Keine Strafe ohne Schuld? - François Cassel - E-Book

Keine Strafe ohne Schuld? E-Book

François Cassel

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Beschreibung

Drei junge Frauen werden grausam misshandelt und ermordet. Kommissar Neumann ermittelt zusammen mit seiner Kollegin Olivia, die der Mörder ebenfalls zu töten versucht. Der Roman spinnt den Faden aber weiter als bis zur Ergreifung des Täters. Was geschieht, wenn dieser nicht angemessen bestraft werden kann? Setzt er seine Verbrechen fort? Wie reagieren die Angehörigen der Opfer? Und wie verhält sich der Kommissar? Spannende Fragen eines psychologischen Kriminalromans um Schuld und Sühne!

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Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Der Tod von Frau Schneider

Der Abend in der Pizzeria

Der Tod von Frau Hahn

Thomas wird schwach

Die Pressekonferenz

Der Drohbrief

Ein Mord und ein Heiratsantrag

Der Anschlag auf Olivia

Ein neuer Drohbrief

Olivia erwacht aus dem Koma

Die Verhaftung

Die Vernehmung

Olivia und Thomas heiraten

Im Zweifel für den Angeklagten

Ein Mörder kommt frei

Der Tod des Professors

Nadines vergeblicher Kampf ums Überleben

Kleins schrecklicher Tod

Die Suche nach Kleins Mörder

Ein Versprechen wird eingelöst

Im Zweifel zugunsten der Verdächtigen

Epilog

Kriminalität ist im Allgemeinen kein Geburtsfehler, sondern ein Erziehungsdefekt

(Alexander/Staub, Der Verbrecher und sein Richter)

Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um eine Fiktion. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Insoweit bestehende Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten sind rein zufälliger Natur.

DER TOD VON FRAU SCHNEIDER

Olivia Gerber arbeitete an ihrem Computer und wartete auf ihren Chef, Kommissar Thomas Neumann, mit dem sie seit beinahe einem Jahr zusammenarbeitete und das Büro teilte. Soeben hatte der Polizeipräsident angerufen und gebeten, dass der Kommissar und sie sich um einen Mord in der Luisenstraße kümmern sollten.

Nach kurzer Zeit traf der Kommissar in dem schlicht eingerichteten Büro ein. Ein Windstoß wehte einige Blätter von Olivias Schreibtisch, weil sie wegen der milden Frühjahrswitterung im März bei geöffnetem Fenster arbeitete.

»Entschuldigung«, rief er.

Olivia sammelte schon gebückt die Blätter ein, die zwischen seinem und ihrem Schreibtisch lagen: »Macht nichts«. Sie richtete sich auf; sie war nur wenig kleiner als er: »Hallo, Herr Neumann. Eine Leiche in der Luisenstraße. Wir sollen sofort hin.«

Nach einer Viertelstunde Fahrt erreichten sie den Tatort: ein schönes Einfamilienhaus in einem Vorort samt einem großen Garten mit altem Baumbestand. Vor dem Haus parkten mehrere Polizeifahrzeuge. Sie stiegen aus, gingen durch den Vorgarten eine kleine Treppe hinauf zur Eingangstür, die offenstand. Auf dem Messingschild an der Tür lasen sie »Dr. Schneider«. Sie zogen sich Plastiküberschuhe und Latexhandschuhe an. Kaum betraten sie den Vorraum, stießen sie schon auf die Beamten der Spurensicherung und die Gerichtsmedizinerin. Sie beschäftigten sich mit einer auf dem Boden liegenden Leiche, einer dunkelhaarigen Frau. Als sie den Kommissar erblickte, erhob sich die Gerichtsmedizinerin, eine Frau etwa in seinem Alter, also ungefähr 35, und von kräftiger Statur. Sie wischte sich mit dem Handrücken ihre blonden Haare aus dem Gesicht.

