Keiner bleibt für immer - Daniel Tervooren - E-Book

Keiner bleibt für immer E-Book

Daniel Tervooren

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Beschreibung

Kein Leben verläuft wie das andere. Und vor allem nicht, wenn das Ende ansteht. Aber Geschichten vom Tod sind zugleich auch Geschichten vom Leben. Und sie sind es wert, gehört zu werden. Dieses Buch schildert über 60 tatsächlich und persönlich erlebte Fälle und ein paar weitere Anekdoten aus dem Rettungsdienst, die alle eins gemeinsam haben. Am Ende hat mindestens ein Mensch nicht überlebt. Einfühlsam, nachdenklich und auch mit einem Schuss Ironie wird hier eine unumstößliche Wahrheit beschrieben: Das Leben ist tödlich. Dem Leser treibt es einen Kloß in den Hals, eine Träne in die Augen oder auch ein paar Lachfalten ins Gesicht - vielleicht auch alles gleichzeitig. Und wenn hier oder da ein paar Beschreibungen nur schwer verdaulich sind, dann ist es auf jeden Fall Realität.

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Kein Leben verläuft wie das andere. Und vor allem nicht, wenn das Ende ansteht.

Aber Geschichten vom Tod sind zugleich auch Geschichten vom Leben. Und sie sind es wert, gehört zu werden.

Dieses Buch schildert über 60 tatsächlich und persönlich erlebte Fälle und ein paar weitere Anekdoten aus dem Rettungsdienst, die alle eins gemeinsam haben. Am Ende hat mindestens ein Mensch nicht überlebt.

Einfühlsam, nachdenklich und auch mit einem Schuss Ironie wird hier eine unumstößliche Wahrheit beschrieben:

Das Leben ist tödlich.

Dem Leser treibt es einen Kloß in den Hals, eine Träne in die Augen oder auch ein paar Lachfalten ins Gesicht - vielleicht auch alles gleichzeitig. Und wenn hier oder da ein paar Beschreibungen nur schwer verdaulich sind, dann ist es auf jeden Fall Realität.

Eine Kleinigkeit in eigener Sache:

Als sich der Gedanke verfestigte, meine Erlebnisse nicht einfach in Vergessenheit geraten zu lassen, steckte das "Gendern" noch in den Kinderschuhen. Meinen Respekt gegenüber allen Geschlechtern besitze ich schon wesentlich länger und werde diesen nicht einem Zeitgeist unterwerfen. Sprache ist für mich dynamisch und bin ich für Veränderung offen, aber ich bin nicht bereit, meine Muttersprache in eine Form umwandeln zu lassen, die mehr als Politikum dient, denn wertvolles Kommunikationsinstrument zu bleiben.

Verbale Auswüchse wie "Bürger*innen-meister*innen" werden auf den nächsten Seiten ebenso wenig zu finden sein, wie ein stets korrekter Umgang mit geschlechtergerechten Formulierungen. Für mich gibt es eine deutliche Abgrenzung zwischen dem sprachlichen und dem biologischen Geschlecht. Deshalb bleiben die meisten Vokabeln so, wie sie mal waren.

Patienten, Ärzte, Rettungs- oder Notfallsanitäter, Angehörige, Polizisten, Fahrzeuge und Rettungswachen sind für mich solange alle gleich, bis der Unterschied im biologischen Geschlecht eine inhaltliche Rolle spielt.

"Liebe Kinder und Kinder*innen" - ohne mich.

Und jetzt: Haben Sie eine gute Zeit mit meinen Erlebnissen.

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Einführung

Rettungssanitäter und Rettungsassistent

Zivildienst und DrumherumHier nahm das Schicksal seinen LaufDas Schlimmste zum BeginnEin ganz normaler Samstag:Tod im Solarium / Tod auf der AutobahnExkurs:Die Tote im KühlkellerDer Ausflug in die Großstadt:Der erste Drogentote / Nicht schon wiederDer NebenjobWie fing hier alles an?Schneller Tod auf der LandstraßeExkurs:Ein Blick zurück - schnell tot und wegEinsam und kalt im WaldSilvester im Dorf

Endlich Notarzt: Es kann gerettet werden

Der Anfang - Eine westdeutsche KleinstadtEin paar Worte zum BeginnWar das „primär erfolgreich“?Nicht weit gekommenEine weitere Kleinstadt im WestenWas habe ich hier zu suchen?Drogen gibt es überall - ein KlassikerZu lange im Hof - zwischen Ekel und SkurrilitätSchweinchenrosa - wie aus dem LehrbuchHarte Männer - Hat niemand etwas gemerkt?Fantasie, kriminalistisches Gespür oder Routine?Hunger - ein Opfer der GesellschaftExkurs:Ich habe mich nicht zu fragen getrautDie ambulante ReanimationWenn ein Notarzt Hilfe braucht - es hilft nichtsGroßstadtrettungUnd wieder ein paar warme WorteAuf dem Friedhof vereintEinsamkeit der Großstadt - Frage der IdentitätEpilepsie ist doch nicht so schlimm, oder?Der hilfsbereite KollegeHelfe kann Dir keinerBloß keine SchweinereiHeavy Metal - dumm gelaufenExkurs:Wahnsinn oder Wahnsinn?Herzlich - HerzstichWürde und LogistikproblemeDas Bahnhofsklo - wieder ein KlischeeExkurs:Das Männerwohnheim der HeilsarmeeSturz oder mehr? - die Frage bleibt offenExkurs:Der missglückte DrogendealVöllig verrückt und aromatischDer alte Mann an der TürSo möchtest Du nicht erwischt werdenAbgesagt wegen Notfall - verschobener TerminExkurs:Beinahe wäre alles gutgegangenIch glaube, so wünscht man es sichMit den Tabletten geht's leichterExkurs:So schnell kann es manchmal gehenEine Kleinstadt am Rande des RuhrgebietesDiesmal nur wenige warme WorteVom besten Freund langsam getötetFür so etwas gibt es TatortreinigerHoffnung - kurz und vergeblichSturz oder Sturz - das ist hier die FrageEin Kollege gibt sich auf - wir nichtWiedererkannt - der Tod im 2. AnlaufDer Rausschmiss - eine Leiche mit 2 PhänomenenDas „frohe neue Jahr“ sollte nicht mehr seinDer verlorene Kampf - loslassen ist schwerExkurs:Der S-Bahn-SurferDas letzte WeihnachtsfestErfroren oder durchgefroren?Die alte Dame in der Garage - äußerst männlichFeige von hinten - das FamiliendramaDie Einschläge kommen näherTödliche GartenarbeitDie eigene Entscheidung - der sanftere WegDer Tod mit schlechtem DrehbuchEinsam in die Ewigkeita Viel Platz im Obdachlosenheimb Viel Zeit im Badezimmerc Der Mann im Gerümpeld Leicht zu sehen, aber doch übersehene Hilfe für den „vielbeschäftigten“ KollegenDu durftest nicht leben - tödliche ÜberheblichkeitNicht angekommen - ein unvorstellbares SzenarioUnd jetzt noch Theo - so kann es laufenAuch so kann es gehen - Wärme im SeniorenheimDas Leben ist nicht fairEin letzter Exkurs: Der Sprung

Glossar: Fachbegriffe, die man nicht kennen muss

Nachwort

Danksagung

Denn schön es, wemmer blieve kann,

un nit muss

(Denn schön ist, wenn man bleiben kann,

und nicht muss)

Tommy Engels wahre Worte in seinem Song "Melote" - einer kölschen Hommage an einen der ältesten und schönsten Friedhöfe des Landes

Vorwort

Ein Friedhof ist ein Ort der Ruhe. Für mich hatte er immer etwas von Romantik und Frieden. Aber je nach Tageszeit vielleicht auch etwas Gruseliges. Als Kinder haben wir in unserem Dorf häufiger auf dem abendlichen Heimweg die Abkürzung über den Friedhof genommen. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Tore am Abend und nachts noch nicht verschlossen. Randalierer existierten nicht, und wenn es doch welche gab, die „sich beweisen“ wollten, dann taten die es nicht auf dem Friedhof. Solche Ideen brachte erst später die Filmschmiede Hollywoods zu uns. Im Halbdunkel zwischen den sorgfältig ausgerichteten Grabflächen entlang zu schleichen war langweilig, aber der alte Teil des Kirchhofs konnte die Phantasien von uns Kindern anregen. Da gab es überwucherte Gräber, die schon lange nicht mehr gepflegt wurden. Viele Inschriften mit Namen, die immer noch im Dorf eine Rolle spielten. Zum Teil mit Geburts- und Sterbedaten, die uns als unbedarften Kindern keine Chance gaben, sie richtig einzuordnen. Wenn man selbst noch ein einstelliges Alter mitbringt, dann spielt es erst mal keine Rolle, ob ein Mensch, den man nicht kannte, vor 10 Jahren verstorben ist, vor 50 oder gar 100 Jahren. Genauso gut hätten dann auch Namen wie Winnetou, John Wayne, Tutanchamun oder Jesus auf den Steinen stehen können. Für Kinder hat der Tod eine ganz andere Bedeutung als für Erwachsene. Auch wenn man ihn schon mal spüren durfte. Mein erster Opa starb als ich sechs Jahre alt war. Ich war betrübt, weil er nicht mehr da war, aber so richtig traurig war ich nur, weil mein Vater traurig war, dass sein Vater eben auch nicht mehr da war.

