scharlachrot vom Feuer, aber noch röter vom Blut war … Er seufzte leise; so nämlich sah es aus, das Leben all jener Millionen von Männern …

Im Geiste schien er sein Ersatzbataillon vor sich zu sehen: zweitausendneunhundertvierundneunzig Männer, die er mehr als zwei Monate unter seinem Kommando gehabt hatte – was lange war angesichts der Schnelllebigkeit dieser Zeit –, Männer, um die er und Sergeant-Major Cowley sich mit großem Feingefühl gekümmert, über deren Kampfgeist, Moral, Füße, Verdauung, Empfindlichkeiten, Gier nach Frauen sie gewacht hatten … Im Geiste schien er zu sehen, wie sie sich in langer Kolonne über die Weite des Landes schlängelten und ihre Spitze sich langsam in die Erde hinabbewegte – ähnlich einer in ihr Wasserbecken gleitenden Riesenschlange, wie man es im Zoo beobachten kann … Dort draußen, in großer Entfernung, vor jener unpassierbaren Grenze, die sich aus der Tiefe der Erde bis in die höchsten Himmel erstreckte, stiegen sie hinab in die Erde …

Tiefe Niedergeschlagenheit, endloses Durcheinander, endloser Schwachsinn, endlose Niedertracht. Alle diese Männer waren in der Hand intriganter, verantwortungsloser Zyniker, die in langen Korridoren jene Pläne ausheckten, die die Herzen zusammenschnürten auf dieser Welt. Alle diese Männer waren nur Spielzeug, all ihre Qualen lediglich der Anlass für schöne Phrasen in den Reden von Politikern ohne Herz, ja sogar ohne Intelligenz. In jener greulichen, ungeheuren braunen Schlammwüste mitten im tiefsten Winter wurden Hunderttausende von Männern hin- und herrangiert … bei Gott, wie mutwillig von Elstern aufgepickte und über die Schulter geworfene Nüsse … Aber es waren Männer. Nicht einfach eine statistische Größe. Nein, Männer, um die man sich hier sorgte. Jeder Einzelne mit einem Rückgrat, Knien, Kniehosen, Hosenträgern, einem Gewehr, einem Zuhause, Leidenschaften, Ehebrüchen, Räuschen, Kumpels, irgendeiner Vorstellung vom Universum, Hühneraugen, erblichen Krankheiten, einem Lebensmittelladen. Der eine trug morgens die Milch aus, der andere hatte einen Zeitungsstand, Bälger und eine Frau, die eine Schlampe war … Die Männer: Die einfachen Soldaten! Und die armen – kleinen Offiziere. Gott steh ihnen bei. Den Latein-Preisträgern des Vizekanzlers …

Speziell dieser arme verdammte Preisträger schien etwas gegen Lärm zu haben. Seinetwegen hätte man hier für Ruhe sorgen müssen …

Und bei Gott, er hatte völlig recht. Dieser Ort war dafür gedacht, unauffällig und ordentlich Fleisch fürs Schlachthaus vorzubereiten. Ersatzbataillone! Eine Basis ist ein Ort, an dem man nachdenken oder vielleicht beten sollte; ein Ort, an dem ein Tommy in Frieden seinen letzten Brief nach Hause schreiben und schildern sollte, wie schrecklich die Kanonen donnern.

Doch eineinhalb Millionen Männer in jener kleinen Stadt und ihrer Umgebung zusammenzupferchen, war wie eine Rattenfalle mit dicken Brocken verwesten Fleisches vollzustopfen. Die Hunnenflugzeuge konnten sie aus hundert Meilen Entfernung riechen. Sie konnten hier größeren Schaden anrichten, als wenn sie ein ganzes Viertel von London kurz und klein bombardierten. Und die Luftabwehr war ein Witz, ein schlechter Scherz. Aus jedem beliebigen Geschütz ballerten sie Tausende von Salven in die Luft wie Schuljungen, die Steine auf schwimmende Ratten werfen. Es leuchtete ein, dass die besten Luftabwehrleute um die Metropole herum stationiert waren. Aber die Betroffenen fanden diesen Witz nicht komisch.

Seine Niedergeschlagenheit nahm noch einmal zu. Das Misstrauen der Regierung daheim, das fast jeder in der Armee inzwischen spüren konnte, ähnelte einem körperlichen Schmerz. Diese ungeheuren Opfer, dieser Ozean seelischen Leides nährte nur die private Eitelkeit von Männern, die sich in der Ungeheuerlichkeit dieser Szenerien und dieser Gewalten wie Zwerge ausnahmen! Es waren die Qualen dieser Millionen durchnässter, schlammbrauner Menschen, die ihn peinigten. Zu Hunderttausenden mochten sie sterben, niedergemetzelt werden auf den Schlachtfeldern. Doch dass sie ohne Aufmunterung, ohne Zuversicht, mit gebeugten Schultern, ohne eine Parade niedergemetzelt werden sollten …

Eigentlich wusste er nichts über den Offizier hier vor ihm. Der hatte aufgehört zu reden, weil er offenbar eine Antwort auf irgendeine Frage erwartete. Welche Frage? Tietjens hatte keine Ahnung. Er hatte nicht zugehört. Eine schwere Stille legte sich über die Hütte. Sie warteten einfach ab. Mit einem Anflug von Hass fragte der Bursche:

»Und, wie steht’s damit? Ich will es wissen!«

Tietjens überlegte immer noch … Es gab viele Spielarten von Wahnsinn. Um welche handelte es sich hier? Betrunken war der Bursche nicht. Er redete wie ein Trunkenbold, aber er war nicht betrunken. Durch seinen Befehl, sich zu setzen, hatte er es herausgefordert. Es gibt Wahnsinnige, deren Unterbewusstsein in einem bestimmten Augenblick auf einen militärischen Befehl wie auf einen Zauberspruch reagiert. Tietjens erinnerte sich, wie er in einem Lager daheim einen armen, kleinen Kerl, der durchgedreht war und in wildem Galopp, mit dem blanken Bajonett fuchtelnd, fünfzig Yards vor seinen Verfolgern an seinem Zelt vorbeigerannt war, mit »Kehrt … marsch!« angebellt hatte, worauf dieser auf der Stelle stehen geblieben war, wie ein Gardist militärisch zackig aufgestampft und kehrtgemacht hatte. An diesem Verrückten hatte er es ausprobiert, weil ihm nichts Besseres eingefallen war. Offenbar hatte es funktioniert. Er ließ es darauf ankommen und fragte:

»Wie steht was?«

Als versuchte er, ironisch zu sein, sagte der Mann:

»Es scheint, als sei ich es nicht wert, dass Ihro Gnaden mir zuhören. Ich sagte: ›Wie steht’s mit meinem kleinen Dreckhäufchen von Onkel?‹ Eurem schmutzigen Busenfreund.«

Tietjens sagte:

»Der General ist Ihr Onkel? General Campion? Was hat er Ihnen getan?«

Der General hatte diesen Burschen mit einer Notiz zu ihm geschickt, in der er ihn, Tietjens, bat, doch einen sehr guten Burschen und bewundernswerten Offizier in seiner Abteilung im Auge zu behalten. Die Notiz war in der Handschrift des Generals und enthielt zusätzlich den Hinweis auf Captain Mackenzies akademische Fähigkeiten … Tietjens war es merkwürdig vorgekommen, dass der General sich so viel Mühe für einen x-beliebigen Kommandeur einer Infanterie-Kompanie machte. Wodurch mochte er auf den Burschen aufmerksam geworden sein? Gewiss, Campion war gutmütig wie andere Männer auch. Machte man ihn auf einen halb übergeschnappten Burschen aufmerksam, der, nach seinen Papieren zu schließen, ein sehr guter Mann war, tat Campion alles für ihn, was in seiner Macht stand. Und Tietjens wusste, dass der General ihn, Tietjens, für einen ernsthaften, belesenen Burschen hielt, auf dessen Fähigkeit, sich um einen seiner Protegés zu kümmern, er sich verlassen konnte … Wahrscheinlich stellte sich Campion vor, sie hätten nichts zu tun in jener Einheit: Gut möglich, dass sie interimistisch zur Irren-Station wurden. War Mackenzie jedoch Campions Neffe, wurde die Sache klarer.

Der Irre rief:

»Campion mein Onkel? Der ist doch Ihr Onkel!«

Tietjens sagte:

»Oh nein, ist er nicht.« Nicht einmal verwandt sei der General mit ihm, jedoch zufällig Tietjens Pate und der älteste Freund seines Vaters.

Der andere antwortete:

»Dann ist es aber verdammt komisch. Verdammt verdächtig … Warum soll er an Ihnen interessiert sein, wenn er nicht Ihr dreckiger Onkel ist? Sie sind kein Soldat … Sie sehen überhaupt nicht aus wie ein Soldat … Wie ein Mehlsack, ja, so sehen Sie aus …« Nach einer kurzen Pause sagte er eilig: »Im Hauptquartier heißt es, Ihre Frau hätte den widerlichen General an der Leine. Ich hab’s nicht geglaubt. Ich hab nicht geglaubt, dass Sie so ein Kerl wären. Ich hab viel über Sie gehört!«

Tietjens lachte über seine Verrücktheit. Doch dann fuhr ihm in der bedrückenden Düsternis ein unerträglicher Stich durch den ganzen schweren Körper – der unerträgliche Stich, den Nachrichten von Zuhause den hoffnungslos an diesen Ort gefesselten Männern versetzen, der Stich, den die Katastrophen auslösen, die sich im Dunkeln und in der Ferne ereignen. Ihnen war man hilflos ausgeliefert! … Die außerordentliche Schönheit der Frau, von der er getrennt war – sie war wirklich außerordentlich schön! –, könnte Anlass zu Skandalen um sie gegeben haben, deren Kunde bis ins Hauptquartier des Generals gedrungen sein mochte, wo es zuging wie bei einem Familientreffen! Bislang hatte es, dank der Güte Gottes, keine Skandale gegeben. Sylvia Tietjens war aufs quälendste und verletzendste untreu gewesen. Er konnte nicht sicher sein, ob das Kind, das er inniglich liebte, von ihm war … Nichts Ungewöhnliches für außerordentlich schöne – und grausame! – Frauen. Sie jedoch war auf ihre hochmütige Art umsichtig gewesen.

Dennoch hatten sie sich vor drei Monaten getrennt … Zumindest glaubte er, sie hätten sich getrennt. Über sein familiäres Leben war völlige Leere hereingebrochen. Im braunen Dunkel erschien sie so außerordentlich strahlend und klar vor ihm, dass er erschauerte: sehr groß, sehr blond, in außerordentlich guter körperlicher Verfassung, ja, makellos. Ein Vollblut! In einem hautengen Gewand aus Goldlamé, leuchtend, mit ihrer Überfülle ebenfalls wie mit Gold durchwirkten Haars, das sie in Zöpfen um die Ohren drapiert hatte. Ein klar geschnittenes, etwas schmales Gesicht; weiße kleine Zähne; kleine Brüste; schlanke, lange Arme, eng dem Körper anliegend, wie in Erwartung … Wenn müde hatten seine Augen die Neigung, Bilder in dieser extremen Schärfe auf der Netzhaut wiederzugeben, manchmal Bilder von Dingen, an die er gerade dachte, manchmal von Dingen, die tief in seiner Seele schlummerten. Und heute Nacht waren seine Augen sehr müde! Sie sah geradeaus, mit einem leichten, fast unmerklichen Zucken um die Mundwinkel. Sie hatte sich gerade ausgedacht, wie sie diese schweigsame Person am schmerzlichsten verletzen könnte … Aus dem Hell-Dunkel wurde ein strahlendes Blau in Form eines winzigen gotischen Bogens, ehe sie nach rechts aus seinem Blickfeld entschwand.

Über Sylvias Aufenthaltsort wusste er nichts. Er hatte es aufgegeben, die Illustrierten dazu zu konsultieren. Sie hatte gesagt, sie wolle in ein Kloster in Birkenhead gehen – doch hatte er zweimal Fotos mit ihr gesehen. Das erste zeigte sie mit Lady Fiona Grant, der Tochter des Earl of Ulleswater – und einem Lord Swindon, der als künftiger Minister für Internationale Finanzangelegenheiten gehandelt wurde und der ein frisch in den Adelsstand erhobener Geschäftsmann war … Auf dem Hof von Lord Swindons Schloss gingen sie zu dritt direkt auf die Kamera zu … Alle drei lachten! … Mit der Information, der Gatte von Mrs. Christopher Tietjens befinde sich an der Front.

Der Stachel jedoch war in dem zweiten Bild gewesen – in der Unterschrift, die die Illustrierte dazu lieferte! Es zeigte Sylvia im Park vor einer Bank stehend. Auf der Bank sah man im Profil einen jungen Mann in wieherndem Gelächter mit einem fest auf den Kopf gedrückten, zurückgeschobenen Zylinder, das sehr prominente Kinn vorgestreckt. Das Bild, so die Unterschrift, zeige Mrs. Christopher Tietjens, deren Gatte sich derzeit in einem Feldlazarett befinde, und den Sohn und Erben Lord Brighams, ihm gerade eine amüsante Geschichte erzählend! Auch er einer dieser abscheulichen, betrügerischen Finanzadligen und Zeitungsbesitzer …

Als er nach seiner Entlassung aus dem Lazarett im baufälligen Vorraum eines Offizierskasinos das Foto betrachtete, glaubte er in Anbetracht der Bildunterschrift einen schmerzlichen Augenblick lang, die Illustrierte wolle Sylvia damit bloßstellen … Doch illustrierte Zeitschriften stellen die Schönen der Gesellschaft nicht bloß. Ihr Wert für die Fotografen ist viel zu groß … Folglich musste Sylvia die Information selbst geliefert haben; der Kontrast zwischen ihrer amüsanten Begleitung und der Mitteilung, ihr Gatte befinde sich in einem Frontlazarett, sollte die Fantasie anregen … Den Verdacht, Sylvia könne sich auf dem Kriegspfad befinden, hatte er gehabt, ihn jedoch einfach verdrängt … Doch bei ihrer schillernden Mischung aus vollkommener Geradlinigkeit, vollkommener Furchtlosigkeit, vollkommener Rücksichtslosigkeit, Großzügigkeit, ja Freundlichkeit – und entsetzlicher Grausamkeit – mochte nichts besser zu ihr passen, als unmissverständliche Verachtung – nein, nicht Verachtung, sondern zynischen Hass erkennen zu lassen – auf ihren Gatten, auf den Krieg, auf die öffentliche Meinung … ja, sogar auf die Belange ihres Kindes! … Und dennoch schien es ihm, als zeige das Foto, das er gerade gesehen hatte, dieselbe Sylvia, die, völlig konzentriert und mit leichten Lippenbewegungen, die Zahl neben der glänzenden Quecksilbersäule eines Fieberthermometers ablas … Als das Kind Masern hatte, war das Fieber so hoch gewesen, dass er nicht einmal jetzt noch daran denken wollte. Das war bei seiner Schwester in Yorkshire gewesen, und der örtliche Arzt hatte nicht die Verantwortung übernehmen wollen; immer noch spürte er die Wärme des kleinen mumienhaften Körpers; er hatte Kopf und Gesicht mit einem Flanelltuch bedeckt, um sich den Anblick zu ersparen, und das heiße, schrecklich hinfällige Bündel in Wasser getaucht, auf dessen Oberfläche in kleine Stücke zerhacktes Eis glitzerte … Sie war völlig konzentriert gewesen und ihre Mundwinkel hatten ein wenig gezuckt: Man konnte zuschauen, wie die Temperatur sank … Vielleicht sah sie deshalb davon ab, den Vater öffentlich zu beschädigen und damit dem Kind grausamerweise ein Leid anzutun. Denn es konnte nichts Schlimmeres geben für ein Kind, als eine Mutter zu haben, die bekanntermaßen eine Hure ist …

Sergeant-Major Cowley stand neben dem Tisch. Er sagte:

»Wäre es nicht gut, Sir, den Melder zum Küchen-Sergeant ins Depot zu schicken und auszurichten, dass wir für das Ersatzbataillon Abendessen bestellen? Das andere könnten wir mit den 128ern zusammen in die Quartiere schicken. Auch sie werden im Augenblick hier nicht gebraucht.«

Der andere Captain redete unaufhörlich weiter – aber über seinen sagenhaften Onkel, nicht über Sylvia. Tietjens fiel es schwer zu verstehen, was er auszudrücken versuchte. Er wollte den zweiten Melder ins Depot schicken, um dem Quartiermeister ausrichten zu lassen, er, Captain Tietjens, Kommandeur des XVI. Ersatzbataillons, werde für den Fall, dass nach Rückkehr des Überbringers nicht umgehend Allzweckkerzen für Tarnlampen zum Einsatz in seiner Ordonnanzstube ausgeliefert würden, die ganze, die Versorgung seines Bataillons betreffende Angelegenheit noch in derselben Nacht vor das Oberkommando der Basis bringen. Alle drei redeten gleichzeitig; ein bleierner Fatalismus überwältigte Tietjens beim Gedanken an die vom Depot-Quartiermeister an den Tag gelegte Sturheit. Die große Einheit neben seinem Lager betrieb mürrische, hartnäckige Obstruktion. Um seine Männer an die Front zu schaffen, hätte man mehr Einsatz von ihnen erwarten dürfen. Schließlich würden die Männer dringend gebraucht und je mehr von seinen Männern gegangen wären, desto mehr könnten sie von ihren zurückbehalten. Gleichwohl hielten sie sein Fleisch, seine Lebensmittel, seine Hosenträger, seine Erkennungsmarken, die Soldbücher für seine Soldaten zurück … Pure Obstruktion, nicht einmal gesunder Eigennutz! … Es gelang ihm auch, Sergeant-Major Cowley zu verdeutlichen, der kanadische Sergeant-Major solle jetzt, nachdem sich die Lage beruhigt zu haben schien, lieber gehen und prüfen, ob alles bereit sei, um sein Ersatzbataillon antreten zu lassen … Falls es weitere zehn Minuten ruhig bliebe, dürfe man ein »Alles bereit« erwarten … Er wusste, dass Sergeant-Major Cowley die anderen Dienstgrade aus der Baracke haben wollte, solange jener Captain so weitermachte, und er sah keinen Grund, warum der alte Unteroffizier nicht bekommen sollte, was er wollte.

Es war, als zöge sich ein ebenso fürsorglicher wie mannhafter Butler zurück. Cowleys grauer Walrossschnurrbart und seine roten Wangen wurden einen Augenblick lang neben dem Bunkerofen sichtbar, als er den Meldern etwas ins Ohr flüsterte und jedem dabei eine Hand auf die Schulter legte. Die Melder gingen; der Kanadier ging. Sergeant-Major Cowley, dessen Gestalt den Eingang füllte, betrachtete die Sterne. Es fiel ihm schwer sich vorzustellen, dass dieselben auf schwarzes Durchschlagpapier gestreuten Lichtpünktchen genau so auch auf sein Einfamilienhaus und seine ältliche Frau in Isleworth an der Themse oberhalb Londons herabschauten. Er wusste, dass es so war, fand es jedoch schwer vorstellbar. Er rief sich vor Augen, wie die Straßenbahnen durch die High Street fuhren, wie in einer von ihnen seine bessere Hälfte saß, mit dem Abendessen in einem Einkaufsnetz auf ihren kräftigen Knien; die Straßenbahnen waren beleuchtet und glänzten. Er war sich sicher, dass sie Kippers zum Abendbrot äße: zehn zu eins würden es Kippers sein; ihre Leibspeise. Seine Tochter war inzwischen beim Frauenhilfskorps. Sie war Kassiererin bei Parks gewesen, der großen Fleischerei in Brentford, und hübsch hatte sie ausgesehen in ihrem Glashäuschen. Wie im Britischen Museum, wo sie in solchen Glaskästen Pharaonen und andere aufbewahrten … Die ganze Nacht hindurch dröhnten Dreschmaschinen über ihren Köpfen. Er sagte immer, es klänge wie Dreschmaschinen … Herrje, wenn es nur welche wären! … Aber es könnten natürlich auch Flugzeuge von uns sein. Zum Tee hatte er ein gutes Welsh Rarebit[1] zu sich genommen.

Für das Licht aus dem Bunkerofen in der Hütte waren weniger Körper zu bescheinen, sodass sich eine Art intimer Atmosphäre verbreitete und Tietjens das wachsende Gefühl hatte, besser mit seinem verrückten Freund umgehen zu können. Captain Mackenzie – Tietjens war sich nicht sicher, ob der Name tatsächlich Mackenzie lautete: So ähnlich hatte es jedenfalls in der Handschrift des Generals ausgesehen –, Captain Mackenzie also fuhr fort, über das Unrecht zu reden, das ihm vonseiten eines sagenhaften Onkels widerfahren sei. Offenbar hatte der Onkel sich in einem wichtigen Moment geweigert, mit dem Neffen bekannt zu sein. Hieraus seien sämtliche Missgeschicke des Neffen hervorgegangen … Plötzlich sagte Tietjens:

»Also jetzt ist es gut, reißen Sie sich zusammen. Sind Sie verrückt? Völlig durchgedreht? … Oder spielen Sie mir nur etwas vor?«

Der Mann sank schlagartig auf die Kiste mit den Rindfleischdosen, die als Stuhl diente. Stammelnd fragte er – was – was Tietjens wohl meine.

»Wenn Sie sich gehenlassen«, sagte Tietjens, »lassen Sie sich vielleicht ein ganzes Stück weiter gehen, als Sie wollen.«

»Sie sind kein Irrenarzt«, sagte der andere. »Hat keinen Zweck, mir den großen Psychiater vorzuspielen. Ich weiß alles über Sie. Ich hab einen Onkel, der mich übel behandelt hat – so übel wie noch keinen sonst. Nur seinetwegen bin ich hier.«

»Sie tun gerade so, als hätte der Kerl Sie in die Sklaverei verkauft«, sagte Tietjens.

»Er ist Ihr engster Freund.« Das schien Mackenzies Motiv zu sein, sich an Tietjens zu rächen. »Er ist auch ein Freund des Generals. Und Ihrer Frau. Der hat’s mit jedem.«

Man hörte ein paar planlose, lustige »Pop-Pop-Pops« in großer Höhe, links.

»Glaube, sie haben wieder ein paar Hunnen entdeckt«, sagte Tietjens. »Ist schon gut; Sie konzentrieren sich auf Ihren Onkel. Aber überschätzen Sie nicht seine Bedeutung für die Welt. Sie irren sich, ich versichere es Ihnen, wenn Sie ihn als meinen Freund bezeichnen. Ich habe auf der ganzen Welt keinen Freund.« Er fügte hinzu: »Macht Ihnen der Lärm nicht langsam etwas aus? Wenn er Ihnen auf die Nerven geht, können Sie jetzt noch mit Anstand in einen Unterstand gehen, bevor’s richtig schlimm wird …« Er rief Cowley zu, er solle rausgehen und dem kanadischen Sergeant-Major ausrichten, seine Männer in ihre Unterstände zurückzuführen, falls sie sie verlassen hätten. Bis »Entwarnung« geblasen würde.

Trübsinnig ließ sich Captain Mackenzie am Tisch nieder.

»Hol’s der Teufel«, sagte er, »glaub bloß nicht, ich hätte Angst vor ein paar Schrapnells. War zweimal an der Front, vierzehn und neun Monate am Stück. Hätte raus und in den elenden Stab gehen können … Es ist dieser elende Krach, Herrgott noch mal … Warum ist man nicht ein gottverdammtes Mädchen und darf schreien? Mit ein paar Leuten werd ich demnächst abrechnen, bei Gott …«

»Warum schreien Sie nicht?«, fragte Tietjens. »Von mir aus dürfen Sie. Hier zweifelt niemand daran, dass Sie mutig sind.«

Laute Regentropfen klatschten auf die Hütte nieder; es gab einen wohlbekannten Schlag auf die Erde etwa ein Yard entfernt, ein schneidendes, wütendes Geräusch über ihnen, einen schärferen Schlag auf den Tisch zwischen ihnen. Mackenzie nahm den Schrapnellsplitter, der heruntergefallen war und drehte ihn unablässig zwischen Zeigefinger und Daumen.

»Haben wohl gedacht, es erwischt mich, wenn ich mir die Beine vertrete«, sagte er beleidigend. »Was für ein verdammter Schlaumeier Sie sind.«

Zwei Stockwerke tiefer ließ jemand zwei Hundertpfund- Hanteln auf den Teppich des Salons knallen. Sämtliche Fenster des Hauses schlugen zu, um es so schnell wie möglich hinter sich zu kriegen; das »Pop-Pop-Pop« der Schrapnells flog in Wellen durch alle Lüfte. Dann erneut plötzliche Stille, schmerzhaft, nachdem man sich gerade zusammengerissen hatte, um den Lärm zu ertragen. Der Melder aus Rhondda kam leichtfüßig herein mit zwei dicken Kerzen. Er nahm von Tietjens die Tarnlampen entgegen und begann, unter geschäftigem Schnauben, die Kerzen gegen die Federn zu drücken … Hat mich fast erwischt, einer von diesen Kerzenleuchtern«, sagte er. »Hat meinen Fuß getroffen, als er runterkam, wirklich. Bin ganz schön gerannt. Weiß Gott, wie ich gerannt bin, Captain.«

Der Mantel des Schrapnells umgab einen Eisenstab mit einer abgeflachten, breiten Nase. Wenn die Granate in der Luft explodierte, fiel dieses Eisenteil auf den Boden, und weil es oft aus großer Höhe herunterkam, war es gefährlich. Bei den Männern hieß dieses Teil Kerzenleuchter, womit es auch große Ähnlichkeit hatte.

Ein kleiner Lichtring lag auf dem Braunrot der Decke auf dem Tisch. Tietjens, silberhaarig, mit frischer Gesichtsfarbe und massig, kam zum Vorschein; und Mackenzie, dunkelhaarig, mit rachelüsternen Augen über stark vorspringendem Kinn, ein sehr hagerer Mann, um die dreißig.

»Wenn Sie wollen, können Sie mit den Kolonialtruppen in den Unterstand gehen«, sagte Tietjens zu dem Melder. Dieser brauchte zum Denken etwas länger, sodass eine Weile verging, bis er antwortete, er wolle lieber auf seinen Kumpel warten, O Nine Morgan, egal was passiert.

»Sie müssten meiner Ordonnanzstube Stahlhelme austeilen«, sagte Tietjens zu Mackenzie. »Der Teufel soll mich holen, wenn sie die Stahlhelme für die Burschen nicht bereits wieder ins Lager genommen haben, als sie mir überstellt wurden, und genauso verdammt will ich sein, wenn man mir nicht mitteilt, ich müsse mich ans kanadische Hauptquartier in Aldershot oder sonstwo wenden und mir die Genehmigung holen, für mein eigenes Hauptquartier Stahlhelme anzufordern.«

»Unser Hauptquartier wimmelt von Hunnen, die für die Hunnen arbeiten«, sagte Mackenzie hasserfüllt. »Da würd ich mal gerne dazwischenfahren.«

Tietjens betrachtete mit einiger Aufmerksamkeit den jungen Mann mit den Rembrandtschatten auf dem finsteren Gesicht. Er sagte:

»Glauben Sie diesen Mist?«

Der junge Mann sagte:

»Nein … eher nicht. Aber ich weiß nicht, was ich denken soll … Die Welt ist durch und durch verrottet …«

»Oh ja, die Welt ist durch und durch verrottet, ganz bestimmt«, antwortete Tietjens. Er hatte das Gefühl, auf nichts mehr neugierig zu sein, so erschöpft war er innerlich davon, unzählige konkrete Dinge erledigen zu müssen, wie zum Beispiel alle paar Tage die Verpflegung Tausender von Männern sicherzustellen, eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus allen Waffengattungen und von sehr unterschiedlichem Ausbildungsstand auf ein einheitliches Niveau zu bringen, sich mit dem stellvertretenden Kommandeur der Militärpolizei auseinanderzusetzen, der etwas gegen Kanadier hatte, um seine Männer vor den Klauen der brutalen Garnisonspolizei zu bewahren … Gleichwohl hatte er tief im Innern das unbestimmte Gefühl, er müsse etwas tun, um diesen jungen Spross der Arbeiterklasse wieder gesund zu machen:

»Ja, bestimmt, die Welt ist durch und durch verrottet. Wir haben es hier jedoch mit einer besonderen Spielart von Verkommenheit zu tun … In diesem Chaos befinden wir uns nicht, weil wir Hunnen in unseren Ordonnanzstuben stehen haben, sondern schlicht und einfach deshalb, weil es Engländer sind. Da liegt der Hase im Pfeffer … Dieser Hunnenflieger kommt bestimmt zurück. Ein halbes Dutzend …«

Der junge Mann, dem es besser ging, seitdem er sich einen Haufen halb verrückten Zeugs von der Seele geredet hatte, sah der Rückkehr der Hunnenflieger mit finsterem Gleichmut entgegen. Sein eigentliches Problem war: Würde er den gottverdammten Lärm aushalten können, der höchstwahrscheinlich ihre Rückkehr begleiten würde? Er musste es erst noch in seinen Kopf hineinbringen, dass es sich, praktisch gesehen, um völlig offenes Gelände handelte. Es würden keine Steinsplitter herumfliegen. Er war darauf vorbereitet, von Eisen, Stahl, Blei, Kupfer oder den Messingrändern von Granaten getroffen zu werden, aber nicht von widerlichen Steinsplittern, die es aus Hauswänden herausschlüge. Dies wurde ihm während seines widerlichen, elenden, infernalischen, gottverdammten Fronturlaubs in London bewusst, während eines ebenso scheußlichen Höllenspektakels … Scheidungsurlaub! … Captain McKechnie, zur 9. Kompanie der Glamorganshires abkommandiert, wird vom 14.11. bis 29.11. Scheidungsurlaub bewilligt … Die Erinnerung schien in seinem Inneren mit demselben widerlichen, gigantischen Lärm aufzuplatzen, den der Schlag einer Bratpfanne verursacht – und die Erinnerung kam immer, wenn Kanonen diesen ganz speziellen Bratpfannenkrach machten: Beides kam gleichzeitig, der Krach im Inneren und der Krach draußen. Er hatte das Gefühl, als stürzten Schornsteine über ihm zusammen. Man schützte sich davor, indem man verfluchte, höllische Idioten zusammenbrüllte; konnte man den Lärm übertönen, war man auf der sicheren Seite … Das war zwar nicht vernünftig, aber es verschaffte Erleichterung! …

»In punkto Information können sie sich nicht mit uns vergleichen.« Tietjens versuchte, sich ganz vorsichtig auszudrücken und schloss: »Wir wissen, was in den Plänen steht, die in den versiegelten Umschlägen neben den Frühstückstellern des Feindes liegen.«

Es war ihm in den Kopf gekommen, es als seine militärische Pflicht anzusehen, sich Gedanken über das seelische Gleichgewicht dieses Mitglieds der Arbeiterklasse zu machen. Deshalb redete er … einfach drauflos, irgendwas, auch wenn es mühsam war, nur um dem anderen etwas zum Nachdenken zu geben! Captain Mackenzie war Offizier Seiner Majestät des Königs: mit Leib und Seele Eigentum Seiner Majestät und des Kriegsministeriums Seiner Majestät. Tietjens’ Pflicht war es, diesen Burschen zu erhalten, wie es ebenfalls seine Pflicht war, jede Wertminderung irgendeines anderen Gegenstandes aus des Königs Eigentum zu verhindern. Dies war Teil des Fahneneids. Er redete weiter.

Der Fluch der Armee, soweit es sie als Organisation betreffe, sei unsere hirnrissige nationale Überzeugung, das Spiel sei mehr als der Spieler. Dies bedeute den geistig-seelischen Ruin der Nation. Man habe uns beigebracht, Cricket sei wichtiger als ein klarer Kopf, weshalb der verdammte Quartiermeister, Kommandeur des Feldlager-Depots, glaube, er könne einen Punkt machen, wenn er sich weigere, ihnen Stahlhelme auszugeben. So geht das Spiel! Und werde einer von seinen, Tietjens’, Männern getötet, grinse er nur und sage, das Spiel sei mehr als die Spieler, die es spielen … Und natürlich werde er befördert, wenn er seinen Schnitt beim Bowling verbessere. In einer Domstadt im Westen gebe es einen Quartiermeister, der mehr Orden und Kampfauszeichnungen habe als irgendein Soldat, der in Frankreich zwischen Kanal und Péronne oder wo sonst unsere Front ende, im Einsatz war. Seine Leistung sei es gewesen, die meisten dieser armen Tommys an der Westfront um mehrere Wochen Trennungsentschädigung gebracht zu haben – zum Wohl des Steuerzahlers, natürlich. Für die armen Kindlein von unseren verpissten Tommys habe es nicht für anständiges Essen und Kleidung gereicht, und die Tommys selbst seien erbittert und wütend gewesen. Und es gebe nichts in der Welt, das schlechter für Disziplin und Moral einer Kampfmaschinerie, der Armee, sei als das. Dort jedoch sitze dieser Quartiermeister in seinem Büro und spiele sein fantastisches Spielchen mit seinen Armeeformularen, bis die breiten bräunlichen Papierbogen im Licht der Gaslampen richtig zu leuchten anfingen. »Und«, schloss Tietjens, »er bekommt für jede Viertelmillion Sterling, die er den armen Männern der kämpfenden Truppe vorenthält, einen neuen Orden an die Brust … Kurzum, das Spiel ist mehr als die Spieler.«

»Hol’s der Geier!«, sagte Captain Mackenzie. »Das hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind, oder nicht?«

»So ist es«, antwortete Tietjens. »Hat uns in dieses Loch befördert und darin stecken wir fest.«

Mackenzie betrachtete mutlos seine Finger.

»Sie mögen recht haben oder auch nicht«, sagte er. »Es widerspricht allem, was ich je gehört habe. Aber ich verstehe, was Sie sagen wollen.«

»Am Anfang des Krieges«, sagte Tietjens, »hatte ich einmal etwas im Kriegsministerium zu erledigen und traf dort in einem Zimmer einen Kerl … Was glauben Sie, womit der beschäftigt war … was, zum Teufel, glauben Sie, was der machte? Er arbeitete an einer Zeremonie für die Auflösung eines Bataillons der Kitchenerarmee. Man kann nicht sagen, wir wären nicht wenigstens auf einem Gebiet vorbereitet gewesen … Am Ende der Veranstaltung sollte Folgendes passieren: Der Adjutant würde das Bataillon antreten lassen; die Kapelle würde Land of Hope and Glory spielen und dann würde der Adjutant sagen: Es wird keine Paraden mehr geben … Sehen Sie nicht, wie symbolisch das war – dass die Kapelle Land of Hope and Glory spielen und danach der Adjutant sagen sollte Es wird keine Paraden mehr geben? … Es gibt nämlich keine mehr. Es gibt wirklich keine mehr, und es wird in Teufels Namen keine mehr geben … Aus mit Hope und Glory, keine Hoffnung mehr, keine Ehre, weder für Sie noch für mich, und auch keine Paraden. Auch nicht für das Land … oder die Welt, glaube ich … Nichts … Vorbei … Na poo, finny! Aus und vorbei! Keine … Paraden … mehr!«

»Ja, Sie haben recht«, sagte der andere langsam. »Und trotzdem, was hab ich in diesem Krieg verloren? Ich hasse das Soldatenleben. Ich hasse diesen ganzen elenden Betrieb …«

»Warum sind Sie dann nicht zu den Goldfasanen im Stab gegangen?«, fragte Tietjens. »Im Fasanenstall hat man sich doch bestimmt die Finger nach Ihnen geleckt. Ich wette, der Liebe Gott hat Sie für den Geheimdienst geschaffen, nicht für die Stoppelhopser.«

Der andere sagte müde:

»Ich weiß nicht. Ich war beim Bataillon. Ich wollte beim Bataillon bleiben. Ich sollte ins Außenministerium. Das hat mein jämmerlicher Onkel vereitelt. Ich war beim Bataillon. Der Kommandierende Offizier hat nicht viel getaugt. Jemand musste beim Bataillon bleiben. Ich wollte ihm nicht schaden und es mir leicht machen …«

»Nehme an, Sie sprechen sieben Sprachen oder so?«, fragte Tietjens.

»Fünf«, sagte der andere geduldig, »und zwei weitere kann ich lesen. Und natürlich Latein und Griechisch.«

Ein Mann, braun, stocksteif, platzte mit einem hochmütigen Paradeschritt ins Licht. Mit hoher hölzerner Stimme sagte er:

»Hier kommt noch so’n Volltreffer.« Im Schatten sah es aus, als habe er das halbe Gesicht und die rechte Seite seiner Brust mit Crêpe verhüllt. Er stieß ein hohes, rasselndes Gelächter aus. Hölzern, wie zu einer steifen Verbeugung, knickte er in den Hüften ein. Kopfüber, immer noch geknickt, fiel er auf das Eisenblech, das den Bunkerofen abdeckte, rollte von dort herunter und blieb quer über den Beinen des anderen Melders, der sich neben den Bunkerofen gekauert hatte, auf dem Rücken liegen. Im hellen Licht schien es, als sei dem Mann ein ganzer Eimer scharlachroter Farbe über die linke Seite seines Gesichts und seiner Brust gekippt worden. Sie glänzte im Feuerschein – wie frischer, tropfender Lack! Der Melder aus dem Rhonddatal, von dem quer über seinen Knien liegenden Körper auf den Boden gedrückt, saß mit heruntergefallenem Unterkiefer da und sah aus wie ein Mädchen, das einem anderen Mädchen, das vor ihm lag, die Haare kämmen wollte. Die rote zähflüssige Masse schwappte über den Boden; manchmal sieht man eine Quelle so aus dem Sand sprudeln. Tietjens sah mit Staunen, wie viel Blut ein menschlicher Körper enthalten konnte. Was für eine merkwürdige Zwangsvorstellung dieser Bursche nur hatte, dachte er, sein Onkel sei sein, Tietjens’, Freund. Er hatte keinen Freund, der im Handel tätig und der Onkel eines jungen Burschen war, der in normalen Zeiten vielleicht zu einem ins Haus kommt und Schuhe zum Anprobieren bringt … Er fühlte sich wie beim Verbinden eines Pferdes, das sich böse verletzt hat. Er erinnerte sich an ein Pferd, dem aus einer Wunde in der Brust das Blut wie ein Strumpf über das rechte Vorderbein geflossen war. Ein Mädchen hatte ihm seinen Unterrock geliehen, um die Wunde damit zu verbinden. Trotzdem bewegten sich seine Beine langsam und schwer über den Boden.

Die Hitze des Bunkerofens auf seinem Gesicht war überwältigend. Er hoffte, sich die Hände nicht ganz blutig zu machen. Blut ist sehr klebrig. Klebt so, dass man die Finger nicht mehr auseinander kriegt. Aber vielleicht war im Dunkel unter dem Rücken des Kameraden, wo er seine Hand hinschob, gar kein Blut. Aber doch, und wie: Es war sehr nass.

Von draußen kam die Stimme von Sergeant-Major Cowley:

»Hornist, zwei Lance-Corporals und vier Männer von den Sanitätern anfordern. Zwei Sanitäts-Corporals und vier Männer.« Ein lang gezogener, periodisch wiederkehrender Klagelaut drang durch die Nacht, kummervoll, schicksalsergeben, lang ausgezogen.

Würde doch in Gottes Namen jemand kommen und ihn von dieser Arbeit erlösen, dachte Tietjens. Er geriet völlig außer Atem, als er mit vom Feuer erhitztem Gesicht den Leichnam anhob. Er sagte zu dem anderen Melder:

»Machen Sie, dass Sie unter ihm rauskommen, verdammt noch mal! Sind Sie verletzt?« Wegen des Ofens kam Mackenzie nicht von der anderen Seite an den Körper heran. Der Melder bewegte sich im Sitzen mit kurzem Rucken unter dem Leichnam, als zöge er die Beine unter einem Sofa hervor. Er sagte: »Armer – O Nine Morgan! Du liebe Güte! Hab ihn gar nicht erkannt, den armen – liebe Güte! Hab ihn nicht erkannt, den armen –«

Langsam ließ Tietjens den Rumpf auf den Boden nieder. Er ging sanfter mit ihm um, als wenn der Mann noch gelebt hätte. Höllengetöse stürzte sich auf die Welt hernieder. Tietjens’ Gedanken schienen zwischen den Erdstößen sich ihm brüllend zuwenden zu müssen. Wie abwegig es von diesem Mackenzie war, sich einzubilden, er würde einen Onkel von ihm kennen. Auch hatte er ganz deutlich das Gesicht seines Mädchens vor sich, das Pazifistin war. Es bedrückte ihn, nicht zu wissen, was für einen Ausdruck ihr Gesicht hätte, wenn sie erführe, womit er gerade beschäftigt war. Abscheu? … Er stand da und streckte seine schmierigen, klebrigen Hände weg von seinem Uniformrock …Vielleicht Abscheu! … Es war unmöglich, in diesem Krach etwas zu denken … Seine sehr dicken Sohlen bewegten sich wie auf Klebstoff und lösten sich mit einem Schmatzgeräusch … Es fiel ihm ein, dass er keinen Melder in die Ordonnanzstube des Bataillonsdepots geschickt hatte, um in Erfahrung zu bringen, wie viele Männer seiner Truppe am nächsten Tag für den Garnisonsdienst benötigt würden. Das war ihm besonders unangenehm. Er würde enorme Schwierigkeiten haben, die Offiziere, die er brauchte, zu benachrichtigen. Inzwischen würden sie allesamt in den Bordellen der Stadt sein … Er konnte sich einfach nicht vorstellen, welchen Ausdruck das Gesicht seines Mädchens haben würde. Er würde sie nie mehr wiedersehen, also was, zum Teufel, machte es aus? … Abscheu, wahrscheinlich! … Es fiel ihm ein, dass er sich nicht mehr darum gekümmert hatte, wie Mackenzie mit dem Krach zurechtkam. Er wollte Mackenzie gar nicht sehen. Er war ein langweiliger Kerl … Wie würde sich auf ihrem Gesicht Abscheu zeigen? Er hatte noch nie Abscheu in ihrem Gesicht gesehen. Sie hatte ein vollkommen unauffälliges Gesicht. Verdammt … Oh Gott, wie es ihm plötzlich den Magen umdrehte! … An das Mädchen zu denken … Das Gesicht zu seinen Füßen grinste zur Decke – das halbe Gesicht, vielmehr! Die Nase war da, die Hälfte des Mundes, dessen Zähne im Schein des Feuers schimmerten … Außerordentlich, wie scharf umrissen die spitze Nase und die Zackenreihe der Zähne waren … Das Auge blickte keck zur Zeltstoffdecke der Hütte hinauf … Abgetreten mit einem Grinsen. Unglaublich, dass der Bursche noch etwas gesagt hatte! Als er schon tot war. Er musste tot gewesen sein, als er redete. Es war mit der letzten Luft geschehen, die automatisch aus den Lungen entweicht. Wahrscheinlich ein reflexhafter Vorgang bei Toten … Hätte er, Tietjens, dem Burschen seinen Urlaub bewilligt, würde er jetzt noch leben! … Aber es war bestimmt richtig gewesen, dem armen Teufel seinen Urlaub nicht zu bewilligen. Wo er jetzt war, ging es ihm auf alle Fälle besser. Und ihm, Tietjens, auch. Dieses Mal hatte er, seit er hier draußen war, keinen einzigen Brief von zu Hause bekommen! Keinen einzigen Brief. Nicht einmal Tratsch. Keine Rechnung. Händler-Kataloge für antike Möbel. Die ließen ihn nie aus! Zu Hause waren sie über das sentimentale Stadium hinaus. Ganz offensichtlich … Er hätte gerne gewusst, ob sich sein Magen wieder umdrehen würde, wenn er an das Mädchen dachte. Es befriedigte ihn, dass er es getan hatte. Es bewies, dass er starke Gefühle hatte … Er dachte jetzt freiwillig an sie. Ganz fest. Es passierte nichts. Er stellte sich ihr helles, unauffälliges, frisches Gesicht vor, das sein Herz für einen Schlag aussetzen ließ, wenn er daran dachte. Sein Herz setzte für einen Schlag aus. Gehorsames Herz! Wie die erste Schlüsselblume. Nicht irgendeine Schlüsselblume. Die erste Schlüsselblume. An einem Rain, an dem Hunde durchs Unterholz brechen … Es war sentimental zu sagen: Du bist wie eine Blume … Zum Teufel mit der deutschen Sprache! Aber der Kerl war ja ein Jude … Man sollte über seine junge Frau nicht sagen, sie sei wie eine Blume, irgendeine Blume. Nicht einmal zu sich selbst. Es war sentimental. Aber eine bestimmte Blume durfte man nennen. Ein Mann durfte es. Eine Männersache. Sie duftete wie eine Schlüsselblume, wenn man sie küsste. Aber er hatte sie, zum Teufel, noch nie geküsst. Wie wollte er demnach wissen, wie sie duftete! Sie war ein stiller goldener Fleck. Er selbst musste ein – Eunuch sein. Vom Wesen her. Dieser tote Bursche da unten war wohl auch einer, physisch. Wahrscheinlich war es unanständig, sich einen Leichnam als impotent vorzustellen. Aber das war er, sehr wahrscheinlich. Es könnte der Grund sein, warum seine Frau mit Red Evans Williams von Castell Coch, dem Preisboxer, angebandelt hatte. Hätte er dem Burschen Urlaub bewilligt, hätte der Preisboxer ihn kurz und klein geschlagen. Die Polizei von Pontardulais hatte darum gebeten, ihn nicht nach Hause zu lassen – wegen des Preisboxers. Also war er besser tot. Ist es besser, tot zu sein, als entdecken zu müssen, dass deine Frau eine Hure ist und von ihrem Kerl verprügelt zu werden? Gwell angau na gwillth stand auf dem Abzeichen ihres Regiments. »Der Tod ist besser als Schande« … Nein, nicht Tod: angau bedeutet Schmerz. Pein! Pein ist besser als Schande. Zum Teufel auch! Also dieser Bursche hätte beides gekriegt. Pein und Schande. Schande durch seine Frau und Pein durch die Schläge des Preisboxers … Das war zweifellos der Grund, weshalb sein halbes Gesicht die Decke angrinste. Die blutige Seite davon war ganz braun geworden. Schon! Wie die Mumie eines Pharaos schaute diese Hälfte aus … Er war dafür geboren gewesen, Schläge zu bekommen. Entweder durch Granaten oder die Faust eines Preisboxers … Pontardulais! Irgendwo mitten in Wales. Er war mal durchgefahren, dienstlich. Ein lang gezogenes, ödes Dorf. Warum sollte einer dorthin zurückwollen? …

Eine sanfte Butler-Stimme neben ihm sagte: »Das ist nicht Ihr Job, Sir. Tut mir leid, dass Sie das machen mussten … Ein Glück, dass es nicht Sie erwischt hat, Sir … Das hier ist schuld, würde ich sagen.«

Major Cowley stand neben ihm mit einem Stück Metall, das schwer in seiner Hand lag und aussah wie ein Kerzenleuchter. Er war sich bewusst, unmittelbar zuvor gesehen zu haben, wie dieser Bursche, Mackenzie, sich über den Bunkerofen gebeugt und das Eisenblech wieder darübergelegt hatte. Vorsichtiger Offizier, Mackenzie. Die Hunnen dürfen das Licht aus dem Bunkerofen nicht sehen. Die Kante des Blechs war auf den Uniformrock des Toten gefallen und hatte ihm ein Stück aus der Schulter gebissen. Das Gesicht war im Schatten verschwunden. Die Gesichter mehrerer Männer erschienen im Eingang.