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Angeregt von Geschichten und Filmen über Menschen, die den Jakobsweg gingen, um Abstand von etwas zu bekommen oder Antworten zu finden, fragte auch ich mich, ob ich den Jakobsweg laufen sollte. Doch die damit verbundenen körperlichen Belastungen scheue ich. Um Abstand vom Arbeitsleben zu gewinnen, plane ich stattdessen eine Motorradtour über 10.000 km. Allein. Nicht etwa auf abenteuerlichen Off-Road-Wegen oder durch unsichere Länder, sondern auf Asphalt durch Westeuropa: Berlin – rund um die iberische Halbinsel – Berlin. Eine in ganz anderer Hinsicht abenteuerliche Tour, die relativ wenige Vorbereitungen verlangt und die man mit jedem Fahrzeug machen kann. Egal ob mit Auto, Motorrad oder Fahrrad. Dieses Buch beschreibt meine Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken auf dieser Jakobsweg-Alternative.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tom Friho
Keine Zeit für irgendwann
Tom Friho
Mein alternativer Jakobsweg
edition fischer
im
R. G. Fischer Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2025 by R. G. Fischer Verlag
Sontraer Str. 13, D-60386 Frankfurt/Main
Titelbild: Pat J./stock.adobe.com
Alle Rechte vorbehalten
Schriftart: Palatino
Herstellung: rgf/1A
ISBN 978-3-8301-9392-0 EPUB
»Das Reisen macht Dich zunächst sprachlos und verwandelt Dich dann in einen Geschichtenerzähler«
Zitat von Ibn Battuta
Der letzte Tag
Es geht los
Pure Faszination
Im Knast
Opferstätte, Rendezvous und Stummellenker
Von Kindern und Weltwundern
Gent
Brügge
Made in Germany
Die Deutschen und das Völkerrecht
Ihr Französisch ist exzellent
Point of no Return
Hesi Kanadiarra
Eine alte Freundschaft
Männer verstehen sich auch ohne Worte
Abenteuer Toilette
Radwege, Cola und der Papst
Drogen, Portwein und Flamingos
Dunkles Brötchen zum Frühstück
Erholung für den Po
Der Höllenschlund
Fast nackt im Parkhaus
Wie man Europäer wird
Ein letzter Kuss – Christus wacht
Olivenbäume, Hütehunde und Engländer
Adler und Nestwärme
Carmen + Glutofen
Hier wird jeder sandgestrahlt
Flugzeuge auf der Straße
Wenn sich Städte immer mehr gleichen
Der irre Plan eines Schotten
Gegessen wird um 9
Don Hugo
Von Gegensätzen und Feuern
Der Radrennfahrer
Spielautomaten der 70er Jahre
Ein Asquith
Im letzten Moment
Beginn der Rückfahrt
Guten Tag, meine Damen und Herren
Deutschland, ich komme
Der Anruf
Gedanken zum Abschluss
Der Wecker klingelt nur eine Sekunde, bevor ich ihn mit langem Arm erreiche und ausschalte. Es war unnötig, ihn zu stellen, denn zum Schlafen bin ich zu nervös. Seit Stunden liege ich bereits wach. Die Gedanken an die letzten vierzig Jahre, die Jahre meines Berufslebens, gingen mir während der Nacht ebenso durch den Kopf wie die Gedanken an die Zukunft, die morgen, mit dem neuen Lebensabschnitt »Ruhestand«, beginnt. Vierzig Jahre habe ich alles in meinem Beruf gegeben. Es war nie nur irgendein Job, sondern immer ein fordernder Beruf, der nur mit Pflichtbewusstsein, Neugierde und Engagement zu meistern war. Ich bin ein Spezialist im Bankenwesen, ein Außendienstler, für den der Begriff »Dienstleister« schon immer eine besondere Bedeutung hatte und immer haben wird. Vierzig Jahre lang habe ich fünfzig bis sechzig Stunden in der Woche gearbeitet. Urlaubstage hatte ich oft verfallen lassen. In vierzig Jahren war ich nur zwanzig Tage krank. Das alles soll morgen vorbei sein? Ich kann es mir noch nicht vorstellen. Ich bin Stress und Adrenalin gewohnt. Wie soll ich ohne das leben? Ich brauche unbedingt Abstand, um mir über die weiteren Schritte klar zu werden, um den neuen Lebensabschnitt ohne eine Depression bewältigen zu können. Auf keinen Fall soll mein Ruhestand so enden wie bei vielen anderen, die sich nach mehreren Wochen zu Hause wieder eine neue, regelmäßige Tätigkeit suchen. Hatte ich mir nicht immer wieder in den letzten Jahren gesagt, dass ich »das« machen werde, wenn ich Zeit dafür habe? All diese Ideen schlummern doch noch in mir und wollen endlich umgesetzt werden. Oder? Ich brauche Zeit für mich, um einen Plan zu entwerfen, der zu mir passt. Und außerdem muss ich mir auch selbst beweisen, dass ich für verrückte Ideen mit über sechzig Jahren noch nicht zu alt bin.