Zurück zum Friedhofsflair im alten Heimatdorf: An vielen Ecken standen alte und zum Teil schon zerfallene Statuen, die nicht immer zu erkennen waren. Figuren mit Flügeln, Abbilder von offensichtlich leidenden Frauen, Männer mit Dornenkronen und andere Symboliken biblischen Ursprungs. Kindliche Phantasie kann viel beschönigen aber auch Negatives verstärken. Ich fühlte mich immer erleichtert, wenn wir dann nach insgesamt nur wenigen Minuten wieder die Umzäunung hinter uns lassen konnten. Natürlich war nichts Schlimmes passiert. Niemand hatte hinter den Steinen gehockt, es hatten keine knochigen Armen aus dem Boden geragt, es quietschte nirgendwo ein sich öffnender Sarg und alle Geräusche waren letztendlich nur harmlose akustische Spuren des Windes unterhalb der großen dunklen Dorfkirche. Später fand ich Spaziergänge auf großen Friedhöfen immer wieder faszinierend. Die Stimmung in der Abenddämmerung empfand ich besonders intensiv. Dieses Gefühl, nahezu allein zu sein in der Ruhe, den nur ein Ort haben kann, dem etwas Besonderes anhaftet. Viele Jahre lang musste ich für meine Eltern regelmäßig im Sommer am frühen Abend nach dem Verschwinden der Sonne die Gräber bewässern, d.h. Oma und Opa gießen. Wer kennt nicht den beinahe greifbaren Geruch von Feuchtigkeit, der nach langen heißen Sonnenstunden vom Boden aufsteigt, wenn sich entweder der Himmel erbarmt und einen Regenguss geschickt oder ein Junge unter dem Druck der Eltern zwei oder drei Gießkannen alten dreckigen Wassers auf 4 Quadratmeter Erde geschüttet hat? Heute mag ich diesen Geruch wieder sehr gerne, er vermittelt mir ein Gefühl von Leben, aber damals fühlte ich mich damit oft bestraft. Deshalb ist es heute wohl auch die kalte Jahreszeit, die mich auf Friedhöfen mehr anspricht. Eine Jacke, die man fröstelnd enger um sich schmiegt, passt eben besser in die Stimmung als das verschwitzte T-Shirt. Und nicht nur mir scheint das so zu gehen. Warum wohl sind so viele Feiertage zum Trauern im Oktober bzw. November zu finden? Und wenn ein solcher Feiertag vorbei ist, die ganzen von ihrem Gewissen getriebenen Besucher sich ins Warme zurückgezogen haben, aber dennoch viele der ein- oder zweimal im Jahr spendierten Lämpchen noch brennen, dann ist richtig Leben auf dem Friedhof. Auch die bis zu meinem jungen Erwachsenenalter langsam aber stetig ansteigende Anzahl von beerdigten Familienangehörigen im Heimatdorf änderte meine Einstellung zu Friedhöfen nicht. Mittlerweile liegen hier jetzt alle 5 mir jemals zu Gesicht gekommenen Groß- oder Urgroßeltern. Alle haben eine kleinere oder auch größere Lücke in meinem jungen Leben hinterlassen. Aber so war der Lauf der Natur. Die Alten gehen vor den Jungen. Alter ist ein relativer Begriff, der vor allem von denen, die persönlich noch nichts damit zu tun haben, unterschiedlich gedeutet wird. Die Oma ist alt, denn sie hat ja normalerweise ca. 20 - 30 Jahre mehr als die Mutter auf dem Buckel. Auch wenn sie sich noch so jugendlich gibt, 2 Generationen bleiben 2 Generationen. Und auch die direktesten Vorfahren, die Eltern, sind alt. Wenn es bei typischer Familienstruktur endlich soweit ist, dass der Papa nicht mehr mindestens doppelt so alt ist, wie seine Sprösslinge, dann ist er in der Regel schon so alt, dass ihm langsam die Großvaterrolle zusteht. Zu kompliziert? Nein - bestimmt nicht. Rechnen Sie nach.

Jetzt allerdings sieht mein Friedhof anders aus. Die vielen Jahre, in denen mir in meinem Beruf der Tod in sehr vielen Varianten und Intensitäten begegnet ist, haben meinen Blick verändert. Auch wenn ich immer noch kaum einen der zahllosen Verstorbenen eines Friedhofes kenne, kommt es mir doch so vor, als kenne ich die Geschichten, die sich unter den großen Steinen verbergen. Als wüsste ich, welches Schicksal die Menschen, deren Urnen unter den großen Ruhewiesen oder unter den Friedbäumen verborgen sind, ereilt hat. Gerne rechne ich mit Jahreszahlen und ich bin relativ gut darin, schnell zu überschlagen, wie alt Menschen geworden sind. Und tatsächlich sind nicht alle Altersklassen gleich. Der 90-jährige mutet weniger schicksalhaft an, als derjenige, der nur ein Bruchteil dieses gesegneten Alters geschafft hat. Allerdings fallen mir immer diejenigen besonders auf, deren Todesalter in etwa meinem eigenen Lebensalter entspricht – oder dem meiner Nächsten und Liebsten. Und da hat sich viel verändert. Als Berufsanfänger in der Notfallmedizin unterwegs, stolperte ich über gleichaltrig Verstorbene, denen Unfälle oder ähnliches das Leben genommen haben. Dann in den Zeiten der Familiengründung und des Nachwuchses machten einen die Lebensspannen nachdenklich, bei denen man sicherheitshalber noch mal nachrechnete. Geburtsjahrzehnt gleich Sterbejahrzehnt, Geburtsjahr gleich Sterbejahr, Geburtsmonat gleich Sterbemonat oder gar Geburtstag gleich Sterbedatum. Wer davon nicht direkt betroffen ist, setzt sich mit solchen extremen Verläufen des Lebens in der Regel nicht auseinander und auch mich hat es glücklicherweise nur sehr selten in die traurige Situation getrieben, beruflich mit kindlichen Todesfällen konfrontiert zu werden. Allerdings waren diese Fälle prägend und werden an späterer Stelle noch genauer erwähnt. Und je älter ich dann wurde, desto mehr imponierten mir die Daten derer, die in meiner ungefähren Altersklasse abtreten mussten. Krebs und Herz-Kreislauf, die aktivsten Killer unserer Gesellschaft, lugten immer häufiger hinter einem Grabstein hervor. Waren die Toten dann knapp jünger als ich, gab es häufiger auf der Heimfahrt nach einem Notarzteinsatz die makaber anmutende Bemerkung, dass mir das schon nicht mehr passieren könne. Galgenhumor ist kein Witz, sondern tatsächlich ein Mittel zum Zweck.

Insgesamt sind Friedhöfe für mich über die Jahre lebendiger geworden. Die oft so beruhigende Stille ist einem Gefühl gewichen, das sich gut mit diffuser Unruhe und leisem Frösteln beschreiben lässt. Eigentlich sind es aber nicht die Friedhöfe, die man real besuchen kann. Meine Eltern haben jetzt auch schon irgendwo dort ihren Platz gefunden. Ein Besuch bei Ihnen, wo wir sie bestattet haben, bedeutet mir nicht mehr sehr viel. Anfänglich war es Trauern, jetzt ist es ein Nachdenken mit tiefem Gefühl. Aber das kann ich an anderen Orten auch, vielleicht sogar besser. Echte Friedhöfe spielen für mich kaum noch eine Rolle. Aber mein innerer Friedhof ist gemeint. Der ist einfach voll. Stellen Sie sich ein mittelalterliches Bild vor, meinetwegen mit einem Motiv aus der Zeit der Pest oder der großen Kriege. Es gibt mitten im Bild eine große tiefe Grube und in dieser stapeln sich Leichen, die krank und leidend aussehende Männer am Grubenrand mühevoll in die Tiefe schaufeln. Beine verdreht, Arme unnatürlich nach oben gereckt, die Köpfe schlaff baumelnd. Die Grube nahezu gefüllt mit entstellten Leibern. Es fehlt nur die bedeckende Schicht aus Erde, die dem Betrachter das Grauen nehmen kann. Auch in mir gab es eine solche Grube. Lange Zeit am Rande meines Bewusstseins existierend und immer wieder mal mit frischem totem Nachschub. Drei oder auch vier spezielle Fälle haben die Grube an eine Position geschoben, die ich nicht mehr so gut ignorieren konnte. Vor allem der Tod meiner Eltern und die daraus resultierende Erkenntnis, dass ich bei "normalem" Verlauf vermutlich der nächste sein werde. Die Fähigkeit mit den tragischen Fällen meines Berufes professionell umzugehen und den Tod so einzuordnen, dass er an mir keine wesentlichen Spuren hinterlässt, kam mir schrittweise abhanden. Oder lagen einfach schon zu viele Leichen am Grund der Grube? Wer kann das schon sagen? Auf jeden Fall habe ich in mehreren Schritten meine notfallmedizinischen Tätigkeiten heruntergefahren bzw. meine bunte Jacke an den Nagel gehängt. Eine Maßnahme, die mir hilft, seelisch gesund zu bleiben und meinen eigenen Friedhof wieder lebenswert zu machen.