»Hallo, Herr Neumann. Guten Tag, Frau Gerber. Nicht schön anzusehen die Tote.«

In der Tat: Die Tote trug einen Morgenmantel, der geöffnet und unter dem sie nackt war, so dass man Brust- und Bauchbereich sehen konnte. Sie hatte einen Schwangerschaftsbauch und musste im sechsten oder siebten Monat sein. Es war kein schöner Anblick. Überall Blut, Verletzungen – vermutlich Stichwunden – an Bauch und Brust sowie an den Händen, wahrscheinlich bei der Gegenwehr entstanden. Das Gesicht war angeschwollen, wohl durch Faustschläge. Die Augen der Toten waren weit geöffnet und starr, der Mund seltsam verzerrt, als ob die Frau, noch immer von Angst und Panik erfasst, zu schreien versuchte. Von der Leiche zog sich eine deutliche Blutspur zu einem Zimmer hinter dem Vorraum.

»Hallo, Frau Dr. Selle. Todesursache und Tatzeitpunkt?«, erkundigte sich Neumann, trat mit Olivia näher und bückte sich, um die Leiche zu betrachten.

Die Stimme der Gerichtsmedizinerin klang monoton, sachlich und unbeteiligt:

»Ein Abgleich mit den Papieren, die gefunden wurden, hat ergeben, dass es sich bei der Toten um Frau Schneider handelt, 30 Jahre alt. Todeszeitpunkt war – nach Leichenstarre und Körpertemperatur zu beurteilen – ungefähr Mitternacht. Todesursache – nicht schwer zu erraten – Stiche, wahrscheinlich durch ein Taschenmesser oder ein Springmesser. Auch im Rücken.« Sie drehte die Leiche mit Hilfe eines Beamten der Spurensicherung etwas zur Seite, so dass man weitere Verletzungen am Rücken sehen konnte. »Die hat der Täter ihr wahrscheinlich während ihrer Flucht beigebracht. Die eigentliche Tat muss im Wohnzimmer stattgefunden haben, wie man den Blutspuren entnehmen kann.«

»Diese Schwellungen und Quetschungen im Gesicht – Faustschläge?«, fragte der Kommissar.

»Ja, sehr wahrscheinlich. Ach, nicht zu vergessen, die Frau wurde mit großer Wahrscheinlichkeit vergewaltigt. Und wie Sie selbst sehen können: Sie war schwanger. Alles Weitere nach der Obduktion.«

Neumann und Dr. Selle kannten sich seit längerer Zeit. Er hasste es zwar jedes Mal, wenn sie anscheinend emotionslos über Todesursache und Tathergang berichtete, verstand aber, dass die einzige Möglichkeit, sich beruflich mit Ereignissen dieser Art zu beschäftigen, ohne psychischen Schaden zu nehmen, darin bestand, den nötigen innerlichen Abstand zu wahren.

Olivia wurde blass und ging vor die Haustür. Sie fühlte sich betroffen, weil die Tote nur wenig älter als sie mit ihren 28 Jahren war. Zudem hatte sie bisher nur wenige Leichen gesehen.

Neumann fragte nach einiger Zeit laut in den Raum: »Wer hat die Leiche entdeckt?«

Eine Polizistin meldete sich: »Der Ehemann. Er kam heute Morgen von einer Dienstreise aus den Staaten zurück, als er seine Frau so vorfand. Er hat den Notarzt und uns gerufen. Der Notarzt konnte natürlich nichts mehr ausrichten.«

Inzwischen hatte sich Olivia wieder zum Kommissar gesellt, noch etwas blass im Gesicht. Er fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei. Sie nickte. Die drei folgten der Blutspur auf dem Boden in den hinteren Bereich des Erdgeschosses, wo das Wohnzimmer lag. Die Jalousien waren hochgezogen, die Terrassentür stand offen und die Deckenleuchte war an.

»Wir haben alles so vorgefunden und haben nichts verändert«, erklärte die Polizistin.

Auch im Wohnzimmer starke Blutspuren, vor allem auf der weißen Ledercouch, neben der die zerfetzte Unterwäsche der Toten lag.