Heute ist also mein letzter Arbeitstag. Der letzte eines langen Berufslebens, das viele Höhen, aber auch ebenso viele Tiefen und Rückschläge erlebt hatte. Die Kolleginnen und Kollegen kenne ich zum Teil seit Jahrzehnten. Nicht alle sind mir ans Herz gewachsen. Einige werde ich wohl auf keinen Fall vermissen. Andere hingegen werden mir sehr fehlen. Ich seufze und stehe auf, um mich für meinen letzten Auftritt fertig zu machen. Die Abschiedsgespräche und das gemeinsame Abschiedsessen am Abend, an dem die Geschäftsführung Reden halten wird, werden auch emotional fordernd. Barbara wird auch dabei sein. Seit über fünfundzwanzig Jahren ist sie an meiner Seite und hat die herausfordernden Momente meines Berufes als außenstehende Beobachterin und als meine Frau ebenso erlebt wie die Höhepunkte. Einige der Kolleginnen und Kollegen hat sie in der Vergangenheit kennengelernt. Sie weiß, wen ich schätze, wer mir einfach nur egal ist und auch, wen ich zutiefst verachte.
Die Fahrt ins Büro fällt mir schwerer mit dem Wissen um das Ende einer Ära. Als ich das Büro betrete, durchströmt mich eine Mischung aus Erleichterung und Wehmut. Die gewohnte Umgebung ist im Laufe der Jahre zu einem zweiten Zuhause geworden, das ich nun verlasse. Ich atme einmal tief durch und mache mich ans Werk, mein Büro zu räumen.
Während ich meine persönlichen Dinge zusammenpacke – die vielen kleinen Erinnerungsstücke, Fotos und Notizen –, erfasst mich ein Gefühl der Nostalgie. All die Jahre, die ich hier verbrachte, erscheinen in einem kurzen, intensiven Rückblick. Jeder Gegenstand, den ich einpacke, ruft Erinnerungen hervor. Immer wieder halte ich für Sekunden inne und sehe Bilder der Erinnerung vor meinem inneren geistigen Auge.
Kollegen kommen vorbei, einer nach dem anderen, um sich zu verabschieden. Sogar diejenigen, mit denen ich im Laufe der Jahre nur flüchtig gesprochen hatte, lassen es sich nicht nehmen, ein paar Abschiedsworte zu sagen. Die Umarmungen sind meist herzlich und die Worte wohlwollend. Sogar Martin kommt auf mich zu: »Schade, dass du gehst. Ich mag dich nicht, aber ich schätze dich. Unsere Auseinandersetzungen fanden immer im gegenseitigen Respekt und auf Augenhöhe statt. Mit den Jüngeren funktioniert das so nicht mehr. Alles Gute für die Zukunft.« Er hat recht. So sehe ich es auch. Ein Knoten legt sich um meine Stimme, als ich versuche, mich für all die gemeinsamen Jahre zu bedanken.
»Bist du auf den Ruhestand vorbereitet? Du weißt schon: So viel freie Zeit zu haben, kann eine Herausforderung sein, wenn man vorher so viel gearbeitet hat wie du.« Manfred schaut mich bei dieser Frage erwartungsvoll an. »Ja, das bin ich«, sage ich mit einem freundlichen Lächeln, meine eigene Unsicherheit überspielend. »Meinen ersten Ruhestandstag werde ich für den Beginn einer wirklich großen Reise nutzen.« Erstaunt schaut er mich an. »Eine wirklich große Reise? Was ist das für eine Reise? Eine Kreuzfahrt mit deiner Frau?« Verschmitzt lächele ich ihn an, dabei ahnend, wie er meine Antwort auffassen wird. »Nicht einmal annähernd etwas Ähnliches. Vielmehr werde ich allein mit meinem Motorrad einmal rund um die iberische Halbinsel fahren.« Sprachlos und mit halbgeöffnetem Mund schaut er mich an. »Du machst WAS? Das musst du mir erklären.« »Gerne. Heute Abend, im Restaurant, wenn Barbara dabei ist«, weiche ich ihm aus. Ich habe keine Zeit, meine Idee viele Male an diesem Tage zu erläutern. Die Besuche bei den Kollegen und die Abschiedsgespräche werden auch so schon den ganzen Tag in Anspruch nehmen.