Genauso wie das Erzählen der vielen folgenden Geschichten über den Tod - im Allgemeinen und im Speziellen. Viele unterschiedliche Gefühle werde ich wecken und nicht jeder wird dieses Buch bis zum Ende lesen. Profis aus meinem Gewerbe haben die Chance, sich selbst in meiner geschilderten Gefühlswelt wiederzuerkennen. Und jeder Mensch, der weiß, dass wir nicht unsterblich sind, kann Dinge erfahren, die täglich geschehen und ein Leben verändern können. Dinge, die wir eigentlich niemandem wünschen, die aber dennoch unvermeidlich dazugehören zu unserem tödlichen Leben.

Einführung

Das Einsatzstichwort lautete „Todesfeststellung“. Da in Deutschland lediglich Ärzte rechtskräftig den Tod eines Menschen feststellen dürfen, mussten die bereits an der Einsatzstelle befindlichen Rettungskräfte sich ihrer Sache äußerst sicher sein. Die angetroffene Situation würde sich sehr deutlich darstellen, sodass in meinem Kopf einige sehr unschöne Filmchen abliefen. Eigentlich war ich zu diesem Zeitpunkt mit mehr als 20 Jahren Rettungsdiensterfahrung und dementsprechend einigen passenden Erlebnissen ausgestattet, dass mich nicht mehr viel aus der Bahn werfen konnte, aber es war ungefähr 6:00 morgens. Ich hatte seit 11 Stunden Dienst auf dem NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) und hatte noch 13 Stunden vor mir. Gerade war es mir gelungen erst- und einmalig in diesem 24-Stunden-Dienst mehr als 2 Stunden Schlaf am Stück zu ergattern bis mich unsanft der Gong und die gleichzeitig aufflackernde Zimmerbeleuchtung weckten. Die Stimme aus der Rundspruchanlage verkündete dann emotionslos Einsatzort und Art des Auftrages. Die übermüdungsbedingte Trägheit konkurrierte in meinem Hirn mit den wachrüttelnden Bildern von ähnlichen Situationen, die ich schon erlebt hatte. Aber wie so oft stand es beim Eintreffen am Einsatzort noch Unentschieden bei meinen Gedanken. Anders als bei „normalen“ Einsätzen war schon bei der Anfahrt klar, dass ich niemandem mehr medizinisch helfen konnte. Eventuell wäre einem Angehörigen Beistand zu leisten oder zumindest musste ich dafür sorgen, dass der weitere Weg des zu erwartenden Leichnams der richtige sein würde. Retten, so wie es eigentlich mein Job sein sollte, konnte ich keinesfalls mehr. Die Adresse, die wir suchten, lag in einer der weniger komfortablen Gegenden der Großstadt, in der ich arbeitete. Aber eine Suche war gar nicht nötig, denn der RTW (Rettungswagen) mit Blaulicht auf dem Dach sowie die zwei Streifenwagen der Polizei waren nicht zu übersehen. Wir mussten über ein muffiges Treppenhaus in den dritten Stock und wurden dort von zwei am offenen Flurfenster stehenden Rettungsassistenten empfangen. Der jüngere der Beiden blies eine große Portion Rauch hinaus in den frühen Morgen und verbarg seine Zigarette verschämt in der hohlen Hand. Die Wohnungstür stand offen und man sah den typischen Eingangsbereich mit drei vollen Mülltüten, einigen Schuhen und viel Dreck an den Wänden und auf dem Boden. Der Rest der Wohnung sah nicht besser aus. Es stank nach kaltem Rauch, vergossenem Bier und menschlichen Ausdünstungen. Die meisten Zimmertüren standen offen und man konnte mehrere uniformierte Polizeibeamte beobachten, die sich mit vorsichtigen Bewegungen durch das Chaos kämpften. Am Ende des Flurs war eine Tür angelehnt, die milchige Scheibe im obersten Türdrittel hatte einen Sprung. Einer der Polizisten wies uns den Weg in diese Richtung. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Das Bad war ebenso dreckig wie der Rest der Wohnung, aber ein gnädiger Kollege von mir hatte schon mal das Fenster geöffnet. Ob die Polizei damit einverstanden gewesen wäre, sei mal so dahingestellt. Die Situation, die wir vorfanden, ist schwierig zu beschreiben. Ein Mann in fleckigem Feinrippunterhemd und eventuell sogar dazugehöriger Unterhose, die allerdings in der Kniekehle hing, lag in einer Art sitzenden Position mit dem Kopf auf dem Boden. Das Hinterteil ragte nach oben und lehnte am Klosett, auf dem es einige Zeit zuvor wohl noch gesessen hatte. Das vollständige Umfallen wurde von der Enge des Raumes verhindert, denn die linke Hüfte des Mannes lehnte an der Seitenwand unter der Klorollenhalterung. In dieser Position hatte die fortgeschrittene Leichenstarre den Körper fixiert. Das Gesicht war von uns abgewandt. Anders als die Einsatzkräfte vor mir, die sich nur vom sicheren Tod des Mannes überzeugt hatten, musste ich nun etwas intensiver zur Tat schreiten. Selten reißt sich einer der Kollegen darum, bei der Leichenschau zu assistieren. Vielleicht mal ein Praktikant oder auch ein Rettungsassistent, der noch nicht so lange im Geschäft ist. Aber ehrlicherweise könnte ich mittlerweile selbst auch gut darauf verzichten. Am Tod gibt es nichts zu beschönigen. Der Anblick ist für uns Sterbliche nicht angenehm, oft verstörend und gelegentlich sogar unerträglich. Diese Abstufungen empfinden wir Menschen, die beruflich keine Chance haben, Leichen zu entgehen, ganz unterschiedlich. Dazu kommt dann der Angriff auf unseren Geruchssinn, dem man sich nicht entziehen kann. Und ebenfalls sehr subjektiv - die Betrachtung des Drumherums. Dies war es, was mich heute beschäftigte. Es gibt unzählige Weisen, wie ein Leben zu Ende gehen kann. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wenn dem Laien tatsächlich nichts mehr einfällt, dann beginnt die Wahrheit der Profis. Die des Bestatters, des Rechtsmediziners oder von uns Rettern. Dieser Mann hier vor mir hatte sich bestimmt vom Leben mehr erwartet. Zum Schluss lebte er in einer WG, die viele Menschen gar nicht betreten hätten. Schwere langjährige Substanzabhängigkeit und vermutlich auch noch weitere chronische Erkrankungen hatten dafür gesorgt, dass die Abwärtsspirale nicht mehr aufzuhalten war. Sein Reich war ein ziemlich zugemülltes Zimmer und vielleicht ein Stuhl in der WG-Küche. Auch hier überall deutliche Zeichen, dass er den Halt verloren hatte. Leere Flaschen, volle Aschenbecher, an der Wand aufgereihte Mülltüten, die nur deshalb noch nicht runtergebracht worden waren, weil noch Bier im Kühlschrank war. Die Spüle stand voller Geschirr, das schon Eigenleben entwickelte. Lebensmittel, die diesen Namen verdienten - Fehlanzeige. Ja, völlig klar - Kritiker könnten mir jetzt vorwerfen, dass ich hier beschreibe, was ich vor wenigen Tagen im Fernsehen gesehen habe. Aber bitte glauben Sie mir, die Realität ist Vorbild für die Drehbücher und nicht umgekehrt. Die 4 Männer, die hier hausten, hatten noch Glück, dass sich Ihr Leben nicht auf der Straße abspielte, aber weit entfernt davon waren sie nicht. Vielleicht früher einmal im Beruf erfolgreich und vielleicht auch privat stabil und zufrieden, heute kaum noch eine Spur davon. Und anders als im Film gibt es auch nur selten Dinge, die an eine glückliche Vergangenheit erinnern. Alles mit materiellem Wert ist längst weg und auch das verblichene oder abgegriffene Foto als fernsehtauglicher Vermittler einer romantischen Traurigkeit existiert selten. Viele der Gestrandeten erleben irgendwann eine Phase, in der sie die alten Erinnerungen über Bord werfen und alle Andenken gleich mit. Es ist einfach zu schmerzhaft. Dabei ist es völlig egal, warum der Zug des Lebens einen nicht mehr weiter mitnehmen wollte. Pech im Beruf, Unglück in der Liebe, Unfall, Krankheit, Verlust - all dies ist unerheblich geworden. Und leider krankt unser Sozialsystem hier ganz besonders. Unterstützung für diese Randgruppe der Gesellschaft gibt es viel zu wenig. Die meisten Hilfsprojekte entspringen privater Initiative und sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Leider gibt es kein unabhängiges Gremium, das überwacht und reguliert, wohin unser aller Geld fließt. Deutschland stellt jährlich schwindelerregend hohe Summen an Hilfsgelder zur Verfügung. Aber die Verteilung lässt schwer zu wünschen übrig. Dieses Problem möchte ich allerdings gar nicht zum Thema machen. Mein Thema sind die Toten. Und jetzt war dieser hier an der Reihe. Eigentlich hätten wir diesen Verstorbenen jetzt auf den Boden legen müssen, um am vollständig entkleideten Leichnam bei guten Lichtverhältnissen eine gründliche und vor allem vollständige Untersuchung vorzunehmen. Soweit die Theorie. Aber die Praxis sieht anders aus. Wie sollte ich das hier bewerkstelligen? Kein Platz, kein Licht und vor allem meinerseits ganz viel "ich will das nicht". Wir Notärzte der Großstadt hatten von unserem Chef die Vorgabe, für alle Toten eine Todesbescheinigung zu erstellen. Auch wenn dies rechtlich eigentlich gar nicht so geregelt ist. Bei meinem aktuellen Toten war ich jedoch ganz schnell an dem Punkt, dass ich alle Maßnahmen abbrechen konnte. Eine große Kopfplatzwunde an der Stirn, die ich nicht sicher zuordnen konnte, verlangte als Angabe auf der Todesbescheinigung eindeutig ein Kreuzchen an der Stelle "Todesart ungeklärt". Somit konnte ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden und ein Todesermittlungsverfahren war die Folge. In der Praxis sah das hier jetzt so aus, dass ich mir einen der uniformierten Polizisten schnappte und ihm erläuterte, dass ich zwar glaubte, der Mann sei aufgrund einer internistischen oder neurologischen Problematik "natürlich" auf der Toilette verstorben, aber dass ich auch eine Gewalteinwirkung auf den Kopf nicht ausschließen könne. Die Platzwunde hatte trotz ihrer Größe und Tiefe nur eine relativ kleine Blutspur hinterlassen. Vielleicht weil der Mann nach der Verletzung nicht mehr lange einen funktionierenden Blutkreislauf hatte, oder vielleicht aber auch, weil ihm die Wunde anderswo zugefügt worden war und wir die dazugehörige Blutlache noch gar nicht gefunden hatten. Natürlich hätte es der Kollege in Blau, der jetzt seine zuständigen Mitstreiter alarmieren musste, gerne gesehen, wenn die Sache anders gelaufen wäre, aber das ging halt nicht. Die Dinge nahmen jetzt den eindeutig richtigen Verlauf. Auch wenn es ein früher Sonntagmorgen war. Manche Notärzte berichten, dass sie schon von Polizisten unter Druck gesetzt worden seien, die Bescheinigungen so zu erstellen, dass der Arbeitsaufwand möglichst gering bleibt. Ich halte das für Quatsch. Selbst habe ich stets einen respektvollen Umgang mit der Polizei erlebt, und zwar gegenseitig. Natürlich gab es Situationen mit schärferen Worten und vielleicht auch etwas Unverständnis, aber oft hatten wir halt an Einsatzstellen völlig gegensätzliche Herangehensweisen. Und eine ordentliche Portion Stress spielt auch eine Rolle. Man darf nicht vergessen, dass unsere gemeinsamen Auftritte an Einsatzstellen keinesfalls ein gemütliches Zusammensein darstellten. Rettungsdienst und Polizei gemeinsam an einem Ort, das bedeutet für mindestens einen Menschen nichts Gutes. Ich habe immer versucht bei meinen Notarzteinsätzen mit Leichenfund ein nüchternes und vernünftiges Vorgehen an den Tag zu legen. Dies führte dazu, dass ich für eine Menge der Verstorbenen Totenscheine mit "natürlicher Todesart" ausstellte. Eine Arbeitsweise, die mir mehrfach Kritik von Nicht-Anwesenden einbrachte, aber auch öfter Anerkennung. Weder das eine noch das andere hat mich jemals wirklich beeinflusst oder beeindruckt. Ich wollte immer nur mit mir im Reinen sein und bei dieser pikanten Thematik einen möglichst guten Job abliefern. Reichlich Gelegenheit dazu hatte ich.