Der Kommissar musterte das Wohnzimmer:

»Der Tathergang scheint mir klar zu sein, die Vergewaltigung muss auf der Couch stattgefunden haben, der Täter hat auf die Frau eingestochen, diese konnte sich aber befreien und rannte Richtung Haustür, er hat sie eingeholt und …«

Schulterzuckend ließ Neumann den Rest des Satzes unvollendet und blickte zu Olivia, welche die Überlegungen des Kommissars aufgriff:

»Der Täter ist entweder durch die Terrassentür eingedrungen oder die Tote hat ihn durch die Haustür hereingelassen, was mir aber nicht wahrscheinlich erscheint«. Sie wandte sich an die Polizistin: »Wo ist der Ehemann?«

»Im Marienhospital. Stand unter schwerem Schock.«

»Mmmh«, Kommissar Neumann wurde nachdenklich, ging mit der Hand durch seine braunen Haare, um sich dann, in Überlegungen versunken, den Nacken zu massieren. Nach einer Weile zu Olivia gewandt: »Die Spurensicherung muss auch den Garten absuchen. Dass mir aber niemand in der Zwischenzeit dort herumtrampelt und eventuelle Spuren zerstört.«

Olivia wandte sich ab, um den Verantwortlichen der Spurensicherung zu suchen. Als sie wieder zurückkam, meinte der Kommissar:

»Wir müssen für alle Fälle vorsorglich das Alibi des Ehemanns nachprüfen, und sei es nur, um ihn als Täter auszuschließen.«

Olivia wusste, dass der Kommissar genau war und das Alibi gewissenhaft nachgeprüft haben wollte:

»Ich werde das übernehmen. Herr Schneider muss zur Tatzeit allerdings im Flugzeug gesessen haben. Ein Täter wird wohl nicht so dumm sein, ein solches Alibi anzugeben, das leicht zu überprüfen und zu widerlegen ist, wenn es nicht stimmt. Aber Sie haben recht, sicher ist sicher!«

»Ich glaube, wir haben hier genug gesehen«, antwortete der Kommissar. »Frau Gerber, nehmen Sie sich bitte ein, zwei Polizisten und fragen noch in der Nachbarschaft, ob in der letzten Nacht jemandem etwas aufgefallen ist und ob es Bemerkenswertes über die Familie Schneider zu berichten gibt.«

»Okay.« Olivia lächelte dem Kommissar zu und wandte sich ab, um ihren Auftrag auszuführen.

Der Kommissar trat vors Haus; ihn fröstelte trotz des milden Wetters. Zurück im Büro rief er im Krankenhaus an und erfuhr, dass Schneider Beruhigungsmittel erhalten hatte und derzeit nicht ansprechbar war. Er werde aber voraussichtlich nur für eine Nacht bleiben müssen und am nächsten Tag entlassen.

*

Zwischenzeitlich war es Mittag geworden. Kommissar Neumann ging in die Kantine, um eine Kleinigkeit zu essen. Dort traf er einen Kollegen, den er schon seit geraumer Zeit kannte. Der Kommissar berichtete von seinem neuesten Fall, der Kollege, der im Raubdezernat tätig war, von seiner Arbeit. Im Anschluss beim Kaffee waren beide nachdenklich, beinahe düster gestimmt.

»Es ist eine wahre Sisyphusarbeit, Rainer«, seufzte Neumann. »Und es ist deprimierend. Eine Gewalttat löst die andere ab. Und was wird dagegen getan? Wenig.«

»Ja«, pflichtete ihm Rainer bei, »in meinem Bereich werden die Täter immer jünger. Was nützt es denn, strafunmündige Kinder festzunehmen, die ohnehin nicht bestraft werden können? Und Jugendliche kommen mit Symbolstrafen weg.«

So ging es eine Zeit hin und her. Dann wechselte der Kollege plötzlich das Thema:

»Bist du eigentlich immer noch solo? Du bist doch jetzt 35, oder?«

Diese direkte Frage überraschte Neumann, und als er verlegen schwieg, setzte Rainer nach:

»Komm, wir kennen uns schon so lang. Du arbeitest doch mit Frau Gerber zusammen? Die ist nicht nur hübsch, sondern vor allem auch nett und im Präsidium beliebt. Alle fragen sich, ob zwischen euch nicht etwas läuft.«

Neumann schob die Kaffeetasse von sich, als wollte er diesen Gedanken von sich weisen: »Du weißt doch, ich möchte Berufliches und Privates nicht vermischen und nicht in den Verdacht geraten, meine berufliche Stellung gegenüber Frauen auszunutzen.«

Sein Gegenüber lächelte: »Du mit deinen Prinzipien. Ich glaube nicht, dass Frau Gerber abgeneigt wäre, so wie sie dich manchmal ansieht.«