Das Abschiedsessen am Abend hat etwas Feierliches an sich, aber auch etwas Melancholisches. Ich kleide mich sorgfältig, bin voller Vorfreude auf einen Abend, der mir gewidmet ist, aber auch innerlich beunruhigt wegen dem, was danach kommt.
In dem Restaurant, im Kreise der Kolleginnen und Kollegen, fühle ich mich wohl. Sie sind meine zweite Familie. Ich bin Teil des Lachens und der Erinnerungen, während die Stunden vorbeiziehen. Die Reden sind eine Laudatio auf meine Verdienste, die Barbara fast vor Stolz platzen lässt, während die Anekdoten meist lustig und manchmal auch peinlich sind, aber auf jeden Fall zur heiteren, ausgelassenen Stimmung beitragen. »Also, wie ist das nun mit der Reise? Erzähle uns mehr davon«, drängt Manfred plötzlich erneut. »Also gut«, beginne ich. Und plötzlich versiegen die Gespräche am Tisch und es wird still. Keine Gabel klappert, kein Räuspern ertönt. Alle Blicke sind neugierig auf mich gerichtet. »Nun, wie es scheint, hat Manfred bereits geplaudert«, lache ich. Und dann berichte ich von meiner Idee, die irgendwann entstand, nachdem ich Bücher über Menschen gelesen hatte, die den Jakobsweg liefen. Ihre Motive, das zu tun, waren unterschiedlich. Doch in einem sind sich alle einig: Die starken Emotionen auf diesem Weg haben sie verändert. »Du willst also den Jakobsweg laufen?«, fragt ein Kollege am Ende des Tisches. »Nein«, antworte ich. »Laufen oder wandern ist nicht mein Ding. Aber ich werde auch allein reisen. Und zwar mit meinem Motorrad. Einmal rund um die iberische Halbinsel.« In der entstehenden Stille hätte man eine fallende Stecknadel hören können. Manfred dreht seinen Kopf zu Barbara. »Der spinnt doch. Oder?«, fragt er sie. »Nein«, antwortet sie mit fester Stimme. »Die Maschine steht gepackt und abfahrtbereit in unserer Toreinfahrt.« »Und du bist damit einverstanden?« Bei diesen Worten schüttelt Manfred den Kopf und schaut Hilfe suchend in die Runde. Nach einigen Sekunden der Stille reden plötzlich alle durcheinander. »Wie lange hast du geplant?« »Wie sieht die Route aus?« »Wo übernachtest du?« Hast du alles im Voraus gebucht?« »Mit was für einem Motorrad machst du das?« Die Fragen prasseln nur so auf mich ein. »Okay … Ruhe … RUHE. … Okay, ich beschreibe euch die Tour: Ich werde von Berlin nach Hannover fahren, von dort über Bremen an die Nordseeküste und dann ist es einfach: Rund 7.000 Kilometer immer am Meer entlang, das Wasser an der rechten Schulter. Die Küsten der Niederlande, Belgien und Frankreich werden mich bis nach Brest begleiten. Dann fahre ich nach Süden, immer am Atlantik entlang, über Nantes, La Rochelle und Bordeaux nach San Sebastian in Spanien, von dort entlang der spanischen Küste über Bilbao, Gijon und A Coruña nach Santiago de Compostela. Von dort über die spanisch-portugiesische Grenze nach Porto und über Coimbra nach Sintra und Lissabon, der Steilküste nach Süden bis nach Lagos folgend und dann die Algarve erkundend, werde ich mich wieder der spanischen Grenze nähern und diese bei Vila Real de Santo Antonio überschreiten. Dann folge ich der Küste bis nach Tarifa und Gibraltar. Von dort geht es dann nach Norden, entlang der Mittelmeerküste über Malaga, Almeria und Alicante zunächst nach Valencia und anschließend nach Barcelona. Nach einem Abstecher nach Andorra fahre ich dann über die französische Grenze bis nach Montpellier. Dort verlasse ich die Küste und fahre durch die Schweiz wieder nach Deutschland.«
Alle staunen mich mit offenen Mündern an. Nur Barbara lächelt. Mit ihr hatte ich die Tour viele Male besprochen. Natürlich macht sie sich Sorgen um mich. Etwa 10.000 km allein auf dem Motorrad, davon etwa 7.000 Kilometer entlang der Küsten Europas. Da kann wirklich viel passieren. Aber sie weiß auch, dass sie mich nicht von der Idee abhalten kann. Sie weiß, dass dies mein ganz persönlicher Jakobsweg ist. »Pass auf dich auf«, hatte sie mit besorgter Mine nur gesagt. »Ich brauche dich noch. Ich liebe dich.« Doch hier im Restaurant lächelt sie nur und sagt laut: »Er schafft das.« In diesem Moment bin ich stolz auf sie. Sie lässt sich ihre Sorgen und ihr Unbehagen beim Gedanken an diese Tour nicht anmerken.