Aber bitte lesen sie selbst ....

Rettungssanitäter und Rettungsassistent

Zivildienst und Drumherum

Hier nahm das Schicksal seinen Lauf

Ich möchte gar nicht viel Autobiographisches von mir geben. Natürlich schon all das Erlebte, das zur Entstehung dieses Buches beigetragen hat, aber der Rest soll meine private Geschichte bleiben.

Der Zivildienst sollte es sein. Der Wehrdienst, der damals 15 Monate dauerte, kam für mich nicht in Frage. 20 Monate mehr oder weniger intensive Arbeit im sozialen Bereich erschienen mir als jungem Mann, der mehr als gut behütet aufgewachsen war, deutlich sinnvoller. Die Hilfsorganisation der Nachbarstadt hatte Stellen frei. Ich ergatterte eine davon, obwohl ich nicht gerade früh auf die Suche gegangen war. Die Kriegsdienstverweigerung sollte erst unter Dach und Fach bzw. anerkannt sein. Dann kam die Zeit der Abiturprüfungen und erst dann die konkreten Gedanken an die nahe Zukunft. Ein Multitasking war damals für mich noch nicht drin. Aber das tat nichts zur Sache. Ich trat meinen Dienst an und erfuhr direkt, dass ich im Krankentransport eingesetzt werden sollte. Der Kurs für Sofortmaßnahmen am Unfallort war Pflichtprogramm vor dem Führerschein, aber mehr Kenntnisse hatte ich nicht zu bieten. Meine tote Oma hatte ich gesehen und in der Schule den typischen Kunststofftorso, der mit herausnehmbaren Organen bestückt war. Das ebenfalls in jeder Schule vorhandene Skelett war bei uns bereits in seine Einzelteile zerfallen. Keine Verwesung, sondern ungestümes Handling durch Jugendliche. Aber was man nicht weiß, kann man lernen und darin war ich gerade geübt. 4 Wochen ging es in eine Rettungsdienstschule und am Ende war ich sogenannter Rettungshelfer. Das reichte schon mal um Fahrer eines Krankenwagens zu sein. Um meine Ausbildung zu komplettieren, schickte man mich noch zu einem vierwöchigen Krankenhauspraktikum und abschließend zum RTW-Praktikum auf eine Rettungswache in der benachbarten Großstadt. Mit diesen Erfahrungen im Lebenslauf hatte ich jetzt die Erlaubnis der Fahrer des RTW zu sein, den wir neben 2 KTWs ebenfalls der Stadt anboten. Dieser wurde aber nahezu nie in Anspruch genommen. Es dauerte Wochen bis in einem der wenigen Dienste, für die ich eingeteilt war, tatsächlich eine Einsatzalarmierung kam. Erlebt habe ich nahezu nichts. Der erste Einsatz führte zu einem Kindernotfall, einem Fieberkrampf. Dieser war aber bei unserer Ankunft längst erfolgreich behandelt. Die Anfahrt war relativ weit und ich wegen der wenigen Kilometer, die ich erst auf dem dicken Auto gesessen hatte, ein äußerst bedächtiger und langsamer Fahrer. Die sogenannte Alarmfahrt mit Blaulicht und Martinshorn beanspruchte mich so sehr, dass ich gar keinen Gedanken daran verschwenden konnte, dass der Einsatz bei einem Kind mich völlig überfordern könnte. Von Kindern hatte ich nämlich noch wesentlich weniger Ahnung als von kranken oder verletzten Erwachsenen. Liebe Bürger, die Ihr damals in der Kleinstadt gelebt habt, die ich hier so anonym zu halten versuche, seid froh, dass Ihr an manchen Tagen unsere Hilfe nicht in Anspruch nehmen musstet. Mit der dicken, lauten und blinkenden Pflasterkutsche kam manchmal mehr Schein als Sein angefahren.Trotz aller Unerfahrenheit wurde ich aber nach Ablauf meines Zivildienstes weiterverpflichtet. Die Abschlussprüfung zum Rettungssanitäter hatte ich irgendwann in den Wochen zuvor mit viel Glück aber auch einer ordentlichen Portion Fleiß erfolgreich bestanden. Damit erfüllte ich die Bedingungen, um tatsächlich Beifahrer des RTW zu sein, der sogenannte Transportführer. Schon in den letzten Wochen des Zivildienstes hatte ich des Öfteren diese Aufgabe übernommen. Damit war ein Zivi unterwegs zusammen mit einem angehenden Ex-Zivi, der als Aushilfe eingeplant war. Kompetenz pur - beinahe. Aber überraschenderweise ging immer alles glatt. Eine glückliche Fügung. Kein Fall ist mir in Erinnerung geblieben, in dem wir überfordert waren oder gar unseren Patienten geschadet hatten. Langsam entwickelte sich Routine und das Leben auf der Wache machte Spaß. Insgesamt blieb ich nach dem Zivildienst noch ca. 2 Jahre als Aushilfe bei dieser Hilfsorganisation und wurde dann wegen wirtschaftlicher Schieflage wegrationalisiert. 3 Geschichten haben auch nach ca. 30 Jahren den Sprung in dieses Buch geschafft.