Neumann wirkte jetzt unsicher und verschlossen: »Wir sollten nicht vergessen, dass zwei unserer Kollegen sich Disziplinarverfahren wegen sexueller Belästigung eingehandelt haben. Ich bin da vorsichtig.«

»Ich sehe schon«, lachte Rainer und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Mit dir ist da nicht zu reden. Ich an deiner Stelle würde jedenfalls mein Glück versuchen.«

*

Als Kommissar Neumann ins Büro zurückkam, saß Olivia schon wieder an ihrem Schreibtisch und gab ihren Bericht über die Nachbarschaftsbefragung ein. Sie unterbrach ihre Arbeit und wandte sich dem Kommissar zu:

»Also, die Nachbarschaftsbefragung hat wenig ergeben«, berichtete sie. »Die Eheleute waren als ruhig und unauffällig bekannt. Er ist ungefähr 35, fünf Jahre älter als seine Frau. Sie war Psychologin und hatte eine Praxis in der Innenstadt. Herr Schneider ist in der Pharmabranche tätig. Ist viel unterwegs, die Frau war also häufig allein. In der Nacht ist niemandem etwas aufgefallen. Ich werde mich jetzt um das Alibi von Herrn Schneider kümmern.«

Nach Beendigung ihrer Arbeit am Computer fuhr Olivia zum Flughafen, um Schneiders Alibi zu überprüfen. Kommissar Neumann verbrachte den Nachmittag damit, einen Abschlussbericht in einem anderen Mordfall zu schreiben. Er empfand es als unbefriedigend, einen Fall nach Aufklärung aus den Händen zu geben und keinen Einfluss mehr auf das weitere Verfahren nehmen zu können. Er wusste aber, nur die Aufklärung lag bei ihm, alle weiteren Entscheidungen hatten Staatsanwaltschaft und Gericht zu treffen. In diesem Fall würde man den Täter wahrscheinlich für unzurechnungsfähig erklären und in eine psychiatrische Klinik einweisen. Für die betroffenen Angehörigen in einem Mordfall war dies stets ein schwerer Schlag, weil sie das nicht als die gebührende Genugtuung empfanden.

Als der Bericht fertig war, lehnte sich der Kommissar zurück und ließ seinen Blick nachdenklich durch das karge und beinahe spartanisch eingerichtete, aber immerhin einigermaßen geräumige Büro gleiten: zwei Schreibtische, ein Schrank, ein Besprechungstisch mit einigen Stühlen, eine kleine Garderobe an der weißgetünchten Wand und auf der Fensterbank einige Blumentöpfe, die Olivia besorgt hatte. Das war alles. Das Büro entsprach dem schmucklosen Polizeipräsidium, einem Bau aus den sechziger Jahren. Er dachte an das Gespräch mit seinem Kollegen über Olivia und musste sich eingestehen, dass sie ihm gefiel. Er mochte ihr blondes, leicht gelocktes Haar, das sie schulterlang trug. Und ihr Lachen, bei dem sie immer nette Grübchen in den Wangen bekam und zusätzlich leichte Fältchen, die sich von der Nasenwurzel zu den Augen zogen. Aber vor allem waren es ihre blauen Augen, die ihn faszinierten. Er betrachtete Olivia gern intensiv, wenn er glaubte, sie nehme es nicht wahr, womit er sich häufig täuschte. Sie ließ sich nichts anmerken, weil sie Spaß daran hatte und sich geschmeichelt fühlte.

*

Am nächsten Morgen kam der Kommissar etwas später als gewöhnlich ins Büro. Er war schlecht gelaunt, da unausgeschlafen und noch müde. Unter seinen braunen Augen zeichneten sich Ringe ab. Er hatte am Abend zuvor mit Freunden Karten gespielt und es war spät geworden. Vielleicht hatte er auch etwas zu viel getrunken.

»Hätten Sie einen Kaffee?«, fragte er Olivia, nachdem er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte.

»Klar«, antwortete sie – wie immer freundlich und fürsorglich –, stand von ihrem Schreibtisch auf, der einige Meter von dem des Kommissars entfernt war, und brachte ihm ihre Kanne Kaffee. Sie trug einen blauen Pullover und eine Jeans, die ihre sportliche Figur betonte.