Lange Zeit noch sitzen wir zusammen. Immer wieder werde ich nach Details gefragt, die ich gar nicht beantworten kann. »Nein, ich bin noch nie allein gereist. Nein, ich war noch nie so lange unterwegs. Nein, die Route ist nicht durchgeplant. Nein, Übernachtungen sind nicht reserviert. Ich weiß noch nicht, wo ich übernachte, aber eines kann ich sagen: Ich nehme kein Zelt mit. Aus dem Alter bin ich raus. Und nein, ich mache keine WhatsApp-Gruppe auf, um Fotos oder Geschichten zu posten. Vielmehr werdet ihr Gelegenheit haben, mein Tagebuch zu lesen, das ich online führen werde.«
Noch viele weitere Fragen soll ich beantworten. Doch die meisten Fragen muss ich unbeantwortet lassen, weil ich die Antwort selbst nicht kenne. »Ich nehme Kleidung für eine Woche mit und werde unterwegs waschen. Für alles andere habe ich ein Handy und eine Kreditkarte. Ich werde ALLES mit dem Handy machen: Fotografieren, Tagebuch schreiben, im Internet recherchieren und Übernachtungen buchen. An meinem Motorrad sind die beiden Seitenkoffer und das Topcase gefüllt. In einem Koffer ist eine Tasche mit Übernachtungsutensilien, im anderen Seitenkoffer ist frische Wäsche und ein Paar Schuhe und im Topcase ist alles, was ich auf dem Motorrad benötige. So zum Beispiel meine Regenkombi, Handschuhe und eine Jacke zum Unterziehen, falls es kalt werden sollte.« Mehr und mehr unterhalten sich die Kolleginnen und Kollegen untereinander darüber, was sie von der Reise halten, ob sie sich eine solche Reise selbst zutrauen würden und auch darüber, ob sie mir die Reise zutrauen. Barbara beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Es werden die ersten Wetten abgeschlossen, ob du dir zu viel zumutest oder ob du die Reise schaffst. Ich habe auch gewettet. Darauf, dass du diese Reise heile überstehst und sie nicht vorzeitig abbrichst.« Dabei zwinkert sie mir mit einem Auge zu, als Helga auf mich zukommt: »Hast du dir die Tour auch gut überlegt? Wir haben September und der Winter steht vor der Tür. Draußen schüttet es wie aus Eimern und der Wetterbericht der nächsten Tage verheißt nichts Gutes.« Helga, meine langjährige Kollegin schaut mich zweifelnd an, während sie mich anspricht. Sie dreht den Kopf und schaut aus dem Fenster, wo es in Strömen regnet und wo ein Wind weht, so stark, dass sich die Bäume biegen. »Ja«, gebe ich zu, »das ist ein Problem. Aber ich vertraue dem Wetterradar. Morgen werde ich zunächst zügig nach Hannover fahren. Ab dort soll es dann besser werden.« Mit dem letzten Satz versuche ich, sie zu beruhigen. Mich selbst beruhigt das nicht, denn tatsächlich sind die Vorhersagen zunächst nicht gut. Diese Reise ist von langer Hand geplant. Soll ich sie jetzt vor dem Reiseantritt allein wegen des Wetters schon absagen? Ich werde immer wieder auch mit schlechtem Wetter zu kämpfen haben. Acht Wochen lange Reisen, bei denen nur schönes Wetter herrscht, gibt es nicht. Also: Bangemachen gilt nicht! Morgen geht es los.
