Keine wie sie - Jela Krečič - E-Book

Keine wie sie E-Book

Jela Krečič

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Beschreibung

Matjaž ist besessen, und zwar von seiner Ex. Zu allem Übel befürchtet er nun auch, deswegen seine Freunde zu verlieren. Um zu beweisen, dass er die Beziehung hinter sich gelassen hat, stürzt er sich in Ljubljana Hals über Kopf von einem Date ins nächste. Jedes Kapitel erzählt eine neue Begegnung und ein wildes Abenteuer. Doch bei all seinen Flirts ringt Matjaž immer wieder mit der offensichtlichen Tatsache, dass es da draußen „Keine wie sie“ zu geben scheint ... Krečič schafft es in ihrem Debütroman mit leichtem Ton sozialkritisch zu sein. In den lebhaften, klugen, oft humorvollen Dialogen und Diskussionen der Figuren über die moderne Gesellschaft, Politik, Marxismus, Prominenz, Ökologie, spiegelt sie den Zeitgeist wider und zeichnet ein Porträt der slowenischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert.

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»Du hast doch keine Ahnung!«, sagte Matjaž und blickte Aleksander vorwurfsvoll an.

Aleksander sah seinen Freund, der sich schon die zehnte Zigarette in Folge anzündete, ausdruckslos an und ließ seinen Blick dann über die Uferpromenade Petkovškovo nabrežje schweifen, die sich mit der träge fließenden Ljubljanica durch die Innenstadt schlängelte. Ende August saßen hier erneut unzählige Menschen, die sich nach dem Urlaub wieder an die Hauptstadt gewöhnten, an ihre kleinen, bezaubernden Plätze und netten Cafés. Am einfachsten ging das, indem man sich mit Freunden auf ein Bier traf und sich von den Erlebnissen am Meer erzählte oder aber – wenn die Erinnerung an den Urlaub und das Entfliehen an schönere Orte bereits verblasst waren – wahlweise über Regierung, Parlament, Justiz oder den Staatspräsidenten meckerte, oder, wenn man wirklich schon genug getrunken hatte, anfing über Job, Ehefrau und die Kinder zu jammern.

Matjaž und Aleksander berichteten sich nicht von ihren Urlauben, sie plauderten auch nicht über die besorgniserregende politische Situation, sprachen weder über die Krise noch über die Entfremdung zwischen der EU und ihren Bürgern. Sie erzählten sich nicht von Ereignissen, in die sie in den letzten drei Tagen, seit sie sich genau hier zuletzt gesehen hatten, hätten geraten sein können oder waren. Sie sprachen weder über ihre Arbeit, noch erkundigten sie sich gegenseitig nach dem Gesundheitszustand ihrer Eltern. Nein, sie sprachen über die eine Angelegenheit, die schon seit gut zwei Monaten auf der Tagesbeziehungsweise Nachtordnung stand, seit Sara Matjaž verlassen hatte. Und auch wenn Aleksander, jetzt immerhin verheiratet, ohne schlechtes Gewissen die sommerliche Aufmachung der vielen jungen und älteren Frauen genießen konnte, die an diesem Freitagabend über die Promenade schlenderten, war Matjaž Opfer einer einzigen Gestalt und eines einzigen Gedankens.

»Zugegeben, ich habe keine Ahnung. Aber wie oft denn noch?«, erwiderte Aleksander.

»Warum ist sie mir gegenüber so zurückhaltend?«, lag Matjaž ihm einen Augenblick später wieder in den Ohren.

»Ich glaube, sie will dich nicht verletzen.«

»Das verstehe ich nicht. Dass sie mit mir keinen Kaffee trinken gehen will, genau das verletzt mich doch am meisten.«

»Sie will dir keine falschen Hoffnungen machen. Ich glaube, sie hat dich immer noch gerne, das hat sie zumindest gesagt.«

»Wann hat sie das gesagt?«, fragte er aufgeregt.

»Matjaž, ich weiß nicht, wann das war«, seufzte Aleksander, inzwischen der immer gleichen Dialoge mit seinem besten Freund schon überdrüssig.

»Und was hat sie noch gesagt?«, fragte Matjaž unruhig.

»Oh Mann, wie oft denn noch? Nichts, das hat sie gesagt, und dass sie sich wünscht, du wärst glücklich.«

»Glücklich?«, funkelte Matjaž ihn kampflustig an.

»Ja, glücklich«, bejahte Aleksander, als ginge es um eine neutrale Aussage.

»Miststück! Was soll das heißen, glücklich? Glücklich wäre ich, wenn sie immer noch hier wäre, mit mir.«

»Na ja, das ist ja scheinbar das Problem«, fuhr Aleksander sich unruhig mit den Fingern durchs üppige Haar.

»Natürlich ist das das Problem. Wäre sie hier, müsste ich mich nicht mit dir streiten«, blickte Matjaž ihn aufgebracht an.

»Das Problem ist, dass sie nicht mit dir kommunizieren kann, wenn du so bist.«

»Wie, so?«, sah Matjaž ihn unschuldig an.

Aleksander wägte die Worte ab, die er dann mit dem Rauch seiner Zigarette ausblies: »Wenn du auch jemanden finden und dann mit der Person glücklich sein würdest, so wie sie jetzt mit Jaka …«

Matjaž senkte den Kopf und schwieg. Dass sie jetzt mit Jaka glücklich war, das wollte er nicht hören, das wollte er absolut nie und nimmer hören und das interessierte ihn auch gar nicht.

»Das mit Jaka ist nur eine vorübergehende Geschichte«, unterbrach er seinen Freund. »Das ist dir hoffentlich klar«, sagte er und sah schließlich wieder zu Aleksander auf, der dabei nur genervt die Augen schloss.

»Matjaž, ich glaube, genau das ist das Problem. Du akzeptierst diese momentane, na ja, bestehende Situation nicht. Die unangenehm ist, da bin ich ganz deiner Meinung. Und Sara weiß, dass du mit ihr nicht einfach nur einen Kaffee trinken gehen willst, du willst viel mehr …«

»Viel mehr. Was ist viel mehr? Ein paar Sätze vielleicht, ein Lächeln, eventuell eine kleine Umarmung, eine zärtliche Umarmung«, gab Matjaž zerknirscht zu. »Ist das nach zehn Jahren zu viel verlangt, wenn ich eine kleine, zärtliche Umarmung will?«

»Es ist jetzt schon ein bisschen Zeit vergangen, zugegeben, nicht viel, aber doch etwas. Was würdest du nach dieser zärtlichen Umarmung machen?«

»Ich würde ihr versprechen, dass ich jetzt ein ganz anderer Mensch bin …«, sprudelte es voller Hoffnung aus Matjaž.

»Was du nicht bist …«

»Na ja, gut, ich würde ihr versichern, dass ich immer noch der Mann bin, in den sie sich verliebt hat …«

»Vor allem bist du der Mann, von dem sie sich entliebt hat«, merkte Aleksander streng an.

»Sei doch nicht so gemein!«, rief Matjaž.

»Entschuldige, ich sehe echt nicht gerne, wie du leidest, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass du das hinter dir lässt. Und vielleicht geht sie dann mit dir einen Kaffee trinken.«

»Das hat sie dir gesagt?«

»Nein, das hat sie natürlich nicht gesagt, aber es ist doch vollkommen logisch – erst wenn du das hinter dir lässt, kannst du zurückkommen«, fasste Aleksander das sinnvoll zusammen.

»Ich finde das gar nicht logisch«, erwiderte Matjaž trotzig.

»Du weißt doch, wie das ist«, fuhr Aleksander fort. »Solange du keine neue Freundin hast oder nicht genug Zeit vergangen ist, wird es zwischen euch kein entspanntes Gespräch geben können.«

»Warum muss das Gespräch denn entspannt sein?«, bockte Matjaž weiter, »sie gefällt mir auch ganz unentspannt.«

»Ach, darum geht es doch gar nicht! Solange du das nicht hinter dir lässt, wird sie sich ständig fragen, ob du nicht doch heimliche Absichten hast, oder aber sie befürchtet, dir falsche Hoffnungen zu machen.«

»Lieber falsche Hoffnungen als nichts! Mit ein bisschen falscher Hoffnung könnte ich ausgezeichnet schlafen«, sträubte Matjaž sich wieder.

»Daraus wird nichts. Ihr seid noch nicht genug auseinander, um zusammen zu sein. So einfach ist das.«

Aleksanders Worte gaben Matjaž zu denken. Hätte er eine neue Freundin oder wäre genug Zeit vergangen, wäre er also lange genug mit einer anderen Frau zusammen, wäre Sara an seiner Seite entspannter und das würde vielleicht dazu führen, dass sich zwischen ihnen wieder die alte Nähe, diese direkte Art, ihr ganz besonderer Humor entwickelte – wie er diesen Humor vermisste, all die neuen Wörter und Phrasen, die bei einem Paar ganz ungewollt entspringen und nur für sie beide eine Bedeutung haben. Vielleicht würde sie dann erkennen, was ihr entging. Und wenn sie einfach so herumerzählte, dass sie ihn noch gern habe, dann hieß das, dass sie noch an ihn dachte und ihn wahrscheinlich sogar vermisste – dass sie ihn immer noch wirklich gern hatte. Es war schon genug Zeit vergangen, unheimlich viel Zeit, mehr als ein Monat, noch mehr: zwei Monate, ziemlich viel Zeit. Er würde nicht mehr warten. Er hatte unheimlich viel Zeit damit verbracht, dass Zeit vergeht, viel zu lange darauf gewartet, dass die Zeit ihre Arbeit verrichtet, und all dieser Zeit hatte er Zeit gegeben, aber ohne ersichtliche Auswirkungen. Noch immer schlief er schlecht, noch immer verkrampfte sich sein Magen bei dem Gedanken an sie und ihre Trennung. Er hatte keine Zeit mehr. Die Zeit war abgelaufen. Er musste einen Weg zu ihr finden, und wenn das hieß, Zeit mit einer anderen Frau zu verbringen, dann soll das so sein! Er musste sich an die Arbeit machen. Das sollte nicht allzu schwer sein. Angeblich gab es viele Frauen auf dieser Welt und auch Sara hatte ihm immer gesagt, wie gut aussehend und, was heutzutage nicht gänzlich zu vernachlässigen ist, unterhaltsam er war. Ja, das mochten die Damen gerne: sympathisches Aussehen mit pikantem Sinn für Humor.