Das Schlimmste zum Beginn

Was ist das Schlimmste, das man im Rettungsdienst erleben kann? Ein Schwerstunfall auf einer Autobahn? Eine Wasserleiche? Eine Bahnleiche? Ein Großfeuer? Rammstein? Eschede? Nahezu jeder Notfall trifft einen Retter unvorbereitet und der Ablauf des Einsatzes hat viel Einfluss darauf, wie das Erlebte verarbeitet wird und in Erinnerung bleibt. Ein routiniert abgearbeiteter Großeinsatz auch mit vielen Toten kann weitaus weniger belastend bleiben als ein aus dem Ruder gelaufener Einsatz, der eigentlich alltäglich sein müsste. Dann spielt die eigene Lebenssituation eine entscheidende Rolle und man muss natürlich überhaupt erst einiges gesehen haben, um behaupten zu können, das hier war jetzt das bisher Schlimmste. Für mich war es gar nicht so dramatisch, als ich es erlebte, aber die Gespräche danach und die Reaktionen der anderen, vor allem der älteren, veränderten die Bedeutung dieses Einsatzes noch nachträglich. Und heute, mit mehr als 30 Jahren und vielen wichtigen Lebensabschnitten Abstand, wage ich zu behaupten, dass tatsächlich das Schlimmste zu Anfang kam.

Die Alarmierung erfolgte gegen Mittag. Ich war Transportführer und der RTW-Fahrer war noch Zivi aber kein Frischling mehr. Wir sollten in eine normale Wohngegend fahren und mal nachsehen, was da los sei. Der Feuerwehrzentralist hatte keine weiteren Infos und wir starteten ohne Hektik. Diese sollte sich aber einstellen, als wir vor Ort ankamen und von heulenden Menschen empfangen wurden. Männer, Frauen und Kinder. Schnell, schnell sollte alles gehen. Rein in die Wohnung sollten wir. In die Küche. Was war dort los? Eigentlich nichts! Aber auf der Ablagefläche der Küchenzeile stand eine Babywiege. Innerlich erhielt ich einen satten Haken in die Magengrube. Und noch einen hinterher, als ich das kleine menschliche Paket in dieser Wiege aus der Bauchlage auf den Rücken drehte. Der Körper war steif und ich entdeckte die ersten deutlichen Leichenflecken meines Lebens. Kein Notarzt alarmiert, das Krankenhaus weit entfernt, keine Polizei unterwegs. Ich sah mich plötzlich in einer Rolle, auf die ich nicht vorbereitet war. Das familiäre Umfeld war sichtlich mit der Situation überfordert. Natürlich hatte man irgendwie bereits gecheckt, was passiert war. Aber ausgesprochen hatte es bisher niemand. Einen Tod feststellen durfte ich keinesfalls. Aber eine medizinische Maßnahme zu beginnen, die definitiv nicht angezeigt war, das brachte ich nicht fertig. Also keine Reanimation. Ich nahm als unerfahrener Rettungssanitäter unwissentlich das Risiko auf mich, wegen eines völligen Fehlverhaltens meinen Job zu verlieren. Natürlich muss man beim Vorliegen von sicheren Todeszeichen keine Wiederbelebung beginnen, aber mal ganz ehrlich: konnte ich das sicher beurteilen? Rotz, vielleicht Blut, Druckstellen durch das Kissen, Körpersteife durch die herumgewickelte Decke – das alles konnte meinem adrenalingeschwängerten Hirn etwas vorgaukeln. Auch bei korrekter Diagnose hätte es mit einem Notarzt unschöne Diskussionen geben können, weil ich der Familie auch noch den Tod ihres Kindes mitgeteilt hatte. Emotion pur. Aber der erfahrene Notarzt, den man uns dann geschickt hatte, entspannte die Atmosphäre. Er arbeitete die Situation routiniert ab und bedankte sich dann sogar bei uns für unser besonnenes Verhalten. Schnell waren wir dann aus dem Einsatz entlassen und fuhren zur Wache. Merkwürdigerweise nahm ich die Sache, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, recht sachlich. Zum einen lag es tatsächlich daran, dass ich bisher keinen echten Schicksalsschlag erlebt hatte, mit dem ich es hätte vergleichen können. Und vor allem war ich damals noch meilenweit entfernt von einem Gedanken an eine eigene Vaterschaft. Später war ich dann mal als Notarzt auf einer Rettungswache, als ein junger Rettungsassistent, der gerade erst selbst Vater geworden war, von einem Einsatz bei einem plötzlichen Kindstod zurückkam und tatsächlich völlig fertig war. Mein damaliger NEF-Fahrer und ich hatten Glück, dass wir durch einen anderen Einsatz gebunden waren und ein Kollege den traurigen Job zu erledigen hatte. Wir waren damals beide relativ junge Väter und hätten die Sache auch bestimmt nicht so leicht weggesteckt.

Ein ganz normaler Samstag

Tod im Solarium / Tod auf der Autobahn

Unser RTW hatte damals eine Einsatzfrequenz von ca. 0,5 pro 24-Stunden-Schicht. Unser Praktikums-RTW in der Großstadt fuhr ca. 8 Touren pro Tag und verglichen mit den heutigen Einsatzzahlen in Ballungsgebieten war auch das noch relativ wenig. Natürlich waren wir jungen Nachwuchsretter scharf auf jeden Einsatz, vor allem zu den angenehmen Tageszeiten. Nächtliche Arbeit hatte auch damals schon relativ wenig Reiz für mich. Es war ein bisher ruhiger Samstag. Wie eigentlich immer. Ich las ein Buch oder döste vor mich hin. Handys, Laptops, Spielkonsolen oder ähnliches Zeug waren noch gar nicht erfunden. Dann wurde unsere Wache von der Feuerwehr über Funk angesprochen. Es gab einen Einsatz im Städtischen Schwimmbad im Bereich der Sonnenbänke. Die Anfahrt war relativ weit und es war unklar, ob wir oder der parallel alarmierte Notarzt aus dem Nachbarstädtchen zuerst eintreffen würden. Ich saß trotz meines Jobs als Transportführer selbst am Steuer und gab ordentlich Gas. Meine anfänglich zurückhaltende Fahrweise hatte ich aufgegeben und so waren wir als erstes Rettungsmittel vor Ort. Ein Mitarbeiter nahm uns in Empfang und führte uns zum Patienten. Es handelte sich um einen relativ jungen Mann in den Dreißigern, der leblos unter einem Solarium lag. Ein Bademeister bemühte sich um eine gute Herz-Druck-Massage aber in dieser Position war es aussichtslos. Zusammen wuchteten wir den Mann auf den Boden und in diesem Moment kam der Notarzt hinzu. Wir setzten gemeinsam die Reanimation fort. Wie lange wir arbeiteten, kann ich nicht mehr sagen, aber der erhoffte Erfolg blieb aus. Der Notarzt erklärte den Patienten für tot. Dass junge Menschen auch an internistischen Erkrankungen sterben und nicht nur die Oldies, daran sollte ich mich erst später gewöhnen. Fürchterlich war aber vor allem, dass der junge Mann zusammen mit seinem kleinen Sohn das Schwimmbad besucht hatte und dieser wohl alt genug war, um eine halbe Stunde allein im Nichtschwimmerbecken zu bleiben, während der Vater etwas Kunstsonne genießen wollte. Eine knappe halbe Stunde sollte es sein. Auf jeden Fall hat diese Zeit gereicht um das Leben des Jungen für immer zu verändern.