Am Ende des Abends werden die Lichter gedimmt und ich drücke ein letztes Mal meine Dankbarkeit aus. Ich weiß, dass ein Kapitel meines Lebens zu Ende ist, ein neues jedoch beginnt. Mir ist, als würde der Übergang von der Arbeit in den Ruhestand mit dem Mut vergleichbar sein, den es braucht, ein unbekanntes Land zu betreten. Dies mit der Gewissheit, dass die nächsten Abenteuer bereits bereitstehen.
Der Morgen beginnt in unserem gemütlichen Zuhause in Berlin mit einem unheilvollen Heulen des Windes, der um die Ecken der Häuser fegt und den Regen in scharfen, peitschenden Böen vor sich hertreibt. »Bist du dir sicher, dass du los willst?« Barbara schaut erst mich zweifelnd an und zeigt dann durch das Fenster nach draußen. »An diesem Punkt kann ich nicht mehr zurück«, antworte ich, und versuche, zuversichtlich zu lächeln.
Im Badezimmer schaue ich in den Spiegel. Plötzlich habe ich den Wunsch, dass der Beginn der Reise, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, auch äußerlich sichtbar wird. Der Bart muss ab. Seit Jahrzehnten trage ich den gepflegten Vollbart. Auch und insbesondere auf Barbaras Wunsch hin. Doch heute muss er ab. Der Nassrasierer kratzt über die Haut, die sich sofort rötet. Spaßeshalber rasiere ich verschiedene Bilder. Zunächst lasse ich den Bart rund um den Mund sowie lange Koteletten stehen. Nein, das geht gar nicht. Ich rasiere die Koteletten auch noch ab. Es bleibt nur noch der Bart rund um den Mund. Nein, auch nicht gut, denke ich. Zuletzt lasse ich den Schnurrbart stehen. »Damit sehe ich aus wie ein Pornostar aus den Achtzigern«, raune ich mir selbst zu. Entschlossen rasiere ich mich glatt. Mit einem letzten Blick in den Spiegel begutachte ich meine nackte Erscheinung, eine frisch entblößte Haut, glatt und ungewohnt, mir völlig fremd. »Dich kenn ich nicht«, sage ich zu mir selbst und gehe in die Küche, wo Barbara das Frühstück zubereitet. »Nein«, ruft sie erschrocken, als sie mich sieht. »Wer bist du denn? Das geht gar nicht!«, stellt sie entschieden fest. Und mit ihrer amüsiert-kritischen Art besteht sie darauf, dass der Bart zurückkäme. Doch heute zählt dieses Versprechen nicht. »Heute gilt es, Aerodynamik über Ästhetik zu stellen«, mache ich ihr mit einem verschmitzten Lächeln klar und nehme sie in die Arme. »Komm erst wieder, wenn er nachgewachsen ist!« Sie streichelt mein nacktes Gesicht. Dann küssen wir uns.
Während unseres letzten gemeinsamen Frühstücks für Wochen fallen uns die Gespräche schwer. Barbara macht sich Sorgen, will mich aber damit nicht belasten. »Du schaffst das«, flüstert sie mir ins Ohr, bevor ich mir erst die schwere, wattierte Motorradhose und dann die noch schwerere Tourenjacke anziehe. Ich habe Schwierigkeiten, die Stiefel anzuziehen, weil ich so dick angezogen bin, dass ich mich kaum vornüberbeugen kann. Die Regenkombi raschelt, als ich die Tür öffne, und das Haus in einem Moment verlasse, als es mal nicht regnet.