Die Entscheidung tat ihm gut; in seinen Augen funkelte es wieder, und als er sich am nächsten Morgen im Spiegel erblickte, musste er nicht voller Verdruss den Kopf schütteln. Im Gegenteil: Er nickte sich zu und hätte, wenn er sich nicht besser kennen würde, schwören können, dass er in seinem Mundwinkel die Andeutung eines Lächelns gesehen hatte. Eine neue Ära, eine neue Freundin – was für eine geniale Idee!

Saša

Bis zu diesem Gespräch war das Leben für Matjaž ein großes Mysterium gewesen. Seit er und Sara sich getrennt hatten, konnte er sich nur daran erinnern, dass er viel vergaß. Arbeitsstunden waren für ihn ein einziger Nebel, Stimmen ohne Bedeutung, Gesichter ohne Namen. Er hörte sich auf Fragen antworten und bekannte, doch unvertraute Menschen grüßen, erledigte Aufgaben, vergaß aber auch alles schnell wieder. Es lag nicht nur am Alkohol, auch wenn er ihm in dieser Zeit nicht abgeneigt war. Er hatte das Gefühl, er könne nicht an dem teilnehmen, was sich als Leben darstellte. Und je voller die Bars in den Abendstunden wurden, je lauter das Treiben auf den Straßen war, je mehr sich eine sommerliche Stimmung unter den Menschen verbreitete, desto stärker fühlte er sich wie ein Fremder unter ihnen, wie ein Toter mitten im euphorischen Puls der Stadt.

Er vergaß die Stunden, die er mit Jernej verbrachte, als er ihn beobachtete, wie er Gläser in der Billardhalle polierte, den Gästen Getränke einschenkte und kassierte, Rückgeld herausgab und lächelte. Die mechanischen Wiederholungen der Bewegungen des Kellners und seiner Gäste säuberten seine Gedanken so gründlich, dass er glatt sich selbst vergaß.

Von den Spaziergängen mit Suzana und ihrem Hund an der Uferpromenade der Ljubljanica im Stadtteil Prule blieben ihm die Baumkronen in Erinnerung, wie sophistizierte Grafiken auf das Blau des Himmels gedruckt, sowie das verbrannte Gras, die Farben der Fassaden und stellenweise ein glänzender Oldtimer. Nur ab und zu pflichtete er ihrem energischen Geschimpfe über die prekäre Situation der jungen Freiberufler bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt zu, also musste sie ihn ein paarmal gegen die Schulter boxen, wenn sie feststellte, dass er ihr schon wieder nicht zuhörte oder sich nicht für ihr Engagement interessierte. Ihre Schläge erwiderte er für gewöhnlich nur mit einem verlorenen Lächeln, das sie nur noch mehr verzweifeln und häufig sagen ließ: »Alter, hör zu! Ich kann nicht mit Menschen, denen es schlecht geht, klar!?! Ich habe dieses Talent einfach nicht. Warum kannst du mich nicht einfach wie immer beleidigen oder dahin schicken … wo der Pfeffer wächst? Siehst du, ich traue mich noch nicht einmal mehr, vor dir zu fluchen! Warum hängst du dich nicht einfach auf?« Auch darauf antwortete er mit einem wenig überzeugenden Lachen, entschuldigte sich, er müsse noch Milch oder etwas anderes besorgen, und ging schnell nach Hause. Ihm schien, sie war jedes Mal erleichtert, wenn sie sich verabschiedeten.

Selbst mit Aleksander konnte er zunächst nicht über Sara sprechen. Beim Mittagessen bei ihm und Karla starrte Matjaž nur verwundert auf seinen Teller und fragte sich, welche chemischen Prozesse genau eine Tomate beim Aufkochen durchlief und wie darauf die Stoffe aus Knoblauch und Paprika reagierten, ebenso Zutaten der Soße. Seinem besten Freund gelang es bald, ihm ein paar Worte über Sara zu entlocken, über sein momentanes Befinden, der Schmerz für Matjaž allmählich greifbar wurde. Er befand sich fast ausschließlich in seinen Eingeweiden – oder wie man halt den Teil des Oberkörpers nennt, den man als sein tiefstes Inneres spürt. Sobald er angefangen hatte über Sara zu sprechen, konnte er nicht mehr aufhören. Doch der Schmerz wurde dadurch nicht kleiner, mit jedem Gedanken, mit jeder flüchtigen Assoziation an ihr gemeinsames Leben kehrte er zurück. Er ließ einfach nicht nach, Matjaž konnte den Schmerz nicht vergessen, und was noch schlimmer war, der Schmerz wollte ihn nicht vergessen.

Doch der Freitag, der dem Gespräch mit Aleksander folgte, war anders. Die Vergesslichkeit war Matjaž nicht mehr ganz so gleichgültig, sie amüsierte ihn sogar. Auch der Schmerz wich ein wenig seinem Appetit nach Blödsinn, nach einem Testlauf, was von ihm als Person nach der Trennung mit Sara überhaupt noch übrig geblieben war – welche Worte, welche Geschmacklosigkeiten, welche Spitzzüngigkeit und welche Absurditäten würden zum Vorschein kommen, wenn ihn eine unterhaltungsbegierige Menge herausforderte? Wie würde er auf den Ruf eines, besser gesagt, einer von ihnen reagieren?

Als er in der Orto Bar ankam, war er schon ziemlich gut gelaunt. Schnell verlor er seinen Kumpel im Gedränge und noch schneller hatte er das auch schon wieder vergessen. Er tanzte ein bisschen, während er sich zum Tresen vorkämpfte, und lächelte den Menschen in seinem angenehm benebelten Zustand zu. »Ups, ’tschuldigung, sorry«, wiederholte er, als er Menschen davonschob, ihnen auf die Füße trat oder beiläufig die Ellbogen ausfuhr. Da kam auch mal ein: »Beweg deinen fetten Arsch da weg, du blöde Kuh!«, doch zum Glück war die Musik laut genug, und seine Worte störten niemanden so wirklich. Als er endlich sein Ziel erreicht hatte, stieß er auf das nächste Problem: Kein Kellner bemerkte ihn. Er winkte, brüllte, beschimpfte die Bedienung im Lokal, doch bei der Menge offensichtlich dehydrierter Menschen und dröhnender Musik blieben seine ganzen Anstrengungen ohne Erfolg. Nun, fast ohne Erfolg, denn sein wildes Rudern mit den Armen und sein Fluchen wurden von einer jungen, zierlichen Frau mit sanftem Blick abgefangen, die neben ihm am Tresen stand.

»Was glotzt du so?«, bellte Matjaž sie an.

»Ich glotze, weil du mir gefällst«, flüsterte ihm eine sanfte Stimme ins Ohr, der er nie zugetraut hätte, dass sie so etwas so schnell und direkt sagen konnte. Bei der unmittelbaren Art wurde er schwach, und um ehrlich zu sein, wusste er einen Augenblick lang nicht, was er sagen sollte. Endlich fing er sich wieder. »Was trinkst du?«

»Wodka-O.«

»Widerlich, aber wenn du meinst.« Er drehte sich zum Kellner um, der ihn ganz zufällig genau jetzt bemerkte, und schrie ihm zu: »Hier drüben! Einen Wodka-O für sie und für mich ein Bier.«

»Ein großes?«

»Was sonst!«, lachte er und musterte das kurzhaarige, blonde Mädchen ziemlich offensichtlich von Kopf, mit ziemlich viel Make-up, bis Fuß, in Sandalen mit beachtlichen Absätzen. Das, was dazwischen lag, war weit genug ausgeschnitten und kurz genug, dass er das Betrachtete auch etwas genauer bewerten konnte. Es war ihm nicht zuwider, und doch runzelte er dabei kritisch die Stirn.

»Warum bist du so ätzend?«, meldete sich die zarte Stimme wieder zu Wort, nachdem sie ihren Wodka-O bekommen hatte.

»Damit ich Mädchen wie dich animiere, verehrte Frau.«

»Sag doch nicht Frau zu mir.«

»Warum nicht?«

»Na, dafür bin ich noch ein bisschen zu jung.«

»Na gut, Frau Fräulein.«

Sie verdrehte die Augen, dann lächelte sie. »Wie wäre es, wenn du mich Saša nennst?«

»Langsam. Ich bin ein sanfter und schüchterner Junge«, sagte er und warf einen Blick in sein gerade erhaltenes Bier, als würde er nachdenken. Dann nahm er sie an die Hand und führte sie nach draußen, wobei ihnen immer wieder die Getränke überschwappten, an den am wenigsten beleuchteten Tisch. Nachdem sie sich gesetzt hatten, hätte man die Prise Ironie in seiner Stimme fast überhören können. »Könnten wir nicht mit etwas einfacheren Dingen und Sätzen anfangen, mit Fragen, die einen Übergang zu anspruchsvolleren ermöglichen?«, sah er sie bittend an. »Warte, ich denke mir ein schönes, neutrales Thema aus …«, runzelte er die Stirn.