Nach diesem Einsatz gerade auf der Wache angekommen sollte es aber direkt weitergehen. Was war denn los heute? Noch keine 16:00 und schon Einsatz Nummer 2! Das roch rekordverdächtig, aber ich hatte ausnahmsweise nur einen halben Dienst und durfte mich um 19:00 ablösen lassen. Der Feierabendbesuch in unserer Lieblingskneipe war schon geplant. Eigentlich hatten wir gerade vor, in Ruhe unseren Notfallkoffer wieder mit ausreichend Material zu bestücken, als der Piepser unsere Pläne abrupt änderte. Wir tauschten unseren im Schwimmbad geplünderten Koffer mit dem Exemplar aus unserem Ersatzwagen und starteten durch. In der Ferne hörte man bereits andere Martinshörner. Es sollte auf die Autobahn gehen und zwar ganz in die Nähe. Nur dem Missgeschick des Notrufers war es zu verdanken, dass wir nicht die ersten Retter vor Ort waren. Wir fuhren an der uns mitgeteilten Auffahrt auf die Autobahn aber der Unfall lag jetzt hinter uns. Ca. 100 Meter vor und nicht hinter der Auffahrt hatte es gescheppert und zwar kräftig. Während wir also leicht frustriert und verärgert an der nächsten Anschlussstelle wendeten und die Gegenfahrbahn zurückfuhren, war klar, dass ein großer Teil der Arbeit bereits getan sein würde, wenn wir dann auch mal eingetroffen wären. Zwei Verletzte sollte es geben und der alarmierte Rettungshubschrauber hatte sich bereits per Funk zum Anflug auf die gesperrte Autobahn gemeldet. Das würde meine nächste Premiere werden. Ein Einsatz mit dem Christoph XY. Ganz so leicht möchte ich dem Leser die örtliche Zuordnung meiner Erlebnisse nun doch nicht machen. Endlich an der Unfallstelle eingetroffen, sahen wir, dass die Kollegen des Feuerwehr-RTW neben einem völlig demolierten Kleinwagen einen Menschen reanimierten. Wir wurden am Geschehen vorbei geleitet, und ein Feuerwehrmann brachte uns zu Fuß einen hektischen Mann, offensichtlich ohne wesentliche Verletzung, den wir betreuen sollten. Nach solch einem Unfallgeschehen läuft Rettung heutzutage deutlich anders. Unser Patient war mit seinem aufgemotzten Opel Manta bei hoher Geschwindigkeit auf einen Kleinwagen, der mit Motorschaden auf dem Seitenstreifen stand, aufgefahren. Dessen Fahrer war im Wagen sitzen geblieben während er auf Hilfe wartete und lag jetzt leblos unter den helfenden Händen der Feuerwehrmänner. Der Unfallverursacher war aus seinem Fahrzeugwrack geklettert und schien außer einer kleinen Platzwunde im Gesicht unverletzt. Trotzdem wäre er heute wohl nach Immobilisierung der Halswirbelsäule auf einer Vakuummatratze liegend unter Kreislaufüberwachung und mit Infusionstherapie vorangemeldet in den Schockraum einer Klinik gebracht worden. Nicht so 1991. Nicht so bei einem deutlich betrunkenen Mann, der mit seinem Auto gerade einen anderen Menschen getötet hatte. Nicht so bei einem Manta-Fahrer, der die damals vorherrschenden Klischees alle bestätigt hatte. Den Alkohol in der Atemluft konnte man deutlich riechen und die Polizei hatte eine entsprechende Bierflasche im Wagen sichergestellt. Die Rettungsversuche bei dem anderen Beteiligten waren soeben eingestellt worden und die Stimmung an der Unfallstelle war gerade sehr aufgeheizt. Wir jungen Kerle vom RTW Nr. 2 hatten kaum die Möglichkeit in irgendeiner Form Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Wir fuhren zügig mit Notarztbegleitung und Polizeieskorte ins nächste Krankenhaus und überließen den Unfallverursacher dort seinem weiteren Schicksal. Die Verurteilung des Todesfahrers, so die Formulierung in der Zeitung des nächsten Werktages, war der Presse ein halbes Jahr später nur noch wenige Zeilen wert. Die Strafe erschien mir für den angerichteten Schaden deutlich zu gering. Zum Glück hatten wir vor meinem Feierabend keinen weiteren Einsatz mehr. Ich war völlig bedient und tatsächlich habe ich mir an diesem Abend heftig einen eingeschenkt. Nicht um zu vergessen, dafür habe ich viel zu viel über das Erlebte geredet und philosophiert. Aber um die Wut und die Trauer, die in bisher unbekanntem Maße im Dienst über mich hereingebrochen war, zu dämpfen. Ich weiß noch genau, dass ich dann irgendwann in der Nacht auf dem Heimweg zu Fuß mit einem guten Kumpel und einem letzten Bier auf der Wiese gegenüber der Feuerwache saß und wir tatsächlich über etwas Anderes redeten. Solche Einsätze nicht zu lange mit mir herumzuschleppen habe ich relativ früh gelernt.

Exkurs: Die Tote im Kühlkeller

An einem Wochenende nur wenige Wochen später arbeitete ich mal wieder als studentische Aushilfe auf der Intensivstation. Es war nicht viel zu tun und wie so oft saßen die diensthabenden Ärzte nachmittags gemeinsam mit uns im Aufenthaltsraum und es wurde gequatscht. Dann wurde der Notarzt alarmiert und musste unsere Runde verlassen. Er war relativ lange weg und ließ sich dann nur ganz kurz blicken um sich eine Garnitur Klamotten zu holen. Seine weiße Montur, an echte Rettungsdienstbekleidung hatte noch niemand einen ernsthaften Gedanken verschwendet, hatte er wohl eingesaut. Als er später zu einem Kaffee rüberkam, erzählte er dann von einem Motorradunfall mit einer getöteten Beifahrerin. Diese sei wohl an der Einsatzstelle sofort tot gewesen. Keine Chance auf eine erfolgreiche Reanimation. Dennoch habe man es im RTW versucht, dann aber die Leiche in den Kühlraum unseres Krankenhauses gebracht. Heute erscheint es mir völlig skurril und nicht mehr nachvollziehbar, aber damals bat ich den Notarzt, den ich noch gar nicht so lange kannte, ob er mir diese Leiche nicht einmal zeigen könne. Ein echtes Polytrauma (Mehrfachverletzung, von der entweder eine der Einzelverletzungen lebensgefährlich ist oder die Kombination aller), das war für mich etwas Neues. Viele meiner Kommilitonen redeten davon, aber nur die wenigsten hatten jemals eine Berührung damit gehabt. Ich witterte meine Chance, am nächsten Montag etwas erzählen zu können. Wenn ich schon bei keiner Polytraumaversorgung dabei sein konnte, so bekam ich doch demonstriert, was pure Gewalteinwirkung mit einem nur unzureichend geschützten Menschen anrichten kann. Auch eine Lederkombi hatte der Frau, die hier lag, keine Chance zum Überleben geben können. Die Halswirbelsäule war definitiv gebrochen. Trotz einsetzender Totenstarre war die Beweglichkeit völlig unnatürlich. Der ganze Brustkorb war eingedrückt und die Haut darüber knisterte als Zeichen einer massiven Lungenverletzung. Ein Bein war mehrfach gebrochen und alles Weitere ließ sich nur noch ahnen. Einzig das Gesicht war unversehrt, denn der Helm hatte seine Funktion erfüllt. Ob man das Ganze nachträglich als unethisch, unmoralisch, verwerflich oder einfach als verrückt deklariert, ist mir mittlerweile völlig egal. Ich war wissensbegierig und habe etwas lernen können. Und komplett abstreiten kann ich nicht, dass ich zumindest damals eine gewisse Faszination für den Tod und seine vielen Facetten hatte.