Die Einfahrt glitzert vor Nässe und ist erfüllt vom Grollen der Orkanböen, die die umliegenden Bäume und Sträucher zum Tanz zwingen und alles in einen unablässigen Sturm verwandeln. Vor dieser unwirtlichen Kulisse stehe ich vor meiner schweren Maschine, einer bequemen Reisemaschine mit einem gigantischen Sechszylinder-Motor. Dieses Stahlross lässt sich nicht nur über hunderte Kilometer bequem fahren, sondern hat auch Formel-1-Qualitäten, wenn es mal drauf ankommt. Wenn man den Gashahn aufdreht, wird aus einem sonoren Reiseblubbern das Fauchen und Brüllen einer Beute jagenden Wildkatze. Doch heute, bei diesem Wetter, werde ich sicherlich die hohe Windschutzscheibe, die Griff- und Sitzheizung und die bequeme Sitzposition zu schätzen wissen. Dieser Bolide auf zwei Rädern wird also mein verlässlicher Begleiter auf der bevorstehenden Fahrt sein. Betankt und beladen bringt die Maschine locker 350 kg auf die Waage. Ohne den Fahrer. »Das wird spannend«, denke ich erneut. »Insbesondere in den Serpentinen. Vielleicht muss ich doch ab und zu ein Stück Autobahn fahren. Aber das Cruisen durch die Ortschaften entlang der Küste hat Vorrang.«
Der Regenradar hat eine trügerische Atempause prophezeit, ein Zeitfenster von vier Stunden, ein Lächeln inmitten der stürmischen Böen – perfekt, um Strecke zu machen, mich gen Hannover zu bewegen. »Strecke machen«, denke ich, »hört an der Küste auf. Dann beginnt die eigentliche Tour. Ich werde mich einfach treiben lassen. Bei diesem Gedanken setze ich meinen linken Fuß auf die Fußraste und schwinge mein rechtes Bein etwas schwerfällig hoch über die Sitzbank auf die andere Seite. Dann starte ich den Motor. Nach einem kurzen, aufheulenden Fauchen geht es fast augenblicklich in ein sanftes Schnurren über. Barbara kommt näher, um mich ein letztes Mal zu umarmen, dann gebe ich Gas und das Abenteuer beginnt.
Ich gleite über die nassen Autobahnen, die Reifen in ständigem Ringen mit der nassen Oberfläche, während mir der dichte Schleier der Gischt der vorausfahrenden Autos die Sicht nimmt und die Welt auf ein Kaleidoskop von Bremslichtern reduziert. Es ist eine Fahrt wie durch eine Wasserwand, bei der die Sicht kaum über das eigene Vorderrad hinausreicht. Trotz der Konzentration, die ich wegen der schlechten Sicht und der nassen Straße aufwenden muss, spüre ich auch die Langeweile, die durch das eintönige, gleichmäßige Fahren auf der Autobahn aufkommt. Das Wasser strömt an mir in Bächen herunter, doch die Kleidung ist dicht. Lediglich im Nacken bahnt sich ein dünnes Rinnsal vom Helm unter den Kragen und dann den Rücken hinab. Das ist sie also, die Freiheit der Straße. Ich muss lächeln.
Um die Monotonie zu zerschneiden und den Fokus zu halten, beschließe ich, das erste Hörbuch zu starten. Sekunden später ertönt eine angenehme Stimme aus den Lautsprechern in meinem Helm und ich widme einen Teil meiner Aufmerksamkeit dem vorgelesenen Buch von Michelle Obama. Ihr Buch ist eine willkommene Ablenkung, das mich mit seiner Intensität fesselt und unterhält. Die Zeit vergeht scheinbar schneller im Spiegel ihrer Geschichte, und was eben noch eine bedrohliche Wetterstimmung war, wandelt sich in eine unangenehme Nebenerscheinung.
Bei Magdeburg überquere ich die Elbe. Dieser stolze Strom windet sich durch sanfte Hügel und grüne Ebenen. Sie ist der Lebensnerv des Landes. Ihr Wasser, heute düster und grau, zieht gemächlich durch die Landschaft, wie es das bereits seit Jahrtausenden tut.
Ich blicke von der riesigen Autobahnbrücke, die sich in luftiger Höhe über die weiten Ebenen zieht, wo die Elbe bei Hochwasser über die Ufer tritt. Dabei stelle ich mir vor, wie es hier in der Vergangenheit aussah, als einst tapfere Krieger, weise Häuptlinge und wandernde Händler an den Ufern entlangzogen. Heute stehen an ihren Ufern die Kühe im satten Grün der Wiesen. Häuser sind hier keine zu sehen. Niemand baut Gebäude im Hochwassergebiet.