»Such dir ein einfaches aus, ich bin nämlich sehr unwissend«, stieg sie in sein Spiel ein.

»Ja, und es muss eins sein, bei dem wir keinen Konflikt riskieren …«, grübelte er.

»Bitte, alles, nur keine Politik«, stieß sie aus.

»Bist du etwa apolitisch?«, stellte er sie auf die Probe.

»Nein, ich mag nur keine Politik, das interessiert mich wirklich gar nicht«, pflichtete sie unwissend bei.

»Gut, Hauptsache, du bist keine Rechte«, provozierte er sie trotzdem ein bisschen. Vergeblich. Sie lächelte, hob ihre rechte Hand, winkte leicht und sagte: »Nein, ich schreibe nur mit rechts.«

»Über Politik können wir uns also nicht streiten, selbst wenn wir wollten«, stellte er fest.

»Nein, wirklich nicht, und über Kunst auch nicht. Ich habe keine Ahnung von Kunst, selbst über ganz triviale Dinge kann ich nichts sagen. Ich verwechsle immer noch De Niro und Pacino, dabei sind das angeblich Klassiker!«, zuckte sie mit den Schultern.

»Mir geht’s momentan genauso«, strengte er weiter sein Hirn an, um sich ein interessantes, unproblematisches Thema einfallen zu lassen. »Uns bleibt immer noch die Umwelt«, merkte er hoffnungsvoll an.

»Nein, ich mag Natur nicht«, erwiderte sie blitzschnell.

»Ich auch nicht«, fiel ihm gerade ein.

»Lichtverschmutzung ist voll mein Ding«, fügte sie treuherzig hinzu.

»Da sind wir schon zu zweit!«, begeisterte er sich ganz schnell. Dann schwiegen sie eine Weile, beide in Gedanken versunken. Vorsichtig sah sie ihn an und sagte mit einem Lächeln im Mundwinkel: »Wir könnten über Sex reden.« Dabei errötete sie, doch das bemerkte bei der schummrigen Beleuchtung vor der Orto Bar niemand. Matjaž sah sie besorgt an und sagte: »Nein, nein, es ist zu früh für Sex. Wir brauchen etwas Dezenteres fürs erste Treffen.«

»Wie wäre es mit Wetter?«, fiel Saša ein.

»Wetter, natürlich, wieso ist mir das nicht selbst eingefallen?«, war Matjaž ganz begeistert. »Und, wie findest du das Wetter heute?«

»Ganz okay. Für meinen Geschmack könnte es etwas wärmer sein«, entgegnete sie und strich sich über die unbedeckten Beine.

»Siehst du, wie wir zusammenpassen!«, jubelte Matjaž.

»Ist dir jetzt auch abends zu kalt?«, fuhr Saša fort.

»Nein, für mich ist das ideal, aber ich bin sehr offen für andere Meinungen.«

»Dann möchte ich noch hinzufügen, dass ich Hitze mag, diese richtig irre nächtliche Hitze, und selbst sommerliche Schwüle gefällt mir«, fuhr sie mutig fort.

»Wirklich? Warte mal, das ist aber eine etwas extreme Ansicht, finde ich«, sagte Matjaž besorgt.

»Hast du nicht gesagt, dass du wettermäßig offen bist?«, sah Saša ihn ängstlich an.

»Wenn ich ganz ehrlich bin, wäre ich gerade offen für so einen Regentropfen«, merkte er bescheiden an.

»Von einem Tropfen hier und da ist noch niemand geschmolzen«, lachte sie treuherzig.

»Das ist schon viel besser. Wenn ich dich unter einen Schirm stelle, hältst du dann auch einen richtigen Regenschauer aus?«

»Bis zu einem Schauer würde ich nicht gerade gehen, unter einem Schirm halte ich höchstens ein leichtes Nieseln aus.«

»Nieseln ist doch was, aber heißt das, ich kann dich nicht für ein Sommergewitter erwärmen?«, lotete Matjaž die Grenzen aus.

»Draußen oder zu Hause?«, wollte Saša wissen.

»Wo auch immer.«

»Okay, ich nehme das Gewitter, wenn es im sicheren Schutz zu Hause passiert. Kann ich dich im Gegenzug an einen schönen Strand in Dalmatien verführen, genau zur Mittagszeit, an einem schön heißen, sonnigen Tag?«

»Das darfst du, wenn du mir da einen kleinen Kiefernwald hinstellst.«

»Na ja, für so eine Kiefer findet sich immer ein Plätzchen.«

»Wie stehst du zu Schnee?«, erkundigte er sich.

»Nein, über Schnee verhandle ich überhaupt nicht«, sagte sie bestimmt.

»Was? Nicht einmal für einen Schneemann?«

»Gut, wenn du darauf bestehst. Ein Schneemann irgendwo auf dem Krvavec«, gab sie nach.

»Dann lässt du wahrscheinlich auch keinen Eisregen durchgehen«, mutmaßte Matjaž.

»Nein, alles, in dem das Wort Eis vorkommt, steht bei mir nicht zur Diskussion«, sagte sie und nahm einen Schluck von ihrem Getränk.

»Nicht mal ein bisschen Frost zu Weihnachten?«, versuchte er sein Glück.

»An Weihnachten darf ein Zentimeter Schnee fallen«, gab sie nach.

»Hast du nicht gesagt, dass du über Schnee nicht verhandelst?«

»Ich verhandle ja nicht, für die Feiertage schenke ich dir einen Zentimeter Schnee«, lächelte sie.

»Vielen Dank. Darf ich dir dafür im Sommer eine angenehme Brise anbieten?«, fühlte er nach.

»Sei etwas genauer. Wind finde ich grundsätzlich völlig überflüssig.«

»Oje, da wären unsere Meteorologen jetzt aber böse mit dir, dass du so wählerisch bist beim Wetter. Dabei ist das Wetter doch nicht da, damit es hinterfragt wird, sondern nur, um zu sein.«

»Aber sie werden ja nie herausfinden, wie wir vom idealen Wetter geträumt haben«, sagte sie und Matjaž fand ihren Gedanken wichtig.

»Würde dich Wind erfreuen, wenn es draußen achtunddreißig oder vierzig Grad Celsius hat? Darf es wenigstens abends ein bisschen winden?«

»Das darf es, aber nur gerade so viel, dass es eventuelle Wolken vertreibt.«

»Dann hat der Nebel bei dir keine Chance?«

»Nein, nur wenn ich ihn von Weitem von einem sonnenbeschienenen Berg aus betrachten kann.«

»Nicht vom Triglav aus?«

»Nein, ich bin kein Fan von Bergriesen.« Wieder zuckte sie mit ihren schönen Schultern.

»Ich auch nicht.« Sie lächelten beide und schüttelten sich die Hand. Sie hatte kleine Hände, aber einen festen Händedruck.

»Dich kann scheinbar nur eine Antizyklone erwärmen«, fasste Matjaž zusammen.

»Ach, nein, ich bin ja gar nicht anti, ich bin sehr positiv. Aber die Zyklone sollen doch dahin gehen, wo man sie auch haben möchte.«

»Zum Beispiel nach Afrika?«, erkundigte er sich.

»Ich habe keine Ahnung, wo man sie gebrauchen kann. Hauptsache, sie kommen nicht hierher.« Ein bisschen verlegen senkte sie den Kopf und nahm einen Schluck, als wäre sie beim Verhör.

»Abgemacht.« Er dachte kurz nach, als müsse er eins und eins zusammenzählen, und kam zu der Feststellung, dass er zusätzliche Erläuterungen brauchte. »Wenn ich das richtig verstehe, ist der Frühling noch nicht das Wahre für dich.«

»Nein. Ich denke, so ein Frühling ist sehr trügerisch. Nachmittags kann es schon warm sein und abends erkältest du dich dann«, erklärte sie.

»Ich verstehe. Wie steht es mit den Grauzonen, wie etwa dem Mai?«

»Du könntest inzwischen schon wissen, dass ich Grauzonen nicht mag. Für mich ist das Blühen im Mai eine fast zu offensichtliche Promiskuität der Natur, entschuldige bitte.« Sie verzog das Gesicht.

»Du musst dich nicht entschuldigen, ich möchte das nur klären. Für dich beginnt das Leben also im Juni.«

»Prinzipiell ja. Wenn der Tag lang genug ist, bin auch ich etwas länger, ich meine, lebendiger.«

»September?«

»Vielleicht, wenn ich am Meer bin, weit genug südlich natürlich. Das ist jetzt schon ein bisschen, na ja …«, geriet sie ins Stottern.

»Uff, ziemlich anspruchsvolles Mädchen. Nach dem Oktober frag ich lieber nicht.«

»Da bereite ich mich langsam auf den Winterschlaf vor«, sagte sie.

»Jetzt sind wir doch zu etwas gekommen!«, freute Matjaž sich.

»Wozu?«, sah sie ihn verwundert an.

»Zur Wettervorhersage.«

»Ja, aber was für eine?«

»Stell dir vor: Draußen sind deine fünfunddreißig Grad, es ist Abend. Du bist richtig in Schwung gekommen, ich sterbe langsam und du hast Mitleid mit mir.«

»Entschuldige, aber ich habe überhaupt kein Mitleid mit dir. Meine Großmutter hat immer gesagt: ›Ein Mann darf dir nie leidtun!‹«

»Gut, wenn wir jetzt noch deine Großmutter in die Vorhersage einbeziehen, dann entscheidest du dich einfach nur, meine Laune zu verbessern.«

»Hast du schlechte Laune?«, erschrak Saša.

»Nicht wirklich, ich bin bei fünfunddreißig Grad abends nur nicht mehr so bei Kräften, wenn du verstehst, was ich meine«, fasste er zusammen.

»Wie kann ich also die Stimmung wieder heben?«

»Indem du mich auf die klimatisierte Tanzfläche führst …«

»O nein, Klimaanlagen kann ich gar nicht ab!«, sträubte sie sich.

»Echt jetzt, nicht einmal fürs Tanzen darf es ein bisschen abkühlen?«, sagte Matjaž und leerte sein Bier.

»Dir zuliebe – aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen. Nur auf dreißig Grad.«

»Danke!«, rief Matjaž.

»Wenn wir auf der klimatisierten Tanzfläche sind, was dann?«, wollte sie wissen.

»Dann …«, seufzte er, als würde er außerordentlich delikate Verhandlungen im Nahen Osten führen, »dann tanzt du mit mir, ganz langsam, dezent, legst sanft deine Arme um meine Schultern, als wäre ich dieser Lufthauch, den du nie gebraucht hast.«

Scheinbar gefiel Saša diese Wettervorhersage, denn sie umarmte ihn wirklich ganz sanft und küsste ihn leicht auf die Wange, dann auf die Lippen, immer länger und inniger, fast leidenschaftlich. Die Bewegungen ihres Körpers gaben ihm zu denken, dass außer der Meteorologie ja auch die Anatomie eine ganz interessante und zugleich schöne Angelegenheit war, und er begriff, dass auch seine Hände sie anatomisch bewerten wollten, denn sie hatten sich entschieden, die Länge ihres Rocks zu vermessen und bald danach auch die Tiefe ihres Dekolletés.

Als Matjaž morgens aufwachte, konnte er sich nicht gut an den vorherigen Abend erinnern. Er wollte nach seinem Wasserglas greifen, stieß dabei jedoch auf einen Körper. »Ups«, dachte er. Matjaž sah nach, wogegen er gerempelt war, rieb sich die Augen und sagte laut: »Hoppla!« Das Mädchen öffnete die Augen und lächelte ihn an.

»Kaja, Lara, Anja …«, ratterte es in seinem Kopf.

»Guten Morgen«, sagte sie.

»Wer bist du denn?«, sah er sie verwirrt an, nachdem er begriffen hatte, dass er sich nicht würde erinnern können, wer das Mädchen mit verstrubbelten Haaren und verschmiertem Make-up in seinem Bett war.

Saša lachte. »Ich bin eine Fata Morgana.«

»Ich muss echt weniger trinken«, murmelte Matjaž.

»Warum?«, fragte sie ihn immer noch lächelnd.

Die Antwort gefiel Matjaž, deshalb sagte er spontan: »Das ist gar keine schlechte Antwort.« Saša errötete, lächelte und schmiegte sich wie ein Zicklein an seine Ziegenmutter, und da wurde Matjaž klar, dass er sie nicht in seinem Bett haben wollte.

»Matjaž, was machen wir heute?«, fragte Saša voller Freude.

»Wer hat dir verraten, wie ich heiße?«

»Du.«

Er schloss die Augen. »Ich muss aufpassen, wem ich welche Geheimnisse verrate.«

»Ich bin mir sicher, dass du kein Geheimnis bist«, streichelte sie ihm über die Schulter.

»Frag mal meine Eltern!«, sah er sie ernst an und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Also, was machen wir heute?«, fragte Saša euphorisch.

»Nichts.«

»Super, das mach ich am liebsten!«

»Nein, nein, verehrte Frau …«, begann Matjaž mit heiserer Stimme.

»Nicht schon wieder!«, unterbrach sie ihn.

»Also, mein liebes Frau Fräulein, Sie haben das falsch verstanden. Wir beide machen einfach gar nichts, alles klar?«

»Ja, wir beide faulenzen«, lachte sie begeistert.

»Nein, nein, nein. Du kannst nichts tun, mit wem auch immer du willst, aber lass mich in Ruhe.«

»Und was machst du?«

»Das geht dich überhaupt nichts an.«

»Und wie mich das was angeht! Nach all den Fronten, Jahreszeiten und dem Tanzen unter der unerträglichen Klimaanlage, nach allem, was wir gestern durchgemacht haben, habe ich mir, na ja, eine Vorhersage für heute verdient«, wurde Saša wütend. Ihre Worte verwirrten Matjaž ein wenig. Er hatte eine leise Ahnung, dass Fronten etwas mit Wetter zu tun hatten und das Wetter mit etwas, woran er sich aber nicht erinnern konnte.

»Meine Liebe, die Vorhersage ist folgende: Parken Sie Ihren Hintern auf dem Wind, der Sie hierhergetragen hat.«

»Meinen Hintern hat kein Wind hierhergetragen, bist du bescheuert? Das warst du!«

»Meine Liebe, ich bin überzeugt davon, dass der gestrige Abend oder die Nacht, möglicherweise auch beides, unvergesslich waren, aber jetzt muss ich versuchen, das zu vergessen!«

»Aber das verstehe ich nicht!«, ließ Saša nicht locker. »Erst gestern haben wir uns bei idealem Wetter verlobt.«

Matjaž versank kurz in Gedanken und sagte dann schnell: »Na, siehst du, genau solche Sachen muss ich versuchen zu vergessen.«

»Aber warum denn? Der Ring aus der Bierdosenlasche, den du mir gestern an den Finger gesteckt hast, beweist, dass wir uns einander versprochen haben, und ich habe nicht vor, ihn so einfach wieder abzunehmen!«, war Saša ganz verzweifelt.

»Was soll ich sagen? Den Ring von meiner Bierdose darfst du ruhig für immer behalten, aber eine Hochzeit wird es nicht geben!«, beharrte Matjaž.

»Du bist so ein, so ein, so ein Halunke!«, versuchte sie ihre Wut in Worte zu fassen.

»Genau, und außerdem ein Trunkenbold. Los jetzt! Auf, auf!« Die junge Saša verließ wütend das Bett und rief ihm eine Minute später von der Tür aus zu: »Und den einen Zentimeter Schnee, den ich dir zu Weihnachten geschenkt habe, den nehme ich zurück!!!«

»Wie ist der Abend mit der hübschen Blonden verlaufen?«, fragte Aleksander Matjaž, als sie am Samstagabend wieder zusammen in ihrer Lieblingsbar Petkovšek saßen. Am Vorabend hatte Aleksander nämlich mehr oder weniger nur noch beobachten können, wie ihn sein Kumpel in weiblicher Gesellschaft völlig vergaß.

»Im Bett und mit einer Verlobung«, fasste Matjaž sich kurz.

»Aaah!«, rief Aleksander begeistert. »Ich gratuliere, ich gratuliere. Meiner Meinung nach ein wenig überstürzt, aber das Mädchen ist süß und, na ja, ziemlich gut ausgestattet, ich bin also der Letzte, der dich da verurteilen würde.«

»Es gibt keinen Grund zum Feiern. Die Verlobung ist aufgelöst und auch in meinem Bett ist sie nicht mehr.«

»Alter, aber warum? Das verstehe ich nicht!«, protestierte Aleksander. »Das hätte eine so schöne Beziehung werden können!«

»Ich glaube ja, dass man sich ein bisschen besser kennen muss, bevor man sich verlobt«, sagte Matjaž nüchtern.

»Da gebe ich dir recht, aber du hättest die ja wenigstens für … na ja, du weißt schon was behalten können, und dann gesehen, ob dir auch ihr Charakter gefällt.«

»Ich versichere dir, da gibt es keinen Charakter, und halbherzig mach ich gar nichts«, sagte Matjaž überzeugt und griff nach seinem Laško-Bier.

In dem Moment setzte Karla sich dazu, gab ihrem Mann einen flüchtigen Kuss und drehte sich begeistert zu Matjaž.

»Was grinst du so?«, fragte Matjaž sie.

»Ich habe gehört, du hattest einen wilden Abend mit einer reizenden Blondine. Und? Wie ist sie so?«

»Sie ist gar nichts.«

»Wie, gar nichts? Aleksander hat gesagt, du hättest ihm vorgeschwärmt, das wäre die Frau deines Lebens.«

Matjaž kratzte sich am Kopf, denn an dieses Gespräch mit seinem Kumpel konnte er sich nun wirklich nicht erinnern, und fügte nur ruhig hinzu: »Wie ich schon Saša gesagt habe – vertraue nie einem Laško, das aus einem Mann spricht.«

»Und wie lange hast du noch vor, dich hinter dieser Maske aus Alkohol zu verstecken?«, sagte sie aufgebracht.

»Karla«, beugte er sich zu ihr, »ich glaube, wir beide wissen, dass das keine Maske ist.«

»Das sagt sich so leicht«, merkte sie etwas beruhigter an.

»Wirklich? Findest du? Versuch du mal, voller Alkohol eine Frau zu verführen und sie dann ganz ohne Alkohol aus dem Bett zu bekommen, wenn du aufwachst. Das ist Schwerstarbeit!«

»Du weißt genau, wovon ich rede. Du bist nicht bereit, dich zu binden!«, entgegnete sie ihm barsch.