»Sie sehen müde aus, ich hoffe, es geht Ihnen gut.«

Der Kommissar ließ ihre Bemerkung unbeantwortet und fragte stattdessen etwas mürrisch: »Gibt’s was Neues?«

»Ja, Schneiders Alibi ist bestätigt. Er befand sich zum Tatzeitpunkt über dem Atlantik und kann also nicht der Täter sein. Das Alibi schließt aber natürlich einen Auftragsmord nicht aus. Dazu passt aber weder die Vergewaltigung noch das planlose Einstechen auf Frau Schneider.«

»Was wissen wir jetzt schon über Frau Schneider?«

»Außer dass sie Psychologin war und eine Praxis für Psychotherapie hatte, wenig. Wenn der Täter in ihrem Patientenkreis zu suchen sein sollte, wird es natürlich schwierig. Die Praxis scheint recht gut gelaufen zu sein, die Zahl der Patienten ist also bestimmt nicht klein. Vielleicht sollten wir heute Morgen die Praxis aufsuchen und dort mit ihrer Sekretärin sprechen.«

»Gute Idee. Könnten Sie sie anrufen und unseren Besuch ankündigen?«

»Habe ich schon gemacht. Sie wusste noch nichts von Frau Schneiders Tod. War ein ziemlicher Schock für sie. Sie ist jetzt in der Praxis, sagt alle Termine ab. Wir könnten sie also dort antreffen.«

Sie holten einen Wagen aus der Fahrbereitschaft und Olivia setzte sich ans Steuer. Sie musterte Neumann kritisch von der Seite und fuhr los. Er könnte manchmal etwas freundlicher sein, dachte sie. Und vor allem weniger distanziert. Obwohl sie täglich zusammenarbeiteten, sprach er fast nur über Dienstliches mit ihr, was sie bedauerte. Er war ihr sympathisch und sie hätte gern ein freundschaftlicheres Verhältnis zu ihm gehabt. Sie meinte zu spüren, dass es ihm ähnlich ging, er aber aus irgendwelchen Gründen bewusst Abstand zu ihr wahrte.

Das Handy des Kommissars klingelte, es war seine Mutter. Er seufzte und nahm den Anruf an. »Hallo, Mutter«, sagte er leise.

»Ja, hallo. Wo warst du gestern Abend? Ich habe versucht, dich anzurufen.«

»Ich war unterwegs und hatte mein Handy vergessen.« Er hasste es, wenn von ihm erwartet wurde, ständig erreichbar zu sein.

»Ich habe mir Sorgen gemacht. Alles in Ordnung bei dir?«

»Natürlich. Ich bin jetzt im Dienst und gerade im Auto.«

»Okay. Wir hatten gedacht, du könntest Samstag oder Sonntag zum Abendessen vorbeikommen.«

»Am Wochenende gehe ich mit Freunden wandern. Würde euch stattdessen Dienstagabend so um sieben passen?«

»Natürlich! Wir sehen uns dann. Tschüss.«

Der Kommissar verabschiedete sich ebenfalls und verstaute sein Handy in der Anzugsjacke, die er allerdings ohne Schlips trug. Als er zu Olivia blickte, sah er ein Lächeln auf ihren Lippen. »Eine fürsorgliche Mutter«, meinte sie.

»Manchmal etwas zu fürsorglich«, entgegnete er und erwiderte ihr Lächeln. »Ich nehme an, so sind Mütter halt.«

Inzwischen waren sie angekommen. Die Praxis lag im ersten Stock über einem Schuhgeschäft. Sie klingelten, ein Summer ertönte, sie gingen die Treppe hoch und traten in die Praxis ein; die Tür stand schon offen. Ihnen entgegen kam eine junge Frau; auffällig waren ihre langen schwarzen Haare, die im Licht glänzten.