Ich lasse die Elbe hinter mir und erreiche wenig später die Grenze zu Niedersachsen, meiner alten Heimat. Meine Gefühle, die immer wieder in mir aufsteigen, wenn ich mich meiner alten Heimat nähere, verwirren mich auch heute wieder. Obwohl ich seit fünfundzwanzig Jahren in Berlin lebe und mich dort auch wohl fühle, habe ich nie die gleiche Bindung, nie das gleiche Zuhausegefühl zur Hauptstadt entwickeln können, wie ich es zu Hannover und seinem Umland in meiner Jugend entwickelt hatte. Hannover, das bedeutet für mich Familie, Bruder, Schule, Schulfreunde, erste Rendezvous, Ferienjobs und viele schöne Erinnerungen. Doch spielen mir die Erinnerungen einen Streich? Vergisst man nicht im Laufe der Jahre und mit Abstand die schlechten Erinnerungen, behält nur die schönen Momente im Gedächtnis und wird nicht so das Bild verklärt? Ich schüttele mich einmal, wische mit dem Handschuh über das nasse Visier, um die schweren Tropfen der Gischt zu verjagen und strecke meine steifen Beine aus. Seit vier Stunden sitze ich im Sattel und mein Hintern beginnt zu schmerzen.
Dann bricht die Wolkendecke kurz vor Hannover auf, und zartes Sonnenlicht strahlt als willkommener Gruß nach der Sturmtaufe. Der Tag, der so rau begonnen hatte, verspricht doch noch, milder zu enden – eine vielversprechende Vorahnung für die Kilometer, die noch vor mir liegen.
Ich steuere das einzige Hotel an, das ich im Voraus gebucht hatte. Wie freue ich mich auf die heiße Dusche. Hannover, meine alte Heimat. Hier bin ich aufgewachsen. Hier ging ich zur Schule. An der Schillerschule im Stadtteil Kleefeld begegnete ich den Menschen, die seitdem bis heute meine Freunde sind. Aufgeregt kann ich es kaum erwarten, sie heute Abend wiederzusehen.
Es ist ein unterhaltsamer Abend in der Pelikan-Bar. »Dass du dich das traust«, staunt Ute. »Wo übernachtest du?« fragt Dirk. »Das werde ich sehen. Nachmittags, gegen 16 Uhr, werde ich mir eine Bleibe suchen. Eine Pension, ein Bauernhof, ein kleines Hotel oder vielleicht auch ein Schlaffass auf einem Campingplatz. Der Möglichkeiten sind da viele. Mir ist wichtig, dass es sauber ist. Luxuriös muss es nicht sein«, antworte ich wahrheitsgemäß. Wir schwelgen in Erinnerungen und die Stunden fliegen nur so dahin. Zum Schluss wünschen mir alle eine gute Reise. Jedoch nicht ohne mir zu versichern, dass sie mein Tagebuch lesen und mich so im Geiste begleiten werden.
Es ist ein sanfter Morgen, als ich auf die Maschine steige, um zwei großartige Menschen zu besuchen. Ehemals Kollegen, wurden Uwe und seine Frau Conny im Laufe der Jahre zu Freunden. Ihr Heimatort liegt unweit der Nordsee und ist für mich der Einstieg in die Küstenroute. Die beiden haben mich zu einem zweiten Frühstück eingeladen und ich freue mich darauf wie ein kleines Kind. Überschwänglich steuere ich auf den Beschleunigungsstreifen der Autobahn, setze den Blinker und drehe den Gashahn auf. Das satte Blubbern, das sich in einem Sekundenbruchteil in ein aggressives Fauchen und schließlich in ein martialisches Brüllen verwandelt, wird von einem Katapult ähnlichen Start begleitet, der mich ein Gänsehautgefühl überkommen lässt. »Immer langsam«, sage ich zu mir selbst und lasse die Maschine bei mäßiger Geschwindigkeit dahinrollen.
Mit offenen Armen werde ich von den beiden empfangen. An einem liebevoll gedeckten Tisch sitzen wir zusammen und diskutieren über die Abgründe unmoralischer Banker, die unübersichtlichen Pfade des Alterns und die unweigerlichen Herausforderungen, denen unsere Kinder in der Zukunft gegenüberstehen würden. Ihre Gedanken sind tiefgründig, ihre Einsichten weise, und sie hinterlassen bei mir eine Fülle von Überlegungen, die mich noch lange auf dem Weg begleiten werden.
Ich erreiche Cuxhaven, das Tor zur Küstenstraße Niedersachsens. Ab hier heißt es die nächsten etwa 7.000 km: »Das Meer immer zu meiner Rechten. Mal direkt am Ufer, mal etwas weiter entfernt.«
Papenburg ist mein nächstes Ziel an diesem Tag. Eine Besichtigung steht auf dem Programm. Gemeinsam mit Barbara hatte ich bereits die ein oder andere Kreuzfahrt auf einem der Ozeanriesen gemacht. Sowohl im Mittelmeer wie auch in exotischeren Gewässern. Jedes Mal war ich überwältigt von der schieren Größe der Schiffe. Was für Stahlkolosse! Schon immer wollte ich mir ansehen, wie sie gebaut werden. Heute ist es also soweit. Ich habe mich für eine Werksführung bei der Meyer-Werft angemeldet.