»Glaub mir, das ist mein größtes Anliegen, aber ich heirate doch nicht jede blonde Saša, nur weil sie die Sommerhitze gut verträgt.«

Brigita

Brigita lernte er an Allerheiligen kennen. Mit seinem Fotoapparat ging er abends auf den Friedhof und suchte nach interessanten Motiven. Während er sich zwischen den zahlreichen Gräbern verlor, jetzt, da die Menschenmassen gegangen waren und auf dem Stadtfriedhof Žale nur noch in friedlicher Ruhe Tausende Kerzen leuchteten, erblickte er auf der Bank unter einem Baum eine junge Frau. Sie trug einen langen schwarzen Ledermantel und eine Mütze über etwas, das in dem Kerzenschein aussah wie Büschel strubbeliger roter Haare. Er beobachtete sie, wie sie immer wieder eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte und sie zu ihrem Mund führte, um nervös daran rumzuknabbern. Erst dann fiel sein Blick auf den Einband des Buches, das sie so gebannt las: Das Kapital von Marx. Natürlich kam ihm das deplatziert und präpotent vor, doch das Motiv war ein Foto wert. An ihr könnte das amüsant wirken, dachte er. Er war weit genug entfernt, dass sie sein Tun nicht sofort bemerkte. Als er ihr Gesicht scharf gestellt hatte, stellte er fest, dass sie ihm gefiel. Das Gesicht war blass, gezeichnet von Kratzbürstigkeit, Unruhe und strengen Gesichtszügen, im Kontrast dazu standen weiche Lippen, und wenn er das richtig erkennen konnte, große blaue Augen, obwohl er sich bei all dem schwarzen Lidschatten nicht ganz sicher war. In der Unterlippe hatte sie ein Piercing und dieses Motiv wiederholte sich in ihrem Gesicht an der Augenbraue. Die rothaarige Version von Larssons Mädchen mit dem Drachen-Tattoo aus der Millennium-Trilogie, dachte er, nur dass ihre eventuellen Tattoos gänzlich bedeckt waren. Er ließ sich viel Zeit für die Nahaufnahme der ungewöhnlichen Schönheit, bis sein Fotomotiv ihn plötzlich ansah – mit ziemlich wütendem Blick. Das Mädchen stand sofort auf und schrie: »Hey! Hey! Was machst du da??? Was treibst du da, du perverses Arschloch!«

Matjaž drehte sich um und ging schnell davon, doch sie holte ihn ein und zog kräftig an seiner Jacke. »Was hast du da gemacht, lösch das sofort!«

»Nein, nein, die Fotos sind symbolisch, das ist wegen Marx … dich sieht man gar nicht«, entschuldigte Matjaž sich ungeschickt.

»Für wen machst du die?«

»Für die Zeitung.«

»Warum?«

»Für die Zeitung Delo.«

»Das habe ich verstanden, ich frage nach dem Grund.«

»Es ist Allerheiligen.«

»Und?«

»Ja, darüber berichten wir in der Zeitung.«

»Was für ein Schwachsinn!« Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Trotzdem – lösch das. Ich will nicht in irgendwelchen Zeitungen stehen.«

»Aber es geht doch gar nicht um dich, es geht um die Toten und Marx. Etwas viel Größeres also«, argumentierte Matjaž jetzt ein wenig selbstbewusster.

»Wie witzig, dass mein Leben dafür dienen soll den Tod zu repräsentieren, aber nein, danke. Mein Žale gehört nur mir und mein Marx auf dem Friedhof auch«, beharrte sie.

Matjaž erkannte, dass es sich um eine härtere Nuss handelte, als er zunächst gedachte hatte, also nahm er den Fotoapparat, drückte ein bisschen auf den Tasten rum, reichte ihn ihr und sagte: »Guck mal, wie schön du bist.«

Sie warf einen Blick auf das Display und entgegnete forsch: »Fick dich mit deinem ›schön‹. Lösch das, und zwar alles!«

»Aber das ist das wahrscheinlich beste Foto von Žale, das heute jemand geschossen hat, ich meine, das jemals jemand geschossen hat, ganz sicher!«, flehte Matjaž wieder ziemlich unbeholfen.

»Hör zu, du Volltrottel. Ich sag es dir noch einmal – ich werde nicht Allerheiligen repräsentieren, verstanden?«

»Warum nicht? Magst du keine Toten?«

»Gut, dann halt so: Weil ich Menschen nur in totem Zustand mag, will ich nicht in einer Zeitung für Lebende sein.«

»Ich bin kein Verfechter des Lebens nach dem Tod, aber ich habe auch keinerlei Beweise dafür, dass deine Toten ganz sicher nicht Delo lesen.«

Brigita musste lächeln. Sie trafen einen Kompromiss zwischen Toten und Lebenden und suchten ein Motiv aus, auf dem ihr Gesicht nicht zu sehen, dafür aber ihr Marx gut genug neben dem Grab zu erkennen war.

Auf eine solche Versöhnung musste gebührend angestoßen werden. Es gab keinen geeigneteren Ort als die Billardhalle, in der die vertriebenen Raucher, diese lebenden Toten, noch rauchen durften. Matjaž erfuhr bald, dass das Mädchen mit Marx am Grab Brigita hieß und Wirtschaftswissenschaften studierte. Sie hatte sich an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben, um im Rahmen dieser – so sagte sie – Pseudowissenschaft eine Methode zur zeitgenössischen Implementation von Marx in der Welt der Wirtschaftswissenschaften zu finden. Während sie ihren ersten derartigen Versuch der Wiederbelebung von Marx innerhalb der aktuellen ökonomischen Dogmen entwickelte, widmete Matjaž sich ihrer Konstitution: Er bemerkte, dass sie kleine Hände mit schmalen Fingern hatte, die immer und immer wieder zu ihren roten Haaren zurückwanderten, um sie in Strähnen um die Finger zu wickeln, und sie diese nur losließ, um nach dem Tabak zu greifen. Als sie so rege sprach, konnte er ihre Lippen bewundern, die nicht zu voll, doch gerade recht rund waren, dass ihre Worte kräftig klangen, ihre Überzeugungen überzeugend und ihre Begeisterung authentisch. Er bedauerte, die Rundungen ihrer Figur unter dem ausgeleierten schwarzen Pullover nicht besser detektieren zu können, doch nach einem Blick, den er, als sie den Ledermantel auszog, auf ihre Beine hatte werfen können, war er überzeugt davon, dass ihr Körper ihn auch von Nahem nicht gerade enttäuschen würde.

»Du hörst mir gar nicht zu«, bemerkte sie endlich seine ungezogenen Gedanken.

»Natürlich nicht. Viel mehr als der tote Marx interessiert mich die lebendige Brigita.«

»Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe! Nur weil ein Autor tot ist, bedeutet das nicht, dass seine Theorie nicht lebt.« An dieser Stelle folgte eine ziemlich lange Abschweifung über die Grundlagen des marxistischen Konzepts und sie belegte, wie diese auch heute noch gültig und anwendbar waren, was sie mit konkreten Beispielen mehrerer Länder begründete; ganz besonders wichtig schienen ihr die Angaben dazu, wie sich das Verhältnis zwischen Arm und Reich in den letzten dreißig Jahren verändert hatte, sodass die Rede von dem »einen Prozent« der Privilegierten völlig angemessen war. Matjaž konnte sich nicht auf die Theorie konzentrieren und gab sich lieber der verführerischen Gestalt der jähzornigen Schönheit hin. Als ihr nach ihrem marxistischen Monolog, der mit einem zeitgenössischen Manifest und dem Appell zur Vereinigung prekärer Arbeiter aller Länder endete, bewusst wurde, dass Matjaž ihr nicht folgte, wurde sie wieder wütend.

»Nein, du verstehst mich falsch«, entschuldigte Matjaž sich, »auch ich bin Marxist, nur interessiert mich im Gegensatz zu dir die lebendige marxistische Praxis.« Brigita sah ihn skeptisch an; es war offensichtlich, dass ihr nicht gefiel, worauf ihr Gesprächspartner anspielte, was Matjaž nicht davon abhielt, mit einem frechen Lächeln hinzuzufügen: »Mich würde zum Beispiel interessieren, wie es in der Praxis ist, mit einem Mädchen mit gepiercter Lippe zu knutschen.«

»Das interessiert dich, was?«, fragte die Rothaarige ruhig.

»Oh, brennend«, sah Matjaž sie verführerisch an.

»Tut es, ja?«, hob sie die Stimme.

»Na, an mir wirst du diese marxistische Erfahrung bestimmt nicht machen«, sagte sie wütend und stürmte nach draußen. Matjaž rief ihr hinterher, er würde sich auch mit der Theorie zufriedengeben, doch sie hörte ihn nicht mehr. Zum Glück kam bald darauf der vertraute Haufen von Freunden in der Billardhalle zusammen: Aleksander, Karla und Jernej.

»Oha, was machst du hier, liegst du nicht im Grab?«, scherzte Aleksander und schlug mit seinem Kumpel zur Begrüßung ein.

»Ach, wenn es bloß das wäre …«, sagte Matjaž, während sich seine Freunde zu ihm setzten.

»Wieso?«, fragte Aleksander besorgt, denn er befürchtete, sein Kumpel würde schon wieder um seine Ex trauern.

»Ach, ich habe ein sehr, sehr, sehr hübsches Mädchen kennengelernt«, ließ Matjaž den Kopf hängen.

»Und?«, fragte Karla neugierig.

»Na ja, und dann habe ich sie ziemlich schnell vertrieben – siehst du, das halb leere Bier hier ist von ihr«, schüttelte er unzufrieden über sich selbst den Kopf.

»Wie das?«, wollte Karla wissen.

»Ich habe ihr gesagt, ich würde mich für Marxismus in der Praxis interessieren«, antwortete er zerknirscht.

»Was zum Teufel soll denn das bedeuten?«, hob Karla die Stimme.

»Eine lange Geschichte«, antwortete Matjaž.

»Frauen klarzumachen ist nicht grad deine Stärke, was?«, mischte Jernej sich ein und lachte laut. Matjaž warf ihm nur einen bösen Blick zu.

»Weil er in Wahrheit gar nicht über Sara hinwegkommen will, darum«, merkte Karla spitz an.

»Nein, die hier hat mir echt ganz gut gefallen«, sagte Matjaž leise.

»Wirklich?«, fragte Karla jetzt mit ernster Stimme.

»Ja … Sie war so ungewöhnlich, so unbändig. Solche bin ich echt nicht gewöhnt«, begann er ihr sein Herz auszuschütten. Er wurde von Aleksanders Lachen unterbrochen, der prustete: »Du bist überhaupt keine gewöhnt!«

»Alter, danke. Vielen Dank. Dein Trost ist unbezahlbar. Aber das ist jetzt eh egal, weil sie gegangen, na eher geflohen ist …«

»Mensch, du übertreibst!«, sagte Jernej, unzufrieden mit der Ernsthaftigkeit der Debatte. Er war schließlich wegen des Biers und völlig seichter, anspruchsloser und unbeschwerter Gespräche gekommen.

»Das glaube ich auch«, sagte Karla überraschend, »sie gefällt dir, weil sie dir entwischt ist. Jetzt kannst du dich wieder selbst bemitleiden und dich über dein grausames Schicksal beschweren. So ein Quatsch!«

»Ich schwöre, ich würde alles dafür tun, bei ihr noch eine Chance zu bekommen!«, versuchte Matjaž sie zu beruhigen, denn ihm war nicht klar, seit wann Karla sich so um sein Intimleben sorgte.

»Schwör lieber nicht, so eine Gelegenheit kann sich noch viel zu schnell bieten«, prophezeite sie.

Sie sollte sich nicht irren. Und doch floh Matjaž vor der neuen Herausforderung nicht. Das nächste Mal traf er auf die junge Dame ein paar Tage später in der Bar Respect, als sie dort mit einer Gruppe ähnlich schlecht gekleideter und gekämmter Mädchen und Jungs saß. Matjaž sah immer wieder über die Köpfe seiner Freunde zu ihr hin. Er saß mit fast derselben Runde zusammen wie letztens, nur hatten sich der Zechtour jetzt noch seine beiden Freundinnen Katja und Suzana angeschlossen, die es wie die anderen am Tisch in den letzten zehn Jahren offensichtlich nicht geschafft hatten, den völlig unproduktiven freitäglichen Treffen in einen ähnlichen Freundeskreis oder wenigstens in eine missglückte Beziehung mit einem Typen zu entfliehen. Er konnte den Gesprächen an seinem Tisch nicht folgen und sie interessierten ihn auch nicht. Katjas ewiges Gejammer wegen des übertrieben anspruchsvollen PR-Jobs kannte er schon und es langweilte ihn wie jeden Freitag. Auch hatte er dieses Mal Suzanas Analyse der vergangenen politischen Woche nichts hinzuzufügen, obwohl er bei ihr zumindest die derben Sprüche zu schätzen wusste. Ihre unverhohlene Schärfe und gelegentliche vulgäre Art hatten ihm in schweren Zeiten, als er sich mit dem Verlust von Sara konfrontiert sah, das Leiden erträglicher gemacht. Die Tatsache, dass sie keine Festanstellung bekommen konnte und ihr Einkommen aus gelegentlichen Übersetzungen aus dem Englischen und Französischem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestritt, kam ihm nach der Trennung gerade recht, obwohl er mit den durchzechten Nächten seinen Job riskierte. Mit Suzana hatte er auch gelernt, den Sonnenaufgang im Autonomen Kulturzentrum Metelkova abzuwarten, und das öfter als gewollt. Von den anderen dreien, die er vor zwei Tagen noch in der Billardhalle getroffen hatte, konnte er sich auch nicht viel versprechen – er kannte sie in- und auswendig, wusste, was sie dachten, was sie tranken, wie schnell sie eine neue Runde bestellen und wer wann lachen würde. Ein bisschen war er diese immer gleiche Truppe schon leid, das obligatorische Trinkrepertoire mit obligatorischer Verlängerung auf der Metelkova – ungeachtet der Jahreszeit, des Wetters und der Stimmung. Aus dieser Perspektive war der Blick auf die lebhafte Brigita, die sich in Anwesenheit ihrer Freunde scheinbar gut entspannen konnte, der einzig schöne Teil des Abends.

»Was ist denn heute mit dir los?«, fragte Katja Matjaž. »Warum so in Gedanken versunken?«

»Ich bin kein bisschen in Gedanken versunken, ich beobachte nur die schönste Frau im Lokal«, sagte er und sah sie vielsagend an. Das verwirrte sie ein wenig, sie errötete, strich sich die kurzen dunklen Haare glatt und schmunzelte.

»Wer ist denn die Hübsche?«

»Brigita«, antwortete Matjaž.

»Wer?«, platzte es aus Katja heraus, offensichtlich ein wenig beleidigt, dass nicht sie gemeint war.

»Wo, wo ist Brigita?«, fragte Karla neugierig, auch für sie war das der einzig interessante Moment eines völlig vorhersehbaren und schon mehrmals verlebten Abends.

»Sie sitzt da bei den Hipstern am Tisch«, deutete Matjaž subtil mit dem Kopf in ihre Richtung.

»Das sind keine Hipster«, kannte Katja sich aus, »das sind eher Metalheads. Gibt inzwischen tatsächlich nicht mehr so viele davon, aber das ist eine ganz andere Szene als das Hipstertum …« Sie merkte an, sie kenne sich mit jungen Menschen ziemlich gut aus, denn bei der Arbeit würden sie sich intensiv mit dieser Zielgruppe beschäftigen, daher musste sie auf dem Laufenden bleiben.

Dass sie auch selbst zu dieser Kategorie gehörte, die sie bei der Arbeit so gewissenhaft erforschte, wollte niemand aussprechen, und selbst Suzana, ihre beste und kritischste Freundin, fasste sich dabei nur verzweifelt an den Kopf.

Währenddessen hatte Karla vorsichtig genug Brigita betrachtet und nickte. »Sie ist wirklich sehr hübsch.« Diese Aussage animierte auch Aleksander, sich die Auserwählte genauer anzusehen, er tat das aber viel weniger diplomatisch als seine Frau. »Wow!«, sagte er. Und jetzt konnte Brigita die Blicke aus Matjažs Runde einfach nicht mehr übersehen. Matjaž schaute sie entschuldigend an, winkte ihr freundlich zu, aber sie verdrehte nur die Augen und widmete sich wieder ihren Freunden.

»Ich finde, die ist überhaupt nichts Besonderes«, sagte Katja.

»Da spricht die Eifersucht aus dir«, entgegnete Suzana wirsch.

»Ich denke, Matjaž hat sich in ein wirklich hübsches Mädchen verguckt.«

»Schade, dass sie sich nicht besser kleiden kann«, beharrte Katja.

»Genau das gefällt mir, dass sie ihre Schönheit nicht so präsentiert. Als wäre ihr das gar nicht bewusst«, überrascht Jernej mit seiner Analyse. Bisher hatte niemand geahnt, dass er Frauen überhaupt bemerkte, geschweige denn, dass er zu einer Bewertung fähig war. »Was?«, sagte er, als seine Freunde ihn verwirrt ansahen. »Stimmt doch.«

»Und was machst du?«, drehte Karla sich zu Matjaž.

»Weiß ich noch nicht. Ich denke nach«, sagte er und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Geh hin und entschuldige dich«, schlug Karla vor.

»Nein, das ist viel zu gewagt, sie sitzt da mit ihren Leuten und hat dich viel zu schnell im Griff«, überlegte Suzana strategisch.

»Stimmt, du musst sie aus dem Hinterhalt überfallen«, gab Aleksander zu bedenken, »zum Beispiel, wenn sie aufs Klo geht. Dort fängst du sie ab und dann schüttest du ihr dein Herz aus.«

»Warte aber, bis sie fertig ist, sonst könnte sie gereizt sein«, teilte Jernej sein urologisches Wissen.

Und so kam es. Matjaž folgte Brigita zur Toilette und wartete, bis sie wieder herauskam.

»Grüß dich!«, sagte er.

»Was machst du hier?«, erwiderte sie barsch.

»Ich warte auf dich«, antwortete Matjaž ohne Umschweife.

»Ich weiß nicht, wozu das gut sein sollte«, sagte sie und wollte an ihren Tisch zurück.

»Sei doch nicht so zickig!«

Bei dem Satz blieb sie stehen. »Glaubst du etwa, ich werde schwach, wenn du mich beleidigst?«

»Meinst du, deine eiskalte Ignoranz macht mich schwach?«, flüchtete Matjaž sich ins Absurde.

»Ich glaube, du bist schon längst weich genug«, lächelte sie jetzt doch.

Das gab Matjaž neuen Mut und er fuhr fort: »Na, dann kann ich dich ja etwas fragen.« Er fühlte sich wie ein Teenager.

»Du kannst es versuchen«, gab sich Brigita zurückhaltend, »wenn du bloß nicht wieder nach meinem Schmuck fragst.«

»Nein, ich entschuldige mich für letztens. Ich habe verstanden, es gehört sich nicht, beim ersten Date über Körperschmuck zu sprechen.«

»Und auch beim zweiten nicht«, ergänzte Brigita.

»Dann sind wir also verabredet?«, freute Matjaž sich. »Sag, wo und wann?«

Das brachte Brigita wieder zum Lachen. »In Ordnung, wenn du darauf bestehst. Ich schreibe dir meine E-Mail auf, dann machen wir was aus.«

»Warum gibst du mir nicht lieber deine Nummer?«

»Nummern gibt man beim dritten Date. Natürlich nur, wenn das zweite angenehm war …«

Matjaž gab sich damit zufrieden. Ausgelassen kehrte er zu seiner Runde zurück und klinkte sich viel begeisterter in die Gespräche seiner Freunde ein, vergaß zwischendurch aber nicht, zur schönsten Frau weit und breit hinüberzusehen. Nach langer Zeit hatte er auch nicht mehr das Gefühl, mit Suzana den Sonnenaufgang auf der Metelkova abwarten zu müssen, und ging nach ein paar Bier lieber nach Hause schlafen.

Einige Tage später traf er sich mit Brigita auf dem Prešerenplatz in der Stadtmitte, wo sie entscheiden wollten, wohin sie gingen. Der Mittwochabend im November war kalt, aber trocken. Sie schlug vor, ins Teehaus in die Altstadt zu gehen, doch Matjaž gab zu, er brauche fürs Treffen mit ihr ein ordentlicheres Beruhigungsmittel als Kamillentee. Als sie ihm versicherte, dort ließe sich auch etwas Stärkeres finden, gab er nach, obwohl er ihr und sich selbst gestehen musste, dass er alt wurde. Eine Abweichung von seinen gewöhnlichen Anlaufstellen verunsicherte ihn. Auf dem Weg zum Teehaus entwickelte er eine ganze Theorie darüber, wie schwer der Mensch Freunde finde, doch das sei nichts im Vergleich dazu, wie schwer es sei, das ideales Lokal zu finden. Es ginge nicht nur um den Raum – davon gäbe es viele –, sondern auch um die Chemie, also darum, dass die ganze Runde eine Beziehung zu den Kellnerinnen aufbaut, die auf Anhieb um jeden Wunsch eines jeden von ihnen wissen, noch bevor dieser ausgesprochen wird, und sich liebevoll beleidigen lassen und es auch nicht übel nehmen, wenn sich die ausgelassene Truppe nicht sofort vertreiben lässt, wenn man sie zu später Stunde mehrmals darum bittet. Dann erklärte er Brigita, wie sein Freundeskreis einst auf die Probe gestellt wurde, als ein Teil von ihnen (Suzanas Freundinnen, um genauer zu sein) ihre »Sommerresidenz« im Petkovšek gegen etwas Neues eintauschen wollte. Auf ihre Initiative hin begannen sie sich im Stadtteil Trnovo zu treffen. Auch er kam unter diesem undenkbaren und taktlosen Zwang manchmal dorthin, konnte aber nie verstehen, warum der Mensch seine Gewohnheiten nur deshalb verändern sollte, weil einige Menschen glaubten, die andere Seite der Stadtmitte würde das große Abenteuer versprechen. Aus demselben Grund hatte er aufgehört, zum Sommerfestival Trnfest zu gehen. Die Auswahl an jungen Frauen war zwar beachtlich, doch das dafür erbrachte Opfer, dort auf kleinstem Raum zwischen so vielen Menschen stehen und sich zum hart erkämpften Bier drängeln zu müssen, von den Warteschlange vor der Toilette ganz zu schweigen, wurde ihm über die Jahre einfach zu groß.

Sein Bekenntnis machte scheinbar Eindruck auf Brigita, deshalb schlug sie, als sie ihr Ziel erreicht hatten, vor, vielleicht doch lieber zum Petkovšek zurückzugehen, damit Matjaž nicht schon beim zweiten Date neue Narben auf seinen offenen Wunden davontrug. Für diesen Vorschlag war er ihr dankbar, im Teehaus hätte er sich nämlich wie ein Alkoholiker im Teehaus gefühlt. Und so gingen sie an der Ljubljanica entlang Matjažs Ideal einer Bar entgegen.

Auf dem Weg dachte Brigita über ihre Stützpunkte in der Stadt nach. Im Lokal Maček landete sie oft nach einem produktiven Studientag in der National- und Universitätsbibliothek. Dorthin ging sie mit dem Freundeskreis, den sie während des Studiums in der Bibliothek kennengelernt hatte. In Wahrheit handelte es sich um eine eher wenig inspirative Gruppe von Ökonomen und Juristen, die bei der Empfehlung seltsamer Youtube-Videos oder neuer Fernsehserien ganz gelegen kamen, bei Filmen wich Brigitas Geschmack schon zu sehr von den anderen ab, während sie sich für andere Künste gar nicht interessierten. Sie selbst war trotz des Bewusstseins dafür, wie die Kunst in Kapitalströme eingebunden und von den arbeitenden Massen entfremdet war, dennoch eine Liebhaberin zeitgenössischer bourgeoiser Romane sowie abstrakter Malerei von Male witsch und einigen Modernisten wie Duchamp und Rothko. Auch für Klassiker konnte sie sich begeistern – in der Literatur kehrte sie immer wieder zu Dostojewski zurück, während sie in der Architektur auch ein Robba-Brunnen vor dem Rathaus zufriedenstellte, obwohl es sich dabei um eine Kopie handelte, ebenso gefielen ihr für einen Spaziergang die Dreibrücken von Plečnik, einschließlich der angrenzenden prächtigen Markthallen. Ja, samstags ging sie mit ihren Freundinnen gerne auf den Markt, obwohl sie immer noch bei ihren Eltern wohnte, die für derartige bürgerliche Rituale nichts übrighatten. Sie gehörten halt zum ausgesprochen religiösen Kleinbürgertum aus Murgle. Sie fügte jedoch schnell hinzu, dass sie ungern von ihrer Familie sprach, die ihr mit ihrem Konservativismus und Blödsinn zu viele Traumata verursachte. Eine Ausnahme stellte nur ihre Schwester Sonja dar, die wie ein »frischer Wind« war, nur dass sie jetzt ausgezogen und am anderen Ende von Ljubljana wohnte, sodass sie ihr nicht helfen konnte …

Beim Bier im Petkovšek wurden die Gespräche ungezwungener. Matjaž wollte wissen, wer, wenn nicht die juristischen und ökonomischen Fratzen aus der Unibibliothek, ihre Freunde waren. »Ist es die zerzauste Rasselbande aus dem Respect?«

»Was für eine Rasselbande? Nur weil sie ihre Klamotten nicht bei Hugo Boss kaufen, heißt das noch lange nicht, dass sie keinen Stil haben«, protestierte Brigita.

»Gut, sie haben einen Stil, aber einen miesen …«

»Ich trage denselben Stil«, erinnerte sie ihn.

»Gut, aber du hast dabei Stil«, versuchte Matjaž sich zu retten. Schließlich erklärte sie ihm doch, dass das ihre Freunde aus der Kindheit und vom Gymnasium seien. Viele Jahre schon würden sie sich freitags treffen, die meisten studierten an der Philosophischen Fakultät, und sie alle teilten ähnliche politische Überzeugungen. Nun ja, einige bezeichneten sich selbst als Anarchisten und mit denen stritt sie sich am häufigsten. Ihrer Meinung nach entsprach Anarchismus nämlich sehr den Idealen des Neoliberalismus, der den Staat auflösen und Regulierungspunkte abschaffen möchte, für einen noch freieren Kapitalfluss. Darüber stritten sie fast jedes Mal, wenn sie sich sahen. Davon abgesehen würden sie sich immer noch mögen. Sie gab zu, dass sie für wenige so viel Geduld habe – vielleicht nur noch für ihre Schwester – wie für diese verdammten Kropotkinisten. Sie sprach noch ein wenig darüber, wie sich zwischen manchen von ihnen Liebesgeschichten entwickelt hätten. Das sei vielleicht nicht ungewöhnlich, wenn Menschen viel Zeit miteinander verbringen, überlegte sie. »Die Welt ist gar nicht so groß, wie sie oft scheint, ganz besonders, wenn man Nähe sucht.«

Dieser Satz berührte Matjaž auf eine seltsame Art, sie aber fuhr, ohne das zu bemerken, fort. Zeit und Nähe könnten Emotionen auslösen, die nie da waren, sagte sie verträumt. Matjaž wollte natürlich wissen, wieso sie zwischen den ihr scheinbar so lieben Menschen nicht auch solche Beziehungen entwickelt hatte, doch sie erklärte ihm, sie sei sich mit keinem der Jungs nähergekommen, obwohl sie ihr auf vielen Konzerten in der besetzten Fahrradfabrik Rog angedeutet hatten, dass sie ihr zugeneigt waren. Das hatte sie auch in den Klubs Gromka und Gala Hala auf der Metelkova erlebt, aber es schien ihr, wenn es zu einer gefährlichen Annäherung kam, irgendwie immer zu viel oder zu wenig, zu vertraut und zu fremd zugleich.

Und obwohl sie gut harmonierten und sich amüsierten, hatten weder Matjaž noch Brigita das Bedürfnis, mit dem anderen das zu teilen, was für sie am intimsten war. Als sie aus dem Petkovšek rausgeworfen wurden, taten sie dann doch noch etwas für ihre eigene Nähe. Brigita nahm in an der Hand und sagte: »Na …«

»Na, was?«, sah Matjaž sie mit lieben Augen an.

»Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir etwas wegen meines Schmucks unternehmen, der dich so interessiert.«

»Wirklich, was denn?«, lächelte Matjaž und ließ zu, dass sie ihre Lippen an seine presste. Der Kuss war langsam und gefiel ihm, er behagte ihm so sehr, dass er Brigita auf ein Glas Whiskey zu sich nach Hause einlud.

»So sehr mich das reizt, glaube ich, müssten wir vorher noch mal ein Bier trinken gehen, bevor wir auf Whiskey umsteigen.«

»Aha«, antwortete Matjaž ein wenig unzufrieden, »aber nur, wenn du beim nächsten Mal den Schmuck mitbringst.«

»Ich lege ihn sehr selten ab!«, tröstete sie ihn.

»Wie du mich quälst!«, sagte er, als er sie sich nackt mit ihren Intimpiercings vorstellte und sie ihn anlächelte.

»Du bist mir noch etwas schuldig!«

»Was denn?«

»Deine Nummer.«

»Nein, die gibt es beim nächsten Mal«, sagte sie entschlossen und Matjaž bedrängte sie nicht weiter. Er ging nach Hause und dachte nicht daran, dass er überhaupt nicht an seine siebenjährige Beziehung mit Sara dachte.

»Du bist verliebt«, stellte Aleksander fest, als er gerade die Tüte Chips in eine Schüssel leerte.

»Ich bin nicht verliebt, in bin intrigiert«, entgegnete Matjaž und fläzte sich gemütlich auf sein Sofa vor dem Fernseher, in dem die Fußballexperten bereits im Studio über die spanische Liga palaverten, über die stärksten, über die teuersten Spieler, über die Heim- und Auswärtstore sowie über die Vorteile der einen und der anderen, über die Bedeutung des heimischen Stadions und die richtigen Taktiken beim Auswärtsspiel, ein wichtiger Faktor sei auch wieder der runde Ball beziehungsweise das Leder daran, noch mehr aber wurde das unbestreitbare, obwohl ungeschriebene Gesetz betont, dass nämlich der, der nicht trifft, kassiert.

»Warum, weil sie nicht auf einen Whiskey kommen wollte?«, lenkte Aleksander die Aufmerksamkeit wieder auf das eigentliche Thema.

»Darum, weil sie Stil hat, weil sie ihre eigene Art hat«, wählte Matjaž seine Worte sorgsam.

»Was für ein Schuft du doch bist«, lachte Aleksander, »intrigiert … Natürlich bist du intrigiert, aber interessiert dich das Mädchen mehr als der Schmuck, wie du das so dämlich nennst?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe den Eindruck, sie ist ziemlich anspruchsvoll.«

»Welche Frau ist das nicht?«

»Schon klar, aber in meinem Alter muss ein Mann sich gut überlegen, ob eine junge Dame die ganze Mühe wert ist.«

»Oje, ich sehe, daraus wird nichts!«

»Ach komm, mein Lieber, nur nicht so pessimistisch … Wir sehen ja bald, wo wir stehen. Am Freitag treffen wir uns, und wenn es so gut läuft wie beim letzten Mal, bekomme ich ihre Nummer …«

»Willst du sagen, sie hat sie dir noch nicht gegeben? Wie kommuniziert ihr dann?«

»Gmail.«

»Die hat sich ja vielleicht ein Tempo ausgesucht.«

»Ja, das nennt man andante«, grinste Matjaž.

»Kein Wunder, dass du intrigiert bist. Aber ich mache mir ja immer noch Sorgen, was passiert, wenn du endlich ihre Nummer hast.«

»Dann, hat sie mir versprochen, kommt sie vielleicht auf einen Whiskey vorbei.«

»Enttäusch mich nicht, bitte, sag, Whiskey steht für …«, seufzte Aleksander ungeduldig.

»Ja, das bedeutet es«, lachte Matjaž.

»Verficktes andante. Jetzt bin ich schon ganz nervös.«

»Musst du nicht sein. Was Brigita anbetrifft, habe ich ein sehr, sehr gutes Gefühl«, versuchte sein Kumpel ihn zu beruhigen.

»Ich würde mich nicht so sehr auf dein Gefühl verlassen. Denk nur mal an deine Pokerzeiten zurück.«

»Ach, das!«, winkte Matjaž ab. »Uns gibt es ja immer noch, gesund und munter.«

Aleksander hüstelte bei diesen Worten nur vielsagend, griff nach Chips und Bier und drehte die Lautstärke am Fernseher hoch. Was ist schon eine Frau im Vergleich zum El Clásico Barcelona gegen Real?

Beim nächsten Mal ging er mit Brigita ins Kino Kolosej. Der Film war mies, aber er bot Brigita die Gelegenheit, ausgiebig über die Probleme von Hollywood zu debattieren. Früher seien dort, auch unter dem Druck steigende Gewinne zu erzielen, noch gute Filme gemacht worden, jetzt könnte man das nicht mehr. Matjaž sagte, sie klinge wie seine Oma, woraufhin Brigita antwortete, seine Großmutter sei offenbar eine sehr kluge junge Dame. Matjaž entgegnete, da sei er anderer Meinung; sie sei wohl tatsächlich jung, aber bestimmt keine Dame. Brigita beharrte, dann sei sie wenigstens klug, aber auch da protestierte Matjaž. Auf Brigitas Frage, ob er ihr nicht darin recht gebe, was sie über Hollywood gesagt hatte, antwortete er diplomatisch, dass das Kolosej seinen Filmen bestimmt keine Hilfe war, so stinkend, dreckig und zerfetzt wie es war, und bei dem man ständig das Gefühl hatte, es könnte jeden Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammenklappen.

Um über den schlechten Film hinwegzukommen, schlug er vor, in ein Lokal zu gehen, das ähnlich stinkend, dreckig und zerfetzt war – zu McDonald’s. Und zu seiner großen Überraschung war Brigita einverstanden, von schlechten Filmen bekam sie einen Bärenhunger. Auf die Frage, ob der kapitalistische Ruf dieses Megakonzerns sie denn nicht störe, antwortete sie, hier seien die Antagonismen wenigstens offen sichtbar.

So saßen sie bei zwei kleinen Cheeseburgern und einer großen Portion Pommes noch eine Weile und debattierten über Alltägliches. Sie machten es sich zum Beispiel zur Aufgabe, auf der Speisekarte von McDonald’s die schlimmsten kulinarischen Vergehen zu finden und vorzuschlagen, wie man sie verbessern könnte. Sie waren sich darin einig, dass es bei Pommes von größter Bedeutung sei, sie in wirklich heißes Öl und anschließend direkt auf einen Teller zu geben, sonst würden sie an Knusprigkeit einbüßen. Ging es hierbei nur um Bemerkungen zum Herstellungsprozess von Fast Food, kommentierte Brigita andererseits auch einige inhaltliche Dinge: Der Geschmack von Ketchup sei nämlich zu künstlich. Hier zerstritten Matjaž und sie sich endgültig; seiner Meinung nach war nämlich das Wesentliche an der Substanz von McDonald’s seine Künstlichkeit, das heißt der künstliche Charakter. Es stellte sich heraus, dass jeder von ihnen das Unternehmen auf diametral unterschiedliche Weise würden retten wollen (von der Tatsache, dass es dem Unternehmen ohne ihr Einmischen ganz gut ging, ließen sie sich beide nicht stören): Brigita hätte den Weg der Naturalisierung eingeschlagen, also die Verwendung möglichst hochwertiger Inhaltsstoffe, Matjaž hätte sich für eine noch stärkere Chemisierung starkgemacht, also ein Ersetzen der bisherigen künstlichen Stoffe durch noch künstlichere. Brigita hörte seinen Ausführungen argwöhnisch zu, Matjaž lächelte sie nur entschuldigend an.

Als sie genug davon hatten, die Welt des Kochens zu retten, landeten sie bei Brigitas Lieblingsthema, der Kunst im Kontext historischer Gegebenheiten. Sie erzählte ihm, wie die CIA in den Fünfzigerjahren als Teil der Strategie des Kalten Krieges und der Ausweitung des amerikanischen Einflusses in der Welt amerikanische Modernisten, darunter auch ihren geliebten Pollock, unterstützte. Sie peppte die Geschichte mit der Information auf, dass der US-Geheimdienst zwischen ihm und ihrem ebenso verehrten Rothko geschwankt habe, sich aber schließlich für Ersteren entschied, weil der besser gebaut war und sich wie ein Cowboy aufführte. Matjaž bedauerte, dass die Geheimdienste sich nicht für seine Fotografien interessierten. Brigita störte sich ein wenig daran, dass es ihm egal war, würde man seine Kunst für die Verbreitung einer bestimmten politischen Propaganda missbrauchen. Matjaž erwiderte ihr daraufhin, ein Künstler habe nicht immer den Luxus, auf seinen marxistischen Idealen zu beharren. Als er Brigitas leicht trauriges Gesicht bemerkte, sagte er: »Du weißt doch, ich sage solche Dinge nur, um dich zu ärgern.«

»Ja, ich weiß. Ich verstehe nur nicht, was daran so witzig ist«, beschwerte sie sich.

»Ich denke, das liegt an deiner Vorliebe für Antagonismen«, versuchte er zu erklären.

»Wie bitte?«

»Du weißt doch, wenn du so auf die Antagonismen der Welt aufmerksam machst, wünsche ich mir, ich wäre in Relation zu dir so ein Antagonist.«

»Wie bitte?«, fragte sie wenig überzeugt.

»Ist es nicht schön, wenn zwei zusammen ein großer Antagonismus sind? Und dann so eine schöne Liebesdialektik erzeugen?«, verstrickte Matjaž sich in seinen Gedanken.

»Ich weiß nicht, vielleicht ist es schön, aber zugleich auch überaus anstrengend.«

»Na, das Gefühl habe ich ja, dass du noch viel zu jung bist für all diese Antagonismen.«

Sie blickte ihn streng an. »Wie kannst du nur so gefühllos sein? Ist dir überhaupt klar, was sie Haiti angetan haben?«

»Nichts Gutes?«, grinste er.