Ausflug in die Großstadt
Mein erster Drogentoter / Nicht schon wieder

Kennt jeder das Buch „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“? Das wohl bekannteste Werk über eine Drogenkarriere in Deutschland. Mittlerweile bestimmt nicht mehr, aber als Kind der 80er hatte ich das Buch gelesen. Zuerst mit der typischen Ablehnung, die Pubertierende automatisch empfinden, wenn ein Vorschlag von den Eltern stammt. Dann aber kamen Leserunde 2 und 3 und ich war völlig fasziniert. Diese autobiographische Erzählung der Lebensgeschichte einer Schwerstabhängigen in Berlin beschreibt ein Leben, das man eigentlich gar nicht näher kennen wollte. Ein Wegsehen war aber auch nicht möglich. Es war eine detailliert beschriebene Abwärtsspirale mit all den Aspekten, in die man nur Einblick gewinnen kann, wenn sie authentisch geschildert werden. Ein Außenstehender kann das nicht vermitteln. Da ist immer der erhobene Zeigefinger mit im Spiel. Eine Betroffene aber, die erzählen möchte, beschönigt nichts und ist weit entfernt von jeglichem Moralisten-Geschwafel. Die bittere Wahrheit über den Anfang einer Drogenkarriere, über den Sog nach unten, die Gier nach dem nächsten Schuss, den Entzug, die Beschaffungskriminalität, die Prostitution, die Vereinsamung und das Gefangensein in einem Leben ohne jede Perspektive - all das hinterließ bleibenden Eindruck bei mir. Mein Heimatstädtchen mitten in der Großindustrie, malerisch zwischen den beiden NRW-Städten K. und B. gelegen mit perfekten Verkehrsverbindungen nach Holland war in meiner Jugendzeit ebenfalls ein Drogensumpf. Bestimmt nicht wie Berlin, aber es spiegelte sich deutlich in den jahrelang wiederkehrenden Spitzenplätzen in den Statistiken der Jugendkriminalität. Viele mehr oder weniger intensiv Abhängige gab es auf dem Schulhof unseres Schulzentrums und trauriger Höhepunkt dieser Problematik war der Drogentod eines nahen Mitschülers. Kein Freund, nur ein oberflächlicher Bekannter, aber plötzlich war das Thema nah. Ich selbst habe mich den Verführungen der mir so unbekannten Stoffe recht gut entziehen können. Zumindest bis zum Zivildienst, als ich dann doch gelegentlich mal probieren musste und wollte. Aber nichts Stärkeres oder überhaupt Anderes als THC. Mein Stoff, der den Geist benebelte, war der Alkohol. Gerne damals - oft und viel. Das konnte ich und es gehörte irgendwie mit dazu. Also gab es wenig Berührungen mit den härteren Drogen und ich blieb stets Außenstehender. Jetzt stand allerdings eine ganz merkwürdige Nachtschicht an. Ich war Rettungssanitäter und musste trotz meines geringen Erfahrungsschatzes den Transportführerposten auf einem Großstadt-RTW bekleiden, da dort gerade ein entsprechender Personalmangel herrschte. Insgesamt fuhren wir zu dritt. Zwei Kollegen mit Erfahrung und ich mit dem wichtigen Papier, das uns legitimierte. Qualitativ mussten wir uns bestimmt nicht verstecken, aber ich hatte großen Respekt vor der kommenden Nacht. Und das nicht zu Unrecht. Der erste Einsatz zum Aufwärmen war unspektakulär aber bereits die zweite Alarmierung bescherte mir eine erneute Premiere. Man schickte uns in einen Brennpunktbezirk direkt hinter der Rettungswache. Viele große Mehrfamilienhäuser mit dunklen ungepflegten Fassaden bestimmten das Bild. Drogen, Suff und Gewalt prägten dort das Leben. Es war Winter und somit schon länger dunkel. Unsere Zielwohnung lag im dritten Stock und allein der Weg dorthin prägte sich mir ein. Wie in einer alten amerikanischen Krimiserie ging es aufwärts durch ein innen liegendes Treppenhaus. Aber dann gab es auf beiden Seiten Türen, die einen wieder ins Freie entließen und zwar auf Gänge, die außen an den nebeneinanderliegenden Wohnungen vorbeiführten. Ein Fenster, eine Tür, noch ein Fenster. Dann bereits die nächste Wohnung mit dem gleichen Schnitt. Idealerweise hätte es im Treppenhaus Licht gegeben und auf den Außengängen ebenfalls. Aber so war es natürlich in der Realität nicht. Die letzten Treppen erklommen wir bereits im Dunklen und der Gang bis zur passenden Wohnung wurde auch nur von den spärlichen Straßenlaternen etwas erhellt. Keine Umgebung zum Wohlfühlen und bestimmt nicht um gute Notfallmedizin abzuliefern. Die Gestalt, die uns am RTW abgeholt und bis zum vermeintlichen Ziel geführt hatte, zeigte auf ein offenes Fenster und stammelte Unverständliches. Im Zimmer, wer hätte das gedacht, war es ebenfalls dunkel. Aber auf dem querstehenden Bett konnten wir eine regungslos liegende Person entdecken. Der dritte Mann unserer RTW-Besatzung reagierte als erster und kletterte beherzt durch das Fenster. Nach wenigen Minuten oder vielleicht auch nur Sekunden gab es die lapidare Rückmeldung: „Ex“. Diese Kurzform von „Exitus“ als Bezeichnung für einen Verstorbenen finde ich etwas respektlos. Natürlich versteht jeder damit beruflich Konfrontierte die Bedeutung, aber es geht auch anders. Viel besser gefällt mir die Formulierung aus meiner kölschen Muttersprache „do mähste nix, dä is hin“. Zu hochdeutsch: „da kannst Du nichts machen, der ist tot“. Unserem vermeintlichen Patienten hier war jedenfalls nicht mehr zu helfen. Unser Freund und Helfer war selbstverständlich auch alarmiert, aber die Kollegen, damals noch in beige-grün und nicht in blau, ließen sich Zeit. Soviel Zeit, dass meine RTW-Begleiter es mir ermöglichten, selbst in die Wohnung zu klettern, um mir die Sache aus der Nähe anzusehen. Das volle Programm sollte es werden. Trotz des schon länger geöffneten Fensters stank es in der Bude fürchterlich. Zumindest für meine Nase, die noch nicht so an den Duft des Elends gewöhnt war, stellte das Betreten des Zimmers eine echte Herausforderung dar. Nicht die beginnende Verwesung war das Problem, die war nämlich kaum wahrnehmbar, sondern vielmehr der Mix aus allem anderen Mist, der hier nicht hingehörte. Volle Aschenbecher, eine angesengte Plastiktischdecke, undefinierbare Flecken auf dem Teppichboden, alter Urin, Erbrochenes, stinkende Essensreste in der Spüle und vermutlich noch wesentlich mehr olfaktorische Leckereien waren hier zu riechen. Optisch ging es dann nicht viel besser weiter. Der Tote auf dem Bett war ein Mann undefinierbaren Alters, vermutlich aber unter 30, dem sein spezielles Leben nicht nur äußerlich einiges abverlangt hatte. Ausgemergelte Gesichtszüge, im Taschenlampenschein fahl-graue Farbe, knochige Hände in Leichenstarre fixiert. Halbnackter dürrer Oberkörper und im Arm dann das Corpus delicti, die noch in der Vene steckende Spritze. Große Zweifel, dass sich hier ein langjähriger Junkie verkalkuliert hatte, gab es nicht. Lediglich die Möglichkeit eines absichtlich fehldosierten Schusses war noch auszuschließen. Aber den Job hatte die Polizei zu erledigen, die gerade vor dem Haus vorfuhr. Schnell verließ ich die Bude wie ein flüchtender Einbrecher. Denn bei diesem merkwürdigen Trip in die Großstadt wollte ich mir nicht nachsagen lassen, in fremden Gefilden zu wildern. Abmarsch für den RTW, Schreibkram für das NEF. Diese Konstellation sollte ich in den nächsten Jahren noch viele, viele Male erleben.