Schon bei der Anfahrt sehe ich die alles überragenden Hallen und kann das riesige Werksgelände zunächst nur erahnen. Der Parkplatz für Besucher ist schnell gefunden. Beim Anstehen in der Warteschlange falle ich in meinen klobigen Motorradsachen natürlich auf. »Was für eine Maschine fahren Sie denn?«, fragt mich ein neugieriger Besucher. »Eine 6-Zylinder von BMW«, antworte ich ihm. »Wow«, scheinbar beeindruckt wird er neugieriger: »Ich bin früher auch Motorrad gefahren. Daher weiß ich, dass das kein Motorrad ist, das man mal eben zum Brötchen holen verwendet. Wo geht es denn hin?«, will er wissen. »Nach Gibraltar«, antworte ich ihm mit unbewegter Miene, gespannt auf seine Reaktion. Er zieht die Augenbrauen hoch, schaut mich von oben bis unten an und sagt dann: »Das ist weit! Aber sie fahren in die falsche Richtung. Nach Süden geht es da lang«. Dabei zeigt er mit dem Zeigefinger am ausgestreckten Arm in die Richtung. »Ich fahre einen Umweg. Immer entlang der Küste, hier beginnend«, antworte ich, dabei breit grinsend. »Hier beginnend?« Er überlegt. Wahrscheinlich malt er in Gedanken die Route. »Das ist irre!«, sagt er dann beeindruckt. »Wieviel Zeit haben Sie?« will er noch wissen. Die Warteschlange bewegt sich nun zum Einlass. »Ich darf erst wieder nach Hause, wenn der Bart nachgewachsen ist«, rufe ich ihm lachend über die Schulter zu. Dann beginnt die Führung.
Beim Betreten der Gebäude bin ich von der schieren Größe der Hallen überwältigt. Ein Gefühl der Ehrfurcht ergreift mich. Hier also entstehen sie, die größten, gigantischsten Kreuzfahrtschiffe der Welt – wahre Meisterwerke der Technik.
Die Führung beginnt und die Aufregung steigt, während wir durch Gänge geführt werden, die uns durch Fensterscheiben Blicke auf die verschiedenen Stationen bei der Arbeit gewähren. Schließlich kommen wir in eine der großen Hallen, wo zwei Schiffe im Bau stehen. Die Wirkung ist überwältigend. Die Maße der Schiffe sind atemberaubend und die Detailverliebtheit der Konstruktion lässt mir den Atem stocken. Ein Gefühl von Bewunderung und Staunen macht sich in der gesamten Besuchergruppe breit, während ich die Komplexität und die Ingenieurskunst anerkenne, die in jedem Teil eines solchen Schiffes steckt. Der Klang der Maschinen, das geschäftige Treiben der Arbeiter, die von der Besucherterrasse wie kleine Ameisen in der Halle erscheinen, und die präzise Ausführung der Handgriffe fesseln meine Sinne. Riesige Krananlagen heben gigantische Bauteile an. Wie LEGO-Steine werden die Einzelteile zusammengeführt, sodass am Ende ein Ozeanriese entsteht. Es ist ein Zusammenspiel aus technischer Raffinesse und Teamarbeit, das einen tiefen Respekt für das Handwerk in mir weckt. Ich bilde mir ein, die Leidenschaft und den Stolz der Mitarbeiter zu spüren, die täglich an der Schaffung dieser schwimmenden Städte mitwirken.
Aber nicht nur Technik und Präzision berühren mich. Auch die Geschichten der Menschen, die hier arbeiten, tun es. Sie werden uns von unserem Gruppenleiter erzählt. Von einem pensionierten Mitarbeiter, der Jahrzehnte in der Firma arbeitete. Seine Anekdoten und Geschichten lassen uns die Geschichte der Werft, die Traditionen und die Herausforderungen, die mit jedem neuen Projekt verbunden sind, spüren. Es ist ein Familienbetrieb. Noch immer. Man spürt die Verbundenheit der Eigentümer mit den Arbeitern und ihrer Hingabe. Ich verstehe, dass hinter jedem Schiff nicht nur Maschinen, sondern auch Träume, Hoffnungen und die Visionen von Tausenden stecken.