»Guten Tag«, sagte der Kommissar und stellte sich und Olivia vor. »Wir würden uns gern einige Minuten mit Ihnen unterhalten.«

»Kein Problem. Am besten gehen wir in das Sprechzimmer von Frau Schneider.«

Sie geleitete sie in einen nüchtern gestalteten Raum. Ein Schreibtisch aus hellem Holz, dahinter ein schwarzer Schreibtischstuhl und davor zwei gepolsterte Stühle; an zwei Wänden des Raumes Regale voll Bücher, soweit zu sehen, erwartungsgemäß über Psychologie und Psychiatrie. Der Kommissar und Olivia nahmen auf den beiden Stühlen Platz, die Sekretärin holte sich einen Stuhl, der in einer Ecke des Zimmers – wohl als Reserve – stand und platzierte sich auf einer Seite des Schreibtisches. Sie hatte wohl Scheu, sich auf den Platz der Toten zu setzen.

Die beiden stellten zunächst Fragen zum Verhältnis der Sekretärin zu ihrer Chefin, was sich allerdings als wenig ergiebig erwies. Sie war seit etwa zwei Jahren in der Praxis tätig, ihre Beziehungen zu Frau Schneider hatten sich auf die Arbeit beschränkt; privat hatten sie nicht miteinander verkehrt. Die Sekretärin schilderte Frau Schneider als freundlich, entgegenkommend und umgänglich. Alles in allem nichts, was weiterhalf.

»Wie war das Verhältnis zu den Patienten?«, fragte Olivia. »Hatte sie zu jemandem eine besondere Beziehung, gab es Streitigkeiten insbesondere mit Männern?«

Die Sekretärin wurde nachdenklich und legte ihre Stirn in Falten:

»Im Großen und Ganzen war das Verhältnis zu den Patienten problemlos. Frau Schneider war bei ihren Patienten beliebt und deshalb als Psychologin sehr begehrt. Aufgrund ihrer Schwangerschaft trat sie in letzter Zeit aber bei der Arbeit kürzer. Dies alles brachte es natürlich mit sich, dass Patienten auch abgewiesen werden mussten. Das zu erledigen, war dann meine Aufgabe. Die Patienten haben unterschiedlich reagiert. Die meisten haben es einfach hingenommen, aber einige waren auch aufgebracht. Aber damit war die Sache dann auch erledigt …«

»Können Sie uns denn sagen, welche Leute unfreundlich oder gereizt reagiert haben?«, unterbrach sie ungeduldig der Kommissar, etwas genervt von ihrem Redefluss.

»Nein, wer diese Leute waren, kann ich Ihnen natürlich nicht mehr sagen. Wenn jemand keinen Termin bekommt, dann nehme ich ihn nicht in unsere Kartei auf.«

Neumann runzelte jetzt die Stirn; man sah ihm an, dass der Verlauf der Unterredung ihn nicht zufrieden stellte: »Gab es auch Schwierigkeiten mit Patienten in Behandlung?«

»Ja, da waren zum einen ab und zu Fragen der Bezahlung oder Erstattung durch die Versicherung …«

»Wobei ich mir allerdings nicht vorstellen kann, dass man deshalb seine Psychologin ermordet«, brachte sich Olivia ein. »Gab es Streitigkeiten, die auch tiefer gingen?«

»Ja, darauf wollte ich noch eingehen«, gab die Sekretärin zur Antwort. »In seltenen Fällen hat Frau Schneider Behandlungen auch beendet, wenn sie persönlich mit dem Patienten nicht zurechtkam oder ihre Behandlung nicht ansprach. In letzter Zeit erinnere ich mich aber nur an einen Fall. Ich glaube, Frau Schneider hatte den Eindruck, dass es dem Mann um mehr ging als um die psychotherapeutische Behandlung.«

Sie zögerte weiterzusprechen.

»Ja, und?«, forderte Olivia sie auf.

»Ich möchte niemanden verdächtigen«, erklärte die Sekretärin.

»Machen Sie sich da keine Sorgen. Wir werden schon die richtigen Schlussfolgerungen ziehen«, beruhigte sie Kommissar Neumann.

Die Sekretärin blickte verunsichert, fuhr dann aber fort:

»Als Frau Schneider ihm mitteilte, dass sie ihn nicht weiterbehandeln wollte, hat er – ich meine, sein Name war Kellner – aufgebracht reagiert.«

»Was verstehen Sie unter aufgebracht?«, hakte Olivia nach, die nun ihrerseits versuchte, die Ausführungen der Sekretärin auf den Punkt zu bringen.