Tatsächlich tat sich dann nicht mehr viel in dieser Nacht. Allerdings genau zum Schichtwechsel am nächsten Morgen schallte dann noch einmal der Alarmgong durch die Wache. Die Ablösung war glücklicherweise schon da und auch einsatzbereit. Wenig vertraut mit den nicht sehr deutlichen Stimmen aus den Lautsprechern hatte ich das Einsatzstichwort nicht mitbekommen. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, den jetzt aktuellen Transportführer darum zu bitten, mich doch noch einmal als Praktikant mitzunehmen. Alles geregelt, ab zum Auto und raus auf die Straße. Es ging in einen nahen Stadtteil, der ebenfalls nicht gerade edel anmutete. Ich wurde jetzt von meinen beiden Kollegen kurz gefragt, warum ich mir dies denn freiwillig antun würde. Diese Frage konnte ich nicht ganz nachvollziehen, denn ein zusätzlicher Einsatz zum Üben nach einer relativ friedlichen Nacht erschien mir völlig normal. Aber ich hatte das Stichwort „lebloser Säugling“ überhört und befand mich also gerade auf der Anfahrt zu einer Babyreanimation. „So ein Mist“ war alles, was mir noch durch den Kopf ging, denn schon waren wir vor Ort und dem RTW-Beifahrer wurde ein Bündel Stoff in die Hand gedrückt. Es ging los. Wenig Platz im RTW, aber ich durfte mit hinein und tatenlos beobachten, wie sich das Bündel als Babydecke entpuppte und nach dem Auswickeln ein schlaffer Säugling mit grauem Gesicht und blasser Haut hervorkam. Mittlerweile war der Koffer mit den Utensilien in Babyformat geöffnet und mehr oder weniger gut begannen die Wiederbelebungsversuche mit Beatmungsbeutel und einer Thoraxkompression durch viel zu große Finger auf einem viel zu kleinen Brustkorb. Egal wie viel Rettungsdiensterfahrung man hat, außer auf einem Baby-NAW bekommt man nie die Möglichkeit in solchen Fällen ausreichend Erfahrung zu sammeln, um sich sicher und routiniert zu fühlen. Und als Notarzt ebenfalls nicht. Die klinische Ausbildung vermittelt den meisten Auszubildenden wenig Praxis im Umgang mit Kindern und Babys, so dass die Qualität der so bedeutsamen notfallmedizinischen Arbeit oft zu wünschen übriglässt. Als Anästhesist hat man da sogar noch entscheidende Vorteile, denn im Rahmen der Facharztweiterbildung gehören Narkosen für Kaiserschnitte zum Pflichtprogramm. Glücklich schätzen kann man sich dann, wenn der erfahrene zweite Arzt, der anwesend sein sollte, dem Anfänger unter Kontrolle sowohl die Narkose als auch die spätere Neugeborenenversorgung überlässt. Nicht immer sind die Sectio-Babys so lebensfrisch, wie man hofft, und für die weitere Karriere sind diese oft emotionsgeladenen Situationen sehr hilfreich. So war es zumindest bei mir. Aber es gibt auch Kliniken mit eigenen Kinderärzten, die selber die Babyversorgung übernehmen. Bei glatten Verläufen der Geburt verhindern gerne auch mal die Hebammen die Teilnahme eines Nachwuchsarztes am Geschehen. Wie auch immer - Notfallmedizin am kritisch kranken oder verletzten Kind ist meist eine Ausnahmesituation, in der die Beteiligten oft nicht ihr volles Potential abrufen können. Wie es tatsächlich an diesem Morgen in unserem RTW ablief, konnte ich als Neuling gar nicht genau beurteilen. Der Einsatz mit dem toten Baby wenige Monate zuvor war zwar in gewisser Weise ähnlich, aber die Auffindesituation war bereits so deutlich, dass wir gar nicht erst reanimierten. Damals hatten wir es mit einer dramatischen Verlustsituation zu tun, heute sollte es aus meiner Sicht eine dramatische Rettungsaktion werden. Außer mir strahlten alle anderen trotz der vermutlich fehlenden Routine eine ordentliche Souveränität aus. Vor allem der zügig eingetroffene Notarzt, dem man deutlich ansah, dass er noch aus der Nachtschicht übriggeblieben war, überzeugte mich. Klare Anweisungen, ruhiges Handeln, keine Hektik - ich war beeindruckt. Das damals beteiligte NEF wurde nur von Chirurgen aus dem naheliegenden Großklinikum besetzt. Schon damals fand ich, dass eigentlich die Anästhesisten die geeignetsten Notärzte seien, aber der aktuelle Einsatz legte in mir den Grundstein dafür, alle Rettungsdienstkollegen und auch die Notärzte nur noch individuell zu beurteilen. Damit bin ich lange gut gefahren und habe oft erlebt, welche ungeahnte Kompetenz hinter einer eher weniger passenden Fassade steckte. Heutzutage verpönt und eigentlich unvorstellbar war die abschließende Maßnahme des Notarztes, der tatsächlich eine intrakardiale Injektion vornahm. Dabei handelt es sich um das direkte Spritzen eines Medikamentes in das Herz eines Patienten. Anatomisch nicht ganz einfach, komplikationsbehaftet und stets heroisch wirkend, hat diese Maßnahme aber glücklicherweise durch die Weiterentwicklung einiger Technologien die Existenzberechtigung verloren. Unser Baby-Patient profitierte auch nicht von diesem letzten Versuch einer Rettung. Er war tot. Wieder einmal hat der plötzliche Kindstod zugeschlagen. Warm gekleidet, leblos von der Mutter gefunden, unbeobachteter Kreislaufstillstand - keine Chance für Kind, Eltern und alle Mediziner. Dieses Erlebnis hat kurzfristig in mir den Wunsch geweckt, mich mit diesem Phänomen näher zu beschäftigen und vielleicht in Richtung Kinderheilkunde zu tendieren, aber diesen Gedanken verwarf ich rasch. Meine Welt war und sind die Erwachsenen. Sehr beachtlich finde ich das Engagement zweier Notärzte in der besagten Großstadt, die, wie ich es über viele Jahre auch getan habe, regelmäßig nebenberuflich Dienste ableisteten und hauptberuflich hoch qualifizierte und hoch dekorierte Kinderärzte sind. Ein sehr lobenswerter Blick über den eigenen Tellerrand. Eben echte Allrounder der Notfallmedizin. Für mich war an diesem Morgen ein seltsamer Dienst zu Ende gegangen. Noch überwog die Fülle der Ereignisse, die Traurigkeit über das Erlebte sollte erst später einsetzen. Der RTW transportierte das tote Baby ohne mich zum Rechtsmedizinischen Institut auf der anderen Seite des Flusses, der die Stadt halbiert, und mein nächster Dienst sollte eine Nachtschicht völlig ohne Einsatz in der mir so gut bekannten Kleinstadt werden. Geschlafen habe ich in den nächsten Tagen nicht sehr gut. Die erforderliche professionelle Distanz ist nicht angeboren, sondern muss bitter erarbeitet werden. Anders als bei dem ersten toten Baby ist es mir diesmal nicht so gut gelungen.

Der Nebenjob

Wie fing hier alles an?

Die Hilfsorganisation, bei der ich meinen Zivildienst absolviert hatte, brach bald auseinander. Fürchterliche Organisationsstrukturen und das weitgehende Fehlen von wirtschaftlichem Geschick hatte dazu geführt, dass der große Bruder, nämlich der Kreisverband der benachbarten Großstadt, das Ruder übernahm. Wir Aushilfskräfte verloren unseren Job. Da weder ein Arbeitsvertrag existierte noch sonst irgendetwas mich arbeitsrechtlich hätte schützen können, stand ich auf der Straße. Eine gewisse Zeit freute ich mich über die Freizeit, aber schon bald sehnte ich mich nach dem Rettungsdienst. Klingt merkwürdig, aber bestimmt war ich kein Einzelfall. Diese Art Job ist einzigartig. Es gibt kaum jemanden, der behauptet, er vermisse den Kellnerjob, oder er vermisse die Touren im Pizzataxi. Der Rettungsdienst allerdings bietet mehr als Geld für Arbeitskraft. Ich suchte intensiv nach einer neuen Gelegenheit, den Fuß wieder in die Tür zu bekommen. Erfolgreich war ich ziemlich schnell und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass es ein echter Glücksfall für mich war. Ein kleiner Ortsverein des DRK in meinem Heimatkreis hatte einen Vertrag ergattert, der die Mitarbeit im Städtischen Rettungsdienst sicherte und man suchte dort Personal. Schnell hatten sich ein paar erfahrene Profis gefunden. Zusätzlich wurde die erste Generation an Zivildienstleistenden eingestellt, aber es fehlten immer noch Köpfe. Meine Bewerbung fiel somit auf fruchtbaren Boden. Zügig erhielt ich die Zusage, gelegentlich Dienste auf dem RTW ableisten zu können. Es entwickelte sich ein tolles Arbeitsklima, es kamen Zusatzveranstaltungen dazu, ich trat dem Ehrenamt bei und fühlte mich rundherum wohl. Der einzige Wermutstropfen war die geringe Auslastung des Rettungswagens. Wir lebten auf der Dornröschenwache, d.h. wir warteten darauf, dass uns endlich jemand wachküssen käme und unser Potential entdeckte. Bis dahin lebten wir von 0-2 Einsätzen in einer 24-Stunden-Schicht. Viel Erfahrung gab es da nicht zu sammeln, aber zufrieden war ich trotzdem. Nur wenige Einsätze haben es in meine traurigen Charts geschafft, aber von diesen berichte ich gerne.

Schneller Tod auf der Landstraße