»Er hat ihr Sprechzimmer schimpfend verlassen und Frau Schneider noch ›Unverschämtheit‹ und ›Das hat noch Konsequenzen‹ zugebrüllt. Das war vor ungefähr drei Wochen.«

Der Kommissar ließ sich den vollen Namen – es war tatsächlich ein Herr Kellner – und Adresse sowie Telefonnummer des Patienten geben, dann verließen die beiden die Praxis.

Wieder im Büro veranlasste der Kommissar, dass Kellner zur Befragung – möglichst für den nächsten Tag – vorgeladen wurde. Er rief sodann die Spurensicherung an, die gerade dabei war, ihre Arbeiten im Haus der Schneiders abzuschließen. Verwertbare Spuren im Garten waren nicht gefunden worden, natürlich aber unzählige Fingerabdrücke am Tatort, die abzugleichen einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Tatwaffe war nicht auffindbar, wahrscheinlich hatte der Täter sie mitgenommen.

Kommissar Neumann bat Olivia, Herrn Schneider ihren Besuch anzukündigen, und nach dem Mittagessen fuhren beide zu seinem Haus. Schneider, ein schlanker hochgewachsener Mann mit hageren Gesichtszügen und braunen, kurzgeschnittenen Haaren, öffnete ihnen; er überragte den Kommissar um eine Kopflänge. Im Vorraum waren zwei Reinigungskräfte damit beschäftigt, die Blutspuren auf dem Kachelfußboden zu beseitigen. Sie trugen lange, gelbe Handschuhe und das Unbehagen an der Arbeit konnte man ihnen ansehen.

»Gehen wir in mein Arbeitszimmer!«, schlug Schneider vor. »Das Wohnzimmer wird einige Tage brauchen, bis es wieder zu benutzen ist.«

Seine Stimme klang müde und erschöpft. Wahrscheinlich stand er noch unter dem Eindruck der Ereignisse; vielleicht kamen auch Jetlag und Beruhigungsmittel hinzu. Er öffnete die Tür zu einem nüchtern eingerichteten Raum mit Schreibtisch, Couch und einem Sessel, in den er sich setzte. Die Ermittler nahmen auf der Couch Platz.

Kommissar Neumann war nervös. In einem Mordfall mit den Angehörigen zu sprechen, bereitete ihm immer noch Unbehagen. Schneider schaute die beiden Ermittler erwartungsvoll an und mit unsicherer Stimme eröffnete Neumann das Gespräch:

»Herr Schneider, vielen Dank, dass Sie uns empfangen. Wir würden gern einige Fragen an Sie richten; wir wissen natürlich, dass dies so kurz nach dem Tod Ihrer Frau für Sie schwer ist, für die Aufklärung der Tat ist es jedoch sehr wichtig, unsere Informationen so früh wie möglich zusammenzutragen. Aber bevor wir anfangen, zunächst unser aufrichtiges Beileid!«

»Danke«, murmelte Schneider und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Das verstehe ich sehr gut. Mir liegt natürlich sehr viel daran, dass Sie den Täter fassen und zur Verantwortung ziehen.«

»Danke für Ihr Verständnis«, warf Olivia ein. Der Kommissar hatte mit ihr vereinbart, dass sie diesen heiklen Teil des Gesprächs übernehmen sollte, weil er der Meinung war, sie könne Schneider einfühlsamer über den Tathergang informieren als er. »Wir gehen von einem männlichen Einzeltäter aus, wobei wir die Tatteilnahme eines weiteren Mannes oder auch einer Frau zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht völlig ausschließen können.« Sie legte eine Pause ein, begegnete Herrn Schneiders fragendem Blick und fuhr dann fort: »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass man sich wahrscheinlich an Ihrer Frau vor ihrem Tod vergangen hat. Dies ist der Grund, warum wir in erster Linie einen männlichen Einzeltäter vermuten.«

Sie schwieg und sah Schneider mitfühlend an, der sein Gesicht in beiden Händen verborgen hatte und seinen Kopf schüttelte. Er blickte dann wieder auf und der Kommissar wusste, diese Mischung aus Entsetzen und Wut in seinen Augen würde er nicht vergessen können. Mit tonloser, gepresster Stimme brachte Schneider heraus:

»Was für ein Mensch tut so etwas? Und wir haben uns so auf das Kind gefreut.«

Schneider tat Olivia leid. Sie wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. Sie strich nervös mit der Hand über ihr Kinn, wartete etwas und versicherte dann:

»Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Täter zu fassen. Deshalb auch unser Bestreben, die Ermittlungen möglichst früh voranzutreiben.«

Schneider nickte und starrte vor sich hin. Olivia kam dann zu den Fragen:

»Ich glaube, das genügt zunächst zum Tathergang. Für uns ist es wichtig, fürs Erste ein Gesamtbild zu bekommen. Was können Sie uns über Ihre Frau sagen? Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen beiden? Waren Sie häufig verreist? Welchen Bekanntenkreis hatte Ihre Frau? Ging sie allein aus oder verbrachten Sie die meiste Zeit gemeinsam? Antworten Sie einfach, was Ihnen gerade einfällt.«

Schneider erwiderte leise und mit belegter Stimme:

»Ich habe meine Frau vor drei Jahren kennengelernt und wir haben sehr bald geheiratet. Wir waren sozusagen noch am Anfang unserer Ehe und sehr verliebt, zumal meine Frau ja jetzt ein Kind erwartete.« Schneider kamen die Tränen, er holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich. »Wir haben beide gearbeitet, da blieben nur noch der Abend und das Wochenende. Die meiste Zeit haben wir gemeinsam verbracht, Sportstudio, Theater, Einladungen und, was man so macht. Natürlich hatte sie Freundinnen wie ich Freunde und man traf sich. Aber nichts Auffälliges. Dienstreisen sind bei mir leider häufig.«

Die Befragung ging eine Weile weiter, ohne konkrete Anhaltspunkte zu erbringen, wo man hätte ansetzen können.

Auf der Rückfahrt wurde der Kommissar sehr nachdenklich. Er fragte sich, ob der Täter überhaupt in einer Beziehung zum Opfer stand und ob er nicht Frau Schneider zufällig ausgesucht hatte.

Spät am Nachmittag rief ihn die Gerichtsmedizinerin, Frau Dr. Selle, an, ihre Stimme klang nüchtern und emotionslos wie immer:

»Hallo, Herr Neumann. Hier eine kurze Zusammenfassung meines Berichts, der Ihnen in Kürze zugehen wird: Zeitpunkt der Tat, wie angenommen, ungefähr Mitternacht. Todesursache ein Messerstich in der Herzgegend.«

»Was ist mit den anderen Stichen«, fragte Neumann, der sich an die Blutspuren am Tatort erinnerte.

»Keiner der anderen 19 Stiche war für sich genommen tödlich. Dies erklärt auch die Flucht vom Sofa bis fast an die Haustür. Währenddessen muss der Täter noch auf sein Opfer eingestochen haben.«

Der Kommissar trommelte nervös mit seinen Fingern auf die Schreibtischplatte. Das Vorgehen des Täters schien ihm wenig Sinn zu machen. Warum sticht jemand so häufig zu, ohne zu töten?

»Der ganze Vorgang«, fuhr Dr. Selle fort, »lässt auf einen hohen Erregungszustand schließen. Vielleicht wollte der Täter sein Opfer auch nur quälen. Jedenfalls muss Frau Schneider gelitten haben, bis sie den tödlichen Stich erhielt.«

»Und wie sieht es mit Spuren aus?«

»Die haben wir in Hülle und Fülle, insbesondere Haare und Hautreste unter den Fingernägeln der Toten. Sie muss sich wie wild gewehrt haben.«

»Und wurde sie vergewaltigt?«

»Das hat die Obduktion zwar bestätigt, wir haben aber keinen Samen. Möglicherweise hat der Täter sein Vorhaben nicht zu Ende führen können oder er hat ein Präservativ benutzt. Wir haben auch keine Übereinstimmung in unserer Datei im Hinblick auf die gefundenen DNA-Spuren gefunden. Im Übrigen: Die Tote war im siebten Monat schwanger; der Embryo wurde von zwei Messerstichen getroffen. Einige Laborwerte stehen noch aus. Ich erwarte aber keine Überraschungen.